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V

An dem kalten und nebligen Abend des Wahltags, den die Blätter einmütig für ‹historisch› erklärten, saßen die Cherrells im Besuchszimmer von Condaford rings um den transportablen Radioapparat, ein Geschenk von Fleur Mont. Würde über den Garten Eden eine Segensstimme erschallen oder die Posaune des jüngsten Gerichts? Jede einzelne dieser fünf Personen war felsenfest überzeugt, die Zukunft Großbritanniens stehe auf dem Spiel, überzeugt davon, die eigne Überzeugung sei frei von Klassen- und Parteigeist. In ihren eignen Augen ließen sie sich nur von lauterer Vaterlandsliebe leiten und wiesen jeden Gedanken an ihr investiertes Kapital von sich. Vielleicht irrten sie in diesem Punkt – aber eine große Zahl andrer Engländer beging den gleichen Irrtum. ‹Hat überhaupt jemand eine Ahnung, was das Vaterland retten kann?› schoß es Dinny durch den Kopf. Doch selbst sie konnte nicht ermessen, in welch unberechenbarem Wechsel von Ebbe und Flut der Zeitenstrom das Leben der Nationen untergräbt und fortspült. Zeitungen und Politiker hatten das ihre getan und machten auch in Dinnys Augen diese Stunde zu einem Wendepunkt. In einem meergrünen Kleid saß sie beim Apparat, der Gabe Fleurs, und wartete darauf, ihn um zehn Uhr einzustellen und seine Lautstärke zu regulieren. Tante Emily arbeitete an einer neuen französischen Nadelmalerei, ihre schildpattgefaßte Brille ließ die leichte Biegung der Adlernase noch deutlicher hervortreten. Der General blätterte nervös immer wieder in der ‹Times› und zog immer wieder die Uhr hervor. Lady Cherrell saß still und ein wenig vorgeneigt da, wie ein Kind in der Sonntagsschule, dem eben die Einsicht aufdämmert, daß es sich eigentlich langweilt. Und Clare lag auf dem Sofa, der Hund Foch zu ihren Füßen.

«Höchste Zeit, Dinny», meinte der General. «Schalt das Zeug ein.»

Dinny fingerte an einem Knopf und das ‹Zeug› schmetterte Musik hervor: «‹Wir tragen Ringe am Finger und Glöckchen an den Zehn, wir hören Musik und Geklingel, wohin wir auch gehn›», murmelte sie.

Die Musik verstummte, eine Stimme sprach:

«Erstes Wahlergebnis: Wahlbezirk Hornsey … Konservative behalten ihr Mandat.»

«Hm!» machte der General und die Musik fing wieder an.

Tante Emily warf einen Blick auf den Apparat und sagte: «Dinny, rede dem Zeug gut zu, es surrt so.»

«Tut es immer, Tantchen.»

«Blore stimmt unser Radio immer mit einem Penny um. Wo ist Hornsey – auf der Insel Wight?»

«Gerade in der entgegengesetzten Richtung, Liebe – ein Londoner Wahlbezirk.»

«Ach richtig! Da fängt es wieder an.»

«Einige weitere Wahlresultate … Die Konservativen gewinnen von der Arbeiterpartei … Die Konservativen behalten ihre Mandate … Die Konservativen gewinnen von der Arbeiterpartei …»

«Hei!» ließ der General sich vernehmen und die Musik setzte wieder ein.

«Prächtige Majoritäten!» rief Lady Mont. «Wie erhebend!»

Clare stand vom Diwan auf und hockte sich auf einen Schemel zu Füßen der Mutter. Der General hatte die ‹Times› sinken lassen. Die Stimme hob wieder an:

«... Die National-Liberalen gewinnen von der Arbeiterpartei … Die Konservativen behalten ihr Mandat … Die Konservativen gewinnen von der Arbeiterpartei.»

Wieder und wieder erklang die Musik und verhallte; die Stimme erscholl.

Clares Miene wurde immer lebhafter, auf Lady Cherrells blassem gütigem Gesicht lag beständig ein Lächeln. Ab und zu rief der General: «Donnerwetter!» und «Das will was heißen!»

