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XVII.

 

An einem schwülen Hochsommerabend näherte sich Bostar, der Freund Ithobaals, dem Tor von Magara. Als er sein Ziel schon beinahe erreicht hatte, kam auf demselben Pfade, der zwischen Feldern und Gärten hinführte, einer hinter ihm drein, der ihn einholte und anrief.

»Wohin des Weges, Bostar?«

Sich umwendend, erkannte er Baga, den Geldwechsler und Politiker, Nanais Gatten, den er im vertrauten Gespräch gelegentlich einen schamlosen Kerl zu nennen pflegte, weil er das zweite Gesäß, das ihm die Götter statt eines Gesichts verliehen hätten, offen zur Schau trage. Er freute sich, mit ihm zusammenzutreffen, denn er mochte ihn nicht leiden. Von Haus aus spottlustig, suchte er mit Vorliebe den Umgang mit solchen, die er von Herzen sticheln und hänseln konnte.

Er antwortete: »Immer der Nase nach, Baga, weiter nichts. Und du?«

»Zu Nampon.«

»Recht so! Ein bißchen Volksgunst schinden, wie?«

»Wenn man erfahren will, wo die Leute der Schuh drückt, muß man beim Wein mit ihnen zusammensitzen.«

»So wird für einen gewissenhaften Ratsherrn das Trinken zur Berufspflicht.«

»Außerdem hat man am Tor von Magara die Nachrichten aus dem Hinterland aus erster Hand. Ich bin gespannt, ob die Gerüchte, die über den Fall von Neda-Chah umlaufen, sich bewahrheiten.«

»Und schließlich ist ein kühler Becher Wein bei der Hitze auch nicht zu verachten. Ich komme mit.«

Die Schenke unter den Terebinthen war längst wieder in Betrieb. Gefahr drohte hier keine mehr, man ging durchs Tor von Magara ein und aus wie im Frieden. Schon seit dem frühen Frühling war die Belagerung so gut wie aufgehoben, die neuen Konsuln kümmerten sich nicht mehr um Kart-Chadast. Sie bissen sich die Zähne aus an den kleinen befestigten Städten des libyphoinikischen Gebietes, soweit nicht Hasdrubal, der Widder, oder Himilko Phameas ihnen dabei in die Quere kam; sie blockierten die Seehäfen, die noch punisch waren und römische Zufuhren kaperten, oder den Kartchadern Lebensmittel zuführten; an die dreifachen Mauern der punischen Hochburg aber wagten sie sich nicht heran. Vorerst einmal die Hilfsquellen der Stadt zu unterbinden, war ihr vorsichtiger Plan, aber auch damit kamen sie nicht recht vom Fleck.

In Nampons Weinkeller trafen die beiden, als sie in den Schatten der hohen Bäume traten, eine Anzahl Kleinbürger und Geschäftsleute an, die sich von des Tages Arbeit erholten und ihre Gedanken austauschten: Juba, den Gerber, den Zimmermeister Muttines und andere. Auch Nampon selbst saß mitten unter seinen Gästen, rot wie ein Truthahn. Auf dem Lande war er in Trübsinn verfallen, darum hatte er, sobald die Umstände es zuließen, seine Wirtschaft wieder aufgetan und suchte nun Trost für den Verlust seines einzigen Sohnes Baldamar im Trunk.

Sich an den Zimmermann wendend, fragte Bostar, während er – der Zeitgeist forderte Leutseligkeit von den Adelsbürgern – unter den anderen Platz nahm: »Wie geht's deinem Augapfel, der schönen Channa, die du dem widerborstigen Hirom so geschickt abgeluchst hast?« Denn er erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß Muttines der Vermählung seines Sohnes Tubar mit der Schmiedstochter hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt hätte.

Wenn er ihn aber mit seiner Anrede zu ärgern vermeinte, so irrte er diesmal. Da es Channas besonnenem und liebreichem Wesen bald gelungen war, ihres etwas dickhäutigen Schwähers Herz zu gewinnen, so hatte sich in Muttines tatsächlich die Überzeugung festgesetzt, der Schlauere gewesen zu sein, der dem klobigen Schmied »seinen Liebling, sein Herzenstäubchen, seinen Goldfasan« kunstgerecht abgelistet hätte. Daß er nahe darangewesen, durch seine verunglückte Werbung bei Hirom den Karren heillos zu verfahren; daß er das gute und schöne Mädchen in seine Familie anfangs wirklich nicht hatte aufnehmen wollen; daß es nichts weniger als sein Verdienst gewesen, wenn aus den jungen Leuten schließlich doch ein glückliches Paar geworden war, sondern diese selbst an Aschtarits Opfertag über die Köpfe der Väter hinweg sich vereinigt und der Liebe zum Sieg verhalfen hatten – das alles hatte er geflissentlich vergessen, wie er im Vergessen stets ein Meister war, sooft ein gutes Gedächtnis seiner Selbsteingenommenheit nicht eben geschmeichelt hätte.

»Wie soll es ihr bei uns gehen?« antwortete er protzig. »Es geht ihr umgekehrt wie dem Esel, der Hafer trägt und Heu frißt. Es geht ihr besser als mir und Dubar, die Balken speisen und kleiden sie, und doch braucht sie keinen zu behauen.«

»Du wirst jetzt auch wenig Balken mehr zu behauen haben, schätz' ich,« sagte Juba. »Insofern hat's der Gerber besser als der Zimmermann: Stiefelsohlen und Lederkoller wetzen die Soldaten durch, auch wenn sie spazieren gehen. Die Schleudermaschinen auf den Mauerzinnen von Kart-Chadast verbrauchen sich aber nicht, wenn die Römer bloß gegen Neda-Chah und Hippo-Diarrhytos Sturm laufen.«

»Hoho! Meinst du, auf dem Zimmerplatz des Muttines würden nicht auch noch allerhand andere nützliche Dinge hergestellt? Gibt's keine Ballisten mehr zu bauen, so feiern wir darum noch lange nicht! Im Gegenteil! Große Aufträge halten uns in Atem. Alle Hände voll haben wir zu tun!«

Die Neugierde war geweckt. Jeder wollte wissen, worum es sich handle. Aber Muttines tat geheimnisvoll. Er dürfe nichts verraten, nur soviel könne er sagen, man werde staunen, staunen werde man!

»Wenn etwas Besonderes im Werke wäre, so müßte in der Ratsversammlung davon die Rede gewesen sein!« behauptete Baga.

