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Als Tony Croom sich zum zweiten Mal Englands Vergangenheit im Drury Lane Theater zu Gemüt führte, sahn die drei andern Teilnehmer von Dornfords kleiner Dinnergesellschaft dieses Schauspiel zum ersten Mal. Durch einen fatalen Zufall, an dem der Mann, der die Billette erstanden hatte, nicht ganz unschuldig war, saßen sie zu zweit, der junge Croom mit Clare in der Mitte der zehnten Reihe, Dornford und Dinny – es handelte sich um zurückgesandte Karten – im Parkett am Ende der dritten …
«Ich möchte gern wissen, woran Sie jetzt denken, Miss Cherrell.»
«Mir fuhr eben durch den Sinn, wie sehr sich das englische Gesicht seit 1900 geändert hat.»
«Das macht nur die Haartracht. Die Gesichter auf hundert bis hundertfünfzig Jahre alten Bildern gleichen weit mehr den unsern.»
«Schnauzbärte und Chignons verbergen freilich den wahren Ausdruck, aber verrieten die Gesichter damals überhaupt einen Ausdruck?»
«Ihrer Meinung nach hatten also die Menschen der viktorianischen Zeit nicht so viel Charakter wie wir?»
«Wahrscheinlich mehr, doch wollten sie ihn zweifellos verbergen. Selbst zu den Kleidern verarbeitete man stets unnötig viel Stoff: Röcke mit Schößen, hohe Kragen, Krawatten, Tournüren, hohe Knöpfelschuhe.»
«Der Anblick von Beinen ging ihnen arg auf die Nerven, die Größe des Dekolletés aber nicht.»
«Zugegeben. Doch sehn Sie nur die Möbel aus jener Epoche an: Quasten, Fransen, Sofaschoner, Kandelaber, ungeheure Büfetts. Mr. Dornford, hat man damals nicht wirklich mit der Seele Verstecken gespielt?»
«Aber jeden Augenblick lugte sie dennoch hier und dort hervor, wie der kleine Prinz Eduard, als er auf Schloß Windsor unter der königlichen Speisetafel aus den Kleidern schlüpfte und hervorguckte.»
«Einen so genialen Einfall hatte er nie wieder.»
«Weiß nicht. Seine Epoche war die Restaurationsherrschaft in gemilderter Form. Schon damals taten sich die großen Schleusen auf …»
«Fort ist er, nicht wahr, Clare?»
«Ja, er ist tatsächlich fort. Sieh dir doch Dornford an! Er ist in Dinny total verschossen. Ich wollte, sie hätte was für ihn übrig.»
«Warum auch nicht?»
«Mein lieber junger Mann, Dinny hat Schweres hinter sich, noch jetzt leidet sie darunter.»
«Ich könnte mir keine nettere Schwägerin wünschen.»
«Wünsch es dir lieber nicht!»
«Herrgott! Und wie ich's mir wünsche!»
«Was hältst du von Dornford, Tony?»
«Hochanständig, und durchaus kein trockener Rechtsverzapfer.»
«Wenn er Arzt wäre, hätte er gewiß eine wunderbare Art am Krankenbett. Er ist Katholik.»
«Hat ihm das bei den Wahlen nicht geschadet?»
«Es hätte ihm vielleicht geschadet, wäre sein Gegner nicht Atheist gewesen. So aber glich es sich aus.»
«Scheußlicher Schwindel, diese ganze Politik!»
«Doch recht amüsant.»
«Immerhin – Dornford hat das Steeplechase der Juristen gewonnen – muß ein tüchtiger Bursche sein.»
«Und ob! Der wagt sich in seiner ruhigen Art gewiß an alles heran. Ich hab ihn wirklich gern.»
«So!»
«Ich wollte dich nicht reizen, Tony!»
«Nun ist's wieder ganz wie auf dem Schiff. Wir sitzen Seite an Seite – das ist aber auch alles. Komm doch hinaus auf eine Zigarette.»
«Die Leute gehn schon auf ihre Plätze zurück. Beim nächsten Akt mußt du mir den Sinn des Ganzen erklären. Bis jetzt ist er mir noch schleierhaft.»
«Wart es ab!» …
Dinny hielt den Atem an.
