Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXX

Im Auto auf dem Heimweg zum South Square saß Clare stumm da; vor ‹Big Ben›, dem Parlamentsturm, sagte sie unvermittelt:

«Stell dir nur vor, der Detektiv hat ins Auto geglotzt, just als wir eben schliefen. Oder hat er das am Ende nur erfunden? Was meinst du, Dinny?»

«Wäre es bloße Erfindung, so hätte er sie bestimmt noch überzeugender gestaltet.»

«Mein Kopf lag tatsächlich auf Tonys Schulter. Warum auch nicht? Versuch du es einmal, in einem Zweisitzer zu schlafen.»

«Mich wundert nur, daß er dich mit seiner Taschenlampe nicht geweckt hat.»

«Wahrscheinlich hat er mich geweckt. Ich schrak oft aus dem Schlaf auf und spürte einen Krampf in den Beinen. Dinny, meine größte Dummheit war es, Tony an jenem Abend nach dem Besuch des Kinos und Restaurants noch zu einem Gläschen in meine Wohnung einzuladen. Wir waren unglaublich naiv, hatten keine Ahnung, daß wir bespitzelt wurden. War ein besonders großes Auditorium im Gerichtssaal?»

«Ja, aber morgen wird es noch größer sein.»

«Hast du Tony gesehn?»

«Nur ganz flüchtig.»

«Hätt ich dir doch gefolgt und die Klage unangefochten gelassen! Wenn ich ihn wenigstens wirklich lieb hätte!»

Dinny gab keine Antwort.

 

Tante Emily saß in Fleurs Salon. Sie erhob sich, trat auf Clare zu, öffnete den Mund, besann sich dann augenscheinlich eines Bessern, betrachtete prüfend ihre Nichte und sagte unvermittelt:

«Könnte besser sein! Dinny, erzähl mir doch was vom Richter. Hat er eine lange Nase?»

«Nein, aber er sitzt sehr tief und sein Kopf schnellt immer vor.»

«Warum?»

«Liebes Tantchen, ich hab ihn nicht danach gefragt.»

Lady Mont wandte sich an Fleur.

«Kann Clare nicht das Dinner im Bett serviert bekommen? Geh doch, meine Liebe, nimm ein langes Bad und steh nicht vor morgen auf. Dann wirst du ganz frisch vor diesen Richter treten. Geh du mit ihr, Fleur, ich möchte noch mit Dinny plaudern.»

Als die beiden fort waren, trat sie zum Kamin hinüber, in dem ein Holzfeuer brannte.

«Dinny, tröste mich doch! Warum müssen sich solche Sachen in unsrer Familie zutragen? Paßt doch so gar nicht zu uns – höchstens zu eurem Urgroßvater, der noch vor der Königin Viktoria zur Welt kam.»

«Der war ein lockrer Zeisig, meinst du?»

«Jawohl. Vom Spielteufel besessen, er genoß gern selbst und mit andern. Seine Frau hatte eine Engelsgeduld. Eine Schottin. Seltsam!»

«Wahrscheinlich ist das der Grund, daß wir andern Cherrells seither solch musterhaftes Leben führen.»

«Wieso der Grund?»

«Diese Abstammung.»

«Eher das Geld», bemerkte Lady Mont. «Er hat alles verpulvert.»

«War denn viel da?»

«Jawohl. Die Kornpreise damals!»

«Wie gewonnen, so zerronnen.»

«Sein Vater konnte Napoleon nicht herausreißen. Damals waren zweieinhalbtausend Hektar Land im Familienbesitz, dein Urgroßvater hinterließ nicht einmal fünfhundert.»

«Zumeist Wald.»

«Den behielt er – wegen der Schnepfenjagd. Kommt der Fall in die Abendblätter?»

«Selbstverständlich, Jerry ist ja eine bekannte Persönlichkeit.»

«Hoffentlich wird ihr Kleid nicht beschrieben. Haben dir die Geschwornen gefallen?»

Dinny zuckte die Achseln. «Man weiß doch nie, was diese Leute wirklich denken.»

«Schnüffeln alles heraus wie Spürhunde. Und was macht jener junge Mann?»

«Das ist der einzige, der mir wirklich leid tut.»

«Ach ja», meinte Lady Mont. «Im Herzen begeht schließlich jeder Mann Ehebruch, aber nicht im Auto.»

«Es kommt gar nicht auf die Wahrheit an, Tante Emily, sondern auf den Schein.»

«Ein Indizienbeweis, meint Lawrence, macht es ganz einleuchtend, daß sie etwas taten, wenn sie's auch nicht getan haben. Das hält er für die zuverlässigste Methode; andernfalls, sagt er, kannst du ihre Schuld beweisen, wenn sie auch noch so unschuldig sind. Stimmt das, Dinny?»

«Nein, liebe Tante.»

