Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ruhe war schon genug gewesen in dem kleinen Gasthaus im sommerlichen Schwarzwald – wenn nur nicht dieser Mensch da gehaust hätte, auf Nr. 17.
Das Dorf lag eine halbe Stunde entfernt, nur Wald und Wiesen ringsum. Und die Handvoll Gäste im Hause, alles stille, biedere Menschen, die sich verliefen, die man kaum mal abends sah oder früh am Morgen. Kein Klavier, keine Kinder, kein Hahn, keine Katze, nicht mal ein Grammophon.
Nur dieser Mensch auf Nr. 17! Und ich wohnte nebenan. Spätsonntagsnacht kam ich an und schon am Montage weckte mich bei frühstem Dämmergrau seine helle Stimme:
»Jämmerlich jammern jene Jobberjuden:
›Jaffas junger Janhagel jagt,
Jetzt, im Jänner des Jahres,
Jubelnd, johlend und jauchzend:
Judith, jene Jüdin,
Jauchig, wie Jephtas Juwel!‹«
›Er ist gewiß ein wilder Antisemit!‹ dachte ich. ›Er denkt wohl, daß ich ein Jude sei und will mich rausgraulen!‹ Ich steckte den Kopf tief in die Kissen, versuchte einzuschlummern. Aber es half nichts: zwanzigmal, fünfzigmal, hundertmal deklamierte er das Zeug von Jaffas Janhagel und der jauchigen Jüdin Judith. Ich konnte es längst auswendig, wie ich langsam all seine ewig wiederholten Verse auswendig lernte – darum kann ich sie jetzt auch so schön wortgetreu niederschreiben.
Schließlich stand ich auf; da scholl mir, beim Zähneputzen, ein ander Lied in die Ohren:
»Welch schlecht berechtigtes Vermächtnis
Erwächst dem schwächlichen Gedächtnis?
Verächtlich schlecht der Knecht sich rächte,
Der nächtlich nächst dem Pächter zechte!«
Das war sicher ein neuer Stich gegen mich. Nur begriff ich's nicht ganz: war ich der Knecht, der sich so verächtlich schlecht rächte und sollte er den Pächter bedeuten, nächst dem dieser Knecht nächtlich zechte? Oder war's umgekehrt? Und wer von uns beiden hatte das schwächliche Gedächtnis, aus dem ein so schlecht berechtigtes Vermächtnis erwuchs?
Ich versuchte hinter diese Geheimnisse zu kommen, doch gab ich's bald auf, da nach kaum dreißigmaliger Wiederholung der Herr auf Nr. 17 plötzlich das Fenster aufriß. Weit in den frühen Morgen schallte es:
»Hinterm Haus heult Hassan,
Harrachs Hofhund, heißhungrig hervor;
Hetzt herzhaft Hennen und Hahn
Halb haushoch zum Heuhaufen hin!
›Hoiho!‹ hallt hastig des Hausherrn Horn,
›Hierher Hofhund!‹
Horch, hurtig huscht Hassan zur Hütte!«
Ich lief auch zum Fenster – aber da war weder Hofhund noch Hausherr, weder Hahn noch Huhn noch Heuhaufen. Ich muß gestehn, mir wurde etwas unheimlich zumute: mein Nachbar sah und hörte unten im Hofe ganz klar etwas, erzählte es durchaus verständlich immer wieder – und ich konnte nicht das leiseste davon bemerken. Eben wollte ich mir ein Herz fassen, wollte an die Wand klopfen, meinen Nachbar fragen, ob's bei mir oder bei ihm nicht ganz richtig wäre, als, erst tief und gedrückt, dann aber kühn anschwellend, wieder was neues herüberklang:
»Kummerkrank kauernd – kaum karge Kost,
Krummgeknebelt an kalten Kerkers Ketten,
Keine Kunde kranken Kindes – –
Kommt kecker Kerl, kündet
Kühnem Krieger künft'gen Kampf!«
Das schien mir deutlich genug. Mit dem ›kecken Kerl‹ konnte er nur mich meinen! Daß sein Kind, von dem er keine Kunde hatte, krank war, tat mir ja gewiß leid, wenn auch sein wehleidiges Getue darum, dies kummerkranke Kauern, das an kalten Kerkersketten Krummgeknebeltsein – mochte das alles auch nur symbolisch gemeint sein – mir bei einem Mann, der sich als ›kühnen Krieger‹ bezeichnete, sehr wenig gefiel. Dazu das Gestöhne über die karge Kost, grade in dem Augenblick, als ihm, schon um sechs Uhr früh, sein Frühstück mit Schinken und Eiern gebracht wurde!
Er trank und aß; aber zwischen seinem Schmatzen und Schlürfen wehklagte er fröhlich weiter.
»Also ja, wenn Sie durchaus wollen: Künftigen Kampf!« Ich weiß nicht, ob ich das laut rief, oder nur dachte. Gewiß ist, daß er im selben Augenblick seine Litanei änderte. Jetzt rief er:
»Nun, Roduro, mutvoll rufe,
Du, so ruhm- so schuldlos duldend:
Muros! Unhold! Fluch folg ruhlos!
Und trotz Lug groll mutlos nur noch,
Wut dort, um Roduros Blutsold!«
Ich hatte genug. Ich war eben fertig angezogen, riß die Türe auf, nahm meine Stiefel und rannte hinunter. Ich fand im Frühstückszimmer ein Ehepaar, einen älteren etwas asthmatischen Herrn und seine noch junge, hübsche Frau. Ich trat an den Tisch, entschuldigte mich, daß ich so in Strümpfen herankomme und erzählte, was mir soeben geschehn war. Der Herr stellte sich gleich vor; es war der Herr Gerichtsvollzieher Pötterich. Vor solchen Leuten habe ich im allgemeinen eine gewisse Scheu, aber in der Sommerfrische sind es durchaus verträgliche Menschen. Der Herr Pötterich also lud mich ein, an seinem Tische platzzunehmen und seine rotbackige Frau schmierte mir meine Brötchen, während ich die Stiefel anzog. Beide hatten volles Verständnis für mich, beide kannten den Mann auf Nr. 17, der schon seit fünf Tagen da hauste, und beide wußten einige seiner Sprüchlein auswendig, die sie nun schon tausendmal gehört hatten. Die blonde Frau Gerichtsvollzieher wiederholte:
»Manch' Menge bringt mit Schwung
Nur Knechtung Huldigung!
