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IV

Der Wählerfang – ein Prozeß, noch seltsamer als sein Name – stand in der Gegend von Condaford in Hochbetrieb. Jedem Dorfbewohner wurde eingeschärft, daß einzig die Vereinigung aller Stimmen auf Dornford das Land retten könne, dann wieder erfuhr er, das einzige Heil liege in der Wahl Stringers. Laut und öffentlich war den Wählern gepredigt worden – von Damen mit Auto, von Damen ohne Auto, und am häuslichen Herd von Stimmen, die aus Lautsprechern drangen. Zeitungen und Flugblätter baten sie dringend, doch nur ja zu bedenken, die Rettung des Vaterlands ruhe jetzt einzig und allein in ihren Händen. Man hatte sie aufgefordert, schon möglichst früh zur Urne zu schreiten, und es fehlte nur noch die Mahnung, möglichst oft zu schreiten. Man hatte ihnen auch die paradox klingende Tatsache klargemacht: Wen sie auch wählten, sie würden damit das Vaterland retten. Und diese Ansprachen hielten ihnen Leute, die augenscheinlich alles andre eher wußten als den Weg zur Rettung. Weder die Kandidaten und ihre Damen, noch jene geheimnisvollen, wesenlosen Stimmen und die noch wesenloseren Flugzettel hatten auch nur den leisesten Versuch unternommen, den Wählern diesen Weg zu enthüllen. Lieber nicht! Denn erstens kannte ihn niemand; und zweitens: Wozu sich auf Einzelheiten einlassen, da doch schon ganz Allgemeines zu dieser Rettung genügte? Wozu die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß das Allgemeine sich aus dem Besondern herleitet und daß vornehmlich in der Politik Versprechen und Halten zweierlei ist? Besser, weit besser, man beschränkte sich auf allgemein gehaltene, unbestimmte Versprechungen, schimpfte wie ein Rohrspatz über die Gegenpartei und nannte die Wähler die klügste, verständigste Gemeinschaft auf Gottes Erde.

Dinny trat nicht als Stimmenfängerin auf. Dafür war sie nach ihrer Meinung nicht geschaffen, vielleicht durchschaute sie das Wesen dieser Sache nur zu gut. Clare spürte zwar vielleicht auch ein wenig die Komik in diesem Getue, doch fiel ihr nicht ein, sich davon fernzuhalten – sie wollte ja um jeden Preis etwas tun. Die Aufnahme, die ihr Werben überall fand, kam ihr sehr zustatten. Es hatte ja stets Wahlschlepper gegeben und würde sie immer geben. Für die Ohren der Wähler bedeuteten diese Werbereden eine harmlose Zerstreuung wie das Summen von Mücken, die nicht stachen. Für ihre Wahl waren dann ganz andre Gründe ausschlaggebend: die Wahl der Väter und Vorväter, Rücksichtnahme auf den Beruf, den Gutsherrn, die Kirche, die Gewerkschaft; das Verlangen nach einem Wechsel, von dem sie sich allerdings nicht viel versprachen; und bei so manchem der gesunde Menschenverstand.

Clare scheute ihre Fragen, plauderte so wenig wie möglich und ging rasch auf die Babies oder die Gesundheit der Familien über. Am Ende stellte sie zumeist die Frage, um welche Zeit man die Leute zur Urne führen solle; dann notierte sie die Stunde in einem Büchlein und zog wieder ab, nicht viel klüger denn zuvor. Da sie eine Cherrell war – somit keine Landfremde – nahm man sie als selbstverständlich hin. Zwar war sie nicht mit allen persönlich bekannt wie Dinny, gehörte aber doch einer Familie an, die geradezu als geheiligte Institution galt; denn Condaford ohne Cherrells war fast undenkbar.

Am Samstag vor der Wahl fuhr sie etwa um vier Uhr von diesem pflichtenreichen Zeitvertreib nach Hause, da wurde sie von einem zweisitzigen Auto überholt, eine Stimme rief ihren Namen, und sie erblickte den jungen Tony Croom.

«Was in aller Welt nur treiben Sie denn hier, Tony?»

«Ich konnt es nicht länger aushalten, ohne Sie einen Augenblick zu sehn.»

«Aber, lieber Junge, das Ziel dieser Fahrt ist für jedermann mehr als durchsichtig.»

«Ich weiß, aber nun hab ich Sie gesehn!»

«Sie wollten mich doch nicht gar besuchen, oder doch?»

«Nur, wenn ich Sie nicht zufälligerweise getroffen hätte, wie eben jetzt. Clare, Sie sind so schön!»

