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Innerhalb der Mauern des Kothon spielten sich inzwischen herzzerreißende Auftritte ab.
Die Behörde hatte den Zutritt zu den Kaidämmen und steinernen Staden des Kriegshafens den Verwandten und Angehörigen der Geiseln nicht wohl untersagen können, den eigentlichen Anlandeplatz jedoch, wo die Fahrzeuge vor Anker lagen, in weitem Halbkreis durch eine doppelreihige Kette schwergerüsteter Mannschaften absperren lassen. Schon diese Maßregel, die nach Zwang und Gewalt aussah, erweckte Verstimmung unter den wohl tausend und mehr Anwesenden, die sich eingefunden hatten, um von den Scheidenden Abschied zu nehmen.
Es war eine erlesene, den vornehmsten Kreisen der Stadt angehörende Versammlung, die dem Eintreffen des Zuges von der Bosra her entgegenharrte, Frauen und Männer. Und unter diesen, den Jugendfreunden und Genossen, Vätern, Brüdern oder sonstigen männlichen Blutsverwandten der auszuliefernden Jünglinge, befand sich mancher, der schon von vornherein die Entschlüsse der derzeitigen Machthaber mißbilligte, die Politik, die sich hier auswirkte, für einen Schlag ins Wasser hielt und nur aus Gemeinsinn, Ratlosigkeit oder Vorsicht es bis dahin vermieden hatte, seine Meinung offen auszusprechen.
In ihnen kochte jetzt innerliche Wut auf, als sie die Lanzenträger erblickten, deren Helme, Panzer und Schilde in der Sonne blitzten. Denn worin sollte die Bestimmung dieses kriegsmäßigen Aufgebots bestehen? War es beauftragt, ihnen die Ausübung der natürlichen verwandtschaftlichen Rechte zu verwehren? Sollte es sie daran hindern wollen, ihre Lieben bis an die steinernen Landungsbuhnen zu begleiten und ihnen noch über den Schiffsbord hinweg ein letztes Mal die Hand zu drücken?
Ithobaal, ein stattlicher und gepflegt aussehender Adelsbürger in der Blüte der Mannesjahre, trat unter seine Freunde und sagte mit zusammengezogenen Brauen: »Was denkt ihr davon? Leben wir noch in einer Republik?«
»Mitnichten! Denn eine Republik setzt Gemeinsinn voraus,« entgegnete ihm anzüglich einer seiner Standesgenossen, der Bostar hieß und als Spötter und scharfer Geist gefürchtet war. Und ohne scheinbar einen Bestimmten zu meinen, fügte er leichten Tones hinzu: »Wo es Bürger gibt, die, um ihre Geschäfte nicht zu vernachlässigen, leitende Stellen ablehnen und sich nicht einmal in die Ratskammer wählen lassen, da muß es ja schließlich von selbst dahin kommen, daß eine Koterie die Alleinherrschaft ausübt.«
»Öffentliche Wirksamkeit ist nicht jedermanns Sache,« bemerkte Ithobaal, sich getroffen fühlend.
