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Mochte Sir Gerald noch so zuversichtlich sein, für einen Gatten ist es gar nicht so leicht, die eheliche Gemeinschaft mit seiner Frau wieder aufzunehmen, besonders, wenn ihm nur eine Woche Zeit bleibt, dieses Vorhaben durchzuführen. Das Erlebnis jenes Abends hatte Clare vorsichtig gemacht. Als sie tags darauf, an einem Sonnabend, zu Mittag das Temple-Gebäude verließ, fuhr sie mit der Bahn nach Condaford, verriet dort aber mit keinem Wort, daß sie nur gekommen sei, um Zuflucht zu suchen. Sonntag vormittag blieb sie bei weitgeöffneten Fenstern lang im Bett und starrte in den Himmel über den hohen, kahlen Ulmen. Die Sonne schien zu ihr herein, die milde Luft war erfüllt von dem zu dieser Jahreszeit überraschenden Zwitschern der Vögel, dem Muhen einer Kuh, dem Krächzen einer Krähe, dem unablässigen Gurren der Pfauentauben. Clare war nicht besonders poetisch veranlagt, doch während sie so lässig hingestreckt lag, kam ihr eine leise Ahnung davon, daß diese Welt eine einzige große Symphonie ist. Das zarte Gitterwerk der nackten Zweige mit den letzten Blättern, dahinter der sanfte, goldklare Himmel und die dahingleitenden Wolken – dort die wippende Krähe auf dem Ast, die grünen und schon herbstfarbnen Hügel, am Horizont die Baumreihe – all diese Laute und die reine, duftlose Luft, die ihr um die Wangen strich! Die nur vom Zwitschern durchbrochene Stille, das unbekümmerte Eigenleben jedes einzelnen Geschöpfs und dennoch diese Ausgeglichenheit im ganzen – das Weltall offenbarte sich ihr für einen Augenblick und sie vergaß ihr Schicksal.
Die Vision schwand. Sie dachte an Donnerstag abend, an Tony Croom und den schmutzigen kleinen Knaben draußen vor dem Restaurant in Soho, der in so einschmeichelndem Ton gerufen: ‹Bitte, gnädige Frau, heut ist der fünfte November, schenken S' mir was zur Erinnerung an den armen Guy Fawkes!› Ja, an diesem Tag bettelten die Straßenjungen noch immer im Namen jenes Mannes, der am 5. November 1605 das englische Parlament in die Luft hatte sprengen wollen und dafür hingerichtet worden war. Wenn Tony sie am nächsten Abend gesehen hätte! Wie wenig hatten doch Tatsachen mit Gefühlen zu schaffen, wie wenig wußte doch einer vom andern, auch wenn er ihm noch so nahestand! Sie stieß ein kurzes, ärgerliches Lachen aus. ‹Wo Nichtwissen Segen ist, wär Wissen Narrheit.›
Jetzt begann die Kirchenglocke im Dorf zu läuten. Großartig, wie Vater und Mutter Sonntag für Sonntag unentwegt zur Kirche pilgerten und davon vermutlich Glück und Segen erhofften! Oder taten sie es nur des guten Beispiels wegen? Wenn sie nicht in die Kirche gingen, dann ließen am Ende auch die Dorfbewohner den Kirchgang bleiben und die Kirche stünde leer und das Sektenwesen nähme überhand. Wie schön war es doch, so ruhig dazuliegen in seinem eignen alten Zimmer, sich warm und geborgen zu fühlen, ohne Arbeit, den Hund auf den Füßen! Bis zum nächsten Samstag war sie dann wieder gehetzt, mußte wie eine gejagte Füchsin jede Deckung ausnützen. Clare zeigte ein wenig die Zähne, wirklich wie eine Füchsin beim Anblick der Hunde. Er mußte nach Ceylon zurück – so hatte er erklärt – mit ihr oder ohne sie. Nun, er mußte eben ohne sie zurück!
Als sie jedoch gegen vier Uhr von einem Spaziergang mit den Hunden nach Hause kam, schwand ihr Gefühl, sie befinde sich hier an einem sichern Zufluchtsort, im Augenblick – ein Auto stand vor dem Schloß. Sie traf die Mutter in der Halle.
«Jerry ist bei Vater.»
«Oh!»
«Komm in mein Zimmer hinauf, liebes Kind!»
In diesem Zimmer, das im ersten Stock gleich neben ihrem Schlafraum lag, konnte sich Lady Cherrells Persönlichkeit stets zwangloser entfalten als in den übrigen Räumen dieses alten, verwitterten Hauses mit seinem Winkelwerk, das so viele Andenken und so viel Vergangenheit barg. Der nach Verbenen duftende Raum mit der blaßblauen Tapete verriet unverkennbare, wenn auch etwas verblichene Eleganz. Er war nach einem Plan ausgeführt worden; das übrige Haus war allmählich gewachsen, wies hier und da eine Oase modernen Komforts auf, wirkte aber dennoch zum großen Teil wie ein wirres Durcheinander verschiedener Stilepochen.