»Gibt es so etwas wie eine Ratsversammlung überhaupt noch?« spottete Bostar. »Ich ließ mir sagen, der Numider hätte sich die hölzernen Pfähle in den Regierungspalast geladen, die am Hafendamm stehn, um die Schiffe daran zu vertäuen. Denen wird er doch nicht alles auf die Nase binden, was er plant?«

Baga versuchte dem Gelächter gegenüber seine Würde zu wahren: Ein Holzklotz sei er nie gewesen, sondern den Übergriffen des Numiders stets mannhaft entgegengetreten. Und wenn es auch richtig sei, daß der Hohe Rat an Einfluß verloren hätte ...

Aber Jarbas, der ebenfalls anwesend war, fiel ihm hitzig ins Wort: »Gar nichts habt ihr dreinzureden! Nicht einmal der Chor seid ihr in der Tragödie, die damit enden wird, daß Gulussa uns verschlingt! Und so was nennt sich noch immer Republik? Früher hat ein Adelsklüngel – Verzeihung!« wendete er sich gegen Bostar, »ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist – uns gegen die Skylla gesteuert, jetzt steuert ein Gewaltherrscher, noch dazu ein numidischer, uns gegen die Charybdis! Und du, Baga, läßt dir das bieten? Und willst ein Volksfreund, ein Vertreter der wahren öffentlichen Meinung sein?«

Solange die Römer vor den Toren standen, die Rüstungen mit fieberhaftem Eifer betrieben würden und die barkidische Begeisterung die ganze Stadt ergriffen zu haben schien, hatte er in Hasdrubal, dem Numider, den Retter des Vaterlands erblickt. Jetzt, in der kampflosen Zeit, da es beinahe aussah, als sei die Gefahr beseitigt, verlegte er sich wieder aufs Hetzen. König Gulussa stand mit seinen Reitern bei den Römern, dunkle Gerüchte liefen um, als ob Botschaften zwischen ihm und der kartchadischen Regierung ausgetauscht würden. Das war ihm in den Kopf gefahren und machte ihn rabiat. Er erinnerte sich wieder, daß Hasdrubal ein Neffe Gulussas sei, und fühlte sich schon so gut wie verraten, mit dem ganzen punischen Volk verraten und verkauft! ...

»Königs-Schofet nennt er sich! Was ist Königs-Schofet?« eiferte er. »Dasselbe, was in Rom ein Diktator ist! Wenn die Feuersbrunst gelöscht ist, hat er sein Amt zurückzulegen! Nur vom Volke selbst können jetzt Entschlüsse und Entscheidungen ausgehen!«

»Das war es doch, was ich seit jeher predigte,« rief Baga, der Boden unter den Füßen zu spüren begann. »Tausendmal recht hast du, Jarbas, es ist hoch an der Zeit, daß die gesetzliche Ordnung wiederhergestellt werde! Haben wir etwa keine Verfassung? Im Gegenteil! Die ehrwürdigste und weiseste Verfassung haben wir, die es überhaupt gibt, und diese sieht zwei Schofethim vor, nicht bloß einen! Nur das Volk als Ganzes verleiht Hoheitsrechte! Ihm darf die Entscheidung über sein Wohl und Wehe nicht aus der Hand gerungen werden. Die Republik und der freiheitliche Leitgedanke über alles! Immer sagte ich es, aber man hörte nicht auf mich: Neue Männer müssen endlich hinauf! Männer von unverfälscht punischer Abstammung und unverdächtig barkidischer Gesinnung, die ein Herz für das arbeitende Volk haben und sich nicht zu vornehm dünken, mit einfachen Leuten beisammenzusitzen, um ihre Wünsche und Bedürfnisse kennenzulernen ...«

»Männer, deren Wohlstand auch ihre Unabhängigkeit verbürgt,« schaltete Bostar ein.

»Gewiß, auch das ist zu fordern!«

»Und die auch den nötigen Verstand haben, einen Mann wie, Hasdrubal zu ersetzen,« fuhr Bostar fort. »Gerade hier liegt der Hase im Pfeffer. Es wird schwerhalten, einen solchen zu finden. Oder weißt du mir einen zu nennen, Baga?«

»Unser Volk ist überreich an Begabungen, und wer sucht, der findet... Aber du, Muttines,« lenkte er von dem heiklen Gegenstande ab und zum Ausgangspunkt zurück, »du scheinst mir den Mund etwas vollzunehmen. Was sollte es auf deinem Werkplatz für Geheimnisse geben, von denen ein Mann wie ich, der über die öffentlichen Angelegenheiten doch einigermaßen unterrichtet ist, nichts wüßte?«

Einen solchen Vorwurf konnte Muttines denn doch nicht auf sich sitzen lassen.

»Meine Art ist es nicht, zu übertreiben. Besser, einen Mund voll zuviel gegessen als zuviel gesprochen, aber was ich einmal sage, das steht fest. Und weil ich es hier mit verschwiegenen Männern zu tun habe, die es bei sich behalten werden, so will ich euch das Geheimnis vertrauen. Trieren werden gebaut, überhaupt Kampfschiffe, nach und nach eine ganze Flotte! Die verödeten Schiffshäuser im Kothon werden instand gesetzt und wohnbar gemacht, aus jedem soll wieder wie einst ein Schiffsschnabel drohend hervorschauen, so kommt das Einhorn aufs neue zu Ehren. Habt noch eine Weile Geduld, so ist Kart-Chadast eine achtunggebietende Seemacht wie zu Väters Zeiten! Da sperrt ihr Augen und Ohren auf, nicht wahr? Glaubt ihr mir nun, daß wir genügend zu tun haben, wir Zimmerleute?«

Seine Mitteilung rief unverhohlenes Staunen, geradezu Verblüffung hervor. Dajag, der Fischmeister, der sich auch unter Nampons Gästen befand, rieb sich die Hände. Die Einbeziehung des Fischmarktes in den Bereich militärischer Verteidigung war verziehen, er sang das Lob des Numiders. Die Seefischerei könne nur unter dem Schutze einer Kriegsflotte gedeihen. Seit jenem Fischzug, wo man den wunderlichen Propheten eingefangen, der sich in den Straßen und Plätzen der Stadt manchmal zeige, hätten die Römer ihre Flotte wieder verstärkt, bei jeder Ausfahrt laufe man Gefahr, gekapert zu werden. Nun gab es doch Aussicht auf Besserung.

»Wenn die Propheten aufstehen,« sagte Bostar, »die die Nichtigkeit der irdischen Dinge predigen, so bedeutet es immer den Anfang vom Ende. Aber ich will hoffen, daß jener Prophet mit der besseren Zukunft, auf die er die Zagenden verweist, den Zeitpunkt meint, wo wir auch zur See nicht mehr wehrlos sein werden.«

Auch er war überwältigt von der Neuigkeit. Zum ersten Male wieder seit Auslieferung der Geiseln und Waffen hielt er eine Rettung der Stadt für nicht ganz ausgeschlossen. Zum ersten Male regte sich in ihm etwas wie Bewunderung für des Numiders Umsicht und Tatkraft und ertötete jedes Witzwort in seinem losen Munde. Dagegen fand Jarbas auch jetzt keinen Anlaß, die Scheuklappen der Partei abzulegen.