»Um so mehr ist es von jeher Sache derer gewesen, die am Ruder sind, nur an ihren eigenen Vorteil zu denken.«
»Eine Regierung, dünkt mich, sollte dem allgemeinen Besten dienen?«
»Das allgemeine Beste hat, wie jener seltsame Gott, den es in Rom geben soll, zwei Gesichter. Das eine blickt aufs Meer hinaus, das andre nach Libyen hinüber. Wenn die Handelsschaft dem Großgrundbesitz die Vertretung ihrer wichtigsten Angelegenheiten überläßt, so darf sie sich nicht darüber wundern, daß die Schiffshäuser leer stehen.«
Bostar wies mit der Hand auf den Hafen hinaus, dessen ungeheures kreisrundes Becken von Baulichkeiten umringt und fast seiner ganzen Ausdehnung nach eingesäumt war. Hunderte aus Quadermauern gefügte Dockrinnen schnitten in seinen Rand, durchwegs von je zwei vorspringenden ionischen Säulen flankiert und so hoch überdacht, daß in jeder ein Schlachtschiff von fünf Ruderreihen übereinander mit aufgerichteten Masten und Takelwerk bequem hätte Platz finden können. Aber das tiefgrüne, weil von den Dächern beschattete Wasser, das diese ausgemauerten Behälter füllte, schaukelte keine Schiffe mehr. Müßig leckten die Wellen an den steinernen Futtermauern hinauf, keine Pentere oder Triere streckte drohend das kartchadische Einhorn des Vorderstevens durch die Öffnung der höhlenartig gähnenden Räume. Ihre Bedachungen sahen verwahrlost aus, und die zugehörigen Schuppen und hochgetürmten Speicher, die sich knapp hinter jedem Schiffshaus aneinanderdrängten, einst dazu bestimmt und geräumig genug, die gesamte Ausrüstung des betreffenden Kriegsschiffes zu bergen, glichen verfallenden Ruinen. Sogar der Admiralspalast auf der kleinen Insel inmitten des Kothon, in der Glanzzeit der Stadt das Herz und Hirn des gesamten kartchadischen Seewesens und damals der Ausgangspunkt einer rastlosen Betriebsamkeit, machte jetzt einen ausgestorbenen, halb und halb unbewohnten Eindruck.
*
Wie zur Wehmut gestimmt oder beschämt über dieses Bild verblichener Herrlichkeit, hatte Ithobaal das Haupt gesenkt. Er gehörte einem der ältesten adligen Handelsgeschlechter an, das seine Ahnenreihe bis auf die sagenhafte Abstammung aus Tyros zurückführte. Aber er teilte das Los der Enkel. Seinen Geschäften, die aus Beharrungsvermögen noch immer eine stattliche Ausdehnung beibehalten hatten, stand er mit Gewissenhaftigkeit und Umsicht vor; zu unerprobten selbständigen Unternehmungen jedoch fehlte es ihm an Entschlossenheit. Und gar die Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen, um dadurch die Vorbedingungen für einen neuen Aufschwung des Handelsgeistes zu schaffen – das lag ihm nun einmal ganz und gar nicht. Dafür war er eine viel zu liebenswürdige Natur, nicht streitbar genug, vielleicht auch zu weichlich. Er liebte die Zurückgezogenheit des Hauses und der Familie, wo sein Wille unangefochten blieb und es keine Widerstände zu überwinden gab. Und nicht minder liebte er ein zwar niemals ausschweifendes, aber immerhin genießerisches, durch Kunst und Reichtum geschmücktes Leben und ließ sich nicht gerne in seinen fried- und frohseligen Gewohnheiten stören.
»Die staatliche Haltung nach außen,« sagte er jetzt, »haben die leitenden Männer zu verantworten. Es wäre vermessen, wollte ein Uneingeweihter ihnen in die Zügel fallen. Auch ich habe, wie viele von uns, ohne jeden Einspruch einen Sohn hingegeben. Eine solche vaterländische Bereitwilligkeit hätte meines Erachtens den Bruttier und seine Leute darüber belehren sollen, daß es keines Wacheaufgebots bedarf, uns die Haltung vorzuschreiben, die unser würdig ist. Wo bleiben die überkommenen Freiheiten? Oder ist es ein Pöbelhaufe, der sich hier versammelt hat?«
Alle stimmten ihm bei. Grollend tauschten sie ihre Meinungen aus, mit feindseligen Blicken die Gewaffneten messend, die unschuldig daran waren, daß sie hier Wache stehen mußten, und sich gelangweilt auf ihre Speere lehnten. Der wachsende Tag machte ihnen heiß, sie wußten nicht recht, was sie eigentlich mit sich anfangen sollten, und fühlten sich befangen dieser erlesenen Versammlung gegenüber. Aus dunkelfarbigen afrikanischen Volksstämmen angeworben, hatten diese Söldner schon mit der Muttermilch eine schakalhafte Unterwürfigkeit vor jedem hochgebornen Kartchader eingesogen. Und gar vor den hellen Frauen, in deren Wuchs, Haltung und Schönheit sie Merkmale von Göttinnen erblickten, empfanden sie wahrhaft Ehrfurcht und eine schier heilige Scheu.
