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Die Kurve

Es war um sechs Uhr früh. Die Redoutensäle hatten sich geleert, nur in dem kleinen arabischen Zimmer hockten noch ein paar Unverbesserliche. Vorne kauerten zwei bunte Japanerinnen auf den Teppichen, daneben ein weißer Pierrot und ein Toreador in braunem und gelbem Samt; sie lachten und tranken Mokka aus kleinen Schalen. Ich saß in meinem weiten Burnus mit untergeschlagenen Beinen auf einem weichen Kissen, in der Mitte des Raumes. Ich spielte Wand, lehnte den rechten Arm auf ein niedriges Taburett, um möglichst viel mit meinem weißen Tuche zu verstecken.

Denn hinter mir saß ein hübscher, junger Maler auf dem Kelim, auch in arabischem Gewand. Und dicht bei ihm saß eine verschleierte Türkin, die spielte – Efeu.

Ich kannte die Türkin, hatte sie selbst mitgenommen zur Redoute. Sie war eine Schwester vom Roten Kreuz und wohl seit acht Jahren kaum herausgekommen aus dem Krankenhause, in dem sie pflegte. Aber heute nacht trank sie Lust und Leben. Sie hatte sich den kleinen hübschen Maler gefangen, der so lustig lachte und ein Glas Pommery nach dem andern trank. Sie streichelte seine Locken mit ihren feinen langen Händen und versengte ihn fast mit den großen braunen Augen. Aber sie erlaubte ihm nicht, den Schleier zu lüften, der nur ihre Augen freiließ. Nur, um ihre Lippen an die seinen zu drücken, hob sie ihn selbst immer und immer wieder, aber schnell und vorsichtig, sodaß er bei dem matten Dämmerlichte der persischen Ampeln nie ihr Gesicht sehn konnte. Sie rankte sich um ihn, erstickte ihn fast mit ihren Küssen und Umarmungen; der kleine, eitle Maler ließ sich's lächelnd gefallen. Sie war so ausgehungert, meine arme Türkin vom Roten Kreuz – o, für Jahre mußte sie sich in dieser Nacht wieder satt küssen!

Ich spielte Wand, verbarg die beiden so gut es ging. Ich saß mit untergeschlagenen Beinen auf meinem Kissen, steckte eine Zigarette an der andern an und trank meinen Wein. Wenn das Küssen hinter mir gar zu laut wurde, wiegte ich den Kopf hin und her und sang, um es ein wenig zu übertönen, mein Sprüchlein: Oualâ ghâliba ill' Allâhta 'alâ.

Stürzt plötzlich ein Herr im Frack in den Raum, ruft meinen Namen. Ich schaue auf –

»O, endlich!« hastet er. »Ich bitte um Ihre Kurve!«

»Gerne,« sagte ich. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Ich rückte ihm ein Kissen hin und der Herr im Frack kauerte sich zu mir auf den Boden. Ich ließ ihn sich so setzen, daß er nun mit seinem breiten Rücken auch Wand spielte und ohne sein Wissen mit mir die Rote-Kreuz-Türkin in ihrem Efeuspiel unterstützte. Ich goß ihm ein Glas ein.

»Prosit,« sagte er, »ich gestatte mir!« Er hob seinen Arm in Schulterhöhe, beugte ihn rechtwinklig, hielt mir sein Glas entgegen und sah mich an. Dann führte er es zum Munde und leerte es.

»Zum Wohle!« fuhr er fort. »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Dr. Hauer oder eigentlich jetzt Assessor Dr. Hauer, ich habe vorgestern mein Assessorenexamen gemacht.«

»Meine Glückwünsche, Herr Assessor,« sagte ich.

Er lachte. »O danke, danke verbindlichst! – Aber nun stecke ich die Juristerei natürlich dran, ich brachte nur meinem alten Herrn zuliebe die Sache zum Abschluß. Jetzt sammle ich nur noch Kurven, das ist meine Lebensaufgabe!«

»Eine ausgezeichnete Lebensaufgabe,« bestätigte ich, »eine höchst verdienstvolle Lebensaufgabe!« Ich hatte keine Ahnung, wovon er eigentlich sprach, ich wollte nur aus Menschenliebe die Unterhaltung in Fluß halten, um der ausgehungerten Efeuspielerin hinter uns noch eine Viertelstunde zu gewinnen, in der sie nach Herzenslust ihren kleinen Freund abküssen konnte. »Also Sie sammeln Kurven? Wie viele haben Sie denn schon?«

»Siebenhundertzweiunddreißig Einzelkurven!« entgegnete der Assessor stolz. »Dazu ein halbes Dutzend recht bemerkenswerter Sammelkurven. Ich glaube, daß jetzt schon meine Sammlung eine der hervorragendsten der Erde ist.«

»Zweifellos!« brummte ich. »Aber Sie werden gewiß noch mehr zusammenbekommen!«

»Noch mehr?« lachte er. »Aber gewiß noch tausendmal soviel! Jetzt bin ich ja mein freier Herr, ich habe Vermögen genug und kann alle meine Zeit meinem großen Gedanken opfern. Ich habe viel vor mir, aber es muß mir gelingen. Heiraten werde ich nie: meine Frau wird die Kurve sein!«

»Eine ganz entzückende Frau!« nickte ich. »Wir wollen anstoßen auf die Frau Kurve. Nur, rate ich Ihnen, gehen Sie nicht nach Prag!«

Wir tranken, dann gab er mir ein Stück Papier und einen Bleistift. »Bitte, Ihre Kurve!« wiederholte er. »Ich wußte, daß Sie heute nacht hier sein würden, nur Ihretwegen bin ich hergekommen. Ich bin schon stundenlang hinter Ihnen her, wollte Sie aber nicht stören. Übrigens habe ich Glück gehabt heute, ich habe Max Liebermann hier getroffen und Wedekind. Acht sehr interessante Kurven habe ich heute bekommen, lauter gute Namen.«

Er hielt mir ein paar Bogen hin, die jede eine krumme Linie zeigten, darunter einen Namenszug. Ich dachte, so ein Ding kannst du dem Herrn Assessor auch machen. Ich nahm also den Bleistift und zeichnete; dann gab ich ihm das Blatt zurück.

Es sah so aus:

.

»Bitte zwanzig Mark!« sagte ich und hielt die Hand hin.

»Zwanzig Mark?« Der Herr Assessor machte ein sehr erstauntes Gesicht. »Ich habe noch nie für eine Kurve etwas bezahlt.«

Ich tat ebenso erstaunt. »Wirklich nicht? Da drücken Sie ja selbst den Wert Ihrer Kurvensammlung. Es tut mir leid, aber ich kann keine Kurve unter zwanzig Mark abgeben!«

Der Assessor gab mir das Goldstück, ich warf es einem Kellner zu, der grade in der Tür erschien, und bestellte noch eine Flasche Ayala. Der Kurvensammler vertiefte sich in seinen neuen Schatz.

»Prächtig!« murmelte er. »Äußerst lehrreich! Sie erinnert sehr an die Kurve der Saharet. Sie fangen doch mit ›Acht‹ an?«

»Natürlich!« nickte ich. Warum hätte ich auch nicht damit anfangen sollen? Mit Acht oder mit Achtzig, gleichviel!

»Merkwürdig, diese Folge: Zwei, Sechs, Eins!« fuhr er fort, und verglich mein Blatt mit den anderen. »Liebermann hat Zwei, Eins, Sechs am Schlusse!«

Ich sagte: »Auch nicht schlecht, Zwei, Eins, Sechs! Auch sehr prächtig, bemerkenswert!«

Der Assessor steckte seine Blätter in die Brieftasche. »Glauben Sie mir,« seufzte er, »ich wollte, es gäbe einen Himmel! Was möchte Beethoven sagen, wenn ich ihn selbst die Kurvensammlung brächte!«

Ich wurde langsam neugierig, ich mußte wissen, was das eigentlich für Kurven waren, die der Assessor sammelte. Aber ich durfte doch nicht fragen, durfte ihm doch nicht eingestehn, daß ich ihm nur eine krumme Linie für zwanzig Mark verkauft hatte. Ich antwortete:

»Beethoven wäre gewiß außerordentlich erfreut. Ich glaube nicht, daß er selbst eine so schöne Kurvensammlung hat.«

»Hatte Beethoven überhaupt eine Kurvensammlung?« fragte er. »Ich habe nie davon gehört«

»Ich auch nicht,« gab ich zu, »aber warum soll er keine gehabt haben?«

»Freilich!« sagte der Assessor nachdenklich. »Ob er wohl jemals selbst über seine Symphonien eine Kurve gemacht hat?«

Hm! Die Kurven des begeisterten Sammlers hatten irgend etwas mit Beethoven zu tun, und zwar mit seinen Symphonien. Ich beschloß, das Geheimnis unter allen Umständen zu ergründen. »Haben Sie nicht zufällig eine von Ihren Sammelkurven da?« fragte ich harmlos.

Bereitwillig zog er seine Brieftasche heraus. »Ich habe keine bei mir,« sagte er, »aber ich kann Ihnen schnell eine zeichnen!«

.

Er kritzelte auf einem Stück Papier. »Das da – ist die Durchschnittskurve des Landgerichts II in Berlin! Der Durchschnitt aller Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Assessoren und Referendare. Äußerst interessant, was?«

»Der reine Blitz!« sagte ich. »Eine sehr intelligente Kurve! Echt juristisch!« Der Assessor grübelte: »Ja – sie hat wirklich etwas Juristisches!«

Ich betrachtete das Blatt – mir ging ein Licht auf. Die Zahlen bedeuteten vielleicht die neun Symphonien Beethovens!

»Die Herren Juristen fangen mit eins an,« sagte ich etwas unsicher.

»Ja,« bestätigte der Assessor, »die erste Symphonie gefällt ihnen am besten und die fünfte am wenigsten! Denken Sie, die fünfte! Merkwürdig, was?«

»Nun, es sind eben Juristen,« erwiderte ich.

Ich hatte nun seine Idee begriffen: die Kurve bedeutete eine graphische Darstellung der Reihenfolge, in der das Einzelindividuum oder eine ganze Gruppe von Menschen die Symphonien Beethovens schätzte! Wer also die »An die Freude« zumeist liebt, dann die »Eroica«, dann die in F-dur, dann die »Pastorale«, muß unten anfangen mit seiner Kurve, ziemlich hoch steigen, sinken, wieder etwas steigen.

»Was haben Sie sonst noch für Sammelkurven, Herr Assessor?« fragte ich.

»O, ich habe die Durchschnittskurve der Heidelberger Korps! Ferner die Durchschnittskurve der S. G. Delegierten in Kosen von 1902! Es ist jedesmal eine große Arbeit, jede einzelne Kurve aufzunehmen und dann aus hunderten die Durchschnittskurve zu berechnen. Aber ich unterziehe mich der Aufgabe gerne, ich denke einen Kulturwert zu schaffen.«

»Einen Kulturwert ersten Ranges!« rief ich begeistert. »Denken Sie, Herr Assessor, welche Möglichkeiten sich Ihnen öffnen! Reisen Sie dieses Jahr zu allen deutschen Universitäten, nehmen Sie die Kurve jedes Korpsstudenten auf. Dann berechnen Sie die Durchschnittskurve des Kösener S. C. für 1903. Und in jedem Jahre machen Sie das, ich bin überzeugt, daß Sie außerordentlich wichtige Schwankungen durch Durchschnittskurven für die einzelnen Jahrgänge feststellen werden.«

»Eine famose Idee!« rief der Assessor. »Ich werde es tun!«

»Und dann machen Sie dasselbe bei allen deutschen Gerichten. Die deutsche Gerichtskurve für 1904! Für 1905! Beethoven im Wandel der Zeiten! Sie werden feststellen können, welchen Einfluß das immer stärkere geistige Eindringen des Bürgerlichen Gesetzbuches auf das Verhältnis der Juristen zu den Symphonien hat.«

»Glauben Sie wirklich, daß es einen Einfluß hat?« fragte er.

»Aber zweifellos!« rief ich in ehrlicher Überzeugung. Ich kam in Fluß, des Assessors schöner Gedanke riß mich mit sich fort.

»Sie dürfen dabei nicht stehn bleiben, lieber Herr! Sie müssen Umfragen veranstalten! Richten Sie sich ein Büro ein. Berechnen Sie die Durchschnittskurve des Metallarbeiterverbandes, des Bayerischen Bauernbundes, der Angestellten der Berliner Straßenbahn. O, Sie werden Unterstützung finden, solch große Gedanken verdienen und finden immer Unterstützung! Machen Sie eine Petition an den Reichstag, an den Bundesrat. Man muß bei der nächsten Volkszählung die Spalte aufnehmen: ›Wie ist Ihre Kurve für die Beethovenschen Symphonien?‹ Denken Sie, Herr, denken Sie: eine Durchschnittskurve für das ganze Deutsche Reich!«

Des Assessors Augen leuchteten. Ich schwenkte die Arme in der Luft herum und fuhr fort:

»Aber damit sind Ihre Aussichten noch nicht erschöpft, Herr! Sie werden eine Broschüre schreiben und sie in alle Weltsprachen übersetzen lassen. Ihre Idee wird sich nicht nur in Deutschland Bahn brechen, sie wird von allen Staaten aufgegriffen werden, bei allen Volkszählungen der Welt wird die Kurvenspalte aufgenommen werden! So erhalten Sie die englische, die französische, die russische, die chinesische Durchschnittskurve – ja mit der Zeit die Durchschnittskurve der Welt! Und bedenken Sie, welch wundervolle Spezialkurven Sie aus diesem herrlichen statistischen Material werden ausrechnen können. Zum Beispiel: die Kurve aller über achtzig Jahre alten Ureinwohner Neu-Guineas! Die Spezialkurve der vereinigten Austernöffner Neuyorks! Herrgott, welche Streiflichter, welche Fülle von Anregungen! Wie interessant wäre so ein Thema: ›Der Einfluß des Austernöffnens als Beruf auf die Stellung des Individuums zu Beethovens Symphonien.‹ – Oder: ›Woraus erklärt sich die merkwürdige Übereinstimmung zwischen der venezolanischen Durchschnittshebammenkurve und der Kurve der preußischen Garde-Offiziere?‹ Oder: ›Woher kommt es, daß sowohl die Durchschnittskurve der russischen Beamtenschaft, als auch die der Staats-Zuchthäuser Sing-Sing in New York, La Roquette in Paris und Moabit in Berlin dieselbe Vorliebe für die D-moll-Symphonie zeigen?‹ – Doktorarbeiten, lieber Herr, Doktorarbeiten!«

Der Herr Assessor drückte mir gerührt die Hand, zwei dicke Tränen krochen über die roten Backen und netzten den schön gewirbelten Schnurrbart. »Ich danke Ihnen,« schluchzte er, »ich danke Ihnen! Sie verstehn meine Sehnsucht. Eine goldene Zukunft liegt vor mir: mir gehört die Erde, mir und meiner Kurve!«

»Die Erde nur?« rief ich. »Sie glauben nicht an einen Himmel, Sie, ein Königlich Preußischer Assessor? Ich aber sage Ihnen, es gibt einen Himmel und Sie werden hineinkommen; so gewiß wie die Idee Ihrer Kurve die Erde gewinnen wird, so gewiß wird sie auch den Himmel erobern! Sie werden im Himmel die Kurven Shakespeares, Goethes und Bismarcks aufnehmen können; Dante, Napoleon, Cervantes, der alte Fritz und der göttliche Aretin werden Ihnen die ihrigen aufzeichnen! Sie werden die Durchschnittskurve der einunddreißig ägyptischen Dynastien aufnehmen und die aller Arbeiter am Turmbau zu Babel! Die Durchschnittskurve der Hohenstaufen, der Stuarts, der Barmekiden! Ach, und die Durchschnittskurve der himmlischen Heerscharen, die gewiß mustergiltig ist. Sie werden den Mars besuchen, den Saturn, den großen und kleinen Bären, man wird einen ganzen Stern nehmen und aushöhlen müssen, um in seinem Innern ein kolossales Kurvenarchiv einzurichten! Und Sie, Herr, Sie werden da Direktor! Gehn Sie, lieber Herr, gehn Sie: Sie sind ein großer Mensch, und ich hasse alle großen Menschen, die ich beneiden muß!«

Der Herr Assessor stand auf, er wischte sich die Tränen aus den Augen. Er drückte mir schweigend die Hand, dann ging er hinaus.

Ich wandte den Kopf ein wenig und schielte nach der Türkin. Ach, ja, die hatte auch heute Kurve gespielt: Kurve als lebendes Bild. Sie hatte begonnen mit der neunten Symphonie, der »An die Freude«. Dann war sie zur »Eroica« übergegangen, hatte mutig ihre rotkreuzliche Schüchternheit überwunden und sich kühn den hübschen kleinen Maler gebändigt. Der lag nun lang ausgestreckt auf den Teppichen, er schlief fest, den Kopf auf ihrem Schoße. Der Türkin lange feine Hände glitten immer wieder durch seine blonden Locken, dazu sang sie, ganz leise, ein Schlummerlied. Die sechste Symphonie: Pastorale.


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