‹Arme Arbeiterpartei!› dachte Dinny.

Wieder und wieder erscholl die Segensstimme über Eden.

«Vernichtend!» bemerkte Lady Mont. «Ich werd schläfrig.»

«Geh zu Bett, Tantchen», sagte Dinny. «Wenn ich schlafen geh, schieb ich dir einen Zettel unter die Tür.»

Auch Lady Cherrell erhob sich. Als sie draußen waren, kehrte Clare zum Diwan zurück und schlief allem Anschein nach ein. Der General blieb unentwegt sitzen, offenbar ganz im Banne der Siegesfanfaren. Dinny kreuzte die Beine, schloß die Augen und dachte: ‹Wird das wirklich eine Wendung bringen? Und wenn auch, was liegt mir daran? Wo ist er? Hört er jetzt den Wahlbericht wie wir? Wo? Wo?› Nicht mehr so oft wie früher, doch immer noch oft genug ergriff sie dies ungestüme Sehnen nach Wilfrids Rückkehr. Während der ganzen sechzehn Monate, seit er sie verlassen, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie wußte so wenig, vielleicht war er gar schon tot. Einmal, ein einziges Mal war sie dem Entschluß untreu geworden, von ihrem Unglück nie mehr zu sprechen – sie hatte Michael nach Wilfrid gefragt. Compson Grice, Wilfrids Verleger, hatte, wie es schien, von ihm einen Brief aus Bangkok erhalten. Wilfrid teilte mit, er sei wohlauf und beginne wieder zu schreiben. Das war nun neun Monate her. Der Schleier hatte sich ein klein wenig gelüftet und war dann wieder herabgesunken. Herzeleid – daran war sie schon gewöhnt.

«Vater, es ist zwei Uhr. So wird es jetzt weitergehn. Clare schläft schon.»

«Keine Spur!» rief Clare.

«Du sollst aber schlafen. Ich lasse jetzt Foch hinaus und wir gehn alle zu Bett.»

Der General erhob sich.

«Man kann zufrieden sein. Gehn wir.»

Dinny öffnete die Glastür und sah Foch scheinbar hocherfreut hinaustraben. Es war kalt, vom Boden stieg Nebel auf, sie zog die Tür wieder zu; sonst hätte Foch das gewohnte Ritual verabsäumt und wäre mit noch größerer Freude sofort wieder hereinspaziert. Sie gab dem Vater und Clare einen Kuß, drehte das Licht ab und wartete in der Halle. Die Scheite des Feuers waren fast verglommen. Sie stemmte den Fuß gegen den steinernen Kamin und sann. Clare hatte gesagt, sie wolle sich bei einem der neuen Abgeordneten um einen Sekretärposten bewerben. Nach diesem Wahlbericht würden viele neue Männer ins Parlament einziehn. Warum konnte man nicht beim Abgeordneten des eignen Wahlkreises anfragen? Er hatte mit ihnen zu Abend gespeist, sie hatte neben ihm gesessen. Ein netter Mann, belesen und nicht bigott, er hegte sogar Sympathie für die Arbeiterpartei, war jedoch der Ansicht, ihre Führer wüßten vorläufig noch nicht recht, wo sie hinauswollten. Er war augenscheinlich ein ‹Tory-Sozialist›. Er hatte ganz offen und aufrichtig mit ihr gesprochen. Ein freundlicher, anziehender Mensch mit welligem dunklem Haar, braunem Teint, kleinem dunklem Schnurrbart und weicher, ziemlich hoher Stimme. Ein anständiger Mensch, energisch, aufrecht. Doch wahrscheinlich hatte er bereits eine Sekretärin. Wenn es aber Clare damit ernst war, konnte man ja schließlich fragen. Sie schritt durch die Halle zur Gartentür. Draußen im Vorbau stand eine Bank; gewiß hatte sich Foch darunter verkrochen und harrte auf Einlaß. Und richtig! – er sprang hervor, wedelte mit dem Schweif und trabte zum Wassernapf für die Hunde. Wie kalt war es, wie still! Nichts regte sich auf der Straße, selbst die Eulen schwiegen. Garten und Felder bis zum Waldsaum dort drüben lagen mondbeschienen, still und frostig da. England im silbrigen Mondlicht, unbekümmert um sein Schicksal, ohne Glauben an die Segensstimme über Eden. Alt, schön, unverändert – wenn auch das Pfund nicht länger mit Gold gedeckt war. Dinny starrte in die kühle Nacht hinaus. Menschen und ihre Politik – wie wenig hatten sie doch zu bedeuten, wie bald waren sie dahin, ein Tautropfen am unermeßlichen Kristall der Schöpfung, ein Tautropfen, der im Nu zerrann! Wie seltsam – die leidenschaftliche Glut des Menschenherzens und die teilnahmslose, kalte Unergründlichkeit von Zeit und Raum! Wie das in Einklang bringen? …

