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Lanassa hatte ihren Sohn, den Königs-Schofeten, ins Landhaus von Magara zu sich bitten lassen.
Festlich geschmückt empfing sie ihn – genau wie an jenem Abend, da er in Gesellschaft des Himilko Phameas, des damaligen Vertrauensmannes der numidischen Partei, mit seinem Oheim Gulussa, dem Sohn und Abgesandten des zu jener Zeit noch am Leben befindlichen Königs Masinissa, bei ihr zusammengetroffen war. Auf den ersten Blick erkannte er, daß sie ihm Gutes zu verkünden haben würde. Ihr bräunlich getöntes Antlitz, von den beiderseits niederfallenden, in breite Bänder geflochtenen blauschwarzen Haarflechten eingerahmt, schien von Freude zu strahlen. Ein Schimmer von Jugendlichkeit hauchte Rosen über die zarte Haut ihrer Wangen, das wie von Kraft und Sieg leuchtende Auge erinnerte an ihren Vater Masinissa. Geschmeidig und vornehm in jeder Bewegung wie eine Berggazelle, verleugnete diese Frau keinen Augenblick ihre königliche Abstammung.
»Ich war seit längerer Zeit etwas beunruhigt,« sagte sie, »weil eine bedeutungsvolle Botschaft, bereits im Frühsommer an Gulussa abgesendet, unbeantwortet geblieben war. Vielleicht mißlang es dem Boten, sich durch die damals in Libyen noch streifende Reiterei des Himilko und Bithyas durchzuschleichen. Für den Fall, daß er gefangengenommen würde, hatte ich ihm aufgetragen, das Schreiben vorher zu vernichten. Es war ein kluger und verläßlicher Mann, in dieser Hinsicht konnte ich ohne Sorge sein. Doch fragte ich mich vergeblich, warum mein Bruder die Unterhandlungen plötzlich abgebrochen hätte, durch Eingehen auf seine Forderungen glaubte ich ihm genügend entgegengekommen zu sein. Endlich entschloß ich mich, ein zweites Schreiben gleichen Inhalts an ihn abgehn zu lassen. Es hatte mehr Glück als das erste und erreichte den Empfänger. Die Antwort ist mir heute durch einen als Fuhrmann verkleideten numidischen Unterhändler zugekommen. Sie krönt meine Bemühungen mit einem vollen Erfolg. Wir sind am Ziel, mein Hasdrubal! Kart-Chadast ist gerettet, die Römer werden das Nachsehen haben. Für dich aber ist der Weg nun freigemacht, offen liegt er vor dir. Er führt zu Glanz und Ruhm, zum Gipfel der Macht und Größe unter den Menschen!«
Begierig griff Hasdrubal nach dem Blatt, das sie ihm darreichte und las: »Der Löwe wird dem Einhorn helfen, den Adler für immer zu verscheuchen!«
Ein Schauer von Freude überrieselte ihn. Bundesgenossenschaft auf Tod und Leben zwischen dem punischen Einhorn und dem numidischen Löwen! Das bedeutete unerschöpfliche Hilfsmittel aus dem Hinterland! Das bedeutete militärische Überlegenheit! Das bedeutete Sieg! Niemals würde, wenn diesmal mit zerzaustem Gefieder heimgeschickt, der silberne Adler der römischen Legionen es wieder wagen, afrikanischen Boden zu entweihen!
Trunken vor Glück warf er sich der königlichen Mutter zu Füßen. Sie hatte nicht zuviel gesagt, Kart-Chadast, das punische Volk waren gerettet! Die Heimat, ihre Heiligtümer und Altäre, Quellen, Haine und Gräber vor Schändung behütet, die Stadt von den Gefahren einer zweiten Belagerung verschont! Gulussa überschwemmte mit seinen Reitern ganz Libyen, bald würde man die Feinde ins Meer geworfen haben! Inzwischen ging die im Bau befindliche Flotte ihrer Vollendung entgegen, man konnte nun auch zur See gebieterisch hervortreten, sich mit dem im Aufstand gegen Rom befindlichen Makedonien verbünden – die römische Weltmacht war gebrochen! Strahlend ging ein Stern auf über der äthiopischen Wüste und leuchtete bis ans Meer ... und weiter, über die Meere hinweg und über die Länder hinweg ... Und sein Glanz verkündete über die ganze bewohnte Erde hin den Ruhm, die hohe Gesittung, die völkerversöhnende Macht von Kart-Chadast! ...
Der Hufschlag eines Pferdes war von der Straße herauf an sein Ohr gedrungen. Ein Offizier suchte den Königs-Schofeten. Man hieß ihn eintreten. Jophischat war es, Sohn Wahballats, des Oberpriesters der Tanit, einem der vornehmsten Geschlechter der Stadt angehörend und früher dem Blanno Tigillas, dem Befehlshaber am Fischertor, seit einiger Zeit dem Königs-Schofeten selbst zur persönlichen Dienstleistung zugeteilt. Der hochbegabte, und durch gewandte Weltläufigkeit ausgezeichnete, aber auch wegen seiner Ausschweifungen gefürchtete Jüngling, der sonst nichts, was hoch und heilig war, verehrte, dagegen mit einer Art mädchenhafter Verehrung an Hasdrubal hing, hatte es nicht erwarten können, bis dieser ins Haus der Pfauen zurückgekehrt wäre, die inzwischen eingetroffenen guten Nachrichten ließen ihm keine Ruhe. So war er ihm nachgeritten, die Gelegenheit gerne wahrnehmend, Lanassa seine Huldigung darzubringen und auch sie teilnehmen zu lassen an den Freudenbotschaften, die er zu überbringen hatte.
Der Konsul Calpurnius Piso hatte die Belagerung von Hippo-Diarrhytos ergebnislos abgebrochen und mit seinen Legionen Winterquatiere in Utik-Chah bezogen. Die stolze und wichtigste aller punischen Hafenstädte war somit frei und konnte die Zufuhr nach Kart-Chadast wieder aufnehmen. Und nicht genug daran; auch vom Landheer ließ sich Erfreuliches melden. Bithyas, der zugleich mit Himilko zu den Römern übergegangene Freischarenführer, hatte um Wiederaufnahme in punische Dienste angesucht. Nachdem der Widder ihm Straflosigkeit zugesichert, war er mit achthundert Reitern auf die kartchadische Seite zurückgekehrt. Den letzten Anstoß hiezu schien Himilko Phameas gegeben zu haben. Denn der hatte sich in Rom in einem Anfall von Schwermut die Pulsadern geöffnet, nachdem er an Bithyas – die Nachricht rührte von diesem selbst her – ein kurzes Abschiedswort des folgenden Inhalts gesendet: Er hätte es immer für das Richtige gehalten, von zwei Übeln das kleinere zu wählen, und diesem Grundsatz treu, gehe er in den Tod; denn seit seinem Verrat an Kart-Chadast betrachte er das Leben für das größere.
Lanassa und Hasdrubal standen beide unter dem Eindruck eines erfüllten Schicksals. Der gerechte Unmut gegen den Verräter löste sich in Bewegtheit, in leisen Schauder vor dem Los der Menschen. Sie gedachten jenes mit Himilko zugebrachten Abends, lange vor Beginn des Krieges, hier, in demselben Hause ... In ihrer Erinnerung lebte er als ein aufrechter und unbeugsamer Mann, der fest wie eine Steineiche im Felsgrund wurzelte. Was hatte ihn zu Fall gebracht? Es blieb ihnen ein Rätsel ...
Nur allmählich kamen sie darüber hinweg. Und nun konnten sie sich erst über Hippo-Diarrhytos und Bithyas freuen und taten's von Herzen.
Hasdrubal, im Begriffe, sich von seiner Mutter zu verabschieden, stand aufgerichtet in seiner ganzen gewaltigen Größe, in überströmendem Kraftgefühl reckte er die Glieder: »Nun zwingen wir's! Und wenn sich die Unterwelt gegen uns verschwüre!«
Jophischat war vorausgegangen, die Pferde vorführen zu lassen. Noch einen Augenblick zögerte der Königs-Schofet.
»Du erwähntest vorhin, Mutter, eines Entgegenkommens von deiner Seite gegen Gulussa. Die Bundesgenossenschaft gereicht doch den Numidern kaum minder zum Vorteil wie uns selbst. Hat er denn Gegenleistungen gefordert?«
»Ach – du kennst ihn ja. Man muß ihn scheinbar recht behalten lassen, um schließlich doch zu tun, was einem gefällt.«
»So ohne weiteres könnte ich dem doch nicht zustimmen. Wir sind keine Römer, die Verträge brechen und Bundesgenossen betrügen. Was verlangte er eigentlich?«
»Er forderte die Oberherrschaft über Kart-Chadast, das samt seinem Gebiet ein Teilfürstentum Numidiens bilden soll, und Anerkennung dieses Verhältnisses durch jährliche Huldigung und Tribut. Du selbst sollst Königs-Stellvertreter in Kart-Chadast sein.«
Hasdrubal lachte hell auf. »Und sonst forderte er nichts?«
»Immer besser als Ausrottung des punischen Volkes und Zerstörung der Stadt!«
»Wirklich besser?«
»Übrigens werde ich dafür sorgen, daß er später von dem einen oder andern Punkte Abstand nimmt.«
Der Königs-Schofet stutzte. »Du hast ihm so schmachvolle Bedingungen doch nicht am Ende zugestanden, Mutter?« flüsterte er entsetzt.