Denn der größere Teil der Wartenden gehörte nicht dem männlichen Geschlechte an, bestand vielmehr aus vornehmen Frauen, die allen Schmuck und alle Farben abgelegt und sich fast durchwegs in weiße Trauerkleider gehüllt hatten. Es waren die Mütter, Schwestern, Bräute jener hoffnungsvollen jungen Leute, die leichtfertige Willkür – anders konnte weibliches Empfinden es sich nicht zurechtlegen – ihren zärtlichen Armen entreißen wollte, um sie dem Elend der Sklaverei, wo nicht gar dem Tode preiszugeben.
Ihrem natürlichen Gefühle schienen die Winkelzüge einer Staatskunst, die in die Rechte ihres liebenden Herzens einzugreifen wagte, verächtlich. Ebenso unfähig wie ungeneigt, in der entehrenden Nachgiebigkeit, die ein solches Opfer forderte, etwas wie Erleuchtung zu erblicken, sahen sie darin nichts als einen unbegreiflichen Rückfall in die grausen Sitten barbarischer Ahnen. Denn noch lebte im Volk die Überlieferung an schaudervolles Wüten gegen das eigene Blut fort, durch das vergangene Geschlechter ihre Hände befleckt hatten, an Menschenopfer in Augenblicken der Gefahr abergläubischen Wahnvorstellungen dargebracht. Nicht viel mehr als anderthalb hundert Jahre waren verstrichen, seit die Stadt – damals, als Agathokles, der Tyrann von Syrakus, sie mit Not und Verderben bedrohte – dreihundert ihrer Kinder dem Feuerrachen Baal-Molochs überantwortet hatte.
Und war es denn im Grunde etwas so viel davon Verschiedenes, was jetzt geschehen sollte? Gab man dem Götzen nunmehr auch einen anderen Namen, Blutopfer galt es auch hier. Und entweihte man diesmal wenigstens nicht die heilige Macht des Feuers, stieß man die dreihundert nicht unmittelbar in die Glut, sondern verurteilte sie zu einem langsameren und vielleicht nur um so qualvolleren Hinsterben, indem man sie um schöne Redensarten verkaufte und wehrlos der Gewalt unerbittlicher Feinde auslieferte – einem Wahnglauben hingeopfert wurden auch sie, Kinder vom Blute Kart-Chadasts wie damals, ebenso sinnlos, ebenso zwecklos, ebenso grausam wie damals denen entrissen, die sie geboren. So fühlten die Mütter. Und da jedem Weibe etwas von Mütterlichkeit innewohnt, so unterschieden auch die Gefühle der Schwestern und Bräute sich nicht wesentlich von den ihrigen.
*
So unglücklich aber jede einzelne sich dünkte, in einer der Schönsten von ihnen, die hoch aufgerichtet und starr wie eine Bildsäule in ihrer Mitte stand, achteten und ehrten sie mit geheimem Grauen die Erscheinung gewordene Wandelbarkeit des Menschenschicksals selbst.
Denn es war noch nicht viel Zeit verstrichen, daß diese Gestalt, Gattin des ersten und angesehensten Würdenträgers der Republik, Mutter einer blühenden Kinderschar, in Reichtum und Ehren scheinbar gesichert und auf dem überschauenden Gipfel des Glückes angelangt, die Augen aller auf sich gezogen hatte, als eine vielbeneidete Frau, der nichts versagt geblieben, was das Leben Wünschenswertes zu bieten vermag.