Sie erschauerte und schloß die Tür.

Am nächsten Morgen sagte sie beim Frühstück zu Clare:

«Wollen wir das Eisen schmieden, solang es heiß ist, und Mr. Dornford aufsuchen?»

«Wozu?»

«Falls er eine Sekretärin braucht. Er ist höchstwahrscheinlich jetzt gewählt.»

«Oh, wirklich?»

«So gut wie sicher.» Dinny las den Wahlbericht. Die erdrückende liberale Opposition war durch nur fünftausend Leute der Arbeiterpartei ersetzt worden.

«Die nationale Parole hat diesmal die Wahlschlacht gewonnen», bemerkte Clare. «In dem Städtchen fand ich bei den Wählerbesuchen fast lauter Liberale vor; ich brauchte aber nur das Wort ‹national› in den Mund zu nehmen und sie fielen um.»

Die Schwestern erfuhren, das neugewählte Parlamentsmitglied werde noch den ganzen Vormittag über im Hauptquartier bleiben, und brachen gegen elf Uhr auf, um bei ihm vorzusprechen. Doch schon am Tor sahn sie so viele Menschen kommen und gehn, daß sie gar nicht eintreten wollten.

«Ich hasse solche Bittgänge», sagte Clare.

Dinny haßte sie nicht minder, gab jedoch zurück:

«Wart du hier, ich geh hinein und gratuliere ihm. Vielleicht find ich Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Er hat dich wohl schon gesehn?»

«O gewiß.»

Eustace Dornford, Königlicher Gerichtsrat, neugewähltes Parlamentsmitglied, saß in seinem Zimmer, das aus lauter Türen zu bestehen schien, und überflog eine Liste, die sein Gehilfe vor ihn auf den Tisch gelegt hatte. Von einer Tür her sah Dinny unterm Tisch seine Reitstiefel und auf dem Tisch seinen steifen Hut, Handschuhe und Reitpeitsche. Jetzt, da sie beinahe schon vor ihm stand, schien es ihr auf einmal ganz unmöglich, hier in diesem Augenblick einzudringen; eben wollte sie sich zurückziehn, da blickte er auf und rief:

«Minns, entschuldigen Sie mich einen Moment. Ah, Miss Cherrell!»

Sie hielt inne und wandte sich um. Er lächelte und sah erfreut drein.

«Kann ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein?»

Sie streckte ihm die Hand entgegen.

«Ich freue mich so sehr über Ihren Sieg. Meine Schwester und ich wollten Ihnen nur gratulieren.»

Er drückte ihr die Hand. ‹Du liebe Zeit› dachte Dinny, ‹der ungeeignetste Augenblick, ihn um etwas zu bitten.› Aber sie sagte:

«Großartig! Die Unsern hatten hier noch nie eine solche Mehrheit.»

«Werden sie auch nicht wieder bekommen. Hab Glück gehabt. Wo ist Ihre Schwester?»

«Im Auto.»

«Ich möchte mich bei ihr für ihre Propaganda bedanken.»