Eine neue Kriegsflotte, jawohl, das war ihm freilich recht, aber ein Unverdächtiger mußte sie in der Hand haben, für numidische Vorteile durfte der kartchadische Staatssäckel nicht in Anspruch genommen werden! Oder gab es wirklich keinen verläßlich barkidisch Gesinnten, der fähig und würdig gewesen wäre, die Zügel zu ergreifen? Wem verdankte man in Wahrheit alle bisher errungenen Vorteile? Etwa dem Numider? Wer hatte zweimal bei Nepheris und unzählige Male an andern Stellen die Römer aufs Haupt geschlagen und die Stadt dadurch gerettet? Etwa der Numider? Nein! Hasdrubal, der Widder, war es gewesen, der ruhmreiche Boëtharch, der einzige bewährte Feldherr, den Kart-Chadast besaß. Dieser Hasdrubal allein war der richtige Mann, auch über die Flotte zu gebieten, nicht jener numidische Hasdrubal, der insgeheim zettelte, um das punische Volk an Gulussa zu verraten, nachdem er es jeder Selbstbestimmung beraubt. Oder hatte er sich nicht auch im gegenwärtigen Falle als Gewaltherrscher erwiesen, indem er den Flottenbau ganz auf eigene Faust und ohne die verfassungsmäßigen Genehmigungen einleitete?

An dieser seiner Überzeugung konnte auch der Umstand nichts ändern, daß Baga, um sich ins Licht zu setzen, jetzt nachträglich behauptete, der Bau der Kriegsflotte sei ohnedies im Hohen Rat beschlossen worden, er hätte sich nur deshalb den Schein gegeben, nichts davon zu wissen, weil man, um die Römer zu überraschen, übereingekommen sei, den Beschluß geheim zu halten. Niemand, am wenigsten Jarbas, schenkte den Worten des Ehrgeizlings Glauben, der so rasch den Mantel nach dem Wind zu drehen wußte. Und als Bostar ironisch beteuerte, Bagas hervorragende Kunst, sich zu verstellen, mache ihn zweifellos dazu geeignet, selbst an die Spitze einer kommenden Volksregierung zu treten, und Baga, dieses Lob für bare Münze nehmend, sich halb verschämt schon in der künftigen Würde blähte, da wurde er zum Schluß noch weidlich ausgelacht.

Bei allem sonstigen Auseinandergehn der Meinungen aber war in den Gemütern doch eine seltsame Bewegtheit zurückgeblieben. Der Gedanke, daß vielleicht noch eine Zeit kommen könne, wo das goldne Einhorn wieder die Meere beherrschte, hatte etwas Bestrickendes. Wäre man nur schon so weit! Die Römer belagerten den ganzen Sommer hindurch das treu punisch gesinnte Hippo-Diarrhytos am weißen Vorgebirge. Bis nun hielt es stand, dank seiner großartigen, noch von Agathokles, dem Selbstherrscher Siziliens, herrührenden Festungswerke und der von Kart-Chadast gestellten Hilfstruppen. Aber um wieviel wirksamer noch hätte eine Flotte es unterstützen können! Dasselbe galt von Aspis, das auf der Halbinsel jenseits des kartchadischen Golfes lag, unweit des Kaps Sedek. Auch diese Hafenstadt hielt sich noch. Dagegen verlautete seit einigen Tagen, das reiche Neda-Chah, an der gleichen Halbinsel gelegen, hätte Unterhandlungen mit dem Feinde einleiten müssen.

»Der Königs-Schofet,« erinnerte sich Juba, »hat in meiner Gerberei einmal, den Schlichtmond in der Hand, ein Fell gereinigt. Seht ihr, sagte er, es wird nur besser durch das, was abfällt! Damit meinte er Thapsos, Acholla und andere zweifelhafte Bundesgenossen. Das aber waren halbe Griechenstädte. Die gut punischen sollten wir nicht im Stich zu lassen gezwungen sein. Wenn Neda-Chah sich ergeben muß, so tut's jedem von uns weh.«

Noch besprachen sie, traurig geworden, die Not der befreundeten Seestadt, als ein Reiter durchs Tor von Magara sprengte. Es war ein Soldat, ein Offizier niedrigeren Ranges. Als er an den Terebinthen abstieg, erhob sich Nampon und ging ihm ehrerbietig entgegen. Er erkannte Bogud in ihm, den wackeren Libyer, unter dem Baldamar gekämpft hatte und gefallen war. Auch Juba erkannte ihn wieder. Sie hatten gemeinsam dem Sohne Nampons das letzte Geleit gegeben.

Wie aus einem Mund und Herzen stieg die Frage: »Wie steht's um Neda-Chah?«

Da ballte der Libyer die Faust und hob sie gegen Himmel: »Soll man noch an Götter glauben, wenn nicht Blitze aus den Wolken zucken, den feigen Wortbruch der Römer zu züchtigen?«

Die Bürger von Neda-Chah hatten die Tore geöffnet, nachdem ihnen Leben und Eigentum durch Vertrag zugesichert worden. Dennoch hatte Calpurnius Piso die blühende Stadt plündern und zerstören lassen.

Mit gesenkten Häuptern saßen die Männer schweigend da. Bis Jarbas ingrimmig zwischen den Zähnen murmelte: »Das einzig wahre Wort, das die Geschichte lehrt – Hasdrubal, der Widder, hat es einmal ausgesprochen: daß rechtlos sei, wer wehrlos ist!«

*

»Reite nicht, Gisgon, diesmal nicht, mir ahnt Schlimmes!«

»Und warum, du kleines furchtsames Täubchen?«

»Ich weiß, der Numider will dich verderben! Hippo ist von der Landseite her völlig umzingelt. Wie soll es möglich sein, die Reihen der Römer zu durchbrechen? Wenn er der treuen Stadt eine Botschaft zu senden hat, soll er es von der Seeseite her tun.«

»Hippo ist auch von der Seeseite eingeschlossen. Ein einzelner schleicht sich leichter durchs Römerlager als ein Schiff durch die blockierende feindliche Flotte.«

Ellot schlang die Arme um seinen Hals: »Gisgon, ich bitte dich!«

»Wär' ich noch ein Mann, wenn ich deiner Bitte willfahrte? Fünf oder sechs Monde schon hält Hippo-Diarrhytos dem Ansturm der Belagerer stand. Die Botschaft, die ich zu überbringen habe, ist belangreich. Sie wird das Herz der wackeren Volksgenossen stärken und sie im Ausharren ermutigen.«