»Vorderhand können wir an nichts anderes denken, als ihn überhaupt auf unsere Seite zu ziehen.«
»Du hast? Du hast?«
»Ja doch, ich habe! Sei kein Kind! Mit Gulussa kann man nicht punisch, mit ihm muß man numidisch reden! Und ich sage dir, es wird ihm nur Achtung abnötigen, wenn er sieht, daß die Kartchader doch nicht solche Unwirklichkeitsmenschen, kein politisch so vernageltes Volk sind, wie er sich einbildet!«
»Auf diesem Wege kann ich dir nicht folgen!« stöhnte Hasdrubal, wie in einen Abgrund hinabblickend.
»Du wirst! Du mußt! Es bleibt dir keine andere Wahl! Oder willst du deine Mutter verleugnen, statt sie dafür zu segnen, daß sie dich und die Stadt nicht verderben läßt? Nimm Vernunft an, Hasdrubal! Die Bundesgenossenschaft gilt vorderhand nur für den Krieg. Sind die Römer einmal verjagt, so nimmt sich die Sache schon anders aus. Dann sind wir die Stärkeren, und nicht Kart-Chadast, sondern Numidien wird es dann sein, das Tribut zahlt und einer Oberherrschaft huldigt!«
Von Schmerz fast zusammengebrochen schlug Hasdrubal sich die Fäuste vor die Stirn: »Mutter! Mutter –! Wohin führst du mich?«
Und in königlicher Haltung antwortete Lanassa: »Nach Cirta!«
Jophischat kehrte zurück. Einen Blick warf Hasdrubal ihr noch zu, Vorwurf, Zweifel, Unwille loderte darin. Dann stürzte er hinaus. Sie lauschte, bis der Hufschlag der Pferde auf dem Pflaster verklungen war ...
Sie dachte an Chimalkar, ihren verstorbenen Gatten ... Ach, warum hatte sie sich einem Kartchader vermählt! Gulussa hatte recht: das punische Volk war nicht danach geartet, um auf dieser Erde zu bestehen!
*
Hasdrubal war so einsilbig und verschlossen, daß der an seiner Seite reitende Jophischat nicht vorzubringen wagte, was ihn bedrückte. Als aber an einer steinigen und abschüssigen Wegstrecke die Pferde im Schritt gehen mußten, faßte er sich doch ein Herz.
»Nimm mir's nicht übel, erhabener Schofet,« sagte er, »daß ich Dinge zu berühren mir herausnehme, die außerhalb meiner militärischen Aufgaben und vielleicht auch meines Verständnisses liegen. Rechtfertige es vielmehr durch die Anhänglichkeit an den von mir verehrten Vorgesetzten und die Sorge um sein Wohl, wenn ich dich bitte: Bleib' der für morgen früh angesagten Versammlung des Hohen Rates fern.«
»Wie sollte ich! Ich, der Königs-Schofet!« antwortete Hasdrubal gütig. »Die wichtigsten Entscheidungen stehen bevor. Was bringt dich auf den Gedanken?«
»Es gehen Gerüchte um ... Die Stimmung in gewissen Kreisen der Stadt, und nicht nur unter dem Pöbel, hat sich gegen dich gekehrt. Man verleumdet dich!«
»Was sagt man mir nach?«
»Daß du uns an Gulussa verraten hättest.«
Das Pferd Hasdrubals bäumte auf. Er zwang es nieder und gab ihm die Peitsche.
»Vielleicht ist dir bekannt, Jophischat, daß Parteigruppen sowohl im gemeinen Volk wie im Hohen Rat sich plötzlich der Verfassung erinnert haben, die allerdings zwei Schofethim vorsieht. Baga, den ich aus persönlichem Umgang kaum flüchtig, dagegen nur allzugut als Politiker kenne, bewirbt sich um die zweite Stelle. Es heißt, er verfüge über ziemlichen Anhang und rühme sich, damals nach dem Umsturz derjenige gewesen zu sein, der mich selbst zum Schofeten vorschlug, was übrigens der Wahrheit entspricht. Du siehst, wie gut der Mann zu gebrauchen ist. Mir paßt er gar nicht übel. Durch Geld und leere Worte weiß er aufs Volk zu wirken, im übrigen ist er nichts als ein Ehrgeizling. Sieht er seine Eitelkeit befriedigt, so kann man mit ihm anfangen, was man will, und eben daran liegt mir. Ich will das goldne Einhorn mit fester Hand zwischen Skylla und Charybdis hindurchsteuern, ich kann's nicht brauchen, wenn mir einer in den Arm fällt und dazwischen ruft: Nein, so! Nein, anders! Bei Baga erledigt sich die Sache, indem ich ihm auf die Finger klopfe. Dabei gilt er als eine Art Vertrauensmann der Menge. Das Gerücht, von dem du sprichst, wird verstummen und die öffentliche Meinung sich beruhigen, wenn er in der Regierung sitzt. Aus diesen Gründen bin ich entschlossen, seine Wahl zum Schofeten nicht nur zu befürworten, sondern sogar selbst zu beantragen, wie er einst die meinige beantragte.«
»Tu's nicht! Ich bitte dich, tu's nicht!« beschwor ihn Jophischat. »Ich kenne durch meinen Vater die Stimmung in den Adelskreisen. Man würde es dir nie verzeihen, wenn du einen Baga an deiner Seite duldetest!«
»Es gilt aber doch auch das Volk und vor allem das Volk zu befriedigen! Mit Hilfe der Adelsbürger allein kann ich keinen Krieg führen. Ich brauche die Masse. Sie wird mir's danken und williger mit mir gehn, wenn es kein Adelsbürger ist, der zweiter Schofet wird, sondern ein Hinaufgekommener. Du siehst, es ist alles wohl erwogen und durchdacht. Also nichts weiter!«
Er verfiel wieder in Schweigen. Lanassas Eröffnungen gingen ihm nach. Es war ihm ja bekannt gewesen, daß sie mit Gulussa verhandelte, es geschah sogar mit seiner Zustimmung, aber immer hatte er nur ein Bündnis zwischen Gleichgestellten und Gleichberechtigten im Auge gehabt. Die Zerstückelung des Gebietes, die Teilung der Machtbefugnisse des Reiches, die Scipio Aemilianus vorgenommen, zwangen den Nachfolgern Masinissas, den numidischen Teilfürsten, wenn sie nicht für immer in Abhängigkeit von Rom geraten wollten, die Notwendigkeit förmlich auf, um Bundesgenossenschaften auf afrikanischem Boden zu werben. Er sah gar nicht ein, wieso Gulussa dazukam, Gegenleistungen zu fordern; für ihn hatte sich's lediglich um Vereinbarung eines gemeinsamen Vorgehens gehandelt. Darum hatte er sich ja auch im Bewußtsein seines lauteren Willens um die Gerüchte wenig, vielleicht zu wenig gekümmert, die über ihn umliefen und ihm keineswegs verborgen geblieben waren. Und nun vernichtete plötzlich Lanassa durch Zettelungen, die weit übers Ziel schossen, dieses Gefühl seiner Unantastbarkeit, indem sie ihn in ein schiefes Licht setzte und ohne sein Wissen schuldig machte! Er grollte seiner Mutter, mißbilligte ihre Abmachungen und fühlte dennoch sein Gewissen belastet.
Jophischat hatte allerlei munkeln hören, die Sorge ließ ihm keine Ruhe. Noch einmal wagte er es, auf die für morgen anberaumte Ratsversammlung zurückzukommen.
»Wenn du doch auf die Stimme eines dir treu Ergebenen hören wolltest, mein Schofet! Wäre es nicht möglich, die Sitzung auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen?«
Davon kann keine Rede sein. In letzter Stunde! Und weshalb?«
»Man spricht von Gewittern, die sich über deinem Haupte zusammenzögen. Von Gefahren, die dir drohen!«
»Ich bin keiner, der sich feige verkriecht!« sagte Hasdrubal unmutig.
»Dann befiehl wenigstens dem Hipparchen Melekpalas, ein größeres Aufgebot von Bewaffneten im Regierungspalast bereit zu halten.«
»Es gäbe böses Blut. Auch habe ich beschlossen, den Melekpalas noch heute nach Libyen zu senden. Ich mache den Bithyas zum Hipparchen der Republik, er verdient es. Melekpalas wird ihm die Ernennung überbringen.«
»So gestatte, daß ich selbst ...«
»Es würde böses Blut machen, sage ich!« brauste Hasdrubal auf.
