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XXIV.

Ein Kornschiff in Sicht!« So scholl der Ruf durch Kart-Chadast, und alles Volk stürzte nach dem Kothon.

Irgendeiner hatte von der Bosra aus beobachtet, wie dieses Schiff auf offener See allerlei geschickte Schwenkungen ausführte, um den nachsetzenden römischen Trieren zu entrinnen. Dann plötzlich, im scharfen Nordost, der sich gegen Mittag wie immer im Frühjahr kräftiger erhob, setzte es alle Segel und Ruder ein und flog wie eine weiße Taube, während die verfolgenden Sperber den Kampf aufgaben, geradenwegs der neuen Hafeneinfahrt entgegen.

In fieberhafter Erregung rannte die Menge noch über den Kothon hinaus gegen die felsige Küste, alt und jung, hungernde Männer und Weiber und ausgemergelte, um Brot schreiende Kinder, das heiß willkommene Kornschiff zu empfangen. Es war aber schon in die enge Wasserstraße eingelaufen, die das Meer mit dem Kriegshafen verband, und kam ihnen auf halbem Weg entgegen. Tosender Jubel begrüßte es. Die Leute jauchzten vor Freude, führten Luftsprünge aus, tanzten wie die Verrückten. Und dann machten sie kehrt, und während das Schiff langsam gegen den Kothon gelotst wurde, liefen sie scharenweise an beiden Ufern des Kanals daneben her, denn keiner wollte es aus den Augen lassen und jeder beim Ausladen mit dabei sein.

Im Hafen selbst hatte sich inzwischen ebenfalls eine hungernde Volksmenge angesammelt, die es für klüger hielt, das Schiff am Landungsplatz zu erwarten, um gleich bei der Hand zu sein, wenn seine Ladung gelöscht würde. Als die Schwärme, die es begleiteten, angeschoben kamen, gab es Streit und Gedränge. Die einen wie die andern nahmen das Recht für sich in Anspruch, in den vordersten Reihen zu stehen; diese, weil sie schon früher da gestanden, jene, weil sie das Kornschiff eingeholt und begleitet hätten. Eine Abteilung libyscher Söldner, die anrückte, brachte es indessen rasch zuwege, die Gegner zu Verbündeten zu machen. Sie wollte nämlich den Platz räumen, und der punische Offizier, der sie befehligte, tat kund, jede Zufuhr an Lebensmitteln sei von vornherein beschlagnahmt, es würde ohnedies alles in gerechten Zumessungen unter die Bevölkerung aufgeteilt.

Da vereinten sich all die knurrenden Mägen zu gerechter Entrüstung. Einmütig nahm die durch Entbehrungen fast bis zum Irrsin überreizte Menge gegen die Übergriffe der Wehrmacht Stellung.

Malchas, einst ein wohlhabender Reeder, jetzt notleidend wie alle, begehrte zornmütig auf: »Wir sind friedliche Bürger, was haben Gewaffnete hier zu suchen?«

»Selbst wollen sie sich den Wanst füllen, das ist alles!« schrie Sadraf, der Schiffsteerer, aus der Menge. »Der Boëtharch mit seinem Soldatenpack lebt noch immer im Überfluß, das arbeitende Volk aber darbt!«

Und Jarbas, der nirgends fehlte, wo es Lärm gab, hetzte: »Gerechte Zumessungen nennen sie das! Den kärglichen Abhub, der für uns übrigbleibt! Ich weiß davon zu sagen, was für eine Günstlingswirtschaft im Lebensmittelamt herrscht! Die einen bekommen soviel sie wollen, die andern verhungern. Es ist ein offenes Geheimnis, daß man durch Bestechung alles erreicht und durch sein gutes Recht soviel wie nichts!«

Weiber kreischten und schrien durcheinander, führten Beispiele an, wie sie benachteiligt worden seien. Der einen war ihr alter Vater, der andern ihre greise Mutter, der dritten ihr Kind an Entkräftung gestorben. Einer andern siechte ihr Mann an einer zehrenden Krankheit dahin. Noch andere wußten zu erzählen, wie dieser oder jener ihrer Angehörigen an einem hitzigen Hungerfieber zugrunde gegangen sei, oder an abfaulenden Gliedern wegen der mangelhaften Ernährung, oder an einem Tobsuchtsanfall, weil Not und Elend ihn verrückt gemacht.

Dem Fischmeister Dajag war sein Weib gleichfalls an einer Hungerkrankheit gestorben. Die Erinnerung daran versetzte ihn jetzt in Wut.

»Die Soldaten sind's, die uns das Notdürftigste vom Mund wegfressen! Und dabei wollen sie sich hier mausig machen?«

»Die Soldaten! Die Prasser! Die Schlemmer! Der Boëtharch an der Spitze!«

Auch der Gerber Juba befand sich unter den Schreiern. Wie alle war er der Meinung, daß mit ungleichem Maß gemessen werde, er sah nicht ein, mit welchem Recht.

»Wie kommt die Truppe dazu, vor der übrigen Bevölkerung Vorteile zu genießen? Jeder Bürger von Kart-Chadast steht heute im Dienst, ein jeder muß gegebenenfalls seine Haut zu Markte tragen!«

Sogar Elym, der Seiler, empörte sich: »Das Choma haben sie sich nehmen lassen, vor den Römern liefen sie davon! Aber wenn mal ein Kornschiff eintrifft, gleich sind sie zur Stelle!«

Gelächter und Beifall. Alle stimmten ihm bei. Eifrig ermutigten sie einander, redeten sich mehr und mehr in Hitze. Dies Schiff gehörte nun einmal dem Volk! Was hatte die Militärbehörde da dreinzureden und Mannschaften zu entsenden? Die Militärbehörde war wie alle andern Behörden nur durch den Willen des Volkes da, und überhaupt stand jede Entscheidung beim Volk allein!

Das war freilich längst in Vergessenheit geraten, und selbst Hirom, der Schmied, sonst der Besonnensten einer, empfand es bereits als ärgerlich, daß die Wehrmacht im Innern der Stadt nachgerade schon eine regere Tätigkeit entfalte als auf deren Mauern und Wällen.

»Eschmuns Fluch, bewährt euch vor dem Feind!« rief er grollend den Bewaffneten zu. »Habt ihr eure Tapferkeit bloß für die Bevölkerung übrig, so soll Milkarts Feuer euch sengen!«

Inzwischen meinte Jarbas einen schlagenden Beweisgrund entdeckt zu haben, warum den hier Versammelten und niemand sonst ein Anrecht auf dieses Schiff zustehe. Denn niemals hätte es einlaufen können, wenn der Kanal zwischen Meer und Kothon nicht dagewesen wäre.