»Warum kann nicht ein anderer den Boten machen?«

»Weil es sich nicht um diese Botschaft allein handelt. Ich bin zum Befehlshaber unserer in der Stadt mit eingeschlossenen Hilfstruppen ausersehen.«

»Dann kommst du mir ja, wenn Hippo nicht fällt, erst zurück, bis...«

»Bis unsre erst im Bau befindliche Flotte der Stadt Entsatz bringt. Sei tapfer, Liebste, wir müssen uns auf eine lange Trennung gefaßt machen. Bedenke, Ellot, wir haben Krieg, es geht um Sein oder Nichtsein unsrer Stadt, unsres ganzen Volkes!«

Sie schluchzte auf: »Und könnte dich denn nicht auch im Befehl über unsre Hilfstruppen ein anderer ersetzen?«

»Meint Ellot wirklich, daß jeder Nächstbeste dazu geeignet sei, den Geist der Mannschaften in ihrer schwierigen Lage zu stärken und sie mit jenem heiligen Feuer der Volks- und Heimatliebe zu durchdringen, das die Bürgschaft des Sieges ist?«

»Nein!« rief sie, sich warm an seine Brust schmiegend, »kein anderer wäre dafür so geeignet wie du, mein Geliebter, mein Held! Und dennoch fleh' ich dich an, Gisgon, reite nicht!«

»Gut, so will ich sagen,« scherzte er mit einem Anflug von Ungeduld, »mein junges Weib hätt' es mir nicht gestattet.«

»Und du kannst hinzufügen, sie hätte auch im Namen ihres – Kindes gesprochen.«

»Ellot –!« jubelte er auf, sie mit Liebkosungen überhäufend ; »so blüht uns ein neues Leben, ein junges, hoffnungsvolles Glück heran?«

»Ein Kind, das traurig sein müßte, könnt' es seinen Vater nur in der Erinnerung anderer lieben und verehren.«

»Ein Kind, das traurig sein müßte,« sagte er langsam mit tiefem Ernst, »erführ' es einmal, daß sein Vater in einer Zeit, die vollen Einsatz forderte, nur an sich selbst, nicht an des Volkes Not gedacht hätte!«

Weinend sank Ellot in sich zusammen. Sie begriff, daß alles vergeblich sei. Aber mitten in ihrem Schmerz war ein Gefühl von Stolz und Sieg in ihr, sie liebte diesen starken Mann, der unerbittlich blieb, sie durfte ihn lieben, vielleicht um so mehr, weil er unerbittlich blieb. Es gab keinen, der ihrer Liebe würdiger gewesen wäre als er. Sie bezwang sich, trocknete ihre Tränen und richtete sich auf.

»Tanit gewähre dir glückliche Heimkehr!« sagte sie tapfer.

»Und sehn wir uns nicht wieder, so erzähle es unserm Kinde, wie heiß ich seine Mutter liebte.«

»Und sehn wir uns nicht wieder, so will ich unserm Kind erzählen, welch ein Mann sein Vater gewesen ist.«

»Und noch eins, Ellot. Ich dankte dir nie für das, was du an Mago, dem Bruttier, getan, meinem Großvater. Melekpalas der Hipparch, erzählte es mir erst kürzlich. Obgleich er ein Geächteter war und deinem Vater nichts Gutes gesonnen hatte, standest du ihm bei in der Sterbestunde. Ohne es selbst zu wissen, hast du viel dazu beigetragen zur Versöhnung der politischen Gegensätze und damit auch zur Rettung unseres Volks. Denn die Liebe eines unbewußten Herzens ist weiser als der selbstbewußte Haß der Parteien.«

Beschämt und beglückt durch sein Lob senkte Ellot das Haupt. Ihre Lippen vereinigten sich in einem letzten Kusse. Dann riß er sich los.

Bald danach hörte sie die Hufe seines Rosses auf dem Pflaster klingen. Sie eilte ans Fenster und sah ihn den schmalen Saumweg dahinreiten, der von ihres Vaters Haus eine kurze Strecke auf halber Höhe den Burghügel entlang führte. Wo er sich abwärts senkte, hielt Gisgon noch einmal an und grüßte zurück. Sie ließ ihr Tuch wehen ...

Und dann sah sie ihn nicht mehr.

Er hatte sein Pferd in Trab gesetzt und war gegen die Stadt hinabgeritten, um das Tor von Magara zu gewinnen. Hier tat die Straße über die Landenge sich auf, dieselbe Straße, die er einst, aus Castra Cornelia kommend, zu Fuß gegen die Stadt gewandert war. Nun sollte sie ihn in umgekehrter Richtung dem libyphoinikischen Hinterland entgegenführen.

*

Als Gisgon die Gegend von Gara längst hinter sich gelassen und sich nordwärts gewendet hatte, ohne eines Feindes ansichtig geworden zu sein, geriet er gegen Mittag in das felsig-waldige Hügelland des Mekertastromes, wo dem Auge weite Ausblicke versagt waren. Um keinen Überraschungen ausgesetzt zu sein, stieg er vom Pferd und führte es am Zügel, die steinigen Saumwege, die das Gebiet durchschnitten, meidend und versteckte Gebirgspfade bevorzugend.

Seine Vorsicht war nicht überflüssig gewesen. Im Dickicht verborgen, vernahm er plötzlich Pferdegetrappel, eine Abteilung Reiter tauchte unten an der Straßenkrümmung auf, die aber keine Römer zu sein schienen. Ihre Waffen und Rüstungen erinnerten eher an die numidische oder libysche Art, ohne doch weder mit der einen noch andern völlig übereinzustimmen. Immerhin hielt er dafür, daß sie zu den Geschwadern Gulussas gehören mußten, von denen er voraussetzte, daß sie, als bei der Belagerung Hippos überflüssig, im weiten Umkreis um die römischen Stellungen schwärmten, teils zur Sicherung des Rückens, teils um Lebens- und Futtermittel aus dem ohnedies schon ausgesogenen Land herauszupressen.

Traf diese Annahme zu, so waren für ihn die Aussichten gering, auch nur bis zur Grenze des römischen Belagerungsparkes, geschweige bis zu den Mauern von Hippo-Diarrhytos vorzudringen.