»Nur eine Ehrenwache – die ich zu befehligen hätte ...«
»Meinetwegen also – eine Ehrenwache am Haupttor. Vergiß nicht, daß sie jedem Ratsmitglied die Ehrenbezeigung zu leisten haben wird. Zehn Mann höchstens, hörst du? Nicht mehr!«
Damit gab Jophischat sich endlich zufrieden. Erleichtert atmete er auf. Er hatte sich vorgenommen, jedes Ratsmitglied, eh' es den Saal betrat, auf Waffen untersuchen zu lassen. Das würde freilich auch böses Blut machen, immerhin –! Er nahm's auf sich! Seine kecke Laune, sein Übermut, in der Schule der vornehmen jungen Lebewelt zur leichtfertigen Waghalsigkeit ausgebildet, ergriffen wieder von ihm Besitz.
Mochte was immer im Werk sein, Krallen und Gebiß von zehn Löwen – und er selbst war der elfte – die wurden im Notfall einer Herde wehrloser Schafe leicht Herr!
*
Als die beiden Reiter sich dem heiligen Hain Aschtarits näherten, in dessen Nachbarschaft der Zimmerplatz des Muttines lag, und in die Straße gegen die innere Stadt einbogen, kam dem verwegenen Jophischat, den es nicht minder nach Liebesabenteuern gelüstete wie seinen Vorgesetzten, den Numider, Channa in den Sinn, auf die er seit langer Zeit ein Auge geworfen hatte.
Denn seit jener Schreckensnacht, da sie dem gekreuzigten Pinarius ihr Gewand zurückgelassen und Jophischat sie, als sie fast unbekleidet durch die Menge schritt, mit Zudringlichkeiten verfolgt hatte, war sein Begehren nach ihr nie völlig erloschen. Immer glomm es im stillen weiter unter der Asche, die unzählige andere inzwischen neu entfachte und wieder ausgebrannte Leidenschaften zurückgelassen. Die Erinnerung an ihren Anblick von damals, ihre enthüllte Schönheit, ihre sinnbetörende Gestalt, peitschte ihn auf, sooft er an sie zurückdachte. Und immer seither paßte er auf eine Gelegenheit, ihrer doch noch einmal habhaft zu werden und sich an Dubar zu rächen, der ihn damals so schnöde aufs Pflaster gesetzt.
»Ich weiß nun, wo Gisgon sich verborgen hält, der Enkel Magos, des Bruttiers,« sagte er unvermittelt.
Der Königs-Schofet hielt sein Pferd an.
»Was du sagst –! Und wo denn?«
»In dem kleinen Haus da drüben am Zimmerplatz. Dubar bewohnt es, der Sohn des Zimmermeisters Muttines.«
»Ich kenne die beiden. Sind tüchtige Zimmerleute, beim Schiffsbau schier unentbehrlich. Dubar außerdem als Krieger nicht ohne Verdienst. Er trägt den silbernen Fingerring für das, was er am Fischertor leistete.«
»Der Haftbefehl gegen Gisgon und auch gegen Dubar, weil er ihm Unterstand gewährte, liegt in der Staatskanzlei bereits ausgefertigt und harrt nur noch deiner Unterschrift.«
»Wer war's, der den Aufenthalt Gisgons auskundschaftete?«
»Ich selbst,« gestand Jophischat mit bübischem Lachen.
»Du –?«
»Dieser Dubar besitzt ein entzückendes junges Weib, des Schmiedes Hirom Tochter, die einen vornehmeren Gatten verdienen würde. Die Gestalt einer Göttin, sag' ich dir! Du kennst die Weiber – sollte gerade die eine unzugänglich sein? So umschlich ich letztverflossene Nacht das kleine Haus am Zimmerplatz. Es war mir verdammt liebedurstig zumut, sie konnte doch ins Freie treten, wenn es der Zufall wollte, tat's aber leider nicht. So bekam ich sie nicht zu sehen, aber was ich erlauschte, war auch etwas wert. Es belehrte mich darüber, daß Gisgon sich dort verbirgt. Aschtarit sei mir Zeugin, ich beneide ihn um seinen Zufluchtsort und möchte am liebsten mit ihm tauschen! Du bist damit einverstanden, daß ich ihn und Channas Gatten in Gewahrsam nehmen lasse?«
»Nein! Nicht doch! Wir wollen lieber ein Auge zudrücken,« sagte Hasdrubal, sein Pferd wieder in Gang setzend.
Die Ähnlichkeit des Falles mit dem seinigen war ihm plötzlich aufgegangen und machte ihn betroffen. Es lag auf der Hand: Jophischat wollte den Dubar beiseite schaffen, um Channa nachzustellen. Und wie wir manchmal erst erlernten, was wir selbst taten, wenn wir einen andern dasselbe tun sehen, wurde er sich mit Schaudern bewußt, wie verrucht er an Gisgon gehandelt hatte. Fast begriff er es jetzt nicht mehr, daß er solcher Dinge fähig gewesen. Die Leidenschaft für Ellot war verflackert, so stand er wie ein Fremder jenem Hasdrubal gegenüber, der es über sich hatte bringen können, Gisgon hinauszuschicken in die Gefahr, womöglich in den Tod, um mittlerweile dessen junges Weib mit heißen Begierden zu umwerben. Ein Ekel ergriff ihn vor dem eignen Ich, das er jetzt so gerne verleugnet hätte, und das doch in hunderterlei Hinsicht noch dasselbe war wie damals ...
Im Schritt ritten sie durch die halbverfallenen, aus alter Zeit herrührenden Befestigungsanlagen, die einst den Kern der Stadt gegen die Magara abgeschlossen hatten. Düster sann Hasdrubal vor sich hin.
Es war heute für ihn ein böser Tag. Erst vom Jubel in bitterste Enttäuschung gestürzt, Gewissenszweifeln überantwortet, der Unangreifbarkeit verlustig. Dann der jäh aufgerissene Blick in die Abgründe seiner eigenen Verworfenheit, die die Leidenschaft ihm sonst mit rosenumblühten Blendwerk verhüllt. Oh – er hatte sich immer ganz anders gewollt, als er sich heute sah, unendlich viel reiner und adliger!
Eine weiche Stimmung überkam ihn, die an Zerknirschung grenzte. Seine Selbstsicherheit war erschüttert. Zum erstenmal in seinem Leben klopfte ganz leise und wie von ferne die merkwürdige Tatsache an seine Brust, daß man altern konnte ...
Jophischat, ohne Ahnung, was in ihm vorging, drang mit scheinbar sachlichen Vorstellungen auf ihn ein. Ihm paßte es nicht, daß hier Gnade vor Recht ergehen sollte. Er übertrieb ein bißchen.
»Es wäre geradezu gefährlich für Ansehn und Würde der Staatsobrigkeit, wenn Gisgon und Dubar straflos bleiben würden!«
Mit einer Art väterlicher Milde und in einem Ton, der Müdigkeit verriet, erwiderte Hasdrubal: »Ich will dir etwas erzählen, Jophischat. Es war in der bittersten Nacht meines Lebens, in der Nacht, die jenem Tage vorausging, an dem ich die Waffen der Stadt den Römern auszuliefern hatte. Da entbrannte ich für ein schönes junges Weib und verführte es. Nie wieder vor- oder nachher hat mich eine so geliebt wie sie, bei ihr war's Liebe, ich suchte Trost und Vergessen im Genuß. Von meinem Landsitz Chammonslust, wo wir das Liebesfest feierten, sahen wir durch die Zweige der Frühlingsbäume den Eschmun-Tempel fern auf der Bosra im Dunkel der Nacht heimlich erglühen wie von einem unterirdischen Feuer. Die heiligen Flammen Milkarts waren es, deren Schein durch die Finsternis bis zu uns herüberschimmerte. Aber heiliger noch als sie erschien mir damals das blutrote Lodern der Leidenschaft, mit der ich jenes noch unverdorbene junge Weib unter den abgefeimten Entweihungen meiner Lüste erschauern machte. Oh, Jophischat, ich täuschte mich! Diese Flammen waren keine heiligen, wie bald erloschen sie, so konnten sie nicht heilig sein. Denn alles was heilig ist, ist mit dem Geist der Ewigkeiten gesegnet und dauert. Was wird in mir von Dauer sein? ... Du sagst, es drohe mir Gefahr. Ich fürchte den Tod nicht, aber ich weiß, vor seinem Angesicht wird nur bestehn, was ewig ist. Wie wenig wird es bei mir sein! Das ist's, worum ich Sorge trage. Die Zeit kann mir knapp werden, vielleicht ist es zu spät. Du aber bist um vieles jünger als ich, Jophischat, sammle Garben in deinen Speicher, nicht Steine! Das Korn, das du säst, überlebt in ewiger Verjüngung Kinder und Kindeskinder. Wer Steine sät, sät den Tod. Und wenn du mich noch nicht verstanden haben solltest, so laß dir in dürren Worten sagen: Was du hier an Dubar und Channa tun willst, ist schändlich und frevelhaft!«
Viel zu sehr Weltkind, um aus den Erfahrungen eines Gereiften für sich selbst etwas zu gewinnen, hörte Jophischat aus den Worten des Königs-Schofeten nichts weiter heraus, als daß der Lohn in Frage gestellt sei, den er sich von dem glücklichen Zufall der Ausforschung von Gisgons Aufenthalt erwartet hatte. Seine Enttäuschung war groß. Und noch einmal unternahm er einen Vorstoß, indem er darauf hinwies, welche Erschütterung der soldatischen Zucht und dem Rechtsgefühl der Bevölkerung drohe, wenn strafbare Handlungen, wie deren Gisgon und Dubar sich schuldig gemacht hätten, ungeahndet bleiben würden. Hasdrubal aber, während sie sich auf dem ansteigenden Weg durch die Gärten der Pfauen dem kleinen Schofetenpalaste näherten, brach die Unterredung schroff ab, indem er befahl: »Sage dem Schreiber Mänon, der Haftbefehl gegen Gisgon sei aufgehoben, er soll die entsprechende Gegenweisung ausfertigen und mir morgen zur Unterschrift vorlegen!«
Und wieder in Nachsinnen versunken, fügte er nach einer Weile noch hinzu: »Ich kannte das Gefühl der Macht und schwelgte darin. Machte sie mich froh? In diesem Augenblicke bin ich's. Das schönste Recht, das sie verleiht – vielleicht ist es das Recht, zu begnadigen!«
*
Baga, bereits im Morgengrauen aufgestanden, hatte Festgewänder angelegt.
