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XV

Man hat die Zeit mit einem Strom verglichen, doch kann man diesen Strom nicht überqueren, grau und gelassen flutet er dahin, so unabsehbar weit wie die Welt; keine Furt, keine Brücke führt ans andre Ufer. Nach der Behauptung mancher Philosophen flutet zwar der Zeitenstrom nach beiden Richtungen, dem Kalender zufolge aber nur nach einer.

Der November ging allerdings in den Dezember über, doch der Dezember wandelte sich nicht in den November. Abgesehen von zwei Frosttagen blieb das Wetter mild. Die Arbeitslosigkeit sank, die Einfuhrziffer stieg; eine Tür tat sich auf, doch sieben andre schlugen zu. Die Zeitungen durchtobte immer wieder ein Sturm im Wasserglas. Ein großer Teil der Einkommensteuer wurde bezahlt, ein größerer jedoch stand noch aus. ‹Warum geht aller Wohlstand zum Teufel?› Über diese Frage zerbrach sich noch immer die Welt den Kopf. Das Pfund stieg, das Pfund sank. Mit einem Wort, die Zeit verrann, aber das Rätsel des Daseins harrte nach wie vor der Lösung.

In Condaford ließ man das Projekt, eine Brotfabrik zu gründen, fallen. Jeder Penny, den man erübrigen konnte, wurde in Kartoffelbau, Schweine- und Geflügelzucht investiert. Sir Lawrence und Michael waren Feuer und Flamme für ihren neuen Reformplan, und ihr Eifer hatte auch Dinny angesteckt. Sie und der General trafen den ganzen Tag Vorbereitungen für die Segens-Ära, die mit der Durchführung dieser Idee heranbrechen mußte. Eustace Dornford hatte sich mit den Plänen völlig einverstanden erklärt. Tabellen wurden ausgearbeitet, die den Beweis erbrachten, binnen zehn Jahren könne England jährlich hundert Millionen Pfund für Importwaren vom britischen Ausgabenetat streichen, wenn es nach und nach die Einfuhr dieser drei Nahrungsmittel unterbinde, ohne daß die Kosten der Lebenshaltung steigen würden. Nur ein wenig Organisation tat not, eine kleine Wandlung im britischen Nationalcharakter, mehr Weizen mußte zu Schrot vermahlen werden, und die Sache war so gut wie gemacht. Unterdessen verschaffte sich der General ein kleines Darlehen auf seine Lebensversicherungs-Police und beglich mit dieser Summe die Steuern.

Das neue Parlamentsmitglied machte einen Besuch in seinem Wahlkreis und verbrachte die Weihnachten in Condaford; er sprach fast ausschließlich über Schweinezucht, denn sein Instinkt verriet ihm, das sei im Augenblick der sicherste Weg zu Dinnys Herzen. Auch Clare war während der Weihnachtstage zu Hause. Wie sie die Zwischenzeit, abgesehen von ihren Sekretärspflichten, verbracht hatte, konnte man zwar vermuten, doch verlor man kein Wort darüber. Von Jerry Corven war noch kein Brief gekommen, aber die Zeitungen hatten von seiner Rückkehr nach Ceylon berichtet. Zwischen Weihnachten und Neujahr war der bewohnbare Flügel des alten Schlosses voll von Gästen: Hilary, seine Frau und ihre Tochter Monica; Adrian und Angela mit Sheila und Ronald, die von den Masern genesen waren – seit Jahren hatte sich die Familie nicht mehr so vollzählig eingefunden. Selbst Sir Lionel und Lady Alison fuhren am Silvestertag zum Lunch nach Condaford. Bei einer solch überwältigenden Mehrheit von Konservativen mußte das Jahr 1932 bedeutsame Ereignisse bringen. Dinny lief sich fast die Beine ab; sie ließ es sich nicht anmerken, doch schien sie jetzt weniger in der Vergangenheit zu leben. Sie war so sehr die Seele dieser ganzen Gesellschaft, daß niemand sagen konnte, ob sie überhaupt noch eine eigene Seele hatte. Dornford beobachtete sie nachdenklich. Was verbarg sich nur hinter dieser nimmermüden, selbstlosen Heiterkeit? Er ging so weit, Adrian danach zu fragen, den sie besonders zu bevorzugen schien.

«Mr. Cherrell, ohne Ihre Nichte käme man wohl in diesem Hauswesen nicht weiter.»

«Bestimmt nicht. Dinny ist einzig.»

«Denkt sie denn nie an sich selbst?»