Alles, selbst ein ehrenvoller Tod, hätte ihm erwünschter geschienen als ein so klägliches Scheitern seines Unternehmens, wie es nach seiner Schätzung eine Gefangennahme beim ersten Versuch einer Annäherung ans Ziel bedeutete. Er war froh, dem Streifposten rechtzeitig ausgewichen zu sein, den er von der bewaldeten Höhe aus, hinter Felsen versteckt, im Schritt und eher sorglos als aufmerksam umherspähend, unter sich vorüberziehen sah. Unglückseligerweise aber witterte der Hengst, den er ritt und jetzt an einen Baum gebunden hatte, die Tiere des Feindes, es mochte ihm nach einem Liebesabenteuer gelüsten, laut scholl sein brünstiges Wiehern in die Mittagsglut hinaus und wurde zum Verräter.

Die Soldaten sprangen von den Pferden und schickten sich an, den Abhang zu durchsuchen. Gisgon blieb nichts übrig, als unter Zurücklassung seines verwünschten Braunen von Deckung zu Deckung höher zu klimmen. Von der Kuppe eröffnete sich ein Ausblick, er gewahrte einen langen Zug Reiter, wohl mehrere Schwadronen, die sich langsam näherten; die zuerst beobachteten, die jetzt hinter ihm drein die Lehne hinaufkletterten, waren also nur die Vorhut gewesen. Entmutigt warf er sich in den blühenden Ginster. Ein Versuch, zu entrinnen, schien aussichtslos. Es waren ihrer zu viele, sie konnten das zerrissene Gelände von allen Seiten umstellen und würden ihn schließlich doch gefangennehmen. Er war entschlossen, den ersten, die an ihn herankämen, mit dem Schwert in der Faust entgegenzutreten und sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

In sein Schicksal ergeben, dachte er an Ellot, an sein Kind ... Nie wieder würden sie ein Sterbenswort von ihm erfahren, sein Leichnam faulte, den Vögeln zur Beute, in den Felsen, Ruhm- und Erfolglosigkeit sein Gedächtnis! ... Und er dachte an Hasdrubal, den Numider, an Bostar, der ihm giftigen Verdacht ins Ohr geträufelt, damals, in der bedrohten Verteidigungsstellung auf dem Tamariskenhügel, beim Ausfall aus dem Fischertor ...

Ein böser Geist trat an ihn heran: hätte das Wohl seines jungen Weibes ihm nicht doch höher stehen müssen als der vielleicht nur von heimtückischen Absichten eingegebene Auftrag des Numiders?

Aber er wies den Versucher von sich. Nicht dem Königs-Schofeten zu Gefallen hatte er sich in Gefahr begeben, die heilige Flamme in der eignen Brust diente ihm als Leuchte. Und kam er um – sie blieb ungetrübt und würde weiterlodern in seinem Kind! ... Über Ellot aber hielt Aschtarit die segnenden Hände, die Beschützerin der Mütter, die in Liebe empfangen ...

Entschlossen, die unvermeidlichen Folgen seines Tuns wie ein Mann auf sich zu nehmen, richtete er sich auf und spähte um sich. Noch hatten die Verfolger ihn nicht erreicht und entdeckt. Der gewaltige Reiterhaufe aber war inzwischen ganz nahe herangekommen und hielt unten auf der Straße. Der Führer an der Spitze, der eben seine Befehle ausgab, zog durch die abenteuerliche Ausrüstung, wie sie weder bei den Römern, noch bei Libyern oder Numidern vorkam, seine Aufmerksamkeit auf sich. Eben wendete er das Pferd, da konnte er ihn deutlich ausnehmen, in seiner seltsamen Tracht, die an die Wüstenstämme erinnerte, das dunkle, fast schwarze Gesicht unter dem grellfarbig gewundenen Kopfbund, den er statt eines Helmes trug. Gisgon stutzte, sein Herz pochte wie in Erwartung ...

Diese Gestalt hatte er doch schon einmal gesehn? Er besann sich. Im Lager vor Nepheris war es gewesen, als er den Hipparchen Himilko auf die am See von Tunes holzfällenden Römer aufmerksam machte! ... Sein Atem stockte. Das waren ja keine Feinde, da unten! Das waren kartchadische Truppen, oder doch Bundesgenossen, ein Teil der unter Himilko Phameas stehenden Reiterei! ...

Aber wie kamen sie so weit gegen Norden? War es ihnen geglückt, die Römer bis Utik-Chah zurückzuwerfen?

Er schnellte empor und sprang auf die Füße. Da drangen hinter Gestrüpp und Felsen ein paar Gewaffnete auf ihn ein.

»Halt! Gut Freund!« rief er ihnen entgegen. »Ihr steht unter Bithyas?« Und als sie bejahten: »Führt mich zu ihm!«

Sie nahmen ihn in ihre Mitte, gemeinsam kletterte man den Abhang wieder hinunter. Als der Freischarenführer den Gefangenen sich nähern sah, winkte er seinen Leuten zurückzutreten und ihn allein zu lassen. Er stieg ab, legte den Arm auf den Bug seines Rosses und vergrub das schwarze Antlitz in den Ärmel seines Reitermantels. Betroffen über den seltsamen Empfang, stand Gisgon vor ihm.

»Erkennst du mich nicht wieder, Bithyas? Ich bin Gisgon, der Sohn Magos, des Libyers, mit dem dich Gastfreundschaft verbindet.«

»Ich kenne dich,« kam es dumpf hervor.

»Ich bin auf dem Wege nach Hippo-Diarrhytos. Mit unermeßlicher Freude seh' ich, daß ihr den Römern in den Rücken gekommen seid. Habt ihr sie gezwungen, die Belagerung aufzugeben?«

Er antwortete mit einer abwehrenden Bewegung des freigebliebenen linken Armes, während er in dem rechten noch immer sein Gesicht verbarg.

»Wo steht Himilko Phameas, der Hipparch?«

Da erschütterte ein tierisches Schluchzen den Körper des gewaltigen Mannes und die tränenüberströmte Fratze dem Punier zuwendend, stöhnte er auf: »Übergelaufen und ich mit ihm!«

»Himilko Phameas – zu den Römern übergelaufen?« stieß Gisgon hervor, starr vor Entsetzen.

»Und ich mit ihm!« wiederholte Bithyas, die Hände gegen Gisgon ringend, als wollte er Abbitte leisten.

»Wie konntest du –? Bithyas! Du warst doch freiwillig zu uns gestoßen, haßtest die Römer!«

»Himilko befahl's, und ich gehorchte,« antwortete er dumpf. »Ich versteh' nichts von den Sachen. Was Himilko tut, meinte ich, wäre recht. Aber in der Nähe besehn nimmt sich's anders aus!«

Die Ungeheuerlichkeit, daß ein so festgefügter Mann, wie Himilko Phameas es war, zum Verräter werden konnte, stürzte auf Gisgon ein, daß er seiner eigenen Sorgen darüber vergaß.