Das Unterkleid, das fast bis zu den Knöcheln reichte, war gelb, das kürzere Oberkleid, um die Lenden gegürtet und vorne übereinander geschlagen, zur Hälfte blau mit gelbem Besatz, zur andern Hälfte rot. Der Kragen, der die Schultern bedeckte und bis über den Gürtel herabfiel, war echter, kostbarer Purpur, die eine Seite mit goldenem Saum, die andere mit violblauen Scheiben besetzt. So trat er in seiner Gemahlin Schlafgemach. Er wünschte Eindruck auf sie zu machen.
Nanai, die sich eben erst vom Lager erhoben hatte und nur notdürftig bekleidet neben ihrem Bette stand, maß ihn mit feindseligen Blicken. Sein Staat schien ihr in höchstem Maße unangebracht. So mochte man sich allenfalls an hohen Feiertagen dem Volke zeigen, wenn man bereits Schofet war. Aber in solchem Aufzug sich in eine Ratsversammlung zu begeben, in der man vielleicht zum Schofeten gewählt wurde, vielleicht aber auch nicht, das kam ihr geschmacklos vor.
»Welch königliche Pracht!« sagte sie obenhin, ohne eine Anwandlung von Spottlust zu verbergen.
Er war aufgeräumt, seines Sieges sicher.
»Sieh mich nur gut an, ich bin Baga, nichts als Baga, Mitglied des Rats, das ist alles. Wenn ich wiederkomme, kann's leicht sein, daß ich inzwischen ein ganz anderer geworden bin.«
»Es wäre zu wünschen. Aber die Menschen verändern sich nicht. Es bleibt schließlich doch jeder, was er von Geburt aus gewesen.«
»Das stimmt nicht ganz. Schon mancher ist über Erwarten hoch hinaufgekommen. Dann gingen den Leuten erst die Augen auf, sie sahen, daß doch mehr hinter ihm steckte, als sie dachten.«
Er blickte rings im Zimmer umher und fuhr fort: »Es wäre an der Zeit, daß wir dies alte dumpfe Haus mit einem besseren vertauschten. Hasdrubal ist unverheiratet und besitzt den prächtigen Palast in der Stadt. Vielleicht legt er nicht einmal besonderen Wert darauf, im Haus der Pfauen zu wohnen. Es muß dort wunderschöne lichte, luftige Räume geben.«
»Gewiß, ich kenne sie,« sagte Nanai gleichmütig. »Räume ... mit den herrlichsten Blumen geschmückt ... zauberhaft schön und verführerisch ... es ist, als befände man sich in Aschtarits Liebesgrotten ...«
Er erblaßte.
»Hier, nimm, ich schenke dir das Ding,« sagte sie, ihm einen Gegenstand darreichend; »es ist eines Schofeten würdig.«
Er hielt einen Dolch in den Händen, eine kostbare, kunstvolle Arbeit. Der Griff aus schwerem Gold stellte das kartchadische Einhorn dar.
»Was soll ich damit?«
»Weise ihn dem Königs-Schofeten vor. Du zogst es neulich in Zweifel, daß ich seine Geliebte gewesen sei: er kann dir bestätigen, daß er mir diesen Dolch zum Andenken verehrte, als ich einmal an einem Opfertage Aschtarits im Haus der goldnen Pfauen ein Stelldichein mit ihm hatte.«
Wie der Blitz war der Dolch aus der Scheide gefahren und funkelte in Bagas erhobener Rechten. Ebenso schnell aber hatte Nanai seinen Puls umklammert und hielt, den Stoß auffangend, seine Hand in der Luft fest.
»Gemach! Und nach ihm, wenn ich bitten darf! Ich will erst wissen, ob ich einen Mann zum Gatten hatte, oder eine Memme.«
Einen Schritt zurücktretend, stieß Baga den Dolch in die Scheide.
»Vielleicht kann ich die Waffe brauchen,« sagte er kalt, »aber zu einem andern Zweck, als du meinst. Man munkelt, Hasdrubals Leben sei bedroht. Wer ihn anzutasten wagt, wird es mit mir, seinem Mitschofeten, zu tun haben. Um eines Weibes willen brauchen Männer einander nicht feind zu sein. Ich nehm' es keinem übel, wenn er die Frucht bricht, die sich ihm darbietet, an seiner Stelle hätt' ich vermutlich dasselbe getan. Das Weib aber steht unter anderen Gesetzen als der Mann, und die Ehebrecherin verdient Strafe. Mit dir werde ich zu gelegener Zeit noch abrechnen!«
Er steckte den Dolch in den Gürtel seines Gewandes und verließ düster grollend das Gemach.
Allein zurückgeblieben, sank Nanai ins Knie und weinte. Im Grunde mußte sie ihrem Gatten recht geben. Sie allein war die Schuldige. Warum hatte sie nicht widerstanden, damals auf Chammonslust? Schon daß sie überhaupt hingegangen war, machte sie schuldig. Oder hätte Hasdrubal daran glauben sollen, daß sie es nur in der Absicht getan, um Tanits Gestirn über dem Zweihornberg aufsteigen zu sehen? In Wahrheit konnte man ihm wirklich keinen Vorwurf machen, Baga hatte recht, er brach eben die Frucht, die sich ihm darbot, das war alles, jeder andere hätte es auch getan. Von ihrem eigenen Blut war die Verführung ausgegangen, alle Schuld fiel auf sie allein zurück. Und warum hätte sie sie nicht auf sich nehmen sollen, diese süße, unsagbar beglückende Schuld, das Holdeste, was das Leben ihr geschenkt, um das sie hundert Tode zu sterben bereit war?
Die Erinnerung erwachte. Wie öde und freudlos wäre ihr Weg gewesen ohne diese Schuld! Nie hätte sie kennengelernt, was Liebe sei, Hasdrubal allein hatte es sie gelehrt. Was hätte ihr ganzes Dasein für einen Sinn gehabt ohne jene einzige Nacht auf Chammonslust?
Und nun grollte sie ihm, dem einst so heiß Geliebten, weil seine Liebe gestorben war? Was gab ihr ein Recht dazu? Konnte man Liebe wollen? Oh – so viel, so unendlich viel hatte er ihr geschenkt, Freude im Übermaß und ihr Kind, sein geliebtes Ebenbild, hatte er ihr geschenkt! Wie Eschmuns Gestirn zur empfangenden Erde, so hatte der stolze, große, wahrhaft königliche Mann sich zu ihr herab gelassen. Und sie hätte ihm zürnen sollen, weil der Hauch seiner Feuerseele sie jetzt nicht mehr umglühte? War trotzdem nicht er es gewesen, der die heilige Flamme, die ihr ganzes Lebensglück bedeutete, in ihr entzündet hatte?
Ein Gefühl demütiger Dankbarkeit überkam sie. Wie häßliches Spinnweb fielen Eifersucht und Haß von ihr ab. Welcher Dämon hatte sie verblendet, daß sie auf Rache hatte sinnen können? Sie liebte ihn doch! Sie liebte ihn, das allein war die Wahrheit! Und ihre Liebe konnte nicht verlöschen, wie die seinige erloschen war, sie war und blieb ihr höchstes Gut und überdauerte Zeit und Ewigkeit, beglückt fühlte sie es ...