«Na, ich muß jetzt nach Haus zu deiner Mutter. Sie kann keinen Bissen essen – sitzt ganz verloren da, liest und sieht bleich aus. Und Conway wagt sich auch nicht in die Nähe seines Klubs. Fleur sagt, wenn erst alles vorüber ist, sollten deine Eltern und wir in ihrem Auto nach Monte Carlo fahren. Dort werden wir ganz in unserm Element sein, meint sie, und wenn Riggs ordentlich aufpaßt, so kann er sich auch in die Rechtsfahrordnung finden.»

Dinny schüttelte den Kopf.

«Tantchen, am liebsten verkriecht man sich ja doch in die eigene Höhle.»

«Ich bin nicht fürs Verkriechen», erklärte Lady Mont. «Gib mir einen Kuß! Und sieh zu, daß du bald unter die Haube kommst.»

Als sie aus dem Zimmer gesegelt war, trat Dinny ans Fenster und blickte auf den Square hinaus. Unausrottbar, dieser Trieb, Ehen zu stiften! Tante Emily und Onkel Adrian, ihr Vater, ihre Mutter, Fleur, ja sogar Clare – sie alle wünschten sehnlich, sie solle sich doch endlich entschließen und Dornford heiraten!

Aber was hätten sie schon davon! Woher kam doch dieser Trieb, die andern zu verkuppeln? Wenn sie überhaupt zu etwas taugte, würde das ihren Wert erhöhen? ‹Zur Erzeugung rechtmäßiger Nachkommen› – so hieß es wohl in jener alten Formel. Die Welt durfte doch nicht aussterben. Aber warum denn nicht? Heutzutage nannte sie doch jedermann eine Hölle. Gab es denn kein andres Lebensziel, als für neue Erdenbürger zu sorgen?

‹Oder die Katholische Kirche›, dachte sie, ‹und an die glaub ich auch nicht.›

Sie öffnete das Fenster und lehnte sich an die Brüstung. Eine Fliege summte auf sie zu. Dinny scheuchte sie fort, doch die Fliege kam augenblicklich wieder. Fliegen! Auch sie erfüllten einen Daseinszweck. Welchen Zweck? Sie lebten, solang sie eben lebten, und wenn sie starben, waren sie dahin. ‹Die lebt nicht halb, sie lebt ganz oder gar nicht›, dachte Dinny und scheuchte die Fliege wieder fort; diesmal kam sie nicht zurück.

Im Hintergrund des Zimmers ließ sich Fleurs Stimme vernehmen:

«Ist dir nicht kalt hier, liebe Dinny? Hast du je solch ein Jahr erlebt? Aber das sag ich jeden Mai. Komm, nimm doch Tee. Clare ist im Bad und sieht reizend aus, die Teetasse in der einen, die Zigarette in der andern Hand. Vermutlich wird die Geschichte morgen erledigt.»

«Dein Vetter ist dieser Meinung.»

«Er kommt zum Dinner. Seine Frau ist zum Glück in Droitwich.»

«Warum zum Glück?»

«Na, sie ist eben eine Frau. Wenn er Clare etwas zu sagen hat, werd ich ihn zu ihr hinauf schicken; sie wird dann schon aus dem Bad sein. Aber er kann es ja ebensogut dir sagen. Was meinst du, wird sich Clare beim Verhör gut ausnehmen?»

«Wie kann man sich überhaupt beim Verhör gut ausnehmen?»

«Ich nahm mich seinerzeit gut dabei aus; mein Vater hat es wenigstens behauptet, aber der war ja parteiisch. Und hat dir nicht der Vorsitzende beim Totenschaugericht ein Kompliment gemacht, als er dich über den Fall Forest vernahm?»

«Das war kein richtiges Verhör. Clare hat keine Geduld, Fleur.»

«Sag ihr, sie soll bis fünf zählen, ehe sie Antwort gibt, und die Brauen hochziehn. Diesen Brough müßte man aus dem Konzept bringen.»

«Mich würde seine Stimme rasend machen, noch dazu hat er die Gewohnheit, Pausen einzuschalten, als hätte er noch den ganzen Tag vor sich.»

«Ein gewöhnlicher Trick. Mich erinnert alles dabei stark an die Inquisition. Was hältst du von Clares Anwalt?»

«Wenn ich sein Gegner wäre, ich würde ihn hassen.»

«Dann ist er tüchtig. Nun, Dinny, was ist die Moral von der ganzen Geschichte?»

«Nur nicht heiraten!»

«Gar zu radikal, solange man Kinder nicht in der Retorte herstellen kann. Hast du denn noch nie bedacht, daß die Zivilisation auf dem Mutterschaftsinstinkt beruht?»

«Ich dachte, sie beruhe auf dem Ackerbau.»

«Unter Zivilisation versteh ich alles, was nicht rohe Gewalt ist.»

Dinny sah ihre zynische, oft etwas oberflächliche Kusine an, die so selbstsicher, elegant und schön manikürt vor ihr stand; sie fühlte sich ganz beschämt.

«Du bist wirklich ein reizender Kerl!» sagte Fleur unerwartet.