»Wer aber hat die neue Wasserstraße gegraben – he? Wir oder die Soldaten? Wir, das Volk, wir allein! Sonach ist auch das, was auf diesem Wege hereinkommt, unser Eigentum.«

Die Weiber hoben ihre Kinder hoch, von denen viele durchsichtig wie Wachs, andere nichts mehr als jammervolle Geripplein waren.

»Helft den Kleinen! Laßt sie nicht umkommen! Auch wir und unsre Kinder haben mitgeholfen und mitgegraben!«

Der Neid, als er die immerhin noch lebenden Kinder erblickte, machte Mänon, den ehemaligen Staatsschreiber, toll. Seine beiden Kinder, die er nicht mehr hatte ernähren können, waren ihm draufgegangen. Völlig rasend geworden, schrie er ununterbrochen dem punischen Offizier ins Gesicht: »Abzug! Abzug! Abzug!«

Und Sadraf brüllte: »Jagt sie zum Geier, wenn sie nicht freiwillig gehn!«

Da stürzte die aufgepeitschte Menge, die Weiber voraus, sich auf die libyschen Söldner, entriß ihnen Speere und Schwerter, verhöhnte sie und spie ihnen ins Gesicht.

Und diese armen Kerle, die ebenfalls nicht satt gegessen hatten, machten keine Miene, sich zu wehren, man konnte sie ungestraft beschimpfen. Sie waren ja selbst so entkräftet, stumpf und mutlos, sie verspürten keine Lust, gegen Leute vorzugehn, die sich in einer nicht minder hoffnungslosen Lage befanden wie sie. Willig ließen sie sich entwaffnen und zerstreuen, ohne auf die Ermahnungen und Drohungen ihres Befehlshabers zu hören.

So blieb dem punischen Offizier nichts übrig, als sich in aller Stille drücken, wollte er nicht Gefahr laufen, von den erbitterten Weibern in Stücke gerissen zu werden.

*

Mittlerweile hatte das vermeintliche Kornschiff Anker geworfen und am steinernen Ufer festgemacht.

Eine fürchterliche Ernüchterung stand der hungerleidenden Menge bevor. Denn der Schiffsmeister, aufgefordert, sofort die Kornsäcke herauszugeben, damit sie unter den Harrenden aufgeteilt würden, erklärte vom Deck herunter, er hätte keine Kornsäcke und überhaupt keine Lebensmittel an Bord.

Niemand wollte es glauben, niemand von seinen Hoffnungen Abschied nehmen. Hundert Stimmen zugleich fragten: was er dann hier suche? Warum er überhaupt gekommen sei? Oder was er sonst an Bord hätte?

»Wertvolle Ladung!« sagte der Mann. »Den Hipparchen Bithyas führte ich her und noch weitere dreißig, vierzig edle Numider und Libyer samt ihrem Gefolge. Wackere Krieger, die von den Römern übergelaufen waren und auf unserer Seite kämpften. Nepheris ist gefallen, wenn ihr's noch nicht wißt! Den ganzen Winter hatten sie durchgehalten in der belagerten Stadt. Nun flüchtete sich, wer konnte, und die das Meer erreichten, nahm ich auf in mein Schiff, auf daß sie den Römern nicht in die Hände fielen. Denn die Römer haben den Überläufern fürchterliche Rache geschworen. Und gerade darum ist meine Fracht so wertvoll. Bithyas und seine Leute werden euch bei der Verteidigung der Stadt zur Seite stehn, todesmutiger als irgendeiner. Denn Gefangenschaft bedeutet für sie zehnfachen Tod!«

Wirklich sah man über den Landungssteg jetzt einen Zug ernster und gebeugter Männer sich bewegen, die verschiedenerlei Rüstungen und Waffen trugen, wie sie bei den unabhängigen Numidern, bei den Mauretaniern und den libyschen Wüstenstämmen in Gebrauch waren. An ihrer Spitze schritt ein stämmiger Äthiopier von fast schwarzer Gesichtsfarbe in abenteuerlicher Tracht, statt des Helmes einen buntfarbig gewundenen Kopfbund auf dem Haupt. Einige in der Menge waren ihm früher einmal, noch vor der Absperrung der Landenge von Gara, im Hinterland begegnet; nur flüchtig zwar, wie er an der Spitze seiner Reiter vorüberjagte. Aber wer den einmal gesehn, der erkannte ihn sofort wieder. Es war Bithyas, der heldenmütige Verteidiger von Nepheris.

Und dieser Mann mit seinen Leuten sollte wirklich die einzige Fracht gewesen sein, die das Schiff an Bord gehabt?

Ein dumpfes Murren der Verzweiflung war bei den Worten des Schiffsmeisters durch die enttäuschte Menge gelaufen, die sich um die erhoffte Sättigung betrogen sah. Fast schon zu matt, um sich noch zu erregen, verharrten alle eine Zeitlang wie gelähmt und betäubt in stumpfer Trostlosigkeit. Plötzlich aber durchflutete die Gemüter eine neue Welle der Raserei. Den Geschmack bitterer Galle auf der Zunge fingen sie abermals zu toben an.

Die einen, die belogen und betrogen zu sein glaubten, stürzten sich in das Schiff und durchsuchten es von oben bis unten, fest entschlossen, zu rauben, was sie Eßbares darin fänden. Als sich aber wirklich nicht das geringste davon entdecken ließ – denn das Schiff war selbst nur ungenügend mit Mundvorrat versehen gewesen – da ließen sie ihre Wut an den Einrichtungsgegenständen aus und schlugen krumm und klein, was ihnen leicht erreichbar war.

Hier hatte Sadraf die Führung inne, und seine Gefolgschaft bestand aus dem verlottertsten Abhub der Hafengegend. Diesen Leuten, nach deren Überzeugung es keine Kriege, aber auch keine Regierungen oder sonstige Obrigkeiten hätte geben dürfen, schien es Vergnügen zu bereiten, sich über die Ohnmacht ihrer engherzigen Gedankenwelt durch ein sinn- und gefühlloses Zerstörungswerk hinwegzutäuschen, das ihren Fäusten vorübergehend den Schein einer trügerischen Augenblicksmacht verlieh.

Andere Rotten des aufgewühlten Volkes, die sich um Jarbas, Tajag und Mänon gesammelt hatten, richteten ihr Augenmerk auf zweckmäßigere Ziele. Sie hatten sich klargemacht, daß die eben eingetroffenen Numider und Libyer die zu verköstigende Bevölkerung von Kart-Chadast um mindestens vierzig, wenn man alle Gefolgschaften hinzurechnete, um vielleicht gegen hundert hungrige Münder vermehren würden. Zur Abwehr des Feindes, meinten sie, bedürfe man dieses Zuzuges nicht. Ohnedies seien schon mehr Verteidiger der Wälle vorhanden, als man ernähren könne. Und niemand war gesonnen, die zu Ende gehenden Vorräte mit einer Anzahl Neuer Esser zu teilen.