Da kam ihr plötzlich zu Bewußtsein, daß ihr Mann Andeutungen hatte fallen lassen, als sei Hasdrubals Leben bedroht. Sie wußte, daß die Stimmung im Volk und in einzelnen Kreisen des Adels sich gegen ihn gewendet hatte. Sollte Baga die Wahrheit gesprochen haben? Prahlerisch, wie er zu reden liebte, hatte er sich selbst als denjenigen hingestellt, der den Königs-Schofeten gegen allfällige Anschläge verteidigen würde. Aber wer auf Bagas Schutz angewiesen blieb, dessen Sicherheit war nicht auf Fels gegründet. In Gefahr stürzte dieser Feigling sich nicht, und niemand konnte wissen, ob nicht sogar er selbst, wenn ein aufgehetzter Pöbelhaufe es forderte und alles sich gegen Hasdrubal erhob, nicht plötzlich umsatteln und den Dolch, den sie ihm unsinnigerweise in die Hand gedrückt, gegen ein Herz kehren würde, das tausendmal wertvoller und mutiger war als das seine. Ja, das war einem Baga ohne weiteres zuzutrauen!
Dann würde auch sie sich mitschuldig gemacht haben am Tode des hehrsten Mannes, des Mannes, den sie liebte, wie nichts sonst in der Welt! Es schien ihr entsetzlich, entsetzlich wie die nicht abzuleugnende Ungeheuerlichkeit, daß sie ja selbst die ganze Zeit her nichts anderes gesonnen als seinen Untergang. Wer löste ihr dieses Rätsel? So verrucht hatte sie sein können, ihm nach dem Leben zu trachten! Wiederholt den Versuch unternommen, einen eitlen Affen dazu anzustiften, daß er einen Gott aus der Welt schaffe! Sie begriff es einfach nicht mehr und verwünschte den gekränkten Stolz, der ihr Herz blind gemacht hatte, daß es die Liebe, die verzichtbereite Demut nicht mehr sah, die den verborgenen und eigentlichen Kern ihres Wesens ausmachten.
Über dem allen aber, mochte es so oder anders zu deuten sein, wuchs größer und größer die Tatsache vor ihr auf: Hasdrubal war in Gefahr! Eine wahnsinnige Angst befiel sie und gab ihr den Gedanken ein, ihn zu warnen. In ihrer Hand lag es, das Unheil von ihm abzuwenden, wenn sie es über sich brachte, sich ihm zu Füßen zu werfen, wenn sie ihn anflehte, der Versammlung des Rates fernzubleiben oder militärische Vorkehrungen zu treffen.
Aber würde er sie nicht schnöde von sich stoßen? Sie wie eine Zudringliche und Überlästige behandeln, der man einen Fußtritt versetzt, um sie los zu werden? Mochte er immerhin! Was kam auf sie an! Sie kannte keinen Stolz mehr, wo es galt, ihn zu retten. Sie war bereit, sich von ihm demütigen zu lassen, wenn er nur schließlich auf ihre Warnung hörte. So erbittert sie früher nach Rache gedürstet und ihm den Tod an den Hals gewünscht hatte, so verzweifelt zitterte sie jetzt, da sie ihn ernstlich bedroht wußte, um sein Leben.
Und sie entschloß sich. Es mußte etwas geschehen, die Zeit drängte, sie war bereit. Nur eines fürchtete sie noch. Daß er ihr Kommen mißdeuten und annehmen könne, sie wolle sich ihm an den Hals werfen, ihm ihre Liebe anbieten, wie damals an Aschtarits Opfertag. Und noch einmal zögerte sie, von Gluten der Scham übergossen. Da gab ihr Tanit, die Keusche, einen erlösenden Gedanken ein.
Sie hob ihr Kind aus seinem Bettchen, warf ein Tuch über Kopf und Schultern und hüllte den Kleinen in dessen Falten. So machte sie sich auf den Weg. Tanit hatte ihr gut geraten. Der süße hellgelockte Knabe war ihr Schutzgeist. Wenn sie ihr Kind mitbrachte, sein Kind, so blieb jede Mißdeutung, als ob sie als Geliebte zu ihm käme, von vornherein ausgeschlossen.
Als sie auf die Hafenstraße hinaustrat, war ihr erster Blick über die Bai hinweg auf das zackige Gebirge am jenseitigen Ufer. Schon war hinter den kahlen Felsgipfeln ein lichter Schein wahrnehmbar, der den nahen Morgen ankündigte. Sie mußte eilen, wollte sie den Königs-Schofeten noch im Haus der Pfauen antreffen.
Sie wußte, daß die Versammlung beginnen sollte, »wann die Sonne sich vom Zweihornberge löst«.
*
Atemlos durch die Gärten der Pfauen hastend, näherte sich Nanai dem ins Grün hoher Bäume geduckten marmorweißen Schofetenpalast.
Der Eingang befand sich auf der Rückseite, sie wußte es. Als sie die Schwelle überschritt, taumelte schlaftrunken ein Torhüter auf, er wollte sie zurückhalten, aber schon war sie an ihm vorbeigeglitten und eilte die Treppe hinan. Eben trat der Staatsschreiber Mänon aus dem ihr wohlbekannten Gelaß, wo sie einst ihre tiefste Demütigung erfahren. Er versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen, mit einer gebieterischen Gebärde schob sie ihn beiseite und trat ein.
In dem noch halb schummrigen Raum, der im kalten Frühlicht durch nichts mehr an die heimliche Liebesgrotte von damals erinnerte, ging der Königs-Schofet langsam auf und nieder, ins Lesen eines Schriftstückes vertieft.
Nanai war knapp an der Tür in die Knie gesunken. Ihr Atem flog, mit beiden Händen ihr Kind hochhebend, stieß sie hervor: »Geh' nicht in die Ratsversammlung hoher Herr! Man trachtet dir nach dem Leben!«
Jäh zusammenschreckend stand er einen Augenblick still, dann trat er verwundert näher. Mit Ärmchen und Beinchen strampelte der hellgelockte Knabe ihm entgegen und stieß jauchzend lallende Laute aus, wie Kinder tun, wenn sie zum erstenmal das Wort »Vater« zu stammeln versuchen. Sichtbar bewegt, nahm Hasdrubal ihr das Kind aus den Händen und hob es in seine Arme. Mit ernster Ergriffenheit durchforschte er die zarten Züge, die unverkennbar sein Ebenbild waren.
»Verzeih' mir, daß ich hier einzudringen wagte,« stöhnte Nanai, fast besinnungslos vor Erregung. »Die Angst ließ mich alle Bedenken überwinden. Es schwebt Unheil über deinem Haupte, hoher Herr! Entziehe dich der Gefahr! Und willst du auf mich nicht hören, so laß den Knaben seine Bitten mit den meinigen vereinen. Er weiß nichts von dir und begehrt nichts von dir, und dennoch fleht aus seinem unbewußten Kinderlallen die Stimme des Blutes dich an: Erhalte dich dem Leben!«
Das rasch übergeworfene Tuch war von Haupt und Schultern herab gesunken, nur notdürftig bekleidet, wie sie in Eile das Haus verlassen, lag sie vor ihm auf dem Boden. Ihr ungewöhnlich reiches und üppiges Haar hatte sich gelöst und floß in schweren Wellen um Schultern und Brüste nieder, ihre noch immer mädchenhafte Gestalt bis an die Hüften umhüllend.
Hasdrubal hatte das Kind auf den Boden gesetzt, mit tastenden Schrittchen lief es in die Arme der Mutter zurück. Entrückt in ferne Erinnerungen stand er, von ihrem Anblick überwältigt.
Plötzlich aufglühend und nur mühsam verhalten, sagte er, in bewunderndem Entzücken die Hände faltend: »Und Ischtar war schöner im schimmernden Mantel ihres Haares als je zuvor in all ihrem Schmuck und den kostbarsten Gewändern ...«
Da schlug sie ihr Tuch, es jäh vom Boden raffend, wieder um Kopf und Schultern und erhob sich. Wie zu Schutz und Abwehr hielt sie ihr Kind an sich gedrückt.
»Die Sorge um dein Wohl war es, die mich hierher führte,« sagte sie mit aufbäumendem Stolz. »Gern würde ich die Beruhigung mit mir nehmen, daß der für mich harte und dornenvolle Gang, zu dem ich mich nur mit Überwindung entschloß, wenigstens nicht fruchtlos gewesen sei. Noch einmal bitte ich: Erhalte dich dem Leben!«
»Oh, wie schön wäre das Leben!« rief Hasdrubal, in wehmütige Klage ausbrechend. »Wie reich die Ernte, die es mir noch verheißen würde! Wie vieles ließe sich noch zum Guten wenden! Mit welch ungeahnten Freuden könnte mich noch segnen, was du heute an mir getan, Nanai! Oh, wäre mir noch Frist gegönnt, die Erkenntnis reifen zu lassen! Ich fürchte, es ist zu spät, mein Schicksal ist beschlossen. Mein Vater Chimalkart ging diese Nacht an mir vorbei und winkte stumm. Ich weiß, daß mir Gefahren drohen, ich weiß auch, wie groß und edel es von dir war, daß du es über dich brachtest, diesen Raum noch einmal zu betreten – und dennoch kann ich deinen Bitten nicht nachgeben. Ich kann, ich kann es nicht, Nanai, es wäre verächtlich und feig!«
Im Zimmer hatte wie mit einem Schlage Licht und Helligkeit sich verbreitet. Fast gleichzeitig klopfte es an die Tür, und eine Stimme von außen rief: »Der erste Strahl über dem Zweihornberg!«
Hasdrubal schrak zusammen, er war erbleicht und starrte einen Augenblick lang gegen die Tür wie auf eine Erscheinung. Hatte er abermals seinen Vater Chimalkart erblickt, der ihn drängte und mahnte? Wie um böse Gesichte zu verscheuchen, strich er sich über Stirn und Augen.
»Leb' wohl, Nanai,« rief er, sich ermannend, »und hab' Dank!« Er beugte sich nieder und küßte sie auf den Mund. Er berührte mit andächtigen Lippen die Stirn des Kindes und ließ flüchtig die Hand über dessen seidiges Lockengeringel gleiten. Und dann riß er sich los und stürmte fort ...
Weinend war Nanai zusammengebrochen. Sie hörte ihn die Treppe hinabeilen, Stimmen von Leuten, die ihn erwartet hatten und vermutlich begleiten sollten, schlugen an ihr Ohr, dann wurde es totenstill im Haus der Pfauen ...
Und an derselben Stelle, wo sie einst Tränen der Scham und Demütigung vergossen hatte, vergoß sie jetzt abermals Ströme von Tränen, schmerzvolle Tränen freudiger Genugtuung und glückselige Tränen bitterster Trostlosigkeit.
*
Vor dem Regierungsgebäude herrschte in früher Stunde lebhafte Bewegung.
Von allen Seiten strömten die Mitglieder des Hohen Rats auf dem Platz der Dido zusammen und verschwanden im Tor des Palastes oder standen noch eine Weile in Gruppen beieinander, mit sorgenvollen Gesichtern das umlaufende Gerücht besprechend, wonach ein in der Nacht eingetroffener Bote aus dem Hinterland die unerwartete Nachricht überbracht haben sollte, der Boëtharch Hasdrubal, mit dem Beinamen des Widders, hätte sich von der Regierung in Kart-Chadast losgesagt. Auch müßige Gaffer hatten sich genug auf dem geräumigen Platze eingefunden, Leute aus dem Volk, von Neugierde getrieben, und einzelne Rotten und Haufen, Wühler, Pöbel und Straßenpolitiker, die nachsehen wollten, was los sei, und sich lauernd abseits hielten, mißtrauisch beobachtend und mit finsterer Miene jeden neuen Ankömmling musternd, der im Geruche stand, nicht einwandfrei punisch gesinnt zu sein oder die Rechte des arbeitenden Volkes zugunsten der Adelsbürgerschaft hintanzusetzen.
Als Bomilkar sich in den Versammlungssaal verfügen wollte, setzte es Zank und Hader. In der Torfahrt hatten unversehens libysche Söldner ihn umringt und ihn aufgefordert, die Waffen abzulegen, wenn er welche bei sich trüge. Als er sich dessen weigerte und daraufhin Jophischat ihm mit dem Ansinnen entgegentrat, sich einer Leibesdurchsuchung zu unterziehen, begehrte er empört auf und erklärte, ein punisches Schwert ziehend, einen jeden niedermachen zu wollen, der ihn anzutasten wage.
Der Zusammenstoß wäre kaum unblutig abgelaufen, wäre nicht zufällig Maharbal dazu gekommen, der den grimmig Schreienden und Scheltenden beiseite nahm und ihm unter vier Augen vorstellte, wie alle verabredeten Pläne durch ein vorzeitig erregtes Aufsehen Gefahr liefen, zu Wasser zu werden.
»Melekpalas befindet sich zum Glück nicht in der Stadt,« raunte er ihm zu, »und Blanno Tigillas läßt vom Fischertor her eine Hundertschaft Schwerbewaffneter anrücken, die auf ein gegebenes Zeichen von der Gartenseite aus in den Saal eindringen werden. Gib deine Waffe ruhig ab und tröste dich damit, daß sie den andern auch abgenommen wird.«
Während sie noch abseits standen, schritt Baga in seinem prunkvollen Aufzug an ihnen vorüber, und Jophischat ließ ihn passieren, ohne ihn anzuhalten.
»Du siehst, es wird mit ungleichem Maße gemessen!« brauste Bomilkar auf.
»Einem Pfau traut man eben von vornherein keine Hörner und Stoßzähne zu«, beruhigte ihn Maharbal. »Mehr als dein Bratspieß uns nützen kann, kann es uns schaden, wenn du dich verdächtig machst!«
Bomilkar gab schließlich nach, auch Maharbal lieferte einen scharfgeschliffenen Dolch ab. Zu ihrem Glück trugen auch die meisten andern wegen der kriegerischen Zeit, in der man lebte, irgendeine Waffe bei sich. Maharbal hatte recht, es konnte nur dann auffallen, wenn man sich wie Bomilkar weigerte, sie abzulegen. Gesetzlich war dem Vorgehen Jophischats nicht beizukommen, seit jeher bestand das Verbot zu Recht, den Sitzungssaal bewaffnet zu betreten, nur hatte man in der Regel von einer Überwachung in dieser Hinsicht abgesehn.
Im Saal selbst ließ sich auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Spannung und Reizbarkeit wahrnehmen. Unruhe herrschte darin, alles schien in steter Bewegung, ein unablässiges Schieben und Rücken der Sitzgestelle deutete auf Fahrigkeit und kribblige Ungeduld. Dabei ließ kein lautes Wort sich hören, nur Geflüster und Geraune, als sei den Anwesenden die Kehle zugeschnürt durch böse Ahnungen und lähmende Angst. Irgendein Unbekanntes, Ungreifbares schwebte düster dräuend mit schwarzen Fittichen über der Versammlung.
»Eschmuns Gestirn löst sich vom Zweihornberg!« rief von außen eine Stimme in den prunkvollen Raum.
Da trat Hasdrubal, der Numider, aus der niedrigen Tür, die hinter der erhöhten Bühne aus den Staatskanzleien und dem Schofetenzimmer in den Saal führte. Baal Paam-Eljon folgte ihm, Mänon, der Staatsschreiber, und andere Angestellte der Regierung und des Hauses. Paam-Eljon bestieg den hohen Stuhl auf der Bühne, den vor ihm ein längst Verschollener innegehabt, der der reinste Mensch gewesen, und dem doch niemand ein gutes Andenken bewahrte. Denselben Stuhl, auf dem Mago, der Bruttier, sich selbst anklagend und mit bitteren Vorwürfen überhäufend, einst hilflos zusammengebrochen war, damals, als Rom nach Ablieferung der Waffen, entgegen allen Versprechungen, die Zerstörung der Stadt gefordert und sich noch heuchlerisch mit Milde, Schonung und Menschlichkeit gebrüstet hatte wegen der erteilten Erlaubnis, sie achtzig Stadien vom Meer entfernt wieder aufzubauen. Damals, als der Pöbel, rasend gemacht durch den unerhörten Wortbruch, den Regierungspalast gestürmt, im Saale alles krumm und klein geschlagen, den Blanno Tigillas mißhandelt und den Bruttier selbst am Leben bedroht hatte. Diesen selben hohen Stuhl auf der Bühne, auf dem der hinfällige Greis in jener denkwürdigen, entsetzlichen Nacht den Vorsitz über die Versammlung geführt hatte, bestieg jetzt Baal Paam-Eljon, um den Vorsitz über eine Sitzung des Hohen Rates zu übernehmen, die einen kaum minder denkwürdigen und entsetzlichen Verlauf nehmen sollte ...
Auch die Schreiber und Beamten hatten ihre Plätze auf der Estrade eingenommen. Hasdrubal aber, in einfachem hyazinthblauen Oberkleide und Mantel, ohne jedes Abzeichen seiner Würde oder seines militärischen Ranges, schritt an dem erhöhten Schofetenstuhl vorüber, der ihm gebührt hätte. Er hielt es für unangebracht, den Amtssitz heute einzunehmen, wo er selbst die Wahl eines zweiten Schofeten beantragen wollte. Langsam stieg er die Stufen hernieder und ließ sich mitten unter den anderen Mitgliedern des Rates auf demselben Platze nieder, den er einst als Führer der numidischen Partei an der Seite des Hipparchen Himilko Phameas eingenommen hatte.
Nach der üblichen Anrufung der Götter, daß sie den Hohen Rat mit ihrer Weisheit erleuchten und seine Beschlüsse segnen mögen, ergriff unter lautloser Stille der Versammlung Baal Paam-Eljon das Wort.
»Eine Reihe von wichtigen Gegenständen harrt der Besprechung und Erledigung durch den Hohen Rat, die oberste Staatsbehörde von Kart-Chadast. Bevor wir aber in die Behandlung der Geschäfte eintreten, halte ich mich für verpflichtet, von einem Briefe Mitteilung zu machen, der in meine Hände gelangt ist. Ein Toter tritt darin als Ankläger auf gegen einen Lebenden. Denn Himilko Phameas, der laut eingetroffenen Nachrichten inzwischen in Rom sich selbst gerichtet hat, versucht in diesem Briefe die verwerfliche Tat seines Übergangs zum Feinde, die uns alle mit Entrüstung erfüllte, vor seinem früheren Boëtharchen zu rechtfertigen, indem er Hasdrubal, den Numider, den Königs-Schofeten von Kart-Chadast, des Landesverrats zeiht.«
Eine ungeheure Erregung ging durch den Saal. Die Männer sprangen von ihren Stühlen und sammelten sich um das Pult des Vorsitzenden. Nur wenige, wie Hasdrubal selbst, in dessen stolzer, machtgewohnter Seele peinlichste Überraschung über das unerwünschte Bekanntwerden eines Briefes, den er selbst nicht einmal kannte, mit Zorn und Trotz kämpfte, und Baga, den um seine Wahl zum Schofeten bangte, und der deshalb für den Königs-Schofeten einzutreten geneigt war, hatten auf ihren Plätzen verharrt.
»Nur mit tiefer Kümmernis,« fuhr Paam-Eljon fort, »spreche ich es aus, dieses fürchterliche Wort: Verrat an Land und Volk. Aber wo es sich um so schwerwiegende Entscheidungen handelt, hat niemand das Recht, zu bemänteln oder zu vertuschen. Überdies fordert es die Gerechtigkeit, daß auch der andere Teil gehört und dem Beschuldigten Gelegenheit geboten werde, sich zu rechtfertigen und von dem auf ihm lastenden häßlichen Verdacht zu reinigen. Schon aus diesem Grunde bleibt nichts anderes übrig, als die Anklage zur öffentlichen Kenntnis zu bringen.«
Hierauf begann Paam-Eljon unter atemloser Spannung den Brief Himilkos zu verlesen, den Allisat ihm überlassen. Als er zu der Stelle kam, wo von einer aufgefangenen Botschaft Lanassas an König Gulussa die Rede war, erhob sich wütendes Geschrei, erbitterte Rufe der Entrüstung, grauenhafte Verwünschungen hallten durch den Saal, doch hatte die brennende Begierde, noch mehr und Näheres zu erfahren, die Ruhe bald wieder hergestellt.
Wie nun aber der Oberpriester den Inhalt der von Lanassa gemachten Zugeständnisse mitteilte und es bekannt wurde, daß nach ihren geheimen Plänen, für die man naturgemäß auch Hasdrubal haftbar machte, Kart-Chadast ein Teilfürstentum unter der durch Tribut und Huldigung anzuerkennenden Oberhoheit Numidiens hätte werden sollen, da erhob sich ein wahres Ungewitter der Empörung im ganzen Hause. Ein jeder fühlte es als öffentliche Schande und ihm selbst zugefügte Beschimpfung, was da hinter dem Rücken des Rates heimtückisch angezettelt worden, und jeder forderte Vergeltung und Strafe.
Man verlangte nicht danach, weiteres zu hören, man wußte genug, um sich ein Urteil zu bilden. Alles wendete sich gegen den Königs-Schofeten, der, wie ein überwiesener Angeklagter vor seinen Richtern, beschämt und selbst erschüttert von der Ungeheuerlichkeit der von Lanassa gemachten Zusagen, den Blick zu Boden gesenkt hielt. Ingrimmig geballte Fäuste bedräuten ihn, und hundertstimmig schollen ihm die Fragen entgegen: ob das Vorgebrachte der Wahrheit entspreche, was er darauf zu erwidern habe, ob er vielleicht die Echtheit von Himilkos Brief ableugnen könne, oder keine Verantwortung für Lanassas Handlungen übernehmen wolle, und was er zu tun gedenke, um die der Stadt angetane Schmach wieder gutzumachen?
Bleich und der gewohnten Haltung beraubt, hatte Hasdrubal sich erhoben und starrte wie entgeistet seinen Bedrängern ins Auge, die sonst wie die Hunde vor ihm gekrochen waren, und die er noch vor einer Stunde beherrscht hatte. Er wollte sprechen, beteuern, daß ihm der Inhalt der an Gulussa gesendeten Botschaft unbekannt geblieben – es kam ihm feige vor, er wußte, daß dann die Wut sich gegen Lanassa kehren würde. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er rang nach Worten. Maharbal stürzte auf ihn los und packte ihn an der Brust: »Sprich! Hat Lanassa eine solche Botschaft an König Gulussa gesendet?«
Er antwortete nicht geradezu, entrüstet stieß er Maharbals Hand zurück und rief, sich hoch aufrichtend: »Was nehmt ihr euch gegen mich heraus? Ich verwahre mich gegen den Ton, in dem ihr mit mir sprecht! Ich halte die hier vorgebrachten Bedingungen für ebenso verwerflich wie ihr selbst, nie und nimmer würde ich sie angenommen haben! Aber auch Lanassa glaubte nur aus dem Grunde darauf eingehen zu sollen, weil sie meinte ...«
»So geschah es mit deiner Zustimmung,« unterbrach ihn Maharbal, »daß Lanassa mit König Gulussa verhandelte?«
»Ja!« schrie er, in Zorn ausbrechend, »es geschah mit meiner Zustimmung! Merkt ihr nicht, ihr Blinden und Tauben, daß alles verloren ist, wenn Adler und Löwe gemeinsam über das Einhorn herfallen?«
Bomilkar, der hinter ihm stand, hatte eines der Sitzgestelle aus Holz und Eisen ergriffen und schwang es durch die Luft. Krachend sauste es auf Hasdrubals Haupt nieder, der blutüberströmt mit zerschmettertem Schädel zu Boden sank.
Hilflos, wie einst der Bruttier von derselben Stelle aus, hatte Paam-Eljon vergeblich um Ruhe und Wiederherstellung der Ordnung ersucht und schließlich, als die Erregung bedrohliches Gepräge annahm, mit aufgehobenen Händen um Mäßigung gefleht. Jetzt sprang er geängstigt von seinem Hochsitz auf, die Mauer von Menschenleibern, die den Tatort umstanden, entzog ihm den Anblick des zu Boden Gestürzten, von Schauern des Entsetzens geschüttelt, fragte er, was eigentlich geschehen sei. Niemand gab ihm Antwort. Bestürzt stob alles auseinander, eilte schreiend den Ausgängen zu. Auch Maharbal und Bomilkar verloren sich in der Menge, nachdem sie dem Sterbenden durch ein paar überzählige Hiebe noch den Rest gegeben.
Aber ehe der Saal sich leeren konnte, staute das Gedränge zurück. Jophischat stürzte mit seinen Gewaffneten in den Saal. Gleichzeitig von der andern Seite, über die Estrade, die Paam-Eljon händeringend verlassen hatte, das viel stärkere Aufgebot des Blanno Tigillas. Ein ungleicher Kampf entspann sich. Mit durchbohrter Brust kollerte Jophischat zwischen den Stühlen auf den Boden, versuchte noch einmal sich aufzurichten und das seinen Händen entfallene Schwert zu erreichen und brach nach wenigen Augenblicken tot zusammen. Da warfen seine Libyer die Waffen von sich und ergaben sich, die Hände hochhebend, der Übermacht.
Fast menschenleer gähnte jetzt der große, prunkvolle, aber düstere Saal, dessen Estrich an zwei Stellen sich von Blut rötete. Die letzten Gruppen von Ratsmitgliedern drängten noch gegen den Ausgang, die Krieger des Blanno Tigillas zogen sich über die Estrade wieder zurück und verloren sich, ihre Gefangenen mit sich führend, nach und nach hinter den Türen, durch die sie eingedrungen. Nur Vaga war noch zurückgeblieben, ungewiß, was er tun, wie er sich zu der neuen unvorhergesehenen Lage stellen solle.
Vom Platz der Dido herauf drang wütendes Geschrei der dort angesammelten Menge. Jarbas hatte die Volksversammlung auf dem Marktplatz abgebrochen und seine Leute vor den Regierungspalast geführt. Sie verlangten die Absetzung des Numiders. Und als sie von den herausströmenden Ratsmitgliedern erfuhren, daß er ermordet sei, erhob sich wüster Jubel. Blitzschnell war die Kunde über den ganzen Platz hin verbreitet. Aus tausend Kehlen scholl der Ruf: »Es lebe der Widder! Hasdrubal, der Widder, der Schofet!«
Die Leute drangen ins Tor, man wollte den Erschlagenen sehen, sich davon überzeugen, daß er wirklich tot sei.
Brüllend näherte sich mehr und mehr das Geschrei die Treppe herauf: »Es lebe der Widder! Hasdrubal, der Widder, der Schofet!«
Da raffte Baga sich zu einer Tat auf. Hastig glitt er die leeren Sitzreihen entlang zu der Stelle, wo Hasdrubal erschlagen lag, und stieß den Dolch, den Nanai ihm geschenkt, der Leiche ins Herz.