Adrian sah ihn von der Seite an. Das bräunlichblasse Gesicht mit den ziemlich schmalen Wangen, dem dunklen Haar und den haselnußbraunen Augen wirkte sympathisch; für einen Mann der Gesetze und der Politik schien er feinfühlig. Doch wenn Dinny im Spiel war, zeigte sich Adrian so mißtrauisch und wachsam wie ein Schäferhund, darum erwiderte er vorsichtig:

«Warum nicht? Jedenfalls nicht mehr, als für sie gut ist, das heißt, nicht ganz so viel.»

«Manchmal scheint mir, sie hat schon recht Schweres durchgemacht.»

Adrian zuckte die Achseln. «Sie ist siebenundzwanzig.»

«Würden Sie es mir sehr übelnehmen, wenn ich Sie fragte, was es war? Es ist nicht Neugier. Ich bin – also ich bin in sie verliebt und fürchte sehr, ich könnte sie aus Unwissenheit vor den Kopf stoßen und kränken.»

Adrian tat einen langen glucksenden Zug an seiner Pfeife.

«Wenn Sie es wirklich ernst meinen –»

«Ja, es ist mir heiliger Ernst.»

«Nun, vielleicht erspart es ihr so manches Herzweh. Vor zwei Jahren hatte sie jemanden furchtbar lieb, und die Sache nahm ein tragisches Ende.»

«Durch den Tod?»

«Nein. Ich kann Ihnen nicht genau den Hergang erzählen, aber der Mann tat etwas, das ihn in gewissem Sinn – jedenfalls in seinen eigenen Augen – von der Gesellschaft ausschloß. Und er löste lieber die Verlobung, als daß er Dinny hineinverwickelt hätte, und ging in den Fernen Osten. Ein vollständiger Bruch. Dinny hat seither nie mehr davon gesprochen, doch ich fürchte, sie wird es nie vergessen.»

«Verstehe. Herzlichen Dank! Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen.»

«Tut mir leid, wenn ich Ihnen damit wehgetan habe», murmelte Adrian, «aber es ist vielleicht besser, klar zu sehn.»

«Gewiß.»

Adrian tat wieder einen geräuschvollen Zug an der Pfeife und warf einige Seitenblicke auf seinen schweigsamen Nachbar. Dieser hatte das Gesicht abgewandt und sah nicht gerade niedergeschlagen oder traurig drein, doch schien er angestrengt über die Zukunft nachzusinnen. ‹Er kommt dem Mann, den ich ihr wünsche, am nächsten›, dachte er, ‹ist feinfühlig, ruhig, couragiert. Aber meist macht einem das Leben einen Strich durch die Rechnung.›

«Sie ist so grundverschieden von ihrer Schwester», sagte Adrian schließlich.

Dornford lächelte.

«Die Frau von einst, und die Frau von heute.»

«Aber Clare ist ein hübsches Geschöpf.»

«Zweifellos, und hat eine Menge guter Eigenschaften.»

«Beide haben Charakter. Wie stellt sie sich bei der Arbeit an?»

«Sehr geschickt; sie faßt rasch auf, hat ein gutes Gedächtnis, weiß alles sehr geschickt ins Reine zu bringen.»

«Schade, daß sie in einer so üblen Lage ist. Ich weiß nicht, warum die Geschichte schief ging und wie man sie wieder einrenken könnte.»

«Ich bin Corven nie begegnet.»

«Bei der ersten Begegnung gefällt er einem recht gut, doch er hat einen grausamen Zug im Gesicht.»

«Dinny hält ihn für rachsüchtig.»

Adrian nickte. «Das glaub ich auch. Und das ist schlimm, wenn es zur Scheidung kommt. Aber hoffentlich kommt es nicht dazu. Immer eine schmutzige Geschichte, und gerade der schuldlose Teil zahlt meist drauf. Ich kann mich nicht erinnern, daß es in unserer Familie je eine Scheidung gegeben hätte.»

«In der meinen auch nicht. Doch wir sind Katholiken.»

«Sind Sie auf Grund Ihrer Erfahrungen bei Gericht der Ansicht, daß es mit der englischen Moral bergab geht?»

«Nein. Eher bergauf.»

«Aber die Grundsätze haben sich doch gelockert?»

«Man ist jetzt aufrichtiger – wohl nicht ganz dasselbe.»

«Na, Ihr Anwälte und Richter», meinte Adrian, «seid jedenfalls ungemein moralisch.»

«So, wo haben Sie das her?»

«Aus den Zeitungen.»

Dornford lachte.