»Was konnte Himilko bestimmen? Auch er haßte die Römer!«

»Scipio Aemilianus hat ihn bezaubert. Du weißt doch, daß in Scipio der Gott wohnt, der schon seinem Großvater die Zukunft offenbarte? Dieser Gott ergriff von Himilko Besitz und zog ihn hinüber. Denn mehr noch als die Römer haßte er Gulussa, den kommenden König von Kart-Chadast.«

»Was sprichst du da? Wir sind und bleiben punisch!«

»Ich versteh' nichts von den Sachen,« wiederholte Bithyas müde und verzagt, »aber Himilko sagte es. Nun ist er fort, auf nach Rom, er hat mich im Stich gelassen. Auch Gulussa ist fort. Er müsse die eigenen Grenzen gegen den Widder verteidigen, sagt er. Alle sind sie fort! Nur ich bin römisch, Handlanger dieses Calpurnius Piso, der wie ein Schneider auf seinem Gaul hockt! Pfui! Memmen sind sie, die Römer! Bezahlte Söldlinge! Plünderer, Schlemmer und Beutemacher! Wissen nichts vom frohen Reiterleben! Führen Krieg wie Kaufleute auf Gewinn! Hundertmal pfui! In dieser Gesellschaft ekelt mich's! Mein Leben freut mich nicht mehr!«

Gisgon legte ihm die Hand auf die Schulter: »Komm wieder zu uns herüber, Bithyas!«

»Meinst du nicht, der Widder würde mich greifen und ans Kreuz schlagen?«

»Einen Reiter und Lanzenwerfer, wie du einer bist, wird er mit offenen Armen aufnehmen!«

Ein Aufleuchten ging durch das schwarze Gesicht. Er bleckte die Zähne.

»Du bist des Widders Eidam ... Ich will's überlegen. Achthundert Reiter gehorchen mir. Hab' ich sie einmal alle beisammen, so komm' ich!«

»Ich verlasse mich darauf!«

»Handschlag!«

»Und nun hilf mir nach dem belagerten Hippo durch!« sagte Gisgon.

Aber dessen weigerte sich Bithyas. Er schüttelte abweisend den Kopf: »Solang ich bei den Römern steh', verrate ich sie nicht! Hier kommt mir keiner durch!«

»Was fang' ich dann an?«

»Reite ruhig nach Kart-Chadast zurück und dank' es dem Herakles, dem Osiris, oder wem du sonst willst, daß ich dich nicht gefangen einbringe! Das ist alles, was ich für dich tun kann.«

Was blieb Gisgon übrig? Der alte Haudegen mit dem wunderlich zusammengesetzten Ehrgefühl war nicht umzustimmen. Und der Übergang Himilkos mit dem Großteil der Reiterei zu den Römern veränderte die Lage so gründlich, daß ohnedies neue Entschlüsse notwendig wurden. Darum entschloß er sich wirklich, in die Stadt zurückzukehren – ohne seine Sendung erfüllt zu haben zwar, aber mit gewichtigen Nachrichten, die leider keine guten waren.

Er verabschiedete sich von Bithyas, indem er bedeutungsvoll die Erwartung aussprach, ihn bald wiederzusehen. Seinen Braunen hatte man inzwischen aus dem Bergwald heruntergeholt. Wenige Stunden später trabte er bereits wieder der Landenge von Gara entgegen, die so bald wiederzusehn er sich nie hätte träumen lassen.

Fast kam seine rasche Heimkehr, unverrichteterdinge, ihm jetzt lächerlich vor, wenn er an den ernstgemeinten Abschied von Ellot dachte. Aber er gönnte es dem geliebten jungen Weibe, daß er ihr die Beunruhigung von der Seele nehmen konnte. Dies war die erfreuliche Seite des Zwischenfalls.

Wie ein Stein dagegen lag es ihm auf der Brust, wenn er an Himilko dachte, einen Mann, für den er die Hand ins Feuer gelegt hätte. Der mußte doch seine guten Gründe gehabt haben? Unablässig beschäftigte und quälte es ihn, daß Bithyas von Gulussa als vom künftigen König von Kart-Chadast gesprochen hatte. Wer konnte zu einem solchen Gedanken Anlaß gegeben haben? Etwa Gulussas Neffe, Hasdrubal selbst? Sollte dieser nicht ebenso rein von Gesinnung sein wie groß an Geist und Willen? Und ließ sich hieraus vielleicht der Abfall Himilkos erklären, der doch, solange Masinissa lebte, Hasdrubals überzeugter Parteigenosse gewesen war?

Über dem weiten, von Brackwassern durchsetzten Meerbusen von Gara schwebte eine rosige Wolke, wie vom Abendrot beglänzt, die sich mit überraschender Schnelligkeit fortbewegte. Ein Schwarm aufgescheuchter Flamingos war es, der in riesigem Bogen über dem Gewässer kreiste. Und während er sie beobachtete, überkam Gisgon eine unabweisliche Bangigkeit. Denn er glaubte im Vogelflug gewisse ungewohnte Anzeichen und merkwürdige Abweichungen von der Regel wahrzunehmen, die auf nichts Gutes deuteten.

*

Ellot verweilte im Zwielicht dieses sinkenden Tages, wie es oft geschah, unter der uralten Zypresse, die unfern über dem Hause ihres Vaters, des Boëtharchen Hasdrubal, am felsigen Abhang der Bosra in den Himmel ragte und die Zypresse der Dido genannt wurde.

Noch war die zarte junge Frau aufs tiefste bewegt vom Abschied am Morgen. In Gisgons Willen sich schließlich fügend, hatte sie mit Selbstbeherrschung die Tränen zurückgedrängt, um ihm das Scheiden nicht ebenso schwer zu machen, wie es ihr selbst fiel. Aber seit ihr Herz sich ergeben, ging ihr ein neues Ziel auf: aus Liebe zu ihm tapfer sein! Je mehr es ihr gelang, um so mehr liebte sie, und daß sie liebte, gewährte ihr Trost. Denn es war ihr, als ob die Schuld, ohne Liebe empfangen zu haben, in dem Maße wenn nicht gesühnt, so doch gemildert würde, je aufrichtiger und ungewollter sie jetzt lieben konnte und mußte. Gott Milkart hatte ihre Bitte erhört, die heilige Flamme loderte. Die Herzensangst, die sie an seinen Altar, in die Untergrotte des Eschmun-Tempels geführt, fiel allmählich von ihr ab. Und jene andere Bedrängnis, die Angst um das Leben ihres Gatten, barg Läuterung in sich, denn sie war Schicksal, nicht Schuld.