Gab es wirklich eine Rache der Götter, wie die Bewohner der Griechenstädte an den benachbarten Küsten, mit denen man rege Beziehungen unterhielt, in ihren bunten und oft so launischen Sagen es sich auslegten? Gab es ein Verhängnis noch über den Göttern und noch mächtiger und unerbittlicher als diese selbst?
Einem kartchadischen Herzen, das die Sonne, die Erde, den Himmel, den Mond, die Wolken, den Sturm und die Sterne als wechselnde Erscheinungsformen der unbekannten Gottheit verehrte, wollte kleinliche Bosheit und Rachsucht als innewohnende Beschaffenheit erfundener Göttergestalten eher eine Lästerung erscheinen als befriedigende Aufklärung gewähren. Daß es solches Schicksal geben konnte, wie Allisat es erfahren – für dieses Rätsel fand sich nur die eine Lösung: daß Segen und Fluch gleichwie Werden und Vergehen, Auf- und Niedergang Auswirkungen eines verborgenen Willens seien, der sich nur mit naturhaftem Geschehen, keinesfalls mit menschlichem Wollen vergleichen ließ.
Eine Unglückliche aber blieb sie auf alle Fälle, wie immer man ihren Sturz von der Höhe erklären mochte, diese hochaufgerichtete, noch in den Erschütterungen des Schmerzes stolz gefaßte Frau im weißen Trauerkleide, die dort inmitten der anderen Frauen wartend stand.
Der Gatte verbannt, geächtet, seiner Würden entkleidet, ja zum Tode verurteilt und vielleicht einer um römische Silberlinge gedungenen Mörderhand bereits zum Opfer gefallen! Sein Andenken entehrt, sein Besitz von Staats wegen eingezogen, die kinderreiche Familie in Bedrängnis und Dürftigkeit! Sein ältester Sohn, mehr Knabe als Jüngling, im numidischen Feldzug gefallen, der zweite, wirklich noch Knabe, beinahe Kind, durch nicht ganz lautere Machenschaften der Losverteiler, die sich wohl das Lob des Himilko Phameas und seiner Partei damit zu verdienen hofften, nun mit dazu ausersehen, den Römern in die Hände geliefert zu werden! Würden diese auch nur einen Augenblick zögern, den Unmündigen entgelten zu lassen, was sie seinem Vater nicht hatten anhaben können?
Oh, sie kannte die Römer, diese Frau und Mutter, haßte sie mit der ganzen Kraft ihrer Seele und würde sie hassen, solange noch ein Hauch von Atem in ihr wäre!
Denn Allisat war die Gattin jenes einst vielgefeierten, von seinem eignen Volk verleugneten Staatsmannes und Feldherrn, des früheren Schofeten, der entgegen dem Gebote Roms zum Krieg gegen die Numider gedrängt, diesen Krieg als Boëtharch geleitet und bis zur Erschöpfung aller Mittel, bis zur völligen Wehrlosigkeit erbittert durchgefochten hatte. Sie war die Gattin Hasdrubals, den man den Sturmbock oder Widder nannte.
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Vom Hafeneingang her ertönte ein langgezogenes Trompetenzeichen. Innerhalb des von Soldaten abgesperrten Raumes machte sich jetzt Bewegung bemerkbar.
Auf den fünf großen Schlachtschiffen, die dort vor Anker lagen, sah man Mannschaften in Tätigkeit treten. Taue wurden aufgewunden, Segel gesetzt, was noch an Land gewesen, eilte an Bord. Die dunkelfarbigen Rudersklaven, von denen viele müßig in der Sonne umhergelungert hatten, entsagten ihrer Beschaulichkeit und verschwanden im Bauch der Kolosse. Die Steuermänner traten an die Ruderpinnen, alles begab sich auf seinen Posten. Die Epibaten, wie man mit einem griechischen Wort die streitbaren Besatzungen der Kriegsschiffe zu benennen pflegte, ordneten sich auf Deck in Reih und Glied. Man sah ihre Waffen blitzen und kleinere Abteilungen beiderseits des Fallreeps Aufstellung nehmen.
Es gewährte einen stolzen Anblick, diese fünf gewaltigen Penteren, die an die Zeit der meerbeherrschenden Größe Kart-Chadasts erinnerten, seeklar machen zu sehen. Auf der tiefblauen Fläche des Kothon von wechselnden Böen geschaukelt, blähten sie im grellen Licht der Sonne die gehißten Rahsegel, über denen die granatblütenfarbige kartchadische Flagge wehte; sie schienen sich zu dehnen und zu recken und Luft einzuziehen wie Wettläufer vor Beginn des Rennens. Und allmählich begannen sie gleich Käfern, die erwachen, etwas wie spinnendürre Beine von sich zu strecken: die langen Stangen der Riemen, die nach und nach zum Vorschein kamen. Durch die unzähligen, in regelmäßigen Abständen angebrachten Ruderpforten, die ihre hohen Flanken durchlöcherten, streckten sie diese Spinnenbeine Reih' um Reihe hervor, immer längere und längere Stangen, bis zur fünften Reihe hinauf, die mit den längsten und weitest ausgreifenden Rudern versehen war. Und schließlich erkannte man in diesem, aus den Breitseiten der Schiffe herauswachsenden Gestänge etwas wie ein gigantisches Triebwerk von Flossen, das ihnen doch nicht eigentlich das Aussehen von Fischen, sondern eher von riesigen Tausendfüßlern verlieh, die sich im Schwimmen hätten versuchen wollen.
Und in anderer Hinsicht wieder glichen sie mehr ungeheuren Schwänen oder schwimmenden Drachen mit absonderlichen Köpfen. Denn wie die Sturmböcke, mit denen man Mauern zu berennen pflegte, einen ehernen Widderkopf, so trug jedes dieser Ungetüme am Vordersteven einen herausfordernd vorgestreckten, wie zum Stoß ausholenden Pferdeschädel mit vergoldetem Sporn, den grimmen Einhornkopf, mit dem die kartchadischen Seeleute einst so geübt gewesen waren, den Gegner zu rammen.
Ach, das Einhorn drohte jetzt keine Gefahr mehr! Und das Hochgefühl, das jedem guten Bürger beim Anblick der prächtigen Fahrzeuge die Brust schwellen konnte, schlug unfehlbar in Kleinmut um, sobald man bedachte, daß sie derzeit fast den gesamten Bestand der einst nach Hunderten solcher Schlachtschiffe zählenden kartchadischen Seemacht vorstellten. Und wohl gar Verzweiflung konnte einen erfassen, erinnerte man sich, aus welchem Anlaß dieser dürftige Überrest der einst gewaltigsten Flotte der Welt sich jetzt rüstete, in See zu stechen.
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Inzwischen war der Zug der Jünglinge im Kothon eingetroffen und wurde sogleich in den kriegsmäßig besetzten Raum geleitet. Aus dem ersten der Schiffe, das mit der Admiralsflagge geschmückt war, trat ihnen eine Gruppe von Männern entgegen, sie zu begrüßen und in Empfang zu nehmen: die Mitglieder der Gesandtschaft, aus der Partei der Romfreunde auserwählt, die Geiseln nach Lilybaion zu bringen, sie dort persönlich den römischen Konsuln zu übergeben und diese neuerdings der unbedingten Unterwerfung der Stadt zu versichern.
Während nun ein Beamter vorbereitete Abzeichen ausgab, die die Einteilung der Auszuliefernden in die einzelnen Penteren bestimmten, ließ es sich nicht verhindern, daß der eine oder andre von den Jünglingen seine Blicke über den freien Platz hinweg auf die Versammlung vornehmer Männer und Frauen richtete, die jenseits der Söldnerkette zusammengedrängt stand, und in der er seine Verwandten oder Freunde wußte. Ein Winken hinüber und herüber, mit Händen und Tüchern, hob an. Rufe erschollen aus der Schar der Mütter, Anrufungen des geliebten Namens, Anrufungen der Götter und Wehklagen.
Die Gesandten, die man fast für Römer hätte halten können, weil die meisten von ihnen ihre Gesinnung auch äußerlich durch Kleidung, Haartracht und Bartlosigkeit zur Schau trugen, legten sich ins Mittel. Sie untersagten ihren Schutzbefohlenen, mit ihren Angehörigen selbst auf Abstand in Verbindung zu treten. Ungeduldig drängten sie zur Einschiffung. Zu spät! Schon ergoß sich nach Durchbruch der Söldnerkette die Menschenwoge in den verbotenen Raum und wälzte sich, eine Springflut gewaltsam zurückgestauter Sehnsucht, unaufhaltsam gegen die Einschiffungsstelle.
Die Mütter voraus, zur Raserei aufgestachelte Löwinnen, denen man ihr Junges entreißt. Niemals hätte der Wahnsinn, den Machthabern in den Arm zu fallen, sich ihrer bemächtigt, wäre die Vergewaltigung nicht so weit getrieben worden, ihnen ein letztes Abschiednehmen zu versagen. Nun hielten sie sich in der Verblendung ihrer empörten Gefühle für so stark, daß sie Gewalt gegen Gewalt zu setzen wagten.
Vergebens stellten die Gesandten sich ihnen in den Weg. Vergebens riefen sie die Söldner auf, den Heranstürmenden mit vorgehaltenem Speer Einhalt zu gebieten. Die Söhne der Wüste, dem Natürlichen näher stehend als die politischen Parteigänger und von Ehrfurcht vor dem Tiertrieb der Mutterliebe gebannt, zögerten, gegen edle Frauen einzuschreiten, deren Auflehnung gegen die Obrigkeit ihr Schmerz zu rechtfertigen schien. Erst die herbeigerufenen und alsbald herbeieilenden Epibaten, aus der Hefe der Stadt ausgehoben, machten sich zum willfährigen Werkzeug der Verantwortlichen. Aber selbst sie schreckten davor zurück, Weibern gegenüber von den Waffen blutigen Gebrauch zu machen. Und das Drohen allein genügte nicht, die Rasenden zur Vernunft zu bekehren, die sich an ihre Söhne gehängt hatten und sie mit Gewalt von den Penteren fortzuzerren versuchten, oder sich auf die Schiffe selbst warfen, um die Landungsstege und Falltreppen ins Meer zu stoßen, die um Uferpflöcke gewundenen Haltetaue mit den Gegnern entrissenen Schwertern zu durchhauen, oder sonst zu zerstören, was die Einschiffung fördern konnte und ihnen erreichbar war.
Wie immer, wenn die Masse zur Tat schreitet, waltete auch hier kein einzelner Wille mehr, eine unverantwortliche Gesamtheit handelte unter dem Banne einer ansteckenden Geistesstörung. Unentschieden wogte in wilden Teilkämpfen etwas wie eine unblutige Schlacht auf und nieder, an der die Jünglinge ihrerseits keinen Anteil nahmen, noch nehmen konnten. Sie selbst waren ja gewissermaßen die Siegesbeute, um die der Kampf entbrannte. Schwankend zwischen der Pflicht, ihr gegebenes Wort einzulösen, und dem begreiflichen Wunsche, der Verzweiflung ihrer Mütter kein so weitgehendes Unverständnis entgegenzusetzen, daß es dem Mangel an Ehrfurcht und Kindesliebe gleichgekommen wäre, überließen sie sich meist willenlos jener Seite, die sich ihrer bemächtigt hatte.
Die Gesandten wieder mit ihren soldatischen Helfershelfern hatten einen schwierigen Stand. Der Zahl nach waren sie nicht überlegen. Die Spitze eines Schