Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXVII

Dinny, deren mangelndes Interesse an der eigenen Person soviel andre Leute interessierte, empfing Mittwoch morgen drei Briefe. Der Brief, den sie zuerst öffnete, enthielt folgendes:

‹Liebste Dinny!

Ich habe den Versuch gemacht, meine Schuld zu begleichen, aber Tony wollte nichts davon wissen und schoß davon wie eine Rakete; ich bin jetzt also wieder eine Frau ohne jedes männliche Anhängsel. Wenn du etwas über ihn erfährst, verständige mich davon.

Dornford sieht von Tag zu Tag ‹interessanter› aus. Wir sprechen nur noch von Dir, und als Entschädigung erhöht er mein Gehalt auf dreihundert Pfund.

Die herzlichsten Grüße an Dich und alle andern!

Clare›

 

Der zweite Brief lautete:

‹Meine liebe Dinny!

Ich werde hier durchhalten. Die Stuten kommen Montag. Gestern suchte mich Muskham auf und benahm sich hochanständig, erwähnte mit keinem Wort den Prozeß. Ich will Vogelzucht studieren. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollten, bitte, trachten Sie doch herauszukriegen, wer die Prozeßkosten bezahlt hat. Die Ungewißheit macht mir Sorgen. Die Anwälte erklären nur, sie seien nicht befugt, darüber Auskunft zu erteilen.

Vielen herzlichen Dank dafür, daß Sie immer so nett zu mir waren.

Stets Ihr
Tony Croom›

 

Der Brief, den sie zuletzt las, lautete wie folgt:

 

‹Meine liebe Dinny!

Nichts zu machen. Entweder hat er die Kosten tatsächlich nicht bezahlt, oder er stellt sich nur unwissend, was ihm vortrefflich gelingt. Doch ich möchte nicht mit Gewißheit behaupten, daß er uns hinters Licht führt. Wenn Du wirklich großen Wert darauf legst, es zu erfahren, dann solltest Du ihn selbst geradeheraus fragen. Dir wird er nichts vorlügen, nicht das Mindeste. Wie Du weißt, kann ich ihn gut leiden. Noch immer Golddeckung vorhanden, wenn Du dem Gutachten eines alten Onkels Glauben schenkst.

Dein stets getreuer
Adrian›

 

So! Sie fühlte sich etwas irritiert. Dieses Gefühl, das sie für vorübergehend gehalten, kehrte also immer zurück. Ihre Stimmung schlug um wie das Wetter, wurde wieder kalt und bleiern. Sie schrieb Clare, was Tony Croom von sich erzählt und daß er sie mit keinem Wort erwähnt hatte. Sie schrieb Tony Croom und erwähnte Clare mit keinem Wort, gab ihm auch keine Auskunft auf die Frage, wer die Prozeßkosten beglichen habe. Sie äußerte sich nur über Vogelzucht – dieses Thema war unverfänglich und führte zu nichts. An Adrian schrieb sie: ‹Ich sehe ja ein, es wäre an der Zeit, mich auf den Markt zu werfen, nur fiele für die Aktionäre leider keine Dividende ab. Hier ist es öd und kalt, mich tröstet nur eins, daß der kleine Stammhalter des Hauses Cherrell schon das Sitzen lernt und richtig Notiz von mir nimmt.›

Und dann, als hätte die Leitung des Ascot-Rennens es bestellt, wurde das Wetter plötzlich warm. Und plötzlich schrieb sie an Dornford. Sie schrieb über Schweine, Schweinezucht, Schweineställe, die Regierung und die Bauern. Der Brief schloß mit den Worten:

‹Uns allen macht es arges Kopfzerbrechen, wer eigentlich im Prozeß meiner Schwester die Kosten beglichen hat. Es wirkt so beunruhigend, wenn man nicht weiß, wem man verpflichtet ist. Könnten Sie nicht trachten, irgendwie Licht in die Sache zu bringen?› Sie überlegte eine Weile, wie sie diesen ersten Brief an ihn zeichnen solle, und schrieb schließlich: ‹Stets Ihre Dinny Cherrell.›

Sehr rasch traf seine Antwort ein:

 

‹Meine liebe Dinny!

Ihr Brief hat mir eine Riesenfreude gemacht. Um zunächst Ihre Schlußfrage zu beantworten: Ich will mir alle Mühe geben, aus den Anwälten die Wahrheit herauszukriegen, aber wenn sie Ihnen gegenüber standhaft blieben, habe ich nicht viel Hoffnung, daß ich den Leuten das Geheimnis entlocke. Jedenfalls kann ich den Versuch wagen. Und jetzt zur Schweinezucht› – nun folgten einige Auskünfte und ein Klagelied über das Thema, daß die Landwirtschaft Englands noch immer in den Kinderschuhen stecke. ‹Wenn man doch nur endlich einsehn wollte, daß alle Schweine, alles Geflügel, alle Kartoffeln, die wir verbrauchen, fast alle Gemüse, ein Großteil des Obstes und viel mehr Molkereiprodukte, als wir jetzt erzeugen, in der Heimat hervorgebracht werden könnten! Man müßte nur durch allmählich gesteigerte Drosselung der Einfuhr unsere heimischen Erzeuger dazu anspornen, den heimischen Markt reichlicher zu beliefern. Dann hätten wir binnen zehn Jahren eine lebenskräftige, rentable Landwirtschaft, keine wesentliche Verteuerung der Lebenshaltung und gewaltige Ersparnisse an Importkosten. Sie sehen, für welche neuen politischen Ideen ich eintrete. Weizen und Fleisch sind die wichtigsten Posten. Weizen und Fleisch beziehen wir aus den Dominions, alles Übrige (abgesehen von den tropischen Früchten und Gemüsen) züchten wir in der Heimat – das ist mein Leitsatz. Ihr Vater stimmt mir hoffentlich bei. Clare wird stets unzufriedener, vielleicht würde sie sich in einem abwechslungsreicheren Beruf wohler fühlen als bei mir. Falls ich einen geeigneten Posten in Erfahrung bringe, werde ich mit ihr darüber sprechen. Möchten Sie nicht Ihre Mutter fragen, ob ich störe, wenn ich das letzte Wochenende des Monats draußen verbringe? Sie war so freundlich mir zu sagen, ich solle sie jedesmal, wenn ich in meinen Wahlkreis komme, verständigen. Unlängst war ich nochmals bei ‹Cavalcade›. Es interessierte mich wieder, doch ich habe Sie dabei vermißt. Ich kann Ihnen unmöglich sagen, wie sehr ich Sie vermißt habe!

Ihr allzeit getreuer
Eustace Dornford›

 

Wie sehr er sie vermißt hatte! Diese sehnsüchtigen Worte riefen einen Augenblick ein wärmeres Gefühl in ihr wach, dann aber dachte sie sofort wieder an Clare. Unzufrieden war sie? Wer wäre es nicht in ihrer ungewissen Lage? Seit dem Prozeß war sie nicht mehr nach Condaford gekommen. Dinny fand das nur natürlich. Mochte man hundertmal behaupten, die Meinung der Leute sei gleichgültig, es stimmte nicht, wenn man in einem Dorf aufgewachsen war und dort zum alten Erbadel gehörte. Und Dinny dachte traurig: ‹Ich weiß eigentlich nicht, was ich Clare wünschen soll – und das ist ein wahres Glück, denn eines Tages kommt sie selbst darauf, was sie sich eigentlich wünscht.› Wie angenehm, genau zu wissen, was man sich eigentlich wünschte! Sie las Dornfords Brief nochmals durch und begann unvermittelt, ihre eigenen Gefühle zu prüfen. Wollte sie überhaupt heiraten oder nicht? Wenn ja, dann Eustace Dornford lieber als irgendeinen andern – sie mochte ihn gut leiden, bewunderte ihn, konnte mit ihm sprechen. Aber ihre Vergangenheit? Wie komisch das nur klang! Ihre ‹Vergangenheit› war ja fast im Keim erstickt worden, dennoch – so tief würde sie nie mehr empfinden. ‹Eines Tages mußt du ja doch wieder in den Kampf hinaus.› Nicht angenehm, daß einen die eigene Mutter für einen Drückeberger hielt! Doch sie war ja kein Drückeberger! Rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Niemand würde es begreifen – sie empfand Abscheu davor, ihm die Treue zu brechen, ihm, dem ihre ganze Seele gehört hatte, wenn auch nicht ihr Körper. Sie empfand Abscheu davor, jener völligen Hingabe untreu zu werden, jener Hingabe, die sie nie wieder fühlen würde.