Tanits Gestirn, der Erde voll zugewendet, hing als ein goldner Spiegel im schon dämmrigen Tempel des Abends, Sehnsucht weckend im Gewimmel der Meereswogen, von denen jede einen Lichtblick zu erhaschen, sich mit einem flüchtigen Abglanz zu schmücken suchte ...

War es nicht wie ein Wunder, daß auch Gisgon jetzt die Göttin konnte leuchten sehn, über Bergen, Bäumen oder Felsen, irgendwo, im Innern des Landes, fern von hier? Vielleicht stiegen seine Grüße auf schwebenden Strahlen in den Himmelsraum empor und erreichten sie, mit andern Strahlen zu ihr niederrieselnd, auf dem Umweg über Tanit. Dann konnte auch sie ihm ihre Liebe senden, auf dem entgegengesetzten Wege. Und sie tat's, emporblickend und das bleiche Licht beschwörend, daß es dem Geliebten die Botschaft zurückstrahle: Ellot gedenkt deiner!

Vernahm er die Kunde? Behorchte er mit geschärften Sinnen den Schlag ihres Herzens, das für ihn bebte und betete? ...

Ein Flüstern drang an ihr Ohr, ganz aus der Nähe glaubte sie seine Stimme zu hören, die leise Liebesbeteuerungen raunte. Die Abendluft war's, die in den schwarzen Zweigen der Zypresse rauschte. Aber plötzlich stockte ihr Atem. Da stand in den Schatten des mächtigen Baumes gedrückt, schräg hinter der steinernen Bank, auf der sie saß, eine dunkle Gestalt.

»Ellot!«

»Wer ist da?«

»Einer, der dich liebt wie keiner sonst.«

Ein Schauer lief durch ihren Körper. Die dunklen Umrisse, die sie wahrnehmen konnte, ließen einen hochgewachsenen Mann erraten, in einen weiten Mantel gehüllt, wie ihn bei stürmischem Wetter Seefahrer und Fischer zu tragen pflegten. Ein zitterndes Vögelchen, duckte sich Ellot in sich selbst hinein, verkroch sich gleichsam in die Falten ihres Gewandes.

Eine tiefe warme männliche Stimme begann aus der Finsternis hervor erregt und beweglich auf sie einzusprechen.

»Ellot! Weißt du, wie brennende Liebe tut? Weißt du, wie schmerzhaft die Flammen sengen, die heiligen Flammen, die Herz und Hirn verzehren? Seit ich dich zum ersten Male sah, schlugen sie über mir zusammen, daß mir jedes andere Weib verleidet ist und ich nichts mehr denken und sinnen kann als dich! Immer seither lechze ich nach dir wie ein Dürstender, verschmachte nach der heißbegehrten Labe deiner Lippen! Weißt du, Ellot, wie das tut? Nein, du kannst es nicht wissen! Denn wüßtest du's, du wärst die menschgewordene Grausamkeit selbst, erhörtest du mich nicht! Und kennst du, Ellot, denn das höchste Glück des Weibes? Ahnst du etwas von den süßen Ausschweifungen der Hingabe in den Armen eines Mannes, der so unbegrenzt lieben kann wie ich? Nein! Du kannst nichts davon ahnen, noch bist du nicht erweckt! Denn ahntest du etwas davon, du wärst kein Menschenkind von Fleisch und Blut, gewährtest du mir nicht! Laß mich dein Lehrer sein, Ellot, in den Verzückungen der Liebe, und du wirst den Hesperiden die goldfruchttragenden Gärten nicht mehr neiden, in denen sie wohnen. In deine Macht, du liebreizendes junges Weib, ist es gegeben, Seligkeiten zu spenden und zu empfangen, wie sie den Irdischen sonst versagt bleiben. Gieß es aus, das Füllhorn der Wonnen, das du in deinen süßen kleinen Händen hältst, und ich will dich dafür zur Königin machen, zur unumschränkten Herrin über mich selbst und zur Ersten unter allen Frauen von Kart-Chadast!«

Peinvolle Angst jagte durch Ellots Adern. War es ein Wahnsinniger, der zu ihr redete? Hanno, der Unglückselige, Tollgewordene? Einst verklärt durch ihre schwärmerischen Träume, später entrückt in die weltferne Unnahbarkeit eines vom Geist Besessenen, nun plötzlich herabgestiegen in die verabscheuungswürdigen Niederungen eines vom wilden Wirbel des Begehrens Gepeitschten?

Sinnlos vor Entsetzen dachte sie an nichts mehr als an Flucht. Das Haus ihres Vaters war nahe ... nur den steilen Felsenpfad hinunter ... er konnte sie nicht mehr einholen ... so würde sie ihm entrinnen ...

Sie wollte aufspringen, sich erheben, ihre Kniegelenke knickten ein, kraftlos versagten die Glieder. Da war er ihr schon zuvorgekommen und lag, sie mit seinen Armen umschlingend, zu ihren Füßen. In wahnwitziger Leidenschaft umschmeichelte, bedrängte, entwürdigte er sie mit den süßesten Worten, mit den kühnsten Liebkosungen. Der Mantel war ihm von den Schultern geglitten, das volle Licht des Mondes erhellte sein Antlitz, in jäher Bestürzung erkannte sie, daß es nicht Hanno sei, der arme Irrsinnige, der sie so vermessen verfolgte, nein, ein Mann von klarem Verstand, Hasdrubal, der Königs-Schofet, war es, der sie mit abgefeimter Berechnung seinen Lüsten dienstbar zu machen versuchte!

Ein Angstruf, wie ein verwundeter Falke ihn ausstößt, ein verzweifelter Schrei nach Hilfe entrang sich ihrer Kehle. Ihr Herzschlag stockte. Ihrer Sinne nicht mehr mächtig, sank sie in die steinerne Bank zurück. Männerstimmen, Worte, die gewechselt wurden, schollen ihr nach in ihre Abgeschiedenheit. Und in halber Bewußtlosigkeit dämmerte allmählich der Gedanke in ihr auf, daß dies Rettung bedeuten konnte, daß irgendwer, ein hilfreicher Geist, vom Himmel gesendet, sich ihrer Not erbarmte.

Die Augen aufschlagend, meinte sie in den Gefilden der Seligen zu erwachen – ihr erster Blick fiel auf Gisgon, den Ferngeglaubten, ihren Gatten. Hochaufgerichtet und regungslos wie eine Bildsäule stand er drohend dem Königs-Schofeten gegenüber. Da fand sie die Kraft, sich aufzureißen und sich an des Geliebten Brust zu werfen.

»Beschütze mich!«

Er streichelte ihr mit der Hand übers Haar, in seiner Rechten sah sie sein Schwert blinken. Hasdrubal, der Numider, stieß das seinige in die Scheide. Zwischen den Brauen stand ihm eine finstere Falte.