Darum machte Jarbas, der wieder das große Wort führte, den Vorschlag, dem Bithyas und seinem Gefolge das Betreten der Stadt zu untersagen.

Noch hatte der Zug der Ankömmlinge, der sich gegen das Tor des Kothon bewegte, dessen Mauern nicht überschritten. Auch Mänon und Dajag befürworteten rasches Handeln.

»Nehmen wir sie gefangen und bringen wir sie auf ihr Schiff zurück!«

»Und dieses muß sofort auslaufen und den Hafen wieder verlassen!«

»Wenn aber der Schiffsmeister sich weigert?«

»Unsre Drohung, ihm sein Fahrzeug in Brand zu stecken, wird ihn bald gefügig machen!«

»Bedenkt, Mitbürger,« legte Malchas sich ins Mittel: »Wenn wir diese Streiter für unsre Sache wieder hinausjagen, so fallen sie den Römern in die Hände! Dann werden sie als Überläufer grausam hingerichtet!«

»Was geht das uns an? Das ist ihre Sache!«

»Warum sind sie gekommen, wir haben sie nicht gerufen!«

»Wir brauchen keine neuen Esser, wir haben selbst nichts zu beißen!«

Schreiend und wütend die Arme in die Luft werfend setzten sie sich in Gang und machten Miene, ihre wenig gastfreundlichen Absichten in die Tat umzusetzen.

Aber da trat Hirom, der Schmied, ihnen mit ausgebreiteten Armen und krallenartig gespreizten Fingern entgegen und erklärte zitternd vor Zorn, eine solche Schurkerei werde er niemals zulassen, solange noch ein Hauch von Atem in ihm sei.

»Sie haben für uns gekämpft und gelitten! Eschmuns Fluch, wer sie antastet, der hat es mit mir zu tun!«

Er stand nur einer gegen viele, aber auf seiner Seite war der feste Wille eines Mannes und die Ehre der Stadt.

So blieb er schließlich doch der Stärkere, und die Neuangekommenen konnten unbehelligt ihren Weg fortsetzen.

*

Und abermals dunkelt eine Neumondnacht. Eine Neumondnacht im frühen Frühling ...

Myriaden zauberhafter Blüten haben ihre Kelche entfaltet an der prangenden Küste Libyens und hauchen ihre Düfte in diese tiefblaue Nacht. Nach Befruchtung lechzend, erschließen sie ihren Schoß den surrenden Faltern, geheimen Boten der Liebe, die lebenerweckende Keime von Blume zu Blume tragen. Verlangend rauschen die Wogen des Meeres gegen das Gestade und machen die jungfräuliche Erde erschauern unter ihrem Atem voll Reinheit und jugendlicher Frische. Die ganze Natur scheint zu erzittern von der verstohlenen Glut eines neuen Werdens. Leidenschaftlich strömt sie ihre heimlich pulsenden Zärtlichkeiten in betörenden Wohlgerüchen aus. An den Toren von Kart-Chadast aber machen ihre Wonnen halt und weichen dem Grauen. Über Dächern, Tempeln und Mauern lasten die vorgeahnten Finsternisse der Unterwelt. Und die Seelen der Ahnen, denen Lenz und Liebe längst verloren ist, durchbrechen den Bann, der sie dem Leben fernzuhalten wußte, und geistern, unheilvolle Künder des Kommenden, durch die Straßen und Häuser der unglückseligen Stadt.

Auch Dubar, der diese holdselige Nacht im Kriegshafen Kothon durchwacht, weiß nichts von ihren Wonnen, oder empfindet sie doch, sofern er etwas davon weiß, nur schmerzlich. Denn bitteres Weh nistet ihm im Herzen, etwas wie Schwermut des Scheidens: als müßte er Abschied nehmen für immer von den Schönheiten dieser Erde ...

Rastlos schreitet er die Umfassungsmauer des riesigen, fast kreisrunden Wasserbeckens entlang, sich von der Wachsamkeit der ausgestellten Posten zu überzeugen. Und sooft er die Runde macht, findet er jedesmal wieder seine sonst dienstwilligen und pflichtgetreuen, aber durch Entbehrungen und Überanstrengung erschöpften Leute vom Schlaf überwältigt.

Seit zwei Tagen hatten die römischen Mauerbrecher begonnen, vom Choma aus gegen die äußere, der Küstenlinie folgende Stadtmauer zu wüten, die nicht besonders widerstandskräftig war, weil man einen Angriff vom Meer her so lange für unmöglich hielt, bis Scipios Damm das Gegenteil bewies. Letzten Morgen war nun diese äußere Mauer durchbrochen worden. Seither stießen die römischen Sturmböcke sich die Köpfe an der inneren Umfassungsmauer des Handelshafens wund, die übrigens nicht nur um diesen, sondern um beide Häfen herumlief.

Die gesamte Hafenanlage glich nämlich im Grundriß ungefähr einer menschlichen Gestalt, wobei der Kriegshafen den Kopf vorstellen mochte und der langgestreckte Handelshafen den Rumpf. Die Verbindungsstraße zwischen beiden entsprach dem Hals und die geschlossenen Beine etwa dem Kanal, der vom Handelshafen ins offene Meer geführt hatte, solange Scipios Damm ihn nicht sperrte. Dieses ganze Gefüge von Wasserbecken und Wasserstraßen wurde von dieser gemeinsamen Mauer umschlossen. Außerdem trennte aber auch noch eine querlaufende Mauer die beiden Hafenbecken voneinander.

Nun richtete sich der Angriff der Römer offensichtig in erster Linie gegen den dem Choma näherliegenden Handelshafen. Deutlich hörte Dubar durch die Nacht das Donnern der Sturmböcke herüber, welche die Umfassungsmauer dort bearbeiteten. Dem Kothon selbst schien also zunächst keine Gefahr zu drohen. Aus allem aber ließ sich deutlich erkennen, daß es mit dem von langer Hand umsichtig vorbereiteten Sturm vom Choma her diesmal bitterer Ernst werden sollte. Wer konnte wissen, ob Scipio nicht auch einen nächtlichen Überfall auf den Kothon plante?

Dubar mußte sich sagen, daß dann die Handvoll Leute, die ihm zur Verfügung stand – ganz abgesehen davon, daß sie ausgehungert und übermüdet waren – nicht im entferntesten hingereicht hätte, den Feind abzuwehren. Unglückseligerweise aber hielt die Oberleitung, wie er bald erfahren sollte, ihr Augenmerk ausschließlich auf den Angriff gegen den Handelshafen gerichtet.