«Grauenhaft! Ich kann mich noch an den Untergang der ‹Titanic› erinnern. Furchtbar, wieviel in der Welt sinnlos zugrunde geht!»
«Nur zu wahr.»
«Wieviel Menschenleben zugrunde gehn, wieviel Liebe!»
«Haben Sie das auch schon erfahren?»
«Jawohl.»
«Aber Sie möchten darüber nicht sprechen?»
«Nein.»
«Solche Dinge werden Ihrer Schwester wohl erspart bleiben. Sie hat soviel Leben in sich.»
«Ja, doch im Augenblick steckt ihr Kopf in der Schlinge.»
«Sie wird sich schon freimachen.»
«Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Leben nun ruiniert sein soll. Gibt denn das Gesetz gar keine Handhabe, Mr. Dornford – ohne daß die Sache in die Öffentlichkeit dringt?»
«Wenn er jetzt Anlaß gäbe, dann ginge alles ziemlich glatt.»
«Tut er nicht. Das ist ein rachsüchtiger Patron.»
«Verstehe. Dann läßt sich leider vorläufig nichts tun als warten. In solchen Angelegenheiten kommt die Lösung oft ganz von selbst. Als Katholik müßte man eigentlich die Scheidung verwerfen. Wenn aber Sie das Gefühl haben, hier sei eine Scheidung unvermeidlich –»
«Clare ist erst vierundzwanzig. Sie kann doch nicht ihr ganzes Leben allein bleiben.»
«Haben Sie es vielleicht vor?»
«Ich? Das ist doch etwas andres.»
«Allerdings, Sie beide sind grundverschieden; doch wenn Sie einsam blieben, wäre das noch viel trauriger. Ebenso, wie es um einen sonnigen Wintertag, den man nicht ausnützt, viel mehr schade ist als um einen schönen Tag im Sommer.»
«Der Vorhang geht hoch.» …
«Na!» murmelte Clare, «die Liebe der beiden hätte schwerlich lang gedauert. Es sah aus, als wollten sie einander verschlingen.»
«O du mein Gott, wenn wir auf jenem Schiff gewesen wären –!»
«Tony, du bist noch sehr jung.»
«Zwei Jahre älter als du.»
«Und trotzdem fast zehn Jahre jünger.»
«Glaubst du nicht an dauernde Liebe, Clare?»
«Nicht an dauernde Leidenschaft. Wenn die zu Ende ist, dann kommt der Zusammenbruch. Aber über diese beiden auf der ‹Titanic› brach das Unglück viel zu früh herein. Der Tod in den eiskalten Wogen! Hu!»
«Darf ich dir den Mantel höher ziehen?»
«Tony, dieses Stück gefällt mir nicht besonders. Es wühlt einen auf, und das hab ich nicht gern.»
«Auch mir hat es das erste Mal viel besser gefallen.»
«Wie nett von dir!»
«Es geht einem nah und doch nicht nah genug. Aber die Kriegsszenen sind das beste dran.»
«Das ganze Zeug verdirbt einem die Freude am Leben.»
«Darin liegt eben die Ironie.»
«Die eine Hälfte des Stücks macht sich über die andre lustig. Ich werd ganz zappelig dabei. Gemahnt zu sehr ans eigne Leben.»
«Ich wollt, wir wären in ein Kino gegangen, da hätt ich dich an der Hand halten können.»
«Dornford starrt Dinny an, als wäre sie die Madonna seiner Zukunft. Viel lieber wär's ihm, die Zukunft wäre schon Gegenwart.»
«Das glaub ich gern.»
«Er hat wirklich schöne Züge. Was er wohl von den Kriegsszenen hält? Aufgepaßt, der Vorhang geht wieder hoch!» …
Dinny saß mit geschlossenen Augen da und fühlte noch ganz deutlich, daß ihre Wangen feucht waren.
«Das hätte sie in Wirklichkeit nie getan», sagte sie heiser. «Sie hätte keine Fahne geschwungen und ‹Hurra› gerufen. Nie und nimmer! Vielleicht wäre sie in der Menge mitgezogen, aber das hätte sie nie getan!»
«Gewiß nicht – bloß ein Theatereffekt. Schade! Aber der Akt ist ausgezeichnet. Wirklich gut!»