«Na wenn schon! Das ist doch noch kein Grund, mir zu Haus eine Suppe einzubrocken.»

«Das möcht ich um keinen Preis! Doch ich muß Sie ab und zu sehn, sonst werd ich noch verrückt.»

Seine Miene war so ernst, seine Stimme so bewegt, daß Clare zum ersten Mal in ihrem Herzen, diesem altmodischen Organ, ein Zucken fühlte.

«Das ist schlimm!» meinte sie, «aber ich muß erst auf eignen Füßen stehn und kann keine Komplikationen brauchen.»

«Ich möcht dich nur einmal küssen! Dann bin ich glücklich und geh wieder.»

Noch verwirrter, hielt ihm Clare die Wange hin. «Da, aber rasch!» rief sie.

Er preßte die Lippen auf ihre Wange, doch als er ihren Mund suchte, wich sie zurück.

«Nicht! Tony, jetzt mußt du fort. Wenn du mich wiedersehn willst, dann in der Stadt. Aber wohin soll das führen? Es wird uns nur unglücklich machen.»

«‹Uns› sagst du! Das war lieb von dir!»

Clares braune Augen leuchteten, schimmerten wie Malagawein, den man gegen das Licht hält.

«Hast du schon Arbeit gefunden?»

«Es gibt keine Arbeit mehr!»

«Nach den Wahlen wird es besser sein: Ich hab vor, mich an einem Hutsalon zu beteiligen.»

«Du?»

«Etwas muß ich tun. Meine Leute haben schwer zu kämpfen wie jedermann heutzutage. Tony, du hast gesagt, du gehst gleich.»

«Versprich mir, daß du mir sofort nach deiner Ankunft in London schreibst.»

Clare nickte und setzte den Motor wieder in Gang. Als das Auto langsam vorwärts glitt, wandte sie den Kopf und lächelte ihm nochmals zu. Noch immer stand er da, die Hände an die Stirn gepreßt, bis das Auto eine Biegung nahm und Clare verschwand.

Als sie daheim den Wagen in die Garage brachte, murmelte sie: «Armer Junge!» und fühlte sich dabei recht wohl. Wie immer Gesetz und Moral auch urteilen mögen, eine schöne junge Frau atmet doch freier, wenn man ihr den Weihrauch der Anbetung streut. Sie hat wohl die Absicht, auf dem rechten Weg zu bleiben, doch weiß sie auch, was ihr gebührt, und mag nicht im Schatten stehn. An diesem Abend sah Clare noch hübscher aus und fühlte sich frischer und wohler als sonst. Aber welch eine verhexte Nacht! Vor dem Fenster hob sich gespenstisch der Vollmond, raubte den Schlaf. Clare stand auf und zog die Vorhänge auseinander. Dann schlüpfte sie in ihren Pelzmantel und trat ans Fenster. Draußen herrschte offenbar Frost, Nebelschwaden lagerten über den Wiesen. Die zerzausten Wipfel der hohen Ulmen schwammen sacht über dem weißen Dunst. Das Land dort draußen kam Clare so fremd vor, als sei es vom Mond gefallen. Sie erschauerte. Schön mochte es ja sein, aber frostig, unheimlich, eine eisige Pracht. Sie dachte an jene Nächte im Roten Meer, da sie die Decken abgeworfen und sogar die Mondstrahlen als heiß empfunden hatte. Die Leute an Bord hatten über sie und Tony geklatscht, was sie aus so manchem Anzeichen erriet, doch es war ihr einerlei gewesen. Was lag schon dran? Nicht einmal einen Kuß hatte er ihr jene ganze Zeit über gegeben. Auch nicht an jenem Abend, als sie ihm bei seinem Besuch in ihrer Salonkabine Photos gezeigt und mit ihm geplaudert hatte. Ein hübscher Junge, bescheiden, ein Gentleman! Was konnte sie dafür, wenn er jetzt in sie verliebt war? Sie hatte es nicht drauf angelegt, ihn zu behexen. Was man auch tat, das Leben stellte einem ja doch ein Bein! Aber alles mußte von selbst ins rechte Gleise kommen. Keinen Pfifferling taugten Entschlüsse, Pläne, Richtlinien. Das alles hatte sie ja bei Jerry versucht! Sie erschauerte, lachte auf, dann zwang sie sich mit Gewalt zu starrer Ruhe. Nein! Wenn Tony sich einbildete, sie würde ihm so bald in die Arme fallen, dann war er auf dem Holzweg. Sinnliche Liebe! Die kannte sie von Grund auf! Nein, danke schön! Jetzt war sie kalt, wie das Mondlicht da draußen. Selbst der Mutter gegenüber konnte sie unmöglich von ihren Erlebnissen sprechen, was auch sie und der Vater denken mochten.