Clare stand vor dem Holzfeuer im Kamin und drehte immerzu eine Porzellanfigur zwischen den Fingern. Auf diesen Besuch war sie nicht gefaßt gewesen. Die Mächte des kirchlichen Glaubens, der Tradition und der Sorge um das Wohlbehagen hatten sich jetzt gegen sie verschworen und sie konnte zu ihrer Verteidigung nur Dinge vorbringen, deren Enthüllung sie verabscheute. Sie wartete, bis ihre Mutter das Schweigen brach.
«Ach Liebling, du hast uns ja kein Sterbenswort gesagt.»
Wie konnte man aber einer Frau, die so sprach und so aussah, solche Dinge erzählen? Clare wurde rot, dann blaß und erklärte endlich: «In diesem Menschen steckt eine Bestie, mehr kann ich nicht sagen. Ich weiß, man sieht es ihm nicht an, doch glaub mir, Mutter, sie steckt wirklich in ihm!»
Auch Lady Cherrell war errötet. Es gehörte sich nicht für sie, eine Frau über fünfzig.
«Dein Vater und ich wollen dir helfen, soweit es in unsrer Macht steht, meine Liebe, nur ist es natürlich so wichtig, jetzt die richtige Entscheidung zu treffen.»
«Und weil ich schon einmal die falsche traf, traut ihr mir wohl gar keine andere mehr zu? Ich gebe dir mein Wort, Mutter, ich kann ganz einfach nicht darüber sprechen und zu ihm geh ich mein Lebtag nicht zurück.»
Lady Cherrell hatte Platz genommen; eine Falte grub sich zwischen ihre graublauen Augen, ihr Blick schien ins Leere zu starren. Dann wandte sie ihn der Tochter zu und fragte stockend:
«Du bist ganz überzeugt davon, es ist nicht nur die Bestie, die in fast allen Männern steckt?»
Clare lachte.
«O nein. Ich gerate nicht so leicht aus der Fassung.»
Lady Cherrell seufzte.
«Sorg dich nicht, liebe Mutter. Wenn wir diese Geschichte einmal hinter uns haben, ist alles wieder in Ordnung. Heutzutage nimmt man überhaupt nichts mehr so tragisch.»
«So heißt es allerdings, aber man hat eben noch immer die schlechte Gewohnheit, die Dinge tragisch zu nehmen.»
Clare berührten diese Worte fast ironisch und sie sagte rasch:
«Nur eins hat noch etwas zu bedeuten: man muß seine Selbstachtung wahren. Wenn ich bei ihm bleibe, ist das ausgeschlossen.»
«Reden wir also nicht weiter darüber. Dein Vater wird dich sprechen wollen. Lege lieber deine Sachen ab.»
Clare gab ihr einen Kuß und verließ das Zimmer. Kein Laut drang von unten empor, sie stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Sie fühlte deutlich, wie ihre Willenskraft wuchs. Die Tage waren längst vorbei, da die Männer das Schicksal der Frauen ihrer Familien bestimmten; was immer auch Jerry mit dem Vater zusammen aushecken mochte – sie würde unbeugsam bleiben! Als der Vater sie holen ließ, begab sie sich auf den Kampfplatz, stählern, unerschütterlich.
Die beiden standen im nüchternen Arbeitszimmer des Generals und Clare spürte sofort: die hatten sich geeinigt. Sie nickte dem Gatten zu und trat zum Vater hinüber.
«Nun?»
Corven jedoch ergriff das Wort:
«Vielleicht sprechen Sie zuerst, Sir.»
Das gefurchte Antlitz des Generals sah bekümmert und gereizt aus. Er gab sich einen Ruck. «Wir haben die Angelegenheit besprochen, Clare. Jerry gibt zu, daß du manchen Grund zur Klage hast, doch gab er mir sein Wort, dich nicht mehr zu kränken. Ich möchte dich dringend bitten, versuche doch einmal, die Sache von seinem Standpunkt aus zu sehn. Wenn ich nicht irre, betont er, die Versöhnung sei noch mehr in deinem Interesse als in seinem. Die alten Ideen über die Ehe mögen heutzutage abgetan sein, immerhin habt ihr einander doch geschworen – aber sehen wir zunächst davon ab –»
«Sehr richtig!» sagte Clare.
Der General zwirbelte seinen kleinen Schnurrbart und stieß die eine Hand tief in die Tasche.