«Diese armen lustigen Chansonetten, die so verlassen dreinsehn, immer kläglicher und verlassener dreinsehn, und dazu das Pfeifen des Tipperary-Liedes! Der Krieg muß entsetzlich gewesen sein.»
«Man geriet in Ekstase.»
«Hielt diese Ekstase an?»
«Einigermaßen. Scheint Ihnen das so schrecklich?»
«Ich maße mir nie ein Urteil drüber an, was man fühlen sollte. Auch von meinem Bruder hörte ich schon eine ähnliche Bemerkung.»
«Ich befand mich nie in jener kriegerischen Hurrastimmung, ich bin keine Soldatennatur. Es klingt wie ein Gemeinplatz, aber etwas Größeres konnte man nicht erleben.»
«Und empfinden Sie das auch noch heute?»
«Bis jetzt empfand ich es so. Aber ich muß Ihnen noch rasch etwas sagen, so lang ich Gelegenheit dazu habe. Ich liebe Sie, Dinny. Ich weiß nichts von Ihnen, Sie wissen nichts von mir. Tut nichts. Ich habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt; und meine Liebe hat sich immer mehr vertieft. Ich erwarte jetzt keine Antwort von Ihnen, doch denken Sie ab und zu daran …»
Clare zuckte die Achseln.
«Haben sich die Leute bei der Nachricht vom Waffenstillstand wirklich so aufgeführt, Tony? Haben sich die Leute –?»
«Was?»
«Wirklich so aufgeführt?»
«Ich weiß nicht.»
«Wo warst du damals?»
«Am Wellington College, erstes Semester. Mein Vater ist im Krieg gefallen.»
«Wirklich? Mein Vater hätte auch fallen können, auch mein Bruder. Aber trotzdem! Dinny erzählt, meine Mutter brach bei der Nachricht vom Waffenstillstand in Tränen aus.»
«Meine Mutter auch, glaub ich.»
«Am besten gefiel mir die Szene zwischen dem Sohn und dem Mädchen. Aber das Ganze geht einem zu nah. Führ mich in den Korridor, ich muß eine Zigarette rauchen. Nein, lieber nicht. Man trifft immer Leute.»
«Verdammt!»
«Daß wir zusammen herkamen, ist schon kühn genug. Ich hab feierlich versprochen, ein ganzes Jahr lang kein Ärgernis zu erregen. Aber mach kein so trauriges Gesicht! Wirst mich noch oft genug sehn.» …
«‹Größe, Würde, Frieden!›» murmelte Dinny und erhob sich. «Das Größte aber ist die Würde.»
«Jedenfalls ist sie am schwersten zu wahren.»
«Jenes Mädel, das im Nachtklub sang, und der grelle Himmel! Herzlichsten Dank, Mr. Dornford! Dieses Stück werd ich nicht sobald vergessen.»
«Und auch das nicht, was ich Ihnen sagte?»
«Es war sehr lieb von Ihnen, aber die Aloe blüht in hundert Jahren nur einmal.»
«Ich kann warten. Das war heute ein wundervoller Abend für mich.»
«Wo stecken die beiden?»
«Im Foyer werden wir sie schon finden.»
«Glauben Sie, daß England jemals Größe und Würde besaß und gleichzeitig Frieden genoß?»
«Nein.»
«Danke – diesen Mantel trag ich schon seit drei Jahren.»
«Sie sehen reizend darin aus!»
«Jetzt gehn wohl die meisten Theaterbesucher in die Nachtlokale?»
«Kaum einer von zwanzig.»
«Heut nacht möcht ich gern zu Hause sein, frische Luft schnappen und dabei die Sterne ansehn.»
Clare wandte den Kopf.
«Nicht, Tony!»
«Was sonst?»
«Du hast ja den ganzen Abend mit mir verbracht.»
«Wie gern möcht ich dich mit mir nach Hause nehmen!»
«Das darfst du nicht, mein Lieber. Drück mir zum Abschied den kleinen Finger und raff dich zusammen!»
«Clare!»
«Sieh nur, da sind die beiden gerade vor uns – verschwinde rasch! Trink im Klub noch einen guten Tropfen und träume von Pferden. So! War das nah genug? Gute Nacht, lieber Tony!»