Hufe eines Pferdes klangen vom stadtseits gelegenen Tor her. Melekpalas selbst war es, der Hipparch, der seinen eigenen Meldereiter machte.

»Wieviel Mann hast du?«

»Viel zu wenig! Bloß hundertfünfzig.«

»Ein Drittel genügt. Der Boëtharch hat befohlen, die Schiffshäuser und Lagerschuppen des Handelshafens in Brand zu stecken. Die Römer werden das Feuer für ein zufällig ausgebrochenes halten und die vermeintlich dadurch entstandene Verwirrung dazu benützen, in den Handelshafen einzudringen. Dann sitzen sie in der Falle. Wir stoßen mit Übermacht von der stadtseitigen Hafenmauer gegen sie vor und vernichten sie. Sende mir sofort deine überschüssigen hundert Mann in die Hafenstraße!«

»Mit fünfzig Mann ist der Kothon nicht zu halten, mein Hipparch!«

»Das weiß ich, auch nicht mit hundertfünfzig, nicht einmal mit fünfhundert. Aber der Kothon ist ja auch nicht angegriffen.«

»Es wäre doch möglich, daß sie ein paar Manipel auch gegen den Kothon werfen?«

»Dafür haben sie keine Mannschaften übrig. Die Fläche des Choma faßt keine dreitausend Mann. Ehe sie Nachschub über den Damm herüberbringen, vergeht Zeit. Inzwischen machen wir ihnen im Handelshafen so viel zu schaffen, daß sie Choma und Damm zum Rückweg brauchen werden und an Nachschübe überhaupt nicht denken können. Wenn man an einer gefährdeten Stelle einen entscheidenden Schlag führen will, muß man eben eine ungefährdete vorübergehend entblößen. Der Boëtharch erwartet strenge Befolgung des Befehls!«

Er wendete das Pferd und verschwand in die Nacht hinaus.

Nur ungern gehorchte Dubar, aber es blieb ihm keine Wahl. Der Hipparch war das Haupt, er selbst nur ein Glied des kleinen Fingers allenfalls, im Großen und Ganzen der planvollen Verteidigung.

Weniges später wurde Feuerschein über dem Handelshafen sichtbar. Die kleine ihm noch verbliebene Schar verwendete Dubar dazu, die Postenkette auf der Seeseite des Kothon noch dichter zu flechten. Hinter dieser langen Reihe ausgestellter Wachtposten aber befand sich – nichts. Man brauchte nur die Mauer zu übersteigen und ein paar Schläfer niederzumachen, so war man im Kriegshafen und damit auch auf dem Marktplatz von Kart-Chadast.

Selbst schon stumpf und gleichgültig geworden, aber entschlossen, seine Pflicht bis zum letzten Augenblick zu erfüllen, fuhr Dubar fort, die Runde zu machen und seinen Leuten zuzureden, sie möchten nur um Tanits willen die Augen offen behalten. Mehr konnte er nicht tun.

Von der Mauer des Kothon blickte er in das ungeheure Feuermeer hinüber, das sich im finstern Becken des Handelshafens spiegelte. Die rußig schwarzen Rauchwolken, die sich über den lodernden Flammen gelagert hatten, gewannen für sein Gefühl etwas wie sinnbildliche Bedeutung.

Wie freudig und hoffnungsvoll hatte er sich damals am großen Opfertag dem Dienst des Vaterlands geweiht! Wie hell loderte in ihm zu jener Zeit Milkarts heilige Flamme! Wie fromm und beseligend, keinem irdischen Ungemach erreichbar, die daran entzündete Hochzeitsfackel, da Channa zum letztenmal im Schmuck ihres in Aschtarits Tempel geopferten herrlichen Haares die heimliche Liebesnacht mit ihm gefeiert!

Nun drohte Qualm und Schwaden düsterer Sorgen die heilige Flamme zu ersticken. Die Götter ließen die gerechte Sache im Stich! Er konnte sich der Angst und des Entsetzens nicht erwehren, wenn er an sein schönes junges Weib dachte, das er im Geiste schon entmenschtem, zuchtlosem Soldatenpack preisgegeben, entehrt, vergewaltigt sah.

Aber da erinnerte er sich des heiligen Versprechens, das er Channa für den Fall der äußersten Not hatte geben müssen. Und die Bewunderung ihres Mutes, ihrer Entschlossenheit flößte ihm neue Kraft ein. Keiner von diesem Volk von Schuften, die Kart-Chadast betrogen und zu Tode gefoltert hatten, sollte sich an dem geliebten Weibe vergreifen! Er würde sein Versprechen halten ...

Aus der Ferne konnte er jetzt beobachten, wie die Römer durch die preisgegebenen Mauerbreschen in den lichterloh brennenden Handelshafen eindrangen. Da regten sich neue Hoffnungen. Er war jung, er liebte Weib und Kind und seine Arbeit, er liebte das Leben. So ungern nahm er Abschied vom Hoffen!

Vielleicht behielt Melekpalas recht? Vielleicht warf Scipio wirklich seine, gesamten Truppen in den brennenden Hafen? Und vielleicht gelang es dann der in der Hafenstraße im Hinterhalt liegenden kartchadischen Hauptmacht wirklich, den Feind mit Übermacht zu überfallen und ihm in der Wolfsgrube, in die er sich hatte locken lassen, eine vernichtende Niederlage zu bereiten?

Er hoffte und hoffte ...

Aber seine Hoffnungen sollten sich ebenso wie die des Hipparchen als trügerisch erweisen.

*

Das Vorgehn der Römer gegen den Handelshafen war nur ein Scheinangriff gewesen.

Während Scipio fast die gesamte Streitmacht Kart-Chadasts an der Stelle festhielt, wo sie den entscheidenden Schlag erwartete, führte Cajus Lälius die erprobtesten Kohorten seiner Legion unbemerkt gegen den Kothon und nahm ihn nach Überrumpelung und Niedermachung einiger Wachtposten fast ohne Schwertstreich. Die meisten Überlebenden entflohen. Die unbeträchtlichen Reste, die Dubar um sich sammelte, konnten an keinen ernsthaften Widerstand mehr denken. Sie wurden, als Scipio selbst wenige Stunden hinter Lälius mit der Hauptmacht nachrückte und um die Zeit der dritten Nachtwache vom Kothon aus auch den Marktplatz der Stadt militärisch besetzte, in die engen Straßen abgedrängt, die gegen Aschtarits Hain und Tempel führten.