Die Scheide behielt er mit Bedacht in seinem Gürtel zurück. Sie sollte im Bedarfsfall zum Beweis dienen, daß die tödliche Waffe, die aus des Königs-Schofeten Brust ragte, Bagas Eigentum gewesen sei.
*
Inzwischen lag Nanai weinend auf den Knien, in jenem Gelaß im Haus der Pfauen, das sie zweimal in ihrem Leben betreten hatte. Einmal als Sünderin, entflammt von unheiligen Begierden, einmal durchglüht vom heiligen Feuer einer verzichtenden, zur Hochherzigkeit geläuterten Liebe.
Damals hatten ihre Tränen sie kränker gemacht, als sie gewesen; auch jetzt heilten sie nicht Kummer und Sorgen und waren doch heilsam. Denn als sie sie endlich trocknete und, ihr Kind in den Armen, den Schofetenpalast verließ, schritt sie als eine Vergeistigte dahin, die nichts mehr für sich wollte und bereit war, wenn das Schicksal sie rief.
Durch die engsten und verlassensten Gassen der Stadt suchte sie den Heimweg, die Menschen vermeidend.
Um in die Hafenstraße einzubiegen und ihr Haus zu erreichen, mußte sie aber unbedingt das untere Ende des Marktplatzes überqueren. Es fiel ihr auf, wie verlassen er dalag, rein wie ausgestorben. Eschmuns Gestirn stand bereits hoch über dem Zweihornberg, um diese Stunde herrschte sonst auf dem Markt das lebendigste Treiben. Ein paar Hafenarbeiter und Weiber, die an ihr vorüberkamen, hasteten in der Richtung gegen die Bosra. Aus flüchtig aufgefangenen Worten, die von ihrem Gespräch absplitterten, entnahm sie, daß irgend etwas Entsetzenerregendes sich ereignet haben mußte, dessen alles Volk Zeuge sein wollte. Überall, wo Fußgänger sich zeigten, strebten sie in derselben Richtung.
Da hielt sie inne, überlegte einen Augenblick und schlug dann, das Schmiedegäßchen aufwärts, ebenfalls den Weg gegen die Bosra ein.
Sie ging ganz langsam und ruhig und scherzte und spielte gelassen mit dem Knaben, den sie auf dem Arm trug. Sie lächelte sogar, um ihn lächeln zu machen. Sie war samt ihrem Kinde bereits in einer ganz andern Welt, nichts konnte ihr mehr etwas anhaben. An dem Ort, wo sie früher gewesen, in diesem Tal der Tränen, da geschahen freilich entsetzliche Dinge – aber was tat's? Sie gingen vorüber wie ein Hauch. Sie erreichten nicht die friedlichen, weltabgeschiedenen Gefilde, wo Nanai jetzt mit ihrem Kindchen wandelte ...
Je mehr sie sich entlang der auf halber Höhe des Burghügels hinziehenden Straße dem Platz der Dido näherte, desto mehr Menschen kamen ihr entgegen. Es waren Leute, die offenbar ihre Neugierde befriedigt hatten und nun scharenweise in die Stadt zurückströmten, auf den verschiedenen Straßen und Wegen, die da und dort abzweigten und mehr oder weniger steil abwärts führten. Sie hörte im Vorbeigehn, wie sie vom Numider sprachen und vom Widder. Erbittert, zornig, oder auch begeistert redeten sie miteinander und warfen erregt die Hände in die Luft. Für all diese Menschen schien es ein Schauspiel, was da vor sich gegangen war. Es ging sie im Grunde nichts an. Darum konnten sie so viel darüber reden und sich dabei noch unterhalten. Nanai konnte nicht mehr reden, sie fragte niemand, was eigentlich geschehen sei. Ihre Stimme war gestorben. Sie mußte schweigen. In den Gefilden, wo sie mit ihrem Kinde wandelte, redete man nichts mehr, man schwieg ...
Die Menge hatte sich so ziemlich verlaufen, als sie endlich auf dem Platz der Dido anlangte. Mehr und mehr leerte er sich von Neugierigen. Nur um das Tor des Regierungspalastes standen noch Schaulustige herum, dort mußte es etwas ganz Seltsames zu sehen geben. Langsam, daß es fast den Eindruck der Gemächlichkeit machte, schleppte sich Nanai über den freien Platz dahin. Sie war müde. Die ganze Zeit das Kind auf dem Arm. Sie hatte auch keine Eile. Das Seltsame, Unfaßbare, das es dort zu sehen gab, sie hatte es ja längst erschaut. Von da drüben, wo sie wandelte, sah man so deutlich auf das zurück, was fern hinter einem lag.
Die Leute wichen vor ihr zur Seite und verloren sich allgemach, wenigstens sah sie nichts mehr von ihnen.
Sie kniete an einer Bahre, und der Knabe tastete mit den Händchen nach dem Mann, der da lag. Und lallend stieß er zärtliche Laute aus, wie Kinder, wenn sie »Vater« rufen wollen und es noch nicht recht zuwege bringen.
Tränenlosen Auges betrachtete Nanai das zerschmetterte Haupt des Geliebten. Nur das Antlitz war unzerstört, bleicher als sonst, aber auch friedlicher und erhabener als sonst. Aus dem Herzen ragte der Griff des Dolches mit dem goldnen Einhorn.
Sie wunderte sich.
Jetzt, im Angesicht des Toten, der noch in seiner Wehrlosigkeit achtunggebietend war, glaubte sie nicht mehr daran, daß irgendeiner ihn anzutasten gewagt hätte außer hinterrücks. Wer den Dolch ihm ins Herz stieß, der mußte ihm ins Auge sehen – ein Baga hatte diesen sicheren Stoß gegen den noch Lebenden nie und nimmer führen können!
Ach, so tief sah sie jetzt hinein in die Menschen, durchschaute klarer als sonst die Größe, die in dem einen gewohnt, und die Erbärmlichkeiten, von denen der andere umgetrieben wurde. Der Feigling hatte den Dolch gegen das Herz eines Toten gezückt, sie wußte es; und sie wußte auch, aus welchem Grunde die himmlischen Mächte eine solche Schandtat geduldet hatten. Es wurde ihr auf diese Weise die Waffe in die Hand gespielt, deren Besitz ihr jetzt so erwünscht war, Hasdrubal selbst gewissermaßen reichte sie ihr dar, nun war sie von Rechts wegen ihr Eigentum.
Eindringlich und immer eindringlicher mahnte sie diese aus der Brust des Toten ragende Waffe, sich ihrer zu bedienen ...
Man gibt ja immer den Toten frommsinnig ins Grab mit, was ihnen auf Erden das Liebste war. Und was hätte Hasdrubal, wäre sein wahres Wesen ungetrübt geblieben, mehr geliebt, als Nanai und das Kind, das sie in Liebe von ihm empfangen? Noch in seiner letzten Stunde hatte er es ihr bekannt. Das war die späte Einsicht, von der er ihr gesprochen, die Erkenntnis, die ihm aufgegangen sei. Das war der Sinn seiner Klage, daß dieser Einsicht und Erkenntnis keine Frist mehr vergönnt sei, zu reifen und zu beglücken ...
Warum aber sollte dies über alles Irdische erhabene Glück nicht in den seligen Gefilden noch nachzuholen sein?
Wie man eine heilige Opferhandlung vollbringt, so zog sie den Dolch aus Hasdrubals Brust und stieß ihn ins Herz des Kindes, und als diesem mit einem letzten Aufseufzen das hellgelockte Köpfchen auf die Leiche des Vaters herabsank, in ihr eigenes Herz. Dann sank auch sie selbst, wie sie an der Bahre gekniet hatte, seitlich auf die Brust des Toten nieder.
Mit weitgeöffneten Augen erblickte sie noch am Fußende der Bahre einen hageren Mann in braunem Mantel, eine schwärmerische Gestalt, die wie ein Büßer aussah, und die sie für einen der entsagenden Brüder Milkarts hielt.
In Todesqual plötzlich von bangen Zweifeln heimgesucht, ob ihre Liebe nicht ausgelöscht sei für immer, hob sie noch einmal das Haupt, den flehenden Blick auf die wunderbare Erscheinung gerichtet. Angstvoll entrang sich ihrer schweratmenden Brust die Frage, ob sie sie auch wirklich wiederfinden würde und wo – ihn und ihr Kind?
Und der Feuerhüter, oder was er sonst sein mochte, nickte ihr Trost und Gewißheit zu, indem er, einen Ausdruck von Verzücktheit in den Augen, die Hand gegen Eschmuns Gestirn emporhob: »Da, wo die ewigen Flammen lodern!«
Da fiel Nanais Haupt auf die Brust des Toten zurück. Ein beglücktes Lächeln auf den bleich gewordenen Lippen, hatte sie ihren Geist aufgegeben.
*