‹Ich liebe Eustace nicht›, dachte sie; ‹er weiß es, weiß, daß ich es ihm nicht einmal vortäuschen kann. Wenn er mich trotzdem mag, was soll – was kann ich tun?› Sie ging hinaus in den alten, von Eibenhecken umsäumten Rosengarten, wo eben die ersten Knospen aufbrachen, und roch bald an dieser, bald an jener Blüte; der Wachtelhund Foch, der für Blumen nichts übrig hatte, trabte schüchtern hinter ihr her.

‹Wie immer ich mich entscheide›, fuhr es ihr durch den Sinn, ‹ich muß mich jedenfalls bald entscheiden. Ich darf ihn nicht länger auf die Folter spannen.›

Sie trat neben die Sonnenuhr, deren Schatten eine Stunde hinter der wirklichen Zeit zurückblieb, und blickte über die Eibenhecken hinweg in den Sonnenglast, der die Kronen der Obstbäume umspielte. Wenn sie Dornford heiratete, dann würde sie Kinder haben – ohne Kinder könnte sie sich nie dazu verstehn. Sie sah ganz klar, oder bildete es sich wenigstens ein, wie es um ihr erotisches Fühlen stand. Nicht so klar sah sie voraus, wie diese Verbindung auf sein und ihr Seelenleben wirken würde. Rastlos wanderte sie von einem Rosenstrauch zum andern und entfernte mit den behandschuhten Fingern ein paar Blattläuse. In einer Ecke hockte mit verzweifelter Miene der Wachtelhund Foch und fraß unbemerkt rohes Gras.

Noch am selben Abend schrieb sie Dornford. Ihre Mutter würde sich sehr freuen, wenn er zum Wochenende herauskäme. Ihr Vater stimme mit seinen Ansichten über die Landwirtschaft vollkommen überein, wisse aber nicht, ob das außer ihm noch andre täten; höchstens Michael, der ihm in London eines Abends aufmerksam zugehört und schließlich geäußert habe: ‹Alles schön und gut. Aber die richtige Führung ist nötig, und wo finden wir die?› Hoffentlich werde er ihr bei seinem Besuch mitteilen können, wer die Prozeßkosten getragen habe. Es müsse erschütternd gewesen sein, ‹Cavalcade› ein zweites Mal zu sehn. Ob er eine Blume, namens Metonopsis kenne? – hoffentlich habe sie den Namen richtig geschrieben – eine Art Mohnblume von entzückender Farbe. Sie stamme aus dem Himalaya und würde gewiß in Campden Hill gut gedeihen, wo ihrer Ansicht nach ungefähr das gleiche Klima herrsche. Vielleicht könne er Clare dazu bewegen, mit herauszukommen? Das würde die Herzen der Eingeborenen von Condaford höher schlagen lassen. Diesmal unterzeichnete sie: ‹Allzeit Ihre›, nicht wie das letzte Mal: ‹Stets Ihre›.

Als sie der Mutter sein Kommen mitteilte, fügte sie hinzu:

«Ich will trachten, auch Clare herzulocken. Und sollten wir nicht auch Fleur und Michael einladen, Mutter? Es war sehr lieb von ihnen, uns so lang zu beherbergen.»

Lady Cherrell seufzte:

«Ach, man ist so an die Ruhe gewöhnt. Aber lade sie nur ein, meine Liebe.»

«Sie werden über Tennis plaudern. Und das ist so nett und nützlich!»

Lady Cherrell sah ihre Tochter an; Dinnys Stimme hatte so geklungen wie vor zwei Jahren.

Als Dinny erfuhr, daß nicht nur Michael und Fleur, sondern auch Clare kommen würde, ging sie mit sich zu Rate, ob sie nicht auch Tony Croom einladen solle. Am Ende entschied sie sich dagegen, freilich schweren Herzens, denn sie empfand für ihn das Mitgefühl eines Menschen, der durch das gleiche Feuer gegangen war.

Die Art, wie die Eltern ihre wahren Gefühle verschleierten, fand sie rührend. Dornford – natürlich, es war höchste Zeit, daß er wieder seinen Wahlkreis besuchte! Schade, daß er hier nicht selbst einen Landsitz hatte – es ging nicht an, allen Kontakt mit den Wählern zu verlieren! Vermutlich würde er mit dem Auto kommen und Clare mitbringen; vielleicht luden auch Michael und Fleur sie ein. Unter solchen Gedanken verbargen Vater und Mutter die nervöse Sorge um Clares und ihre Zukunft.