«Was zum Kuckuck soll dann aus euch beiden werden? Scheiden könnt ihr euch nicht lassen – bedenk doch deinen Namen, seine Stellung – und noch dazu schon nach achtzehn Monaten! Was wollt ihr also anfangen? Getrennt leben? Das taugt nicht für dich – und für ihn auch nicht.»
«Es würde besser taugen, als wenn wir weiter zusammenlebten.»
Der General sah in ihr Gesicht, das einen harten Ausdruck zeigte. «So sprichst du jetzt; aber wir beide haben mehr Erfahrung als du.»
«Diese Bemerkung hab ich früher oder später erwartet. Du willst also, daß ich mit ihm zurückgehe?»
Der General sah tief unglücklich drein.
«Du weißt, meine Liebe, ich wünsche nur dein Bestes.»
«Und Jerry hat dich davon überzeugt, diese Lösung sei die beste. Ich sage dir, es wäre das Schlimmste. Vater, ich geh nicht mehr zu ihm zurück und damit basta!»
Der General sah ihr ins Gesicht, sah seinem Schwiegersohn ins Gesicht, zuckte die Achseln und begann sich die Pfeife zu stopfen.
Jerry Corvens Blick war von einem zum andern geglitten, dann kniff er die Lider zusammen und begegnete Clares Blick. Beide sahn einander lange unverwandt an. Keines von ihnen zuckte mit der Wimper.
«Schön!» erklärte er schließlich, «dann treff ich andere Anordnungen. Leben Sie wohl, Sir; leb wohl, Clare!» Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer.
Schweigen trat ein; durch die Stille drang deutlich das Knirschen seines Kraftwagens, der über den Kies davonfuhr. Der General rauchte mit düsterer Miene, abgewandten Blicks seine Pfeife, Clare trat ans Fenster. Draußen begann es zu dunkeln und nun, da die Krise überstanden war, fühlte sie sich auf einmal ganz erschöpft.
«Herrgott!» rief der Vater, «wer soll aus dieser Geschichte klug werden!»
Clare blieb unbeweglich am Fenster stehn. «Hat er dir erzählt, daß er mich mit meiner Reitpeitsche traktiert hat?»
«Was!» rief der General.
Clare wandte sich um.
«Jawohl.»
«Dich?»
«Jawohl. Das war nicht der Hauptgrund, weswegen ich ihn verließ, doch gab es am Ende den Ausschlag. Tut mir leid, Vater, daß ich dich kränken muß!»
«Herrgott noch einmal!»
Clare ging plötzlich ein Licht auf. Konkrete Tatsachen! Ein Mann braucht Tatsachen!
«Der Schuft!» rief der General. «Der Schuft! Er hat mir erzählt, er habe vorgestern den Abend mit dir verbracht, stimmt das?»
Langsam stieg ihr das Blut in die Wangen.
«Er hat sich fast mit Gewalt Eintritt verschafft.»
«Der Schuft!» wiederholte der General.
Als sie dann allein war, dachte sie verächtlich über den jähen Umschwung in den Gefühlen ihres Vaters nach, den diese eine Tatsache der Reitpeitsche verursacht hatte. Er empfand diese Affäre als persönlichen Schimpf, als Schmach, die man seinem Fleisch und Blut angetan. Clare fühlte deutlich, ihr Vater hätte es mit Gleichmut hingenommen, wäre diese Kränkung der Tochter eines andern widerfahren. Sie entsann sich noch, er hatte die Partei ihres Bruders Hubert ergriffen, als dieser den Maultiertreiber verprügelt und über die ganze Familie so schweren Kummer gebracht hatte. Wie wenig objektiv, wie herzerquickend persönlich die Leute doch alles nahmen! Ihr ganzes Fühlen und Denken blieb doch stets im Bann der eignen Vorurteile. Na schön, das Schlimmste hatte sie jetzt überstanden, denn die Familie war nun ganz auf ihrer Seite. Und dafür wollte sie schon sorgen, daß Jerry sie nicht wieder allein traf. Sie dachte an den langen Blick, mit dem er sie gemessen. Er konnte mit Anstand verlieren, denn er begann sofort das Spiel von neuem. Das Leben selbst – nicht seine einzelnen Erscheinungsformen – nahm ihn ganz in Anspruch. Er ritt das Leben, als wäre es sein Reitpferd, setzte zum Sprung an, kam hinüber, ritt weiter; stieß auf ein Hindernis, sprengte drüber oder sprengte mitten durch – die Schrammen, die er dabei davontrug, nahm er als unvermeidlich hin. Er hatte auch sie bezaubert und war über sie hinweggeritten. Nun war der Zauber verflogen, sie konnte es kaum fassen, daß Jerry auf sie gewirkt hatte. Was mochte er wohl jetzt anfangen? Na, eins stand fest: Irgendwie machte er den Verlust schon wett!