«Oh!» rief Dinny, «sie hat es mit Freuden getan.» Plötzlich fühlte sie: ‹Jetzt oder nie!› und fuhr fort: «Sie ist in trauriger Lage und sehnt sich sehr nach einer Beschäftigung. Mr. Dornford – bitte, denken Sie nur ja nicht – wie peinlich! – aber könnten Sie nicht vielleicht Clare als Sekretärin brauchen, wie? Nun ist's heraus! Sie kennt unsere Grafschaft gründlich, kann maschineschreiben, spricht Französisch und ein wenig Deutsch, falls es benötigt wird.» Dinny hatte alles rasch hervorgesprudelt und sah ihn bekümmert an. Doch er sah noch genau so eifrig und dienstbeflissen drein wie früher.

«Gehn wir doch zu ihr», schlug er vor.

‹Du lieber Himmel!› dachte Dinny, ‹hoffentlich hat er sich nicht gar in sie verliebt!› Und sie musterte ihn verstohlen von der Seite. Er lächelte noch immer, sah aber jetzt besonders klug aus. Clare stand neben dem Auto. ‹Könnt ich doch auch so kühl bleiben wie sie!› dachte Dinny. Dann blieb sie stehn und sah zu. Dieser Siegesrummel, das Kommen und Gehn der Leute! Das flotte, ungenierte Geplauder der beiden! Dieser heitre, strahlende Morgen! Er trat wieder auf Dinny zu.

«Ich bin Ihnen schrecklich dankbar, Miss Cherrell! Das trifft sich ausgezeichnet. Ich hab wirklich jemanden gebraucht und Ihre Schwester stellt sehr bescheidene Ansprüche.»

«Ich dachte schon, Sie würden es mir nie verzeihn, wenn ich Ihnen in diesem Augenblick mit einer Bitte komme.»

«Mir ist es jederzeit eine Freude, wenn Sie mich um etwas ersuchen. Jetzt muß ich zurück, doch ich hoffe, wir sehn uns recht bald wieder.»

Als er zurück ins Haus trat, sah ihm Dinny nach und dachte: ‹Seine Breeches haben einen recht guten Schnitt!› Sie stieg ins Auto.

«Dinny», sagte Clare lachend, «er ist in dich verliebt.»

«Was!»

«Ich hab zweihundert Pfund verlangt und er hat sofort mit zweihundertfünfzig abgeschlossen. Wie hast du ihn nur an einem einzigen Abend so weit gebracht?»

«Ich? Keine Spur. Ich fürchte, er ist in dich verliebt.»

«Nein, nein, Dinny. Ich hab Augen und weiß, es gilt dir. Du hast ja auch gleich gemerkt, daß Tony Croom in mich verliebt ist.»

«Das hab ich allerdings gemerkt.»

«Und ich merk das

«Lachhaft!» sagte Dinny ruhig. «Wann fängst du an?»

«Noch heute fährt er nach London. Er wohnt im ‹Temple›-Gebäude, Harcourt Buildings. Heut nachmittag fahr ich in die Stadt und beginne übermorgen meine Arbeit.»

«Wo wirst du wohnen?»

«Ich denke, ich werd mir ein unmöbliertes Zimmer oder kleines Atelier mieten und es nach und nach selbst möblieren und wohnlich machen. Das wird lustig!»

«Tante Emily fährt heute nachmittag zurück. Sie nimmt dich gewiß gern auf, bis du etwas Passendes findest.»

«Na, vielleicht», sagte Clare nachdenklich.

Ehe sie das Schloß erreichten, fragte Dinny:

«Und Ceylon, Clare? Hast du darüber nachgedacht?»

«Was nützt mir das Nachdenken? Vermutlich wird er irgendwas unternehmen, aber ich weiß nicht was, es ist mir schnuppe.»

«Hast du keinen Brief von ihm erhalten?»

«Nein.»

«Sei vorsichtig, meine Liebe.»

Clare zuckte die Achseln. «Oh, ich werd schon vorsichtig sein.»

«Kann er Urlaub bekommen, wann er will?»

«Ich denke schon.»

«Du bleibst doch mit mir in Verbindung, gelt?»

Clare wandte sich vom Volant ihr zu und küßte sie auf die Wange.


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