Die Tempelpriester, zu denen das Siegesgeschrei der Römer vom nahen Marktplatz herüberscholl, kamen ihnen bestürzt entgegengelaufen. Da das Frühlicht bereits dämmerte, erkannten sie Dubar als den Sohn des Muttines, dessen Zimmerplatz in der Nachbarschaft von Aschtarits heiligem Hain lag. Sie flehten ihn an, das Heiligtum zu schirmen, um dessen Sicherheit ihnen bangte.

Denn das lebensgroße Standbild Aschtarits im Allerheiligsten, wo der Born der Fruchtbarkeit rieselte, das noch aus Tyros mit herübergekommen sein sollte, war berühmt in der ganzen Welt. Auch vielen Römern mochte es dem Rufe nach bekannt sein. Und da es aus lauterem Golde war, so fürchteten sie, daß es plündernde Soldaten anlocken könnte.

»Nach allem, was ich von Scipio Aemilianus hörte, wird er Heiligtümer und Tempelschätze schonen,« sagte Dubar. »Aber zuchtlose Mannschaft gibt es überall, und gegen Brandschatzer und Räuber richten auch wir wenigen vielleicht noch etwas aus. So will ich den Schutz der Göttin, die auch mich einst in ihren Schutz nahm, gern übernehmen.«

Es waren ihm nur zehn oder zwölf Mann im ganzen geblieben. Sich zur Truppe des Melekpalas durchzuschlagen, von der er vermutete, daß sie sich noch rechtzeitig von der Hafenstraße auf die Bosra zurückgezogen haben würde, war ausgeschlossen. Die Römer hielten mit dem Marktplatz zugleich die Zugänge zum Burghügel besetzt. Im Grunde begrüßte es Dubar, daß ihm noch eine Aufgabe gestellt war, und er nicht müßig zu bleiben brauchte.

Er verteilte seine Leute im Tempelvorhof, gab ihnen die nötigen Weisungen und trat selbst ins Allerheiligste, fest entschlossen, die Göttin, die ihm einst sein junges Weib zugeführt, bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.

Im geheimnisvollen Dämmer des Raumes sah er eine Betende an der heiligen Quelle knien und erkannte, als er sich näherte, daß es Channa sei. Er berührte ihre Schulter. Aufschreckend blickte sie um und lag an seiner Brust. Zum zweitenmal an derselben Stelle hatte die Göttin ihre Bitte, ihn in ihre Arme zu führen, erhört.

»Nun halte ich dich fest und weiche nicht mehr von deiner Seite! ... Was wird unser Los sein?«

»Ich habe mich dem Schutz der Göttin verlobt und harre hier aus, solange ihr Gefahr droht.«

»Ich bleibe bei dir.«

Die Sonne war aufgegangen, der blaue Schmalt des hochgelegenen kreisrunden Fensters leuchtete wie ein riesiger Saphir. Goldig schimmerte im heiligen Dämmer die starre Gestalt der Göttin. Aus dem tiefen Spalt der Erde, die den Felsenquell in sich aufnahm, klang ein zärtliches Glucksen und Kosen wie heimliches Liebesgeflüster ...

»Ich fürchte, es geht zu Ende!« sagte Dubar, sie mit seinen Armen umfangen haltend.

Sie hing an seinem Halse und sah ihm tief ins Auge. »Es war ein kurzer, aber schöner Traum. Aschtarit sei gepriesen!«

Ein süßes Kinderlallen klang an Dubars Ohr. Er schaute auf. An die Wand gelehnt, kauerte in einem dunkeln Winkel eine alte Frau, die sein und Channas Kind in den Armen hielt. Es streckte die Händchen gegen den Vater aus und verlangte zu ihm.

»Wer ist die Alte?«

»Die Pächtersfrau von Chammonslust, das einst dem Numider gehörte. Sie brachte unsrer Kleinen ein Körbchen Lebensmittel vom Land. Dort finden sich noch immer einige spärliche Vorräte.«

»Diese Vorräte haben meinem Zarz das Leben gekostet,« sagte das uralte Weiblein.

»Die gute Scherah blieb einige Tage bei mir,« erklärte Channa. »Sie fürchtet sich allein zu Hause. Ihr Mann ist in den blutigen Kämpfen auf dem Choma durch einen Römerpfeil gefallen.«

Dubar wunderte sich: »Das war doch ein schmächtiger alter Mann, der sich kaum mehr schleppen konnte? Ich erinnere mich seiner.«

»Er ließ es sich nicht nehmen, den Unsrigen Früchte und Wein bis in die vordersten Reihen zuzutragen.«

»Ein Eigensinn war er immer,« nahm Scherah von ihrem Winkel her wieder das Wort. »Siebzig oder etwas darüber ist doch kein Alter? Er hätte leicht noch zwanzig Jahre leben können! Wie oft sagte ich zu ihm: ›Zarz‹ sagte ich, ›du wirst es noch mit dem Halse büßen müssen!‹ Aber auf mich hörte er ja nicht! Überhaupt ist nicht schade um ihn! Er war ein leichtes Tuch, wäre er nur ein bißchen jünger gewesen, so hätte er's noch seinem Herrn gleichtun wollen, der alte Bock! Von mir aus ist er gut aufgehoben, ich brauch' ihn nicht. Aber das Kindlein da,« sagte sie, »das gefällt mir, an dem hab' ich meine Freude. Das nehm' ich mir mit, wenn ihr's nicht mehr ernähren könnt.«

Starr blickte Channa sie an und sagte bedeutungsvoll: »Wenn's einmal not täte, nehm' ich dich beim Wort.«

In demselben Augenblick erblaßte sie und horchte. Wüstes Geschrei und Kampfgetöse scholl von der Tempelvorhalle herüber ...

Die Besorgnis der Priester stellte sich als gerechtfertigt heraus. Scipio, der den Rest der Nacht auf dem Marktplatz von Kart-Chadast unter den Waffen geblieben war, hatte am frühen Morgen eine halbe Legion, die noch im Lager an der Ochsenzunge stand, zur Unterstützung heranbringen lassen. Es befand sich viel wüstes Gesindel in dieser noch unerprobten Truppe. So waren ein paar Rotten am Kothon abgeschwenkt und, statt ihrem Befehl zu gehorchen, zum Tempel Aschtarits gezogen. Das Gerücht hatte sich unter ihnen verbreitet, es befinde sich dort ein Standbild der Göttin, das zweitausend Talente Gold wiege.

Der Lärm dauerte an und näherte sich. In den anstoßenden Tempelhallen hörte man das Klirren gekreuzter Waffen. Es blieb kein Zweifel: dort wurde erbittert gekämpft.

»Nun geht es wirklich zu Ende!«

Traurig sagte es Channa. Aber ihre Stimme blieb fest und ihr Auge tränenlos.