Einengung rings umdrängt,
Mit Schlingen eingezwängt,
Nie denkend banger Dinge:
Zwang, Knechtung, enger Schlinge!
Ohn' Hoffnung, ohne Richtung
Drängt stumm man zur Vernichtung!«
»Was soll denn das eigentlich?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, sagte Frau Pötterich. »Vielleicht ist's ein Albumspruch! Aber ich werd's mein Lebtag nicht wieder vergessen.«
Der Herr Gerichtsvollzieher lachte »Das ist noch garnichts«, sagte er. »Wie gefällt Ihnen das da?
Specht, Spatz, Sperber sprangen spornstreichs
Spottend Spangen, Sparren, Sprossen,
Spät aus spitz'gen Speichers Spalte,
Speis und Speck im Spinde spähend.
Schießen schleunig, schier verschwindend,
Schlangenschleichend, scheu und schlürfend,
Schnell zum schmalen Schlossesschornstein,
Schrillen Schrei's den Schloßschenk schreckend!
Fischfrevler Franz fing frech
Vor'm Flußfall fette Fünffingerfische;
Vier ficht'ne feste Fischfässer
Faßten vollauf den Fang.
Viele freilich flitzten flott davon!«
»Neunaugenfische kenne ich«, fuhr er fort, »aber von Fünffingerfischen habe ich noch nie was gehört. Ich wußte überhaupt nicht, daß Fische Finger haben. Dabei geht's bestimmt gegen mich, ich heiße nämlich Franz! Außerdem habe ich vorgestern wirklich gefischt – aber erstens habe ich garnichts gefangen, und zweitens hatte ich die Erlaubnis von unserm Wirt, dem der Forellenbach gehört. Wie kann da der Herr auf Nr. 17 solches Zeug hundertmal durch's Haus schreien? Mich einen frechen Fischfrevler nennen, mich – einen preußischen Beamten?!«
Ich drückte dem Herrn Pötterich die Hand. »Mich hat er einen kecken Kerl und einen Unhold genannt«, sagte ich, »und das, ohne mich je gesehn zu haben.«
»Das ist noch garnichts«, meinte die vollbusige Frau Gerichtsvollzieher, »mich schreit er überall als ›kleine Maid‹ aus – damit meint er gewiß etwas sehr schlüpfriges. Und meinen Mann nennt er einen Greis! Wir haben ihm doch nie etwas getan, kennen ihn garnicht. Und doch hat er ein Spottlied auf uns gemacht, weil mein Mann ein wenig älter ist als ich – und hat es gestern Morgen stundenlang aufgesagt. Hören Sie nur:
Mein Meister freit ein reizend Weib,
Er meint, es sei zum Zeitvertreib!
Allein, was treibt die kleine Maid,
Den Greis zu frein in Eiligkeit?
Meint sie, beim Greis sei's Dasein leicht,
Wenngleich sich keine Gleichheit zeigt?
Ei, kleine Maid, leicht eilt die Zeit!
Dein eilig Frei'n bei eitlem Schein
Wird eine Pein, ein Leid einst sein!«
»Es ist eine Gemeinheit!« rief der Herr Gerichtsvollzieher. »Was geht diesen Menschen mein Eheleben an? frage ich. Außerdem: nach bestem Wissen und Gewissen darf ich versichern, daß ich meinen ehelichen Pflichten stets treu nachgekommen bin – ich nehme das auf meinen Diensteid! Ist es nicht so, Dora?«
Frau Dora errötete und blickte bescheiden in den Schoß. Sie war sehr rundlich und mollig; es läßt sich nicht leugnen, daß sie äußerst appetitlich ausschaute.
»Nein, nein«, drängte der preußische Beamte, »hier ist falsche Scham nicht am Platze. Wir sind von dem Menschen auf Nr. 17 alle drei in unserer Ehre schwer angegriffen worden – wir müssen nun fest zusammenhalten. Du darfst diesem Herrn voll vertrauen. Sage also die Wahrheit, Dora: bist du, in deiner Eigenschaft als Eheweib, mit mir zufrieden? Besonders hier in der Sommerfrische?«
Ich griff ihre kleine Hand und preßte sie – wohl ein wenig mehr, als durchaus nötig war. »Ihr Mann hat recht«, sagte ich, »Sie dürfen mir wirklich vertrauen.«
Sie seufzte, es schien, als ob sie meinen Druck erwidere. »Doch, doch,« flüsterte sie, »ich bin soweit ganz zufrieden.«
»Da haben Sie es!« triumphierte Herr Pötterich. »Da hören Sie es aus ihrem eigenen Munde! Wir dürfen uns so etwas nicht gefallen lassen von dem Menschen! Wir müssen etwas tun!«
»Gewiß!« bekräftigte ich und streichelte an den rundlichen Händchen herum. »Ich tue gern etwas! Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung, Frau Dora – in jeder Beziehung.«
Die kleine Frau machte sich los, schaute dann, ein wenig von der Seite, mit großen Braunaugen mich an. »Wenn es durchaus sein soll«, flüsterte sie. – »Wenn du einverstanden bist, Franz,« fuhr sie laut fort, zu ihrem Manne gewandt. Und wieder mit einem raschen Blick auf mich: »Ich bin bereit, mitzuspielen.«
Ich hätte nie bei Gerichtsvollzieherfrauen ein so rasches Verständnis vorausgesetzt; ich war entzückt von ihr, doch wußte ich nicht recht, wie ich ihr diese Entzückung im Augenblicke zeigen sollte. Aber Franz, ihr Mann, half mir aus der Patsche. Diesmal ergriff er meine Hand mit seiner mächtigen Rechten, während seine Linke die beiden Pfötchen der Gattin auf einmal umspannte.
»Wir müssen uns rächen!« rief er. »Laßt uns schwören, fest zusammenzuhalten!«
»Ich schwöre!« rief ich.
»Sie müssen nämlich wissen, lieber Herr«, fuhr er fort, »daß wir zwei auf der Hochzeitsreise sind. Es ist mein Stolz und mein Ehrgeiz, daß ich noch auf dieser kurzen Reise die freudige Gewißheit erlange, daß meine liebe Frau Dora guter Hoffnung sei. Und über diesen Wunsch eines Mannes, der ebenso pflichteifrig als Beamter wie als Ehemann ist, über diesen heiligen Wunsch, für den ich täglich bete, wagt der Mensch auf Nr. 17 sich lustig zu machen!«
Es rührte mich wirklich. »Ich verstehe Ihren Wunsch«, unterbrach ich ihn, »ich billige, ehre und achte ihn! Ich schwöre Ihnen, lieber Herr Gerichtsvollzieher, als Ehrenmann, daß ich mein Bestes tun werde, damit Ihnen dieser fromme Wunsch, trotz der Ränke des Menschen auf Nr. 17, vollauf in Erfüllung gehn möge.«
»Ich danke Ihnen,« antwortete er, »daß Sie Ihr Gebet mit den unsern vereinen wollen! Ich nehme Ihre Hilfe an: man muß dem Nr. 17-menschen einen Denkzettel geben. Mich einen Greis zu nennen! Meine Frau eine ›kleine Maid‹ zu schelten! Sie, eine geborene Bender – wissen Sie, was der Name bedeutet bei uns zuhause in Hubbelrath? Stadtverordneter ist ihr Vater – seit fast vierzig Jahren nun spiele ich mit ihm, dem Herrn Delikatessenhändler Bender, jeden Samstag abend Skat! Herr Bender, sage ich Ihnen, gilt –«
Er stockte. Ein kräftiger Tritt kam die Treppe herunter. Zugleich erscholl es vom Flur her in das Zimmer hinein:
»Trostarm kommt am Sonntag Dora,
Klopft dann froh, da Wolfgang wohl war.
Doch was log, bald schroff, bald wortkarg,
Dora sorgsam, doch gar boshaft?
– Wolfgang floh zwar, doch war totkrank!«
»Hören Sie nur, hören Siel« flüsterte der Gerichtsvollzieher.
Durch die offene Tür trat der Mensch ein. Es war ein mittelgroßer, schmalbrüstiger Bursche in der Mitte der Zwanziger. Bleiche Wangen, einen schüttern, mottenzerfressenen Blondbart auf Kinn und Oberlippe. Wasserblaue Augen, darüber eine Stahlbrille. Einen Stock in der Hand, aber keinen Hut auf; die schmale Gestalt in einen engen, schwarzen Anzug geklemmt.
Der Jüngling schritt, ohne sich um uns zu kümmern, quer durch's Zimmer, laut seine Doraverse wiederholend. Er öffnete die Tür, die ins Freie führte, blieb stehn, blickte hinaus. Derweil griff Herr Pötterich in die Tasche, zog einen Bleistift heraus und kritzelte auf das Tischtuch.
»Ich stenographiere es!« zischte er.
Das wäre kaum nötig gewesen. Denn der Mann von Nr. 17 deklamierte noch siebenmal sein Sprüchlein, ehe er hinausging.
»Also Wolfgang heißt der Lump!« schnappte der preußische Beamte. »Dieser Verbrecher, der im öffentlichen Lokal meine Frau zu beschimpfen wagt! ›Wolfgang floh zwar‹ – soweit hat er die Wahrheit gesagt! Aber totkrank? Der Lügner! Mir schien er ganz gesund zu sein! Und nun, Dora: hast du am Sonntag an dieses Wolfgangs Türe geklopft?«
»Es ist mir nicht eingefallen!« entrüstete sich Frau Dora. »Wie kannst du nur so etwas fragen!«
»Verzeih, Dora,« gab er zurück, »ich weiß es ja! Und warst du etwa trostarm? – Sehn Sie, lieber Herr,« wandte er sich an mich, »hier entlädt sich die schnöde Giftdrüse dieses Menschen! Trostarm – das will besagen, daß meine Frau des ehelichen Trostes entbehre und darum an seine, Wolfgangs, Türe klopfe, um sich bei ihm – außerehelich! – solchen Trost zu holen! Ist das nicht der Gipfel der Unverschämtheit?! Und dazu noch am Sonntage! Sie müssen nämlich wissen, lieber Herr, daß ich in treuer Erinnerung an Herrn Friedrich Wilhelm Bender, meinen lieben Schwiegervater, mit dem ich allsamstnächtlich Skat zu spielen pflegte, daß ich, sage ich, grade diese Nacht in der Woche zur Betätigung unseres ehelichen Glückes bestimmt habe! Meine Frau Dora – – trostarm am Sonntage! Zum Lachen ist es!«
»Aber ich bitte dich, Franz,« ereiferte sich Frau Dora, »wie kannst du nur vor dem Herrn –«
»Laß mich nur!« unterbrach sie ihr Gatte. »Keine Geheimnisse vor ihm: er ist unser Verbündeter. Dich trostarm zu nennen! Er wird mir helfen, daß du in Zukunft solchen Beschimpfungen nicht mehr ausgesetzt bist!«
»Ich verspreche es Ihnen von ganzer Seele, Herr Gerichtsvollzieher!« rief ich. »Die glanzvolle Erinnerung der Samstagnacht möge die ganze Woche überstrahlen: solange ich Ihnen zur Seite stehe, soll an keinem Tage Ihre arme beschimpfte Gattin trostarm herumlaufen!«
Aber Herr Pötterich hörte kaum hin, er war aufgesprungen und zur Türe gelaufen. Da stand er, luftschnappend, schaute dem im Walde enteilenden Wolfgang nach.
Ich benutzte die gute Gelegenheit, streichelte Frau Doras molligen Arm.
»Wann darf ich Trost schenken?« fragte ich.
»Mein Mann geht fischen,« sagte sie.
Der Herr Gerichtsvollzieher kam zurück, immer noch schweratmend. »Und noch obendrein meine Frau als Lügnerin hinzustellen!« tobte er. »Hast du es gehört, Dora? Bald sorgsam, bald boshaft, bald schroff, bald wortkarg habest du ihn belogen, behauptet der Schuft, dieser –«
»Du darfst dich nicht so aufregen, lieber Mann!« sagte die blonde Frau. »Du weißt, daß der Arzt es dir verboten hat. Du solltest fischen gehn, das beruhigt deine Nerven!«
»Ich fischen?« schrie er. »Um mich wieder frechen Fischfrevler schimpfen zu lassen! Mir ist das Fischen für immer verleidet!«
»Aber, Herr Gerichtsvollzieher,« wandte ich ein. »Sie werden sich doch wegen der niedrigen Anwürfe dieses elenden Menschen nicht Ihre schönste Freude verderben lassen! Dazu, sagt man, kommen einem beim Fischen die besten Gedanken, und wir müssen überlegen, was wir gegen den Störenfried unternehmen können.«
»Das ist wahr,« gab er zurück, »man kann wundervoll nachdenken beim Fischen.«
»Gut also,« sagte ich, »ich geh derweil mit Ihrer Frau ein wenig spazieren; einer muß sie ja beschützen, damit sie nicht im Walde unversehens diesem Menschen in die Hände läuft. Wir überlegen auch. Vielleicht haben Sie Glück und bringen uns ein paar Forellen heim: ich stifte dann den Wein dazu.«
Das leuchtete ihm ein. Wir brachten ihn zum Bache hinauf, eine halbe Stunde weit in den Wald hinein; sahen ihm zu, wie er sein Fangzeug zurecht machte. Als er die Angel auswarf, bat ich ihn, doch zu warten, bis wir fort seien.
»Warum denn?« fragte er.
»Weil es mir gar keinen Spaß macht, zu sehn, wie so ein armes Tier an dem Widerhaken baumelt,« sagte ich. »Im Gegenteil, höchst zuwider ist's mir.« Ich log nicht einmal.
»Sie sind ein edler Mensch,« bekundete der preußische Beamte. »Und Sie, grade Sie, wagt dieser Lump einen kecken Kerl, ja einen Unhold zu nennen! Aber ich, ich bin aus härterem Holze: wenn mir ein Fisch an der Leine zappelt, freue ich mich ingrimmig, bilde mir ein, daß es der Wolfgang wäre! Gehn Sie, gehn Sie nur; passen Sie gut auf meine Frau auf.«
»Das werde ich gewiß tun,« versprach ich.
Wir gingen schweigend eine Weile. Endlich meinte Frau Dora: »Sie können ganz ruhig sein: er fängt doch nichts.«
»Um so besser,« sagte ich. »Dann stört ihn nichts beim Nachdenken.«
Wir gingen weiter, immer den Bach hinauf. Dann über Wiesen und hinein in den Wald. Wir fanden eine kleine Lichtung, sehr versteckt –
Wir kamen zurück zum späten Mittag. Beide müde genug – gottja, wenn man die frische Luft noch nicht recht gewöhnt ist und soviel hat überlegen müssen! Und Frau Dora – wenn sie nicht schroff oder wortkarg, sorgsam oder gar boshaft lügen wollte – so mußte sie gestehn, daß sie noch nie im Leben so wenig trostarm gewesen war. Doch gestand sie garnichts – was sehr gescheit von ihr war.
Dafür gestand ihr Gatte, daß er nichts gefangen habe und daß ihm auch nichts ordentliches eingefallen sei. Das mache garnichts, sagte ich, ich habe einen feinen Plan, den ich aber heute Nachmittag erst gründlich überdenken und ausarbeiten müsse. Nach dem Mittagsmahl fand Herr Pötterich zwei Herrn, mit denen er sich zum Skat niederließ. Seine Frau zog sich auf ihr Zimmer zurück und ich streckte mich im Garten in der Hängematte aus – wir hatten ja beide die Ruhe wohl verdient nach all dem anstrengenden Überlegen.
Später lud ich das Ehepaar zum Nachtmahl ein. Ich setzte ihm auseinander, daß man unter keinen Umständen die Sache überstürzen dürfe. Es sei nötig, zunächst den Tatbestand in allen Einzelheiten festzustellen; dazu müßten wir den Mann auf Nr. 17 nach Möglichkeit beobachten und all seine offenen Beleidigungen und versteckten Anspielungen genau aufschreiben, um sichere Beweise in Händen zu haben. Inzwischen dürften wir uns nichts merken lassen, sondern ruhig und scheinbar harmlos unser Leben weiterleben: er solle nur skatspielen, fischen und dabei nachdenken, während ich derweil seine Frau beschützen und spazierengehenderweise mit ihr überlegen wolle.
Mein Plan fand Beifall; er wurde noch durch den Herrn Gerichtsvollzieher insofern erweitert, als dieser den Hausknecht mit fünfzig Pfennigen bestach, ihm stets Nachricht zu geben, sowie Wolfgang irgendwo herumdeklamierte. Noch während des Abendessens hatte dieser gescheite Gedanke Erfolg; der Hausknecht holte uns heraus und wir hörten heimlich, unter dem Fenster Wolfgangs stehend, diese Verse:
»Nicht schlechte Wächter scheuchen
Wichte, welche frech lächelnd,
Ziemlich bezecht – möchten flüchtig entweichen,
Schüchtern, verächtlich, gleich Kätzchen weich schleichen,
Sichtlich gemächlich, recht heuchelnd sich fächelnd!«
Herr Pötterich konnte kaum an sich halten, als er das hörte; ich mußte ihn am Arm fassen, während Frau Dora ihm die Patschhand auf den Mund legte. Als wir wieder an unserm Tisch saßen, platzte er los.
»Es ist klar,« rief er, »es ist sonnenklar, was der Schuft da schwatzt! Es sind Verräter hier im Hause, er hat schon Wind bekommen von unserm Plan. Er nennt uns Wichte, die er als Wächter verscheucht, uns Wichte, Sie, mich und meine Frau – eine geborene Bender! Er behauptet, daß wir ziemlich bezecht seien, als ob wir die paar Flaschen Steinwein nicht vertragen könnten! Er macht sich lustig über uns, meint, daß wir aus Angst vor ihm flüchtig entweichen, weich wegschleichen wie Kätzchen, schüchtern, verächtlich und sichtlich gemächlich! Und von dir, Dora, erzählt er, weil du in dieser schwülen Sommernacht vorhin mit deinem Taschentuch herumgewedelt hast, daß du recht heuchelnd dich gefächelt habest«
Es bedurfte noch einiger Flaschen Wein, um den tiefgekränkten, hochaufgeregten Herrn Pötterich einigermaßen wieder mit dem Schicksal zu versöhnen. Frau Dora und ich brachten ihn dann zu Bett – wirklich ziemlich bezecht
In den nächsten Tagen geschah nichts besonderes. Ich bekam ein anderes Zimmer, was mir recht angenehm war; einmal, weil ich da Wolfgangs Verse nicht mehr zu hören brauchte, dann, weil es so bequem lag, daß Frau Dora zu jeder Stunde unbemerkt zu mir kommen konnte, um mit mir zu überlegen. Von Gedichten bekamen wir aus Zimmer Nr. 17 noch einige neue zu hören; doch konnte ich nur wenig Anspielungen auf uns daraus entnehmen. So dröhnte es Mittwochmittags aus seinem Fenster heraus:
»Schwer heran braust Sturmeswetter,
Dräuend rasselt Donners Grollen!
Sturm und Brandung rauschen rasend,
Donner furchtbar überdröhnend!«
Dabei schien aber die liebe Sonne aus Leibeskräften und kein kleinstes Wölkchen war am Himmel zu sehn. Am nächsten Tage war das Wetter ebenso schön – dennoch genossen wir aus Wolfgangs Fenster ein neues Sturmeslied:
»Heulsturm dräuend beuget Bäume,
Streut das Heu, verscheucht die Leute!
Bäurin läuft mit feuchtem Täufling,
Träufelnd gleich dem scheuen Mäuschen,
Schleunig durch die neuen Bäume.«
Ich konnte auch hierin nichts beleidigendes gegen uns entdecken, aber der Herr Gerichtsvollzieher war anderer Meinung. »Glauben Sie mir,« sagte er, »es steckt eine, allerdings sehr versteckte Gemeinheit darin. Mit dem Heulsturm meint er sich selber – heult er etwa nicht den ganzen Tag? Wir aber sind die Leute, die er verscheuchen will. Die träufelnde Bäurin zielt auf meine Frau: er will mit dem ›Träufeln‹ andeuten, daß ihr etwas menschliches passiert sei und daß sie nun aus Scham darüber wie ein Mäuschen scheu durch die Räume schleiche. Verlassen Sie sich darauf, so ist es: ich nehme es auf meinen Diensteid!«
Ein Diensteid, dachte ich, ist eine ausgezeichnete Sache. Man kann so ungeheuer viel draufnehmen und dann kann kein Mensch mehr was dagegen machen. Außerdem hatte der Herr Pötterich vielleicht wirklich recht; es ist eben eine eigene Gabe, Texte richtig lesen zu können. Bibelsucher, Goetheforscher und solche Leute haben noch ganz andere Dinge herausgekriegt und hatten nicht einmal einen Diensteid zur Verfügung.
Im übrigen verfloß die Woche still und angenehm. Herr Pötterich ging jeden Morgen sehr früh zum Fischen, den Nachmittag verbrachte er mit Skatspielen. Frau Dora und ich spazierten derweil durch Wiesen und Wald, um nachzudenken und zu überlegen; bisweilen dachten wir auch auf meinem Zimmer nach.
Dann geschah Samstag Abend etwas. Wir hatten uns unser Abendessen auf der Veranda anrichten lassen; es gab dicke Bohnen mit Speck, die Herr Pötterich so schrecklich gerne aß. Seine liebe Frau sah entzückend aus, sie blühte auf mit jedem Tage, mit jeder Stunde fast; augenscheinlich bekam ihr die Sommerfrische ganz vortrefflich. Ihre Braunaugen lachten fröhlich in die Welt, ihre Wangen leuchteten wie junge Äpfel, ihr froher Busen drohte das pralle Mieder zu zerkrachen. Wir gingen grade zu Tisch, Herr Pötterich voraus, ich mit Frau Dora hinterher. Da kam von der andern Seite der Wolfgang aus Nr. 17 vorbei. Es ist gewiß, daß er keinen Blick auf uns warf, vielmehr, als ob es außer ihm keinen Menschen auf der Welt gäbe, dem Hause zuschritt. Seine dünnen Lippen bewegten sich:
»Prangende Wangen Bringen Verlangen!
Zwängende Stangen
Engen den Gang!«
Herr Pötterich erfaßte es sofort »Da habt ihr es!« japste er. »Immer toller wird die Frechheit dieses Menschen: ganz offen wagt er es nun, meine Frau zu begehren, schreit seine üppige Gier schamlos in die Welt hinaus. Prangende Wangen – es ist nicht zu leugnen, Dora, daß deine Wangen prangen! Und sie – bringen Verlangen! Wem denn? Mir etwa? Oder unserm lieben Freunde hier, der uns hilft, diesen Verbrecher in die Schlinge zu bekommen? O nein – unsre Gedanken sind, gottseidank, nicht so schmutzige. Deine prangenden Wangen, Dora, bringen nur ihm Verlangen, ihm und niemanden sonst! Und wonach bringen sie ihm Verlangen? Auch darüber läßt er uns keinen Zweifel: Zwängende Stangen – engen den Gang! Stangen – das sind deine Korsettstangen – und was zwängen diese, was beengen sie? Den Gang – o ja, den atmenden Auf- und Nieder-Gang des Busens meines Eheweibes! Ich sage dir, Dora: nach deinen Brüsten trägt dieser Schurke Verlangen!«
»Ich kann doch nichts dafür!« verteidigte sich die Arme.
»Gewiß nicht, gewiß nicht,« entschuldigte er sich. Er war so aufgeregt, daß sein Hals schwoll; mit hochrotem Kopfe ließ er sich auf den Sessel fallen. Wir standen hinter ihm; ich konnte nicht umhin, zunächst die so schwer beleidigte Frau Dora zu beruhigen. Ich streichelte ihre prangenden Wangen, preßte unter den zwängenden Stangen den wirklich allzu erregt schwellenden Busen. Dann schenkte ich Herrn Pötterich ein Glas Wein ein.