Dinny mußte ihnen schon etwas angedeutet haben, denn die Eltern hatten sich schrecklich taktvoll benommen. Aber sogar Dinny wußte nicht alles. Niemand sollte es je erfahren! Wenn sie nur Geld hätte, dann wäre alles anders. Ruiniertes Leben und so weiter – altmodisches Gefasel! Das Leben konnte stets amüsant sein, wenn man es nur recht anzupacken wußte. Sie würde nicht den Kopf hängen lassen und Trübsal blasen! Ganz und gar nicht! Doch irgendwie mußte sie Geld verdienen. Sie erschauerte in ihrem Pelzmantel. Die Kälte dieser Mondnacht drang einem bis ins Mark. Diese alten Herrenhäuser – ohne Zentralheizung, weil man sich die Installation nicht leisten konnte. Gleich nach den Wahlen würde sie nach London fahren und Umschau halten. Vielleicht konnte ihr Fleur an die Hand gehn. Wenn mit Hüten nichts anzufangen war, fand sich vielleicht eine Stelle als Sekretärin bei einem Abgeordneten. Sie konnte Maschineschreiben, sprach gut Französisch und hatte eine leserliche Handschrift. Sie konnte ausgezeichnet chauffieren, Pferde zureiten, wußte genau Bescheid über das Leben in Herrenhäusern, über Rangordnung und Gepflogenheiten. Sicher brauchte so mancher Abgeordnete jemanden, der ihn in Fragen der Kleidung und Etikette beriet, ihn lehrte, dies und jenes abzulehnen, ohne Anstoß zu erregen, und ihm beim Lösen von Kreuzworträtseln half. Sie verstand viel von Hunden und etwas von Blumen, besonders von ihrer Anordnung in Schalen und Vasen. Aber vielleicht mußte man auch in der Politik beschlagen sein? Na, das würde sie bald deichseln. In diesem kühlen, traumhaften Mondlicht spann Clare ihre Zukunftsträume; eine Frau wie sie konnte man zweifellos brauchen. Mit einem Gehalt und ihrer Jahresrente von zweihundert Pfund mußte sie für ihre Person ganz gut auslangen. Der Mond hinter einer Ulme sah nun keineswegs mehr so vernichtend kalt und gleichmütig drein, eher wie ein muntrer Intrigant, und spähte durch das immer noch dichte Gezweig, als sei er mit ihr im Bunde. Sie kuschelte sich zusammen, tat ein paar Tanzschritte, um sich die Füße zu erwärmen, und schlüpfte zurück ins Bett …

Der junge Croom war in bescheidenem Neunzig-Kilometer-Tempo mit seinem geborgten Zweisitzer nach London zurückgerattert. Sein erster Kuß auf Clares kalte und doch glühende Wange hatte ihn von Sinnen gebracht. Welch gewaltiger Schritt vorwärts! Er war kein junger Lebemann. Daß Clare die Gattin eines andern war, schien ihm durchaus kein Vorteil. Ob er sie aber in ihren Mädchentagen ebenso stürmisch geliebt hätte, ließ er dahingestellt. Mögen sich die Psychologen mit dem Problem befassen, warum das Wissen um die Liebesfreuden auf ganz besondre Art den Zauber einer Frau erhöht, die Sinne des Mannes ganz besonders aufpeitscht – ein junger, offenherziger Mensch, der sich zum ersten Mal verliebt hat, zerbricht sich darüber nicht den Kopf. Er begehrte sie – zur Gattin womöglich, ging das nicht an, dann eben anders. Drei Jahre lang war er in Ceylon gewesen, hatte schwer gearbeitet, nur wenige weiße Frauen gesehn und keine, die ihm gefallen hätte. Seine ganze Leidenschaft hatte bisher dem Polo gegolten und er war Clare gerade in der Zeit begegnet, da er Arbeit und Polo zugleich verloren hatte. Clare füllte in seinem Leben eine klaffende Lücke aus. Ebenso wie Clare brauchte auch er dringend Geld, ja noch dringender als sie.

Er hatte sich ungefähr zweihundert Pfund erspart; waren die verbraucht, dann hing er eben in der Luft, wenn er nicht inzwischen Arbeit fand. Er brachte das Auto in der Garage seines Freundes unter und sann darüber nach, wo er am billigsten speisen könne; zuletzt entschied er sich für seinen Klub. Dort verbrachte er fast seine ganze Zeit; in seinem Zimmer in der Ryder Street pflegte er nur zu schlafen und ein bescheidenes Frühstück – Tee und weiche Eier – zu verzehren. Es war ein ganz einfaches Zimmer im Erdgeschoß, mit Bett und Kommode, die Fenster gingen auf die hohe Hinterwand eines andern Hauses hinaus. In derartigen Räumen hatte sein Vater, wenn er in den Neunzigerjahren nach London kam, um das halbe Geld übernachten und frühstücken können.

Am Sonnabend war der ‹Coffee House›-Klub ganz verlassen, bis auf einige ‹alte Kracher›, die das Wochenende meist in der St. James's Street verbrachten. Der junge Croom bestellte das billigste Menü, aß es bis zum letzten Bissen auf und trank Schwarzbier dazu; dann ging er ins Rauchzimmer hinunter, eine Pfeife zu schmauchen. Als er sich eben in einem Lehnsessel niederlassen wollte, sah er vor dem Kamin einen hochgewachsnen, hagern Mann stehn mit beweglichen dunklen Brauen und weißem Schnurrbärtchen, der ihn durch ein schildpattgefaßtes Monokel prüfend betrachtete. Tony Croom trat auf ihn zu – Liebende suchen ja meist begierig Verbindung mit der Angebeteten – und fragte:

«Sie verzeihn, Sir, sind Sie nicht Sir Lawrence Mont?»

«Hab es mir zeitlebens eingebildet.»

Der junge Croom lächelte.

«Sir, dann hab ich ja Ihre Nichte, Lady Corven, auf meiner Heimreise von Ceylon kennengelernt. Sie sagte mir, daß Sie Mitglied dieses Klubs seien. Ich heiße Croom.»

«Ah!» rief Sir Lawrence und ließ das Monokel sinken, «Ihren Vater hab ich, wenn mir recht ist, gekannt – vor dem Krieg war er immer hier.»

«Ja, schon als Wickelkind ließ er mich in der Mitgliedsliste vormerken. Mir scheint, ich bin der Jüngste im Klub.»

Sir Lawrence nickte. «Sie trafen also Clare. Wie fanden Sie meine Nichte?»

«Ganz wohlauf, Sir.»

«Nehmen wir doch Platz und plaudern wir über Ceylon. Zigarre gefällig?»

«Danke, Sir. Ich hab meine Pfeife.»

«Vielleicht Kaffee? Kellner, zwei Mokka. Meine Gattin ist draußen in Condaford bei Clares Familie zu Besuch. Eine anziehende junge Frau, diese Clare.»

Als der junge Croom die dunklen, schlangenklugen Augen auf sich ruhen sah, bereute er es, daß er dem Impuls gehorcht hatte, Sir Lawrence anzusprechen. Er war feuerrot geworden, erklärte jedoch tapfer:

«Jawohl, Sir. Ich fand sie entzückend.»

«Kennen Sie Corven?»

«Nein», erwiderte der junge Croom kurz.

«Ein kluger Kopf. Hat Ihnen Ceylon gefallen?»

«Freilich. Aber es mag von mir nichts mehr wissen.»

«Kehren Sie nicht zurück?»

«Ich glaube kaum.»

«Es ist lange her, seit ich in Ceylon war. Indien hat Ceylon jetzt in den Hintergrund gedrängt. Waren Sie schon in Indien?»

«Nein, Sir.»

«Schwer zu sagen, ob das indische Volk alle Brücken wirklich abbrechen will. Siebzig Prozent Ackerbauer! Bauern wünschen geordnete Verhältnisse und ein ruhiges Leben. Ich erinnere mich noch, vor dem Krieg gab es in Ägypten eine starke nationale Propaganda; aber die Fellachen traten stets für Kitchener und die Festigung der britischen Herrschaft ein. Wir nahmen ihnen Kitchener weg und raubten ihnen durch den Krieg die geordneten Verhältnisse, drum liefen sie schließlich zu den Gegnern über. Was haben Sie in Ceylon getrieben?»

«Eine Teeplantage geleitet. Aber man traf Sparmaßnahmen, zog drei Betriebe zusammen, und ich war überflüssig. Was glauben Sie, Sir, ist eine Besserung möglich? Ich verstehe nämlich nichts vom Wirtschaftsleben.»

«Kann niemand wissen. Dutzende von Ursachen haben zusammen den gegenwärtigen Stand der Dinge bewirkt, die Leute aber suchen alles auf eine einzige zurückzuführen. Nehmen wir zum Beispiel die Krise in England: Die Ausschaltung des Handels mit Rußland; die erhöhte Unabhängigkeit der europäischen Staaten; die gewaltige Schrumpfung des Exports nach Indien und China; die Hebung des Lebensstandards seit dem Weltkrieg; das Anschwellen der Staatsausgaben von etwa 200 auf 800 Millionen – also fast 600 Millionen Pfund werden jährlich der Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten entzogen. Auch die Überproduktion bezeichnet man als Ursache der Weltkrise, doch bei uns in England spielt sie gewiß keine Rolle, schon lange Jahre haben wir nicht mehr so wenig produziert wie jetzt. Dazu kommt noch das Dumping und unsere entsetzlich schlechte Organisation; die schlechten Märkte für unsere geringfügige Agrarproduktion. Und zu alledem bilden wir uns noch beständig ein: ‹Über Nacht wird alles gut› und benehmen uns überhaupt wie verzogene Kinder. All das ist echt englisch, nur der allzu hohe Lebensstandard und die Pose des verzogenen Kindes treffen auch auf Amerika zu.»

«Und die andern Ursachen in Amerika?»

«Die Amerikaner haben bestimmt zu viel produziert und zu viel spekuliert und haben überhaupt so in Saus und Braus gelebt, daß sie ihre Zukunft verpfändet haben – Ratensystem und so weiter. Obendrein sitzen sie auf ihrem Gold, aber Gold trägt keine Früchte. Und vor allem sehn sie noch immer nicht ein, daß sie das Kapital, das sie Europa in der Kriegszeit liehen, ja selbst aus dem Krieg gewonnen hatten. Wenn sie einer allgemeinen Annullierung der Kriegsschulden zustimmen, dann tragen sie zum allgemeinen Wiederaufbau und damit auch zu ihrem eigenen bei.»

«Aber werden sie jemals zustimmen?»

«Man kann nie wissen, was die Amerikaner tun werden. Sie sind unberechenbarer als wir Menschen der alten Welt. Sie sind einer großzügigen Handlungsweise fähig, und wäre es selbst in ihrem eigenen Interesse. – Sind Sie stellenlos?»

«Nur zu sehr!»

«Wie steht es mit Ihrer Vorbildung?»

«Ich habe am Wellington-College und zwei Jahre in Cambridge studiert. Dann kam diese Stellung auf der Teeplantage und ich habe mich wie ein Habicht drauf gestürzt.»

«Wie alt sind Sie?»

«Sechsundzwanzig.»

«Haben Sie eine Ahnung, was Sie anfangen wollen?»

Der junge Croom beugte sich vor.

«Wahrhaftig, Sir, ich packe gern alles an. Aber ich versteh mich ziemlich gut auf Pferde. Ich dachte, vielleicht wäre ich beim Training zu verwenden oder in einem Gestüt; oder ich könnte Reitlehrer werden.»

«Gute Idee! Seltsam ist das mit den Pferden, sie scheinen abgetan und kommen doch wieder. Ich werde mit meinem Vetter Jack Muskham sprechen. Er züchtet Vollblutpferde. Und er hat sich in den Kopf gesetzt, wieder einen Einschlag echten Araberbluts in die englische Vollblutrasse zu bringen. Tatsächlich läßt er sich ein paar arabische Stuten kommen. Vielleicht kann der jemanden brauchen.»

Der junge Croom wurde rot und lächelte.

«Das wäre furchtbar nett von Ihnen, Sir. Klingt ideal. Ich hab schon arabische Polo-Ponys gehabt.»

«Hm», murmelte Sir Lawrence nachdenklich, «ich habe für niemanden soviel Mitgefühl wie für einen Menschen, der Arbeit sucht und keine finden kann. Aber erst müssen wir die Wahlen hinter uns haben. Wenn die Sozialisten nicht gestürzt werden, müssen die Pferdezüchter ihre Rosse noch zu Streichwurst verarbeiten lassen. Stellen Sie sich nur vor, die Mutter eines preisgekrönten Renners zum Butterbrot beim Tee zu verzehren!»

Er erhob sich.

«Jetzt werde ich Ihnen gute Nacht sagen, meine Zigarre langt gerade noch für den Heimweg.»

Auch der junge Croom erhob sich und wartete, bis diese hagere, bewegliche Gestalt verschwunden war.

‹Furchtbar netter alter Knabe›, dachte er und ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. Die Rauchwolken seiner Pfeife gaukelten ihm hoffnungsvolle Zukunftsbilder und Clares Antlitz vor.


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