»Und Hippo-Diarrhytos kann warten?« hörte sie ihn bitter auflachen. »Zu solcher Ausführung militärischer Befehle mag der Feind sich beglückwünschen!«

Und dann war er plötzlich im Schatten der Zypresse verschwunden, eingesogen von der Finsternis, als hätte die Erde ihn verschlungen ...

Als Gisgon mit seiner noch halb ohnmächtigen jungen Frau, die er mehr trug als stützte, die Schwelle des Hauses überschritt, kam ihnen, eine Tonlampe in der Hand und übers ganze Gesicht strahlend, die Äthiopierin Terilla entgegen: »Die hohe Herrin ist angekommen!«

Erstaunt über die unerwartete Nachricht, betraten sie das Gemach. Zärtlich schloß Allisat, die Gattin Hasdrubals, des Widders, ihr Kind in die Arme.

Als halbflügges junges Mädchen hatte sie Ellot zurückgelassen, damals, nach der Versöhnung mit dem Numider an des Bruttiers Totenbett, als sie im Auftrag des an die Spitze der Regierung getretenen Königs-Schofeten nach Nepheris reiste, um dem Boëtharchen die Herstellung seiner bürgerlichen Ehre zu überbringen, seine Wiedereinsetzung in Besitz, Rechte und militärische Würden. Nun fand sie ihre Tochter als gereiftes junges Weib wieder, an der Seite eines mit allen männlichen Tugenden geschmückten Mannes, der Mutterschaft gewärtig, der erste prüfende Blick sagte es ihr. Die lange Zeit der Trennung kam ihr jetzt erst recht zu Bewußtsein.

Umstände verschiedener Art waren bisher ihrer Rückkehr nach Kart-Chadast im Wege gewesen. Zuerst die Einschließung der Stadt durch Manilius, dann, nach Aufhebung der Belagerung, die wegen der römischen Streifposten fortdauernde Unsicherheit des Landweges. Und schließlich, nachdem auch dieses Hindernis gefallen war, weil die Römer keinen einzigen Mann mehr vor den paar kleineren Seestädten entbehren konnten, die sie belagerten, hatte der Wunsch, sich ihrem Gatten nützlich zu machen, sie in der Nähe des Boëtharchen festgehalten. Denn Hasdrubal, der Widder, ein wohlbeleibter, riesenhafter Mann von heißem Geblüt und voll stürmischer Urkraft, war zugleich eine sprunghafte und unberechenbare Natur, die aus ein und demselben Sack die klügsten und die tollsten Einfälle herausgreifen konnte, bald zu Übermut, bald zu Verzagtheit neigte und sich in alles, was es zu beschließen oder zu unternehmen galt, gleichsam blindlings und kopfüber stürzte, ob es im Guten oder im Schlimmen endete. Allisat, in vieler Hinsicht sein Widerspiel, eine besonnene, gesinnungsfeste Frau, aus vornehmer Familie stammend, der Stolz und Haltung im Blute lag, wußte, daß sie als Beraterin an ihres Gatten Seite viel dazu beitragen konnte, ihn von unüberlegtem und ausschreitendem Handeln zurückzuhalten. Es war ihr wiederholt gelungen, und nur besondere Gründe hatten sie jetzt bestimmt, ihn gleichsam unbeaufsichtigt zu lassen und endlich heimzukehren.

»Große Dinge bereiten sich vor,« beantwortete sie mit zurückhaltendem und doch vielsagendem Ernst eine darauf bezügliche Frage Gisgons. »Wir werden auf unserer Hut sein müssen, soll das bisher Erkämpfte dem punischen Volk und nicht irgendeinem raublustigen Freibeuter erkämpft sein.«

Stimmen vom Hausflur her unterbrachen das Gespräch. Des Gezeters der Äthiopierin nicht achtend, stürmte ein Jüngling ins Gemach.

»Gisgon, wo bist du? Komm! Der Numider fahndet nach dir. Er will dich gefangensetzen. Folge mir!«

Dubar war es, der ihm schon einmal zum Retter geworden, am Fischertor, durch einen kühnen Ausfall seinen Rückzug deckend. An Dubars ehrlicher Gesinnung konnte kein Zweifel bestehn. Aber vielleicht übertrieb er. Jedenfalls verblüffte die Plötzlichkeit seines Erscheinens. Gisgon zögerte. Aus welchem Grunde hätte der Numider es wagen dürfen ...?

»Um Eschmuns Licht willen, frag' nicht lang! Des Ungehorsams im Dienst beschuldigt er dich. In wenigen Augenblicken wird das Haus von Gewaffneten umstellt sein. Wenn dir dein Leben lieb ist, so eile dich. Ich bin bereit, dich in meinem Hause zu verbergen. Die Stadttore sind besetzt, du kämst nirgends mehr durch ...«

Diese Sprache mußte nun Gisgon freilich begreifen.

»Leb' wohl, Ellot!«

»Gisgon!«

Er hatte sich nicht Zeit gegönnt, sie zu umarmen. Schon verhallten die Schritte der beiden Enteilenden. Fast gleichzeitig bezeugten Trompetenstöße rings ums Haus, daß Dubar keine Märchen aufgetischt hatte. War Gisgon noch heil durchgekommen? Waffen klirrten, Soldaten drangen ein. Sie fragten und suchten nach Gisgon, dem Enkel Magos, des Bruttiers. So mußte seine Flucht gelungen sein. Wenigstens dies eine, Tanit sei Dank! Wenigstens dies eine!

»Was ist dir, Ellot?« schreckte Allisat auf und umfing sie mit ihren Armen.

Ach, es war zuviel, was auf die arme zarte Frau eingestürmt hatte an diesem einzigen Tage! Der Abschied am Morgen, der Seelenkampf zwischen Tapferkeit und Angst, Gefaßtheit und Tränen. Dann der Auftritt mit dem Numider. Schließlich das erneute Scheiden vom Geliebten, der abermals hinausstürmte ins Ungewisse, von Gefahren umdroht ...

Die Soldaten polterten durch die Gemächer, sie durchsuchten das Haus von unten bis oben und fingen immer wieder von vorne an. Sie ahnten, daß sie sich eines wenig wohlwollenden Empfanges zu gewärtigen hätten, wenn sie mit leeren Händen zurückkämen.

Inzwischen saß in der Kammer Allisat hilfreich an Ellots Bette, und Terilla lief verzweifelt ab und zu. Der armen kleinen Frau aber war es zumute, als verströmte mit ihren süßen Hoffnungen zugleich ihr eignes Leben ...

Und still vor sich hinweinend, hörte sie von Zeit zu Zeit eine vorwurfsvolle Stimme klagen: »Ohne Liebe empfangen!«

*


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