»Trinken Sie, trinken Sie,« mahnte ich. »Vergessen Sie des Lumpen Verlangen nach Wangen und Stangen; es gibt dicke Bohnen und Speck heute, was Sie ja so schrecklich gerne essen!«
Er beruhigte sich auch: kein Mensch aus Hubbelrath kann solch leckeren Genüssen widerstehn.
Dann kam der Sonntagmorgen; da klopfte es leise an meiner Tür, als ich noch im Bett lag.
»Herein!« rief ich. Gewiß: ich erwartete Besuch; aber durchaus nicht den, der kam.
Herr Pötterich war es. Seine Augen strahlten, sein Gesicht strahlte, der ganze Mensch war ein großes Strahlen.
»Lieber Freund,« jubelte er, »wir fahren ab!«
»Was?« rief ich. »Warum denn?«
»Es ist so weit!« jauchzte er. Er setzte sich auf mein Bett, drückte meine Hände, streichelte meine Haare; es fehlte nicht viel daran, daß er mir einen Kuß gegeben hätte. »Sie müssen der erste sein, der Teil hat an meinem Glück! Sie wissen ja, daß ich, in Erinnerung an meinen lieben Schwiegervater, den Herrn Delikatessenhändler Bender, grade die Samstagnacht auserkoren habe – – Sie wissen das ja, nicht wahr? Nun, gestern Abend fühlte ich mich ein wenig abgespannt nach all der Aufregung und dem Wein – auch hatte ich wohl ein wenig zuviel dicke Bohnen gegessen. Dennoch – ich bin ein preußischer Beamter: die Pflicht über alles! Also: ich nahte mich meiner lieben Dora; denken Sie nur: sie wies mich mit sanfter Gewalt, mit echt weiblichem Feingefühl zurück. Ich bin ein Mann der Gründlichkeit, so verlangte ich ihre Beweggründe zu wissen. Da gestand sie mir, hold errötend, daß – nun, daß es soweit sei! Daß meine ehelichen Bemühungen fürderhin sich erübrigten! Verstehn Sie mich, liebster Freund? Mein Stolz, mein Ehrgeiz, mein höchster Wunsch sind befriedigt: ich habe die frohe Gewißheit, daß meine Frau Dora ein Kindlein erwartet!«
Ich beglückwünschte ihn von ganzem Herzen. »Vielleicht hat mein inniges Gebet ein wenig dazu beigetragen, daß das Ihrige erhört wurde, Herr Pötterich,« sagte ich. »Aber – warum wollen Sie darum abreisen?«
»Was sollen wir noch hier?« antwortete der Gerichtsvollzieher. »Meine Pflicht als Ehemann ist erfüllt – meine Pflicht als preußischer Beamter tritt wieder in ihre Rechte. Mich reut das Geld nicht, das wir für die Reise ausgaben, aber nun müssen wir nachhause, müssen sparen für das freudige Ereignis. Sie, als Junggeselle, verstehn das nicht so, lieber Freund: ein Vater hat eben ganz andere Pflichten, als ein einfacher Ehemann. Auch meine liebe Frau begreift es noch nicht, sie ist eben noch zu jung dazu. Die ganze Nacht hat sie geheult, als ich ihr eröffnete, daß wir heute Morgen heimfahren würden – nun, sie wird bald lernen, daß der heilige Mutterstand alle Freuden ehelichen Liebesgeplänkels reichlich aufwiegt.«
Ich war wütend – da hatte die kleine Frau Dora ja eine abscheuliche Dummheit begangen. Mochte sie doch alle herrlichsten Mutterfreuden erwarten – was brauchte sie das gleich ihrem Manne zu erzählen? Und wenn sie auch seines allsamstnächtlichen Trostes nun gerne entbehren mochte und wollte, so durfte sie darum doch nicht meinen Trost so leichtfertig aufs Spiel setzen.
Ein nettes Süppchen hatte sie sich da eingebrockt! Aber so sind die Frauen.
Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Lieber Herr Gerichtsvollzieher,« begann ich, »Sie dürfen wirklich nicht fahren! Vergessen Sie denn ganz, daß wir noch mit dem Menschen auf Nr. 17 abrechnen müssen? Sie dürfen mich nicht in seinen Klauen allein zurücklassen.«
»Es tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid,« meinte er, »aber jeder ist sich selbst der Nächste! Sie müssen zusehn, wie Sie mit ihm fertig werden. Was mich betrifft – ich habe ihm vergeben; ich habe heute Nacht allen Menschen vergeben, die mir jemals Böses angetan haben. Des Himmels gütige Fügung hat mir solches Glück bescheert, daß ich keinem auf Erden mehr grollen kann!«
Er stand auf, lief zur Tür. »Vergeben Sie ihm auch!« rief er im Hinausgehn.
Eine Stunde später traf ich die Pötterichs beim Frühstück im Garten. Frau Dora war völlig verheult, ihre sanften, braunen Augen elend verschwollen. Sie schluchzte unaufhörlich, suckelte an ihrer Kaffeetasse, konnte kein Stückchen Brot herunterwürgen. Der Wagen fuhr vor, der Hausknecht lud das Gepäck auf. Dann ging Herr Pötterich zum Hause, seine Rechnung zu zahlen. »Trösten Sie meine liebe Frau derweil!« bat er mich.
Ich sah ihm böse nach: wie sollte ich das wohl machen, wo rings an den Tischen Gäste saßen?
»Nun bin ich wirklich trostarm!« schluchzte sie.
Der Gerichtsvollzieher kam zurück; da scholl es aus Zimmer Nr. 17:
»Wer höhnt roh, wer stört so
Des Mönchs Wort – fährt blöd fort?