«Kommen Sie», sagte Adrian und erhob sich, «spielen wir eine Partie Billard.» …

 

Am Montag nach Neujahr brachen die Gäste wieder auf. Nachmittags lag Dinny auf ihrem Bett und schlummerte ein. Der graue Tag erlosch, bald füllte Dunkel den Raum. Sie träumte; sie stand an einem Strom, Wilfrid hielt sie an der Hand und wies auf das gegenüberliegende Ufer mit den Worten: ‹Noch ein Strom! Noch über einen Strom!› Hand in Hand stiegen sie ins Wasser hinab. Plötzlich wurde alles um sie schwarz. Seine Hand entglitt ihr, vor Entsetzen schrie sie auf. Sie verlor den Boden unter den Füßen, trieb in den Strom hinaus, streckte suchend die Hände nach allen Seiten. Doch sein Ruf ‹Noch ein Strom! Noch über einen Strom!› drang immer leiser aus der Ferne, bis er in einem Seufzer erstarb. Dinny erwachte in tödlicher Angst. Durchs Fenster gegenüber sah sie den dunklen Himmel, sah die Ulmen zu den Sternen aufragen; kein Laut, kein Duft, keine Farbe. Sie lag ganz still und holte tief Atem, um ihre Angst zu überwinden. Es war lange her, daß sie sich Wilfrid derart nahe gefühlt hatte, seit er ihr so schmerzlich entrissen worden.

Sie erhob sich, tauchte das Gesicht in kaltes Wasser, blieb am Fenster stehn und starrte in die sternklare Nacht hinaus. Noch immer erschauerte sie ein wenig, allzu lebhaft hatte sie dieser Traum an ihr Elend erinnert.

‹Noch ein Strom!›

Da pochte es an der Tür.

«Ja?»

«Es ist wegen der alten Mrs. Purdy, Miss Dinny. Es geht mit ihr zu Ende. Der Doktor ist zwar dort, aber –»

«Betty! Weiß es Mutter?»

«Ja, Miss. Sie will hinübergehn.»

«Nein, ich geh. Lassen Sie sie nicht fort, Anny!»

«Schon recht, Miss. Ein Anfall. Die Pflegerin hat herübergeschickt und läßt sagen, es sei keine Hoffnung mehr. Soll ich Licht machen, Miss?»

«Ja, drehn Sie's an.»

Gott sei Dank, endlich war es ihnen möglich gewesen, elektrisches Licht einzuleiten.

«Lassen Sie mir diese kleine Flasche mit Kognak füllen und stellen Sie meine Überschuhe in die Halle. In zwei Minuten komme ich hinunter.»

«Jawohl, Miss.»

Sie schlüpfte in ein Strickkleid, nahm die Mütze, warf rasch ihren Maulwurfmantel über; dann eilte sie die Treppe hinab, blieb einen Augenblick vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter stehn und sagte ihr durch die Tür, daß sie gehe. In der Halle zog sie die Gummischuhe an, ergriff die Kognakflasche und trat hinaus. Es war stockfinster, doch für eine Januarnacht nicht kalt. Der Weg unter ihren Füßen war glatt, und da sie keine Taschenlampe mithatte, brauchte sie für die kaum dreiviertel Kilometer lange Strecke fast eine Viertelstunde. Das Auto des Arztes stand mit seinen grellen Scheinwerfern vor dem Häuschen. Dinny stieß die Tür auf und trat in das ebenerdige Zimmer. Ein Feuer brannte, eine Kerze flackerte, doch der vollgeräumte, ihr vertraute Raum schien bis auf den Goldfink in seinem stattlichen Käfig leer. Sie stieß die schmale Pforte auf, die zur Treppe führte, und stieg empor. Oben öffnete sie behutsam die altersschwache Tür, blieb stehn und sah sich um. Auf dem Fensterbrett gegenüber brannte eine Lampe, der niedrige Raum mit der sich senkenden Decke lag halb im Licht, halb im Schatten. Am Fuß des Doppelbetts standen der Arzt und die Dorfpflegerin und sprachen leise miteinander. In der Fensterecke sah Dinny den kleinen alten Gatten der Sterbenden auf einem Stuhl hocken, er hielt die Hände auf den Knien und über sein rotbackiges, verhutzeltes Gesicht lief ein leises Zucken und Zittern. Die greise Bäuerin lag zusammengekrümmt in dem alten Bett; ihr Antlitz war gelb wie Wachs, Dinny schien es, als hätten die Züge schon alle Runzeln verloren. Schwacher, rasselnder Atem drang über die Lippen, die Augen waren nicht ganz geschlossen, sahn jedoch bestimmt nichts mehr.