Eben hatte Dinny den letzten Blumenstrauß in das letzte Gastzimmer gestellt, da glitt auch schon das erste Auto vor. Sie eilte die Treppe hinab und sah Dornford in der Halle stehn.

«Dinny, dieser Landsitz hat wirklich ein ganz eigenes Leben. Vielleicht machen das die Tauben auf dem Dach, vielleicht, weil er so eingebettet im Grünen liegt; doch man hat sofort diesen Eindruck.»

Sie ließ ihre Hand länger in der seinen ruhn, als sie beabsichtigt hatte. Dann sagte sie:

«Alles wuchert hier so üppig. Und dieser Duft – nach Heu und Verbenenblüten; und vielleicht auch der Geruch von verwittertem Mauerwerk.»

«Sie sehn gut aus, Dinny.»

«Mir geht es auch gut, danke. Sie fanden wohl kaum Zeit, das Tennis-Tournier in Wimbledon zu besuchen?»

«Nein. Aber Clare ist dabei – sie kommt mit den jungen Monts aus Wimbledon direkt her.»

«Sie schrieben, Clare sei jetzt so unzufrieden. Wie meinen Sie das eigentlich?»

«Hm, soweit ich Clare kenne, muß sie immer im Mittelpunkt stehn – und das ist jetzt nicht der Fall.»

Dinny nickte.

«Hat sie Ihnen gegenüber von Tony Croom gesprochen?»

«Ja. Sie lachte und sagte, er habe sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.»

Dinny nahm seinen Hut und hing ihn an den Haken.

«Und was ist mit den Prozeßkosten?» fragte sie, ohne sich umzuwenden.

«Hm, ich ging eigens zu Forsyte, um ihn auszuholen, brachte aber nichts aus ihm heraus.»

«Oh! Möchten Sie sich jetzt waschen oder gleich in Ihr Zimmer hinauf? Das Abendessen wird um Viertel neun serviert, jetzt ist es halb acht.»

«Lieber gleich aufs Zimmer, wenn Sie erlauben.»

«Sie sind diesmal anderswo untergebracht, ich zeig Ihnen den Weg.»

Sie schritt ihm voraus bis an den Fuß der kleinen Treppe, die zur ‹Pfaffenkammer› führte.

«Das ist Ihr Badezimmer. Hier herauf, bitte.»

«Die Pfaffenkammer?»

«Jawohl, aber es geht kein Gespenst darin um.» Sie trat zum Fenster hinüber. «Sehn Sie doch nur! Hier ließ man ihm vom Dach aus einen Eßkorb herunter. Gefällt Ihnen der Ausblick? Im Frühling, wenn die Bäume blühn, ist's freilich noch schöner.»

«Herrlich!» Er stand neben ihr am Fenster, sie sah, wie er die Hände so fest an die Steinbrüstung klammerte, daß die Knöchel ganz weiß wurden. Jäh durchzuckte sie ein bitteres Gefühl. Hier hatte sie in ihren Träumen mit Wilfrid gestanden. Sie lehnte sich an den Pfeiler neben das tief eingelassene Fenster und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie seinen Blick forschend auf sich ruhn; seine Lippen bebten, die Hände hielt er hinter dem Rücken ineinandergekrampft. Sie schritt zur Tür hinüber.

«Ich werde sofort Ihre Sachen heraufschaffen und auspacken lassen. Bitte, beantworten Sie mir doch eine Frage: Haben Sie am Ende selbst die Prozeßkosten bezahlt?»

Er schrak auf und stieß ein leises Lachen aus, als sähe er sich plötzlich aus einer tragischen Situation in eine komische versetzt.

« Ich? Nein. Hab nicht einmal dran gedacht.»

«Oh!» rief Dinny wieder. «Sie haben noch reichlich Zeit.» Dann stieg sie die schmale Treppe hinunter.

Durfte sie ihm Glauben schenken? Doch, mochte sie es nun glauben oder nicht, war das nicht einerlei? Wesentlich war jetzt die Frage, auf die sie früher oder später Antwort geben mußte. ‹Noch ein Strom – noch über einen Strom!› Da hörte sie das zweite Auto vorfahren und lief eilends die Treppe hinab.


 << zurück weiter >>