Den schnöd Gold betört hold,
Der stört so des Mönchs Wort!«
»Da haben Sie's, Herr Pötterich,« rief ich, »Sie dürfen sich das nicht gefallen lassen. Er behauptet, daß Sie ›blöd fortführen‹!«
»Ach, mag er doch!« lachte Herr Pötterich. Dann rief er zum Fenster hinauf: »Lieber Mönch, ich werde Ihr Wort keineswegs mehr stören! Hold betört fahre ich zwar fort, aber garnicht blöd, sondern sehr vergnügt. Und schnöd Gold treibt mich garnicht fort, sondern – na, das geht Sie nichts an!«
Niemand ließ sich sehn oben am Fenster; aber Antwort klang zurück:
»Nun nahen neue Wonnen,
Nun glänzt und grünt manch Land,
Schneerein nun rinnen Bronnen
Vom nackten Felsenrand.
Genzianen blühn daneben,
Von oben Sang erklingt,
Denn rings ein ahnend Leben
Lenznahn nun drängend bringt!«
Mit offenem Munde starrte Herr Pötterich hinauf. Dann nahm er seinen Bleistift, setzte sich und stenographierte die wieder erschallenden Verse auf die Rückseite seiner Rechnung. Er verschlang sie mit den Augen, während er mit den Ohren dieselben Worte trank.
»Verstehn Sie es, lieber Freund?« wandte er sich an mich. »Wie bitter unrecht taten wir doch dem Jüngling Wolfgang. Ein Dichter ist er, ein Sänger, ein Prophet! Neue Wonnen nahen, das Land glänzt und grünt – meine Frau meint er, sie und den Stand ihrer frohen Hoffnung! Genzianen blühn daneben – das sind Sie: haben Sie nicht gestern Abend einen Genzianschnaps getrunken? Ein kleiner Scherz, den Sie dem gottbegnadeten Dichter nicht weiter übelnehmen dürfen! Von oben klingt der Sang – lauschen Sie doch, wie er klingt. Und rings ein ahnend Leben – Lenznahn nun drängend bringt! Ist das nicht reine, lautere Poesie? O, Dora, kann man zarter, kann man engelsreiner von dir reden? Wie froh bin ich, daß ich ihm vergeben habe. Er ist ein hoher Geist, ein edler Mensch – auf meinen Diensteid nehme ich das.«
Das war das letzte, das ich von Herrn Pötterich hörte. Von Frau Dora kein Wort – ihre Lippen zuckten, sie weinte in ihr Taschentuch hinein. Beide stiegen in den alten Krümperwagen, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Der Kutscher knallte.
Nie wieder habe ich von ihnen etwas gehört. Ich hoffe nur, daß die arme kleine Frau nicht allzulange trostarm durchs Leben lief.
An jenem Tage war ich äußerst mißgestimmt. Ich schaukelte mich in der Hängematte und kletterte wieder heraus; ich nahm ein Buch nach dem andern auf und legte es wieder fort. Ich langweilte mich gründlich, wußte nicht recht, was ich anstellen sollte.
Am späten Nachmittag entschloß ich mich, auszugehn; ich strich den Forellenbach hinauf, spähte nach Fischen, sah aber keine. Ich lief so weiter, ohne Ziel; stets hatte ich das verheulte Gesicht der blonden Frau vor Augen, wie ihr die dicken Tränen über die rundlichen Wangen rollten. Da hörte ich fern im Walde eine Stimme – ah, die von Nr. 17! Der kommt mir grade recht! dachte ich. Nun hab ich doch einen guten Auspuff für meinen Ärger!
Ich ging der Stimme nach, bald hörte ich deutlich die Worte:
»Nach windigem, schwindligem Weg,
Auf fährlich leichtbrüchigem Steg,
Durch eckige, zackige Schlucht –
Welch unsäglich klägliche Flucht!«
Na warte nur, Wolfgang, dachte ich, dir werde ich die klägliche Flucht schon beibringen!
Seine Stimme klang klar genug, aber ich merkte, daß wirklich eine Schlucht zwischen uns lag; ich mußte hinunter und dann wieder hinaufsteigen, um zu ihm zu gelangen. Das war garnicht so einfach; überall wuchsen Brombeerranken, an deren Stacheln ich mir Hände und Hosen zerriß. Dann fiel ich der Länge nach über einen Baumstamm und schlug mir die Nase blutig. Als ich mühsam meine Knochen wieder zusammensuchte, scholl es von oben:
»Trutzig trägt, trotz träufelnden Tränen,
Trägem Trumm-Trumm trauter Trommeln,
Treue Truppe – trüb, trostarm –
Traun, Trennungstraum trauriger Trübsal!«
Es war kein Zweifel, daß der Kerl meinen Gemütszustand scharf erfaßte. Dabei war mir's unbegreiflich, wie er das nur anstellte; es war unmöglich, daß er mich sah, ja überhaupt wußte, daß ich in der Nähe war.
Ich war nun tief unten auf dem Grunde der Schlucht und begann den recht mühseligen Aufstieg. Ich versuchte nach Möglichkeit jedes Geräusch zu vermeiden, duckte mich auch hinter Büsche und Stämme, um ihn plötzlich zu überraschen. Wieder klang es:
»Sonst saßen Sänger selbst am See.
Sittsam niemals, suchten sie sorglos,
In Saus und Braus, sinnlos wie Samson,
Solch seltsam Sein sich zu versüßen!«
Warum mischte sich der Bursche nur immer in meine Angelegenheiten? Was ging's ihn an, daß ich niemals sittsam war, daß ich, sinnlos wie Samson, mir mein Sein zu versüßen suchte?
Endlich war ich oben. Ich blickte herum; schließlich sah ich ihn, nicht allzuweit entfernt, am Waldhange sitzen. Nun schritt ich schnell auf ihn zu. Er drehte mir den Rücken zu, sah mich also nicht Dennoch deklamierte er jetzt:
»Barbara saß nah am Abhang
Sprach gar sangbar, zaghaft, langsam.
Mannhaft kam alsdann am Waldrand
Abraham a Sankta Clara.«
»Schon gut, Barbarachen!« rief ich ihm zu. »Der Abraham a Sankta Clara kommt schon, um dir eine kleine Bußpredigt zu halten.«
Aber es war, als ob er mich garnicht hörte. Ich stand nur fünf Schritte hinter ihm; wie ein Wasserfall gluckste er unermüdlich seine Sanktaclarasalbaderei heraus. Dann unterbrach er sich einen Augenblick, aber nur, um sofort wieder eine andere Litanei zu beginnen:
»Schneebedeckte feste Erde,
Lenzgeweckte, erste Herde,
Ceres, segenspendende!
Ew'ge, verderbenwendende!
Sende den West dem Meere entgegen,
Spende der Erde den schwellenden Segen,
Lechzender Herde den quellenden Regen!«
Ich sprang auf ihn zu, schüttelte ihn derb an der Schulter. »Was soll das Zeug, das Sie da schwatzen?« brüllte ich ihn an.
Er wandte sich, zitternd, sichtlich aufs äußerste erschrocken. Ich gebe zu, daß ich, blutig an Händen und im Gesicht, schmutzig und zerrissen, wohl einen etwas wüsten Eindruck machte.
»Was – was?« stammelte er.
»Ich will wissen, was das alles soll!« schrie ich.
Er sah mich entsetzt an, hob die Arme, als ob er einen Schlag abwehren wolle. »Neutralisierung der Endsilbe E,« flüsterte er.
»Dummes Zeug!« rief ich. »Spielen Sie nicht den Verrückten. Ich verlange Rechenschaft von Ihnen: weshalb verhöhnen Sie seit einer Woche mich und die Familie Pötterich?«
»Ich kenne Sie ja garnicht,« schluckte er, »weder Sie noch –«
»Sie kennen uns nicht?« fuhr ich ihn an. »Wissen nicht, daß der Herr Gerichtsvollzieher mit Vornamen Franz heißt? Daß seine Frau sich Dora nennt? Was sollen dann die Verse von dem fünffingerfischefangenden frechen Fischfrevler Franz?«
»Blaser!« wisperte er.
»Blaser?« donnerte ich. »Was ist das für ein Unsinn! Gestehn Sie, wenn Ihnen Ihre Knochen lieb sind, was bedeutet die Geschichte von der trostarmen Dora, die sonntags bei Ihnen, dem todkranken Wolfgang, anklopfte?«
»O- und A-Folge,« jammerte er. »Ich heiße auch garnicht Wolfgang.«
»Wie heißen Sie denn?« verlangte ich.
»Jakob Fürchtegott Semmel,« flehte er. »Das alles sind doch nur Übungen. Schonen Sie meiner, ich habe noch nie einem Menschen etwas zuleide getan.«
Er war sichtlich verzweifelt; dabei lag etwas kläglich überzeugendes in seiner Stimme, das mich stutzig machte.
Ich setzte mich zu ihm. »Ich werde Ihnen nichts tun, wenn Sie mir die reine Wahrheit sagen,« sagte ich ruhiger. »Ich kenne Ihre scheußlichen Gedichte nun genau so gut auswendig, wie Sie selber, aber ich begreife nichts davon. Sie werden mir also sagen, was sie eigentlich bedeuten. Was soll das ›träge Trumm-Trumm trauter Trommeln‹?«
»Momentanlaute,« sagte Jakob Fürchtegott »›Hinterm Haus heult Hassan‹ – das sind Haucher, und ›Durch eckige, zackige Schlucht‹ – halbgeschlossene Drücker.«
»Was sollen die Verse von dem ›kummerkranken, krummgeknebelten Kauern an Kerkersketten‹,« forderte ich, »was sollen die niemals ›sittsamen Sänger, die sinnlos wie Samson sind‹?«
»Härteste Gaumenexplosiver bringt das, erste,« sagte er, »und das andere reine Säusler. ›Specht, Spatz, Sperber, schießen schleunigst schlangenschleichend‹ – das sind Rauscher; ›nicht schlechte Wächter scheuchen‹ – das sind Zischer. Die ›prangenden Wangen‹ aber geben Nasalklinger!«
Ich faßte mich an den Kopf. Es war nicht chinesisch, war alles klares Deutsch, was der Jüngling sprach. Säusler, Blaser, Zischer, Haucher, Drücker, Rauscher, Nasalklinger – – wenn ich nur gewußt hätte, was ich damit anfangen sollte! Ich kam mir ungeheuer dumm vor.
»Weiter,« drängte ich, »erklären Sie weiter.«
Meine sichtliche Verlegenheit schien ihm Mut zu machen. »Es ist doch so einfach,« rief er. »Der ›Abraham a Sankta Clara‹ übt das ›A‹, der ›Knecht, der nächst dem Pächter zechte‹, das ›E‹, der ›Greis mit der kleinen Maid‹, das ›Ei‹ und der ›dräuende Heulsturm‹, das ›Eu‹. Ebenso ist's mit den Konsonanten: ›Nun nahen neue Wonnen‹ – das bildet das ›N‹; ›jene jämmerlich jammernden Jobberjuden‹ aber das ›J‹!«
»Und das alles haben Sie selbst zusammengedichtet?« fragte ich.
»O nein,« sagte er, »ich dichte garnicht. Es sind doch nur Übungen, die mir meine Professorin aufgeschrieben hat, meine Lehrerin der Sprechkunst!«
Endlich wurde es ein wenig licht um mich. »Ich begreife nun, lieber Herr,« rief ich, »Sie wollen Schauspieler werden oder Sänger?«
Da aber sah mich Herr Semmel ehrlich entrüstet an. »Wie können Sie nur so etwas von mir denken,« sagte er gekränkt. »Ich bin doch Predigtamtskandidat!«
Ich erhob mich, reichte ihm die Hand. »Entschuldigen Sie, Herr Kandidat,« sagte ich, »es war ein Mißverständnis. Ich hoffe, daß Ihre Probepredigt ein voller Erfolg wird.«
»Ich danke Ihnen!« nickte Herr Semmel. Und, als ob nichts geschehn wäre, fuhr er in seinen Übungen fort:
»Lobpreiset, liebpredigt, ihr Boten,
Und liebet die betenden Brüder!«
Ich ging den schmalen Weg an der Schlucht vorbei, bog in den Wald ein. »Das sind Lippen- und Zungendrücker!« rief er mir nach.