Der Arzt schritt zur Tür.

«Morphium», sagte er. «Ich glaube nicht, daß sie nochmals zum Bewußtsein kommt. Um so besser für die arme alte Frau. Wenn sie doch wieder erwacht, soll ihr die Schwester sofort noch eine Einspritzung geben. Es läßt sich nichts mehr tun, nur das Ende erleichtern.»

«Ich bleibe hier», sagte Dinny.

Der Arzt ergriff ihre Rechte. «Für sie ist es eine Erlösung. Nehmen Sie sich's nicht so zu Herzen, meine Liebe.»

«Der arme alte Benjy!» flüsterte Dinny.

Der Arzt drückte ihr die Hand und stieg die Treppe hinab.

Dinny betrat das Zimmer; die Luft war dumpf, sie ließ die Tür weit offen.

«Ich werde wachen, Schwester, vielleicht wollen Sie etwas besorgen.»

Die Pflegerin nickte. In ihrer saubern, dunkelblauen Tracht und der Haube wirkte sie fast unmenschlich gleichgültig; nur auf der Stirn zeigte sich eine kleine Falte. Die beiden standen nebeneinander und betrachteten das wächserne Gesicht der alten Frau.

«Es gibt nicht viele wie die hier», flüsterte die Schwester plötzlich. «Ich hole mir jetzt einige Sachen, die ich brauchen werde. In weniger als einer halben Stunde bin ich zurück. Nehmen Sie doch Platz, Miss Cherrell, Sie werden sonst zu müde.»

Als sie fort war, wandte sich Dinny um und trat auf den alten Mann in der Ecke zu.

«Benjy!» Er wackelte mit dem Kopf, der einem verschrumpften Apfel glich, und rieb sich die Hände an den Knien. Dinny wollte ihn trösten, brachte aber kein Wort hervor. Sie berührte nur seine Schulter, ging zum Bett zurück und zog den zweiten Holzstuhl heran. Schweigend saß sie da und blickte auf die Lippen der alten Betty, über die noch immer der schwache, rasselnde Atem drang. Ihr war, als sterbe hier der Geist einer längst entschwundenen Epoche. Es mochte ja andere, ebenso alte Leute im Dorf geben, doch sie waren nicht wie die alte Betty, wie Betty mit ihrem schlichten Sinn und ihrer peinlichen Ordnungsliebe, ihrem Bibellesen, ihrer Anhänglichkeit an die Herrschaft, ihrem Stolz auf ihre dreiundachtzig Jahre, auf die Zähne, die sie schon lange hätte verlieren müssen, und auf ihren guten Ruf; Betty mit ihrer Klugheit, ihrer geschickten Art, den alten Gatten so zu behandeln, als wäre er ihr ungebärdiger Sohn. Der gute alte Benjy, er war ihr ganz und gar nicht ebenbürtig, doch was sollte der arme Kerl nur allein anfangen? Vielleicht hatte eine seiner Enkelinnen einen Platz für ihn übrig. Diese beiden hatten sieben Kinder aufgezogen, in jener guten alten Zeit, als ein Shilling zum Glück noch so viel wert war wie heute drei, und im Dorf wimmelte es von ihren Nachkommen. Aber wie würden sich die Jungen mit dem kleinen alten Benjy abfinden, der noch immer gern herumstritt, brummte und ein Gläschen trank? Wie paßte der in ihre modernere Häuslichkeit? Na, irgendwo würde sich schon ein Winkel für ihn finden. Hier konnte er unmöglich allein weiterleben. Zwei Alterspfründe für zwei alte Menschen waren etwas ganz anderes als eine Pfründe für einen allein.

‹Hätt ich nur Geld!› dachte Dinny und: ‹Benjy wird den Goldfink sicher nicht vermissen.› Sie wollte ihn mit sich nehmen, füttern und im alten Treibhaus umherflattern lassen, bis er sich ans Fliegen gewöhnt hätte, dann würde sie ihm die Freiheit schenken.

Der Alte räusperte sich in seinem dunklen Winkel. Dinny schrak zusammen und beugte sich vor. In ihre Gedanken verloren, hatte sie nicht bemerkt, wie schwach jetzt die Atemzüge gingen. Nun waren die bleichen Lippen der alten Frau beinahe geschlossen, die verrunzelten Lider deckten fast ganz die blicklosen Augen. Kein Laut drang herüber. Einige Minuten betrachtete Dinny die Sterbende und lauschte; dann trat sie ans Bett und beugte sich über sie.

War es vorbei? Wie als Antwort auf diese Frage zuckten die Lider der Alten. Ihre Lippen umspielte ein ganz, ganz leises Lächeln, und plötzlich, als sei eine Flamme erloschen, lag sie vollkommen starr. Dinny hielt den Atem an. Zum ersten Mal hatte sie einen Menschen sterben gesehn. Sie starrte auf das alte wächserne Gesicht, sah, wie die Spannung allmählich aus den Zügen wich und die stille Würde des Todes sich darüber breitete. Sie drückte ihr sanft die Augen zu.

Der Tod! In seiner stillsten, mildesten Form, doch immerhin – der Tod. Das alte Heilmittel für alle Schmerzen der Welt; das allgemeine Menschenlos. In diesem Bett, in dem sie seit mehr als fünfzig Jahren unter der niedrigen, sich senkenden Zimmerdecke Nacht für Nacht gelegen, war eine ehrfurchtgebietende alte Frau gestorben. Vornehme Herkunft, hohe Stellung, Reichtum und Macht waren ihr zwar versagt geblieben, Technik und Wissenschaft hatte sie nie kennengelernt. Sie hatte Kinder geboren, gepflegt, gefüttert und gewaschen, für sie genäht, gekocht und gefegt, hatte selbst wenig gegessen, nie im Leben eine Reise gemacht, viel Schmerz gelitten, nie den Überfluß gekannt. Aber sie war aufrecht ihren geraden Weg gegangen, ruhigen Blicks, mit freundlichem Wesen. Wenn sie keine ehrfurchtgebietende Frau war, wer war es dann?

Dieses Gefühl überwältigte Dinny, und sie senkte den Kopf. Wieder räusperte sich der alte Benjy in seiner dunkeln Ecke. Sie fuhr aus ihren Gedanken empor und ging ein wenig bebend zu ihm hinüber.

«Kommen Sie, Benjy! Sehn Sie doch, wie friedlich sie schläft.»

Mit der Hand stützte sie seinen Ellbogen und half ihm aufstehn – er war schon steif in den Knien. Auch ganz aufgerichtet reichte er ihr nur bis an die Schulter, dieses ausgedörrte Männlein mit dem verschrumpften Gesicht. Sie schritt neben ihm durch das Zimmer.

Gemeinsam sahn die beiden auf Bettys Stirn und Wangen nieder, die allmählich die seltsame Schönheit des Todes annahmen. Das Gesicht des kleinen Alten blähte sich, wurde feuerrot wie das Antlitz eines Kindes, das seine Puppe verloren hat. In ärgerlich quiekendem Ton rief er:

«Ah! Sie schläft nicht. Sie ist tot. Sie tut nie mehr wieder den Mund auf. Sehn Sie doch hin! Mutter lebt nicht mehr! Wo ist die Schwester? Sie hätte sie nicht so im Stich lassen sollen –»

«Still, Benjy!»

«Sie ist ja tot! Was fang ich nur an?» Er wandte sein verhutzeltes Gesicht zu Dinny empor, und aus seinen Kleidern stieg ein muffiger Geruch auf von Kummer, Schnupftabak und alten Kartoffeln.

«Kann nicht hierbleiben, wenn Mutter tot ist. Das wär nicht recht.»

«Nein; gehn Sie nur hinunter, rauchen Sie Ihre Pfeife, und sagen Sie es der Schwester, sobald sie kommt.»

«Der werd ich schon was sagen! Schon was sagen! Sie hätt sie nicht im Stich lassen sollen. O Gott! O Gott! O Gott!»

Dinny legte ihm die Hand auf die Schulter, führte ihn zur Treppe und blickte ihm noch nach, als er bekümmert, tastend und unsicher hinabtorkelte. Dann trat sie ans Bett zurück. Das geglättete Antlitz der Toten wirkte auf sie unheimlich anziehend. Mit jedem Augenblick schien die Überlegenheit des Ausdrucks darin zu wachsen. Fast Triumph sprach aus diesen Zügen, langsame, wohlige Erlösung von Alter und Qualen. Ihr Charakter offenbarte sich in dieser kurzen Zeitspanne zwischen dem Ende des qualvollen Lebens und dem Zerstörungswerk des Todes. ‹Treu wie Gold!› Diese Worte sollte man auf den schlichten Grabstein schreiben, den man ihr setzen würde. Einerlei, wo immer sie jetzt sein mochte, wenn sie irgendwo noch war, sie hatte ihre Pflicht getan – Betty!

Als die Schwester zurückkam, stand Dinny noch immer dort und starrte auf die Tote nieder.


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