Clare nahm die Mahlzeit im Bett. Nur ein Gast war zugegen, der ‹ganz junge› Roger, dennoch herrschte bei Tisch ein flottes Gespräch. Er sprach zunächst von den Gefühlen seiner Angehörigen über die Steuern und wurde dabei ganz amüsant. Sein Onkel Thomas Forsyte hatte sich auf der Insel Jersey niedergelassen, offenbar weil sie steuerfrei war, kehrte aber empört nach London zurück, als man sich auf Jersey mit dem Plan trug, eine eigne Steuer einzuführen. Unter dem Pseudonym ‹Ein Individualist› hatte er einen Brief an die ‹Times› geschrieben, sein gesamtes investiertes Vermögen flüssig gemacht und es dann in steuerfreien Wertpapieren angelegt, die ihm etwas weniger einbrachten, als früher der Reinertrag des besteuerten Kapitals ausgemacht hatte. Bei der letzten Wahl hatte er für die ‹Nationalen› gestimmt, doch seit dem neuen Budget sah er sich nach einer andern Partei um, der er bei der nächsten Wahl mit gutem Gewissen seine Stimme geben könne. Er lebte an der Südküste in Bournemouth.

«Er hat sich ausgezeichnet konserviert», schloß der ‹ganz junge› Roger. «Verstehst du was von Bienen, Fleur?»

«Ich hab mich einmal auf eine draufgesetzt.»

«Und Sie, Miss Cherrell?»

«Wir züchten Bienen.»

«Würden Sie an meiner Stelle eine Bienenzucht anfangen?»

«Wo wohnen Sie?»

«Gleich hinter Hatfield. In der Nähe gibt es ein paar ganz schöne Kleefelder. In der Theorie scheint mir die Bienenzucht verlockend. Man lebt von andrer Leute Klee und Blumen. Und wer auf seinem Grund und Boden einen Schwarm findet, darf ihn behalten. Aber die Schattenseiten?»

«Nun, wenn sie auf fremdem Boden schwärmen, so sind sie mit neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit für Sie verloren, und dabei mußten Sie den Schwarm den ganzen Winter durchfüttern. Übrigens ist alles nur eine Frage der Zeit, der Mühe und der Stiche.»

«Daraus würde ich mir wenig machen», murmelte der ‹ganz junge› Roger, «meine Frau würde sich damit befassen.» Er zwinkerte ein wenig. «Sie hat Rheumatismus. Bienensäure soll ja das beste Heilmittel sein.»

«Überzeugen Sie sich doch zuerst davon, ob die Bienen Ihre Frau auch wirklich stechen. Bienen sind nicht zu bewegen, jemanden zu stechen, den sie gut leiden mögen.»

«Für alle Fälle kann man sich ja draufsetzen», murmelte Fleur.

«Allen Ernstes», meinte der ‹ganz junge› Roger, «ein halbes Dutzend Stiche sind den Versuch wohl wert. Die Arme!»

«Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, Anwalt zu werden, Forsyte?» fiel Michael ein.

«Ich wurde im Krieg verwundet, danach enthoben und mußte einen Beruf mit sitzender Lebensweise wählen. Einerseits hab ich die Arbeit recht gern, anderseits –»

«Verstehe», sagte Michael. «Hatten Sie nicht einen Onkel namens George?»

«Ach, der alte George – freilich! Als ich noch in die Schule ging, gab er mir immer zehn Shilling und den Rat, sie auf ein bestimmtes Pferd zu setzen.»

«Hat es je gewonnen?»

«Nein.»

«Sagen Sie uns jetzt offen und ehrlich, wer wird morgen gewinnen?»

«Offen und ehrlich», bemerkte der Anwalt und sah dabei Dinny an, «das hängt von Ihrer Schwester ab, Miss Cherrell. Corvens Zeugen haben sich gut gehalten. Sie haben nicht übertrieben, ließen sich nicht in Widersprüche verwickeln. Falls Lady Corven ruhig Blut und klaren Kopf bewahrt, schneiden wir vielleicht gut ab. Wenn aber die Wahrheit ihrer Angaben an irgendeinem Punkt erschüttert wird, dann –!» Er zuckte die Achseln und sah, wie es Dinny schien, plötzlich viel älter aus. «Ein oder zwei Gesichter unter den Geschwornen sind mir verdächtig, darunter der Obmann. Der Durchschnittsmann kennt kein Erbarmen mit Frauen, die ihrem Gatten durchgebrannt sind. Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn Ihre Schwester über ihr Eheleben spräche. Noch ist es nicht zu spät.»

Dinny schüttelte den Kopf.

«Na schön! Dann hängt viel vom persönlichen Eindruck ab, doch man hat ein Vorurteil gegen Mäuse, die über Tisch und Bänke springen, wenn die Katze aus dem Haus ist.»

Beim Zubettgehn fühlte sich Dinny wieder ganz übel. So mag es einem Menschen zumut sein, der weiß, daß er am nächsten Tag wieder Zeuge einer Tortur sein muß.


 << zurück weiter >>