Sie nahm ihr Kind in die Arme, herzte und küßte es und reichte es ihrem Mann zum Kuß. Dann gab sie es der Alten zurück und trat wieder an die Seite ihres Gatten.

»Hier fanden wir uns, hier nehmen wir Abschied voneinander.«

Sie umarmte und küßte ihn.

»Du erinnerst dich deines Versprechens?« sagte sie, ihm groß und ernst ins Auge schauend.

»Ich erinnere mich.«

Eine wilde Horde zügellosen Kriegsvolkes stürmte in den Raum.

»Hier steht sie, die goldene Hure!«

»Und hier eine noch viel schönere lebendige Dirne! Das ist eine Art Liebesgrotte, begreift ihr? Aber die Astarte, sagt man, soll nicht so zimper tun wie unsre Venus!«

Ein paar lockere Gesellen umringten mit lüsternem Gelächter Channa, die sich zitternd an Dubar klammerte, und bedrängten sie.

»Das Täubchen ist mein!« schrie ein Soldat, Channa am Handgelenk fassend, und wollte sie an sich reißen.

Im gleichen Augenblick stürzte er mit gespaltenem Schädel rücklings zu Boden. Und mit der Linken sein geliebtes Weib umfassend und sie innig an sich drückend, stieß Dubar, noch ehe die Wüstlinge es hindern konnten, ihr sein Schwert ins Herz. Sachte ließ er sie an sich niedergleiten. Ein wehevolles Lächeln auf den Lippen, hauchte sie sterbend: »Scherah, vergiß nicht!«

Die Frevler wollten sich auf Dubar werfen. Er sprang zurück. Mit bluttriefendem Schwert stand er vor der goldnen Göttergestalt und hieb jeden nieder, der sich zu nähern wagte.

»Lanzenträger!« schrie das furchtsam zurückweichende Gelichter in die anstoßenden Tempelräume hinaus.

Ein Rudel Hastaten stürmte in den heiligen Raum. Von drei Speeren zugleich durchbohrt, brach Dubar zu Füßen der goldnen Göttin in die Knie. Er sah noch, wie die entmenschte Horde das Götterbild von der Standsäule stürzte, und wie sie mit den Schwertern darauf einzuhauen begannen, um sich Stücke Goldes herunterzuschlagen.

»Genau so,« ging es ihm durch den Sinn, »handelt Rom an Kart-Chadast ...«

Und noch einmal sich aufrichtend, riß er einen der Speere aus seiner Brust und stieß ihn mit übermenschlicher Gewalt dem nächstbesten von den Plünderern in den Rücken, daß die Spitze durchs Brustbein wieder herausdrang.

»Fluch den Schändern!« schrie er mit seinem letzten Atem.

Dann sank er zurück. Er erlebte es nicht mehr, wie sie seinen Leib mit Schwertern und Spießen durchbohrten und mit Füßen traten.

*

Noch waren die Tempelräuber damit beschäftigt, das zähe Edelmetall in Stücke zu zerteilen, als plötzlich eine Abteilung Triarier, schwer bewaffnete, ältere Mannschaft, den Eingang zum Allerheiligsten besetzte. Ein grauhaariger Offizier trat vor und gebot dem verbrecherischen Treiben Einhalt.

»Ihr seid meine Gefangenen!«

Sie kannten ihn alle als strengen Vorgesetzten, der nicht lange fackelte, wenn er einer Ungehörigkeit dahinterkam. Es war Abimäus, der Stellvertreter des Tribunen Casus Lälius. In jähem Schreck stürzten sie sich auf die schmale Pforte, die gegen den heiligen Hain Aschtarits ins Freie führte, und stoben flüchtend davon.

»Verfolgen und einbringen!« befahl Abimäus seinen Leuten.

Es war stille geworden in dem heiligen Raum, auf dessen blutbefleckten Fliesen Goldbrocken zwischen Toten umherlagen. Nur wenige Bewaffnete, die zum engeren Gefolge gehörten, waren zurückgeblieben.

Bewegt stand Abimäus an der Leiche der schönen, jugendlichen Kartchaderin, die da in ihrem Blute lag. Sein Blick schweifte zu dem mißhandelten Körper des ebenfalls noch jungen punischen Kriegers hinüber, der offenbar kämpfend gefallen war. Ohne Näheres zu wissen, erriet er die Zusammenhänge. Er dachte an Lucretia, die Gattin des Tarquinius Collatinus, die als Blutzeugin ihrer durch einen Lüstling bedrohten Reinheit in den Tod gegangen war ...

Eine Kinderstimme, die an sein Ohr schlug, machte ihn aufblicken. Er näherte sich der Alten, die noch immer in ihrem Winkel kauerte.

»Wem gehört das Kind?«

Mit einer Bewegung des Kinns wies Scherah auf die stumm daliegende Mutter.

Abimäus nahm das Kindlein in seine Arme und herzte es.

»Genau in dem Alter war mein Kleines, da ich Rom verließ ... Vier Jahre ist es her. Es wird seinen Vater nicht wiedererkennen, und ich nicht mein Kind ... So ist der Krieg ... Wo bist du zu Hause?« wendete er sich an die Alte.

»Auf dem Lande, in der äußeren Magara.«

»Und wirst du auch getreulich für das arme Waislein Sorge tragen?«

Die Alte nickte.

Abimäus winkte seinen Begleitoffizier zu sich: »Wähle dir zehn der verläßlichsten Triarier und geleite diese Frau dahin, wo sie zu Hause ist. Es liegt mir daran, daß sie unbehelligt dort eintreffe und weder ihr noch dem Kinde ein Haar gekrümmt werde!«

»Ich werde über sie wachen, mein Abimäus,« antwortete der Jüngling mit einem belustigten Seitenblick auf das verhutzelte alte Weiblein, »wie Argos Panoptes über die Kuh.«

Abimäus aber sagte streng und jeden Scherz abweisend: »Du bürgst mir für ihre Sicherheit, mein Valerius. Ich verlasse mich auf dich!«

*

Hirom, der Schmied, steht auf dem Dach seines Hauses. Neben ihm sein Freund Elym, der bei ihm Unterschlupf gefunden hat, seit Scipio den Marktplatz besetzt hält.

Dreißig Jahre lang hat Elym in seiner Werkstatt am Marktplatz das Seilerhandwerk betrieben. Nun haben ihn die Römer von dort verscheucht.

Das Haus Hiroms ist sechs Stock hoch, wie fast alle Häuser in diesem Stadtviertel, das vom Markt und von den Häfen gegen die Bosra ansteigt. Von seinem Dach könnte man einer wundervollen Fernsicht genießen, auf der einen Seite gegen die vom Tempel Eschmuns überragte Bosra und die teils felsigen, teils gartenreichen Abhänge des Burghügels, wo die marmorweißen Villen und Paläste der Vornehmen prunken. Auf der andern Seite übers Dächergewirr der unteren Stadtteile hinweg auf den weiten Golf, der sich tiefblau hinbreitet, vom begrünten Vorgebirge von Kart-Chadast bis zu den Klippen des Zweihornberges hinüber.

Aber die zwei Männer da oben haben keine Augen mehr für die Schönheit ihrer im Zauber des Frühlings prangenden Heimat. Wachsam spähen sie von ihrer Warte ins enge Schmiedegäßchen hinunter, wo eben, unter wütendem Geschrei von beiden Seiten, ein erneuter Angriff der Römer einsetzt.

Schon seit zwei Tagen, ununterbrochen, Tag und Nacht, versuchen sie es immer wieder, durch die drei schmalen Gassen vorzustoßen, die vom Marktplatz gegen die Bosra hinaufführen. Aber die Bewohner der hohen Häuser, die diese Gassen säumen, haben Schanzen und Verhaue aller Art errichtet, die das Vorwärtskommen erschweren, und begrüßen die Stürmenden jedesmal aus den Fenstern und von den Dächern mit siedendem Wasser und einem Hagel der verschiedensten Geschosse.

Auch Hirom und Elym stehen seit diesen zwei Tagen und Nächten unausgesetzt, ohne ein Auge zuzutun, auf ihrem Posten. Sie haben jedes halbwegs entbehrliche Einrichtungsstück, sogar Schwellensteine und Türpfosten, die noch vorhandenen Roheisenbarren, die Schmiedehämmer und anderen Werkzeuge, kurz alle Gegenstände von Gewicht, die sich in Haus und Werkstatt fanden, aufs Dach hinaufgeschleppt. Und obgleich sie von ihren Wurfgeschossen schon reichlich Gebrauch gemacht haben, verfügen sie noch immer über ansehnliche Vorräte.

Jetzt beugt Elym sich über die Mauerbrüstung, die das flache Dach rings umgibt.

»Sie kommen! ... Aber was ist das? Es sieht aus, als rückte eine einzige langgestreckte Schiffsdiele an?«

Ein dumpfes Gepolter dringt aus der tiefen Schlucht des Schmiedegäßchens herauf, wie wenn man mit schweren Hämmern gegen Bohlen schlüge.

»Eschmuns Fluch! Die Halunken haben sich eine neue Finte ausgedacht. Ein jeder hält ein Schutzdach von zusammengenagelten Brettern über seinen Kopf!«

»Dumm sind sie nicht, das muß man ihnen lassen! Nun prallt alles, was auf sie hinuntergeworfen wird, an ihren neumodischen Hüten wirkungslos ab, ohne ihnen Schaden zuzufügen.«

»Das wollen wir sehn. Man muß ihnen eben gröber kommen!«

Und Hirom zerrt seinen schweren Amboß, auf dem er vierzig Jahre lang sein Eisen geschmiedet und den er ebenfalls mit heraufgeschleppt hat, an den Rand der Brüstung, hebt ihn keuchend hoch und läßt los.

»Soll Mikarts Feuer sie sengen!«

Ein Krach, Wehgeschrei von unten.

Aber was ist der Erfolg?

Vielleicht liegen zwei oder drei Hastaten flach gequetscht unter ihrem in den Boden hineingedonnerten Bretterschutz – das ist aber auch alles. Man müßte hundert Ambosse haben, einer tut's nicht! Oder noch besser: brennende Pechkränze müßte man haben, die sind aber nicht zur Hand. So bleibt das Ergebnis: die Römer sind mit ihren neu erfundenen Kopfbedeckungen von oben nicht mehr angreifbar!

»Dafür wird Gisgon um so eifriger unten das Seinige tun,« meint Elym.

Er setzt sein Vertrauen gerade in diesen, weil die Truppen, denen die Verteidigung des Schmiedegäßchens obliegt, unter Gisgons Befehl stehen.

Der Boëtharch hatte nämlich, als er Scipios Angriff gegen den brennenden Handelshafen als Scheinmanöver erkannte, die tiefer gelegenen Stadtteile preisgegeben. Es war zu spät, um aus der Hafenstraße, wo er die kartchadische Hauptmacht zusammengezogen hatte, noch Truppen in den Kothon zu werfen, denn dieser befand sich bereits in der Hand des Feindes. Aber es war nicht zu spät, die gesamte Wehrmacht, noch ehe Scipio den Marktplatz hatte besetzen können, im Schutze der Nacht gegen die Bosra zurückzuziehen.

Für diesen nächtlichen Rückzug hatte Blanno Tigillas vom Fischertor aus die Fischerzeile gewählt. Seine Soldaten trugen ihn.

Melekpalas zog seine Mannschaften durch das Obstgäßchen zurück und Gisgon die seinigen durch das Schmiedegäßchen.

Auf der in halber Höher der Bosra hinziehenden Straße, in welche die genannten ziemlich steil ansteigenden Gäßchen mündeten, hatten alle drei haltgemacht und ein Notlager aufgeschlagen. Dort standen sie noch jetzt, und jedem fiel naturgemäß die Verteidigung jenes Abschnitts zu, durch den er seinen Rückzug genommen. Denn das dichtbevölkerte abschüssige Stadtviertel, das von eben jenen drei Zufahrtsstraßen auf die Bosra durchschnitten wurde, sollte um jeden Preis gehalten werden.

*

Noch immer steht Hirom auf seinem Beobachtungsposten, während Elym, erschöpft von durchwachten Nächten, sich seiner ganzen spindeldürren Länge nach auf die Backsteindiele des Daches hingestreckt hat.

Das kriegerische Geschrei von unten hat sich zu einem wahrhaft unterweltlichen Getöse verzehnfacht. Wirklich ist Gisgon an der Spitze seiner Truppen von oben in die enge Schlucht gedrungen und hat in den Kampf eingegriffen. Ein Gewühl von Schwertern, Speeren und Schilden. Auf und ab wogt das erbitterte Ringen.

»Wie steht es mit den Unsrigen?«

»Sie schreiten vor. Die Römer haben ihren Bretterschutz abgeworfen, der ihnen im Nahkampf offenbar nur hinderlich ist.«

»Dann könntest du sie ja wiedermal mit ein paar Eisenbarren bedienen?«

»Ich müßte befürchten, unsre eignen Leute zu erschlagen.«

»Sonach haben sie also die Angreifer schon bis zu unserm Haus zurückgeworfen?«

»Noch darüber hinaus. Das ganze Schmiedegäßchen hätten sie bereits vom Feind gesäubert, wären sie in ihrem Vorschreiten nicht durch unsre eigenen Straßenschanzen gehemmt. Gerade hier unter uns stockt ihr Gegenstoß. Eschmuns Fluch, warum hab' ich selbst noch mitgeholfen, dies verdammte Verhau aufzurichten!«

Den Elym ließ die Neugierde seine Müdigkeit vergessen. Er erhob sich und spähte ebenfalls in die Tiefe.

»Mich wundert, daß dein Eidam, der Dubar nirgends zu sehen ist. Der stand doch sonst unter Gisgon?«

Der Schmied wurde trübsinnig. Er erinnerte sich plötzlich wieder des Lebens, das einst so schön und reich gewesen, geschmückt durch Arbeit und die Liebe seiner Tochter.

»Ach, meine Channa,« seufzte er; »mein Liebling! Mein Herzenstäubchen! Mein Goldfasan! ... Ob ich sie je wiedersehe?«

»Sieh! Wie heldenhaft Gisgon da unten kämpft!« rief Elym.

»Wo? Ich konnte ihn im Getümmel noch nicht entdecken.«

»Dort! Auf der Schanze! In roter Helmzier! So könnte man sich einen Hektor denken, die Griechen von den Mauern Ilions abwehrend.«

»Die Römer setzen ihm arg zu!« sagte Hirom besorgt. »Der würde Dubars jetzt dringend bedürfen. Denn Dubar hat ihn schon zweimal ...«

Er unterbrach sich. »Eschmuns Fluch!« schrie er auf. Er hatte Gisgon stürzen sehn und verhüllte sein Haupt.

»Ein Pfeil fuhr ihm ins Auge!« rief Elym, der sich weit vorbeugte. »Aber dieser Pfeil kam aus einem Fenster! Viele Pfeile hageln jetzt von oben auf die Unsrigen nieder! Tanit sei uns gnädig! Die Römer haben die dem Markt zunächstliegenden Häuser des Schmiedegäßchens genommen!«

Er sah die Kämpfenden unten in der Schlucht die Leiche ihres gefallenen Führers im Stich lassen und fluchtartig das Schmiedegäßchen aufwärts stieben. Erst hinter dem nächsten Verhau machten sie halt und boten dem nachstoßenden Feind die Stirn. Hier waren sie ihm wieder gewachsen, hier konnten sie die Pfeile aus den Fenstern der ersten Häuser nicht mehr erreichen.

Rasch hatte Hirom die Trauer um Gisgons Tod von sich abgeschüttelt. Der unablässige Anblick von Greuel machte stumpf, und jeder wußte, auch er würde bald darankommen.

»Gisgon hat es hinter sich,« sagte er. »Wenigstens blieb es ihm erspart, die Feigheit seiner Leute mitzuerleben.«

Der Seiler indessen nahm die Truppe in Schutz.

»Ihre Tapferkeit ist über alle Zweifel erhaben. Weiß doch jeder, daß es ums nackte Leben geht. Aber keine Stellung ist zu halten, wenn der Aug' in Aug' Kämpfende zugleich von oben beschossen wird.«

Da machte Hirom sich's erst recht klar, was es hieß: die ersten Häuser seien von den Römern genommen!

Konnten sie dann nicht von den Dächern aus durch Überbrückung der schmalen Zwischenräume, in denen die Treppen sich befanden, mit Leichtigkeit auch auf die anschließenden Dächer hinübersteigen und in die nächsten Häuser eindringen? Und so von Haus zu Haus das ganze Schmiedegäßchen entlang?

Wirklich sahen die beiden Freunde, von Schreck gelähmt, jetzt römische Soldaten auf den Dächern der eroberten Häuser auftauchen. Und genau, wie Hirom es vorausgeahnt, legten sie Balken und Bretter über die freien Treppenanlagen, rannten auf die anstoßenden Dächer hinüber und drangen von oben in die Häuser ein.

»In der Luft werden sie rascher vorwärts kommen als auf der Erde,« sagte Elym mit finsterer Ergebung in sein Schicksal.

*

Ein fürchterliches Gemetzel von Haus zu Haus hob jetzt an. Schritt für Schritt und zielbewußt gingen die Römer vor. Sie übereilten sich nicht und verrichteten ganze Arbeit. Erst wenn sie alles hingemordet hatten, was in dem einen Hause an lebenden Wesen zu finden war, nahmen sie das nächste in Angriff. Darum kamen sie doch nicht so rasch vom Fleck, wie Elym angenommen hatte. Der Abend des dritten Tages breitete seine Schleier über die Erde, und noch immer hatten die über die Dächer Vordringenden das Haus nicht erreicht, auf dem Hirom und Elym sie erwarteten, männlich gefaßt und entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Jetzt setzten die Eroberer ihr blutiges Handwerk im roten Schein der Fackeln fort. Immer weiter und weiter, immer von Haus zu Haus. Langsam, aber gründlich und unentwegt. Die ganze Nacht hindurch.

Die Bewohner hatten sich noch im Innern der Häuser selbst, in Zimmern, verborgenen Winkeln und Kellerlöchern verschanzt. Und alle, Männer und Weiber, Greise und Kinder, sogar Sterbende, die von der Hungerseuche ergriffen waren, kämpften mit dem Mut der Verzweiflung bis zum letzten Blutstropfen und brachten hinterrücks den Feinden, in denen sie nichts Besseres als Mörder und Räuber erblickten, noch manch schweren Verlust bei.

Im Morgengrauen endlich gewahrten die beiden Freunde zum erstenmal römische Soldaten auf dem Dach des unmittelbar anstoßenden Hauses.

»Nun kommt die Reihe an uns,« sagte Hirom, nach kurzem, erquickendem Schlummer die Glieder reckend und dehnend. »Zum Glück hab' ich meinen schwersten Schmiedehammer nicht auch in den Abgrund geworfen. Er soll mir noch gute Dienste leisten!«

Er langte ihn aus der Ecke und schwang ihn durch die Luft.

»Eschmuns Fluch! Vierzig Jahre war er mir leicht wie eine Flaumfeder. Und jetzt wollen ihn die Muskeln beinahe nicht mehr tragen.«

»Das kommt vom Hungern,« sagte Elym.

Er zog ein Stück dürren Brotes hervor, brach es in zwei gleiche Teile und reichte die Hälfte dem Freunde dar. Der machte große verwunderte Augen, griff dankbar danach und begann sofort gierig zu essen.

»Ich hob es auf, als letzte Erdenfreude für uns beide,« sagte Elym mit seinem stillvergnügten Lachen von einst und ebenfalls emsig kauend. »Die ganze Nacht schon malte ich mir aus, was für ein erstauntes Gesicht du bei seinem Anblick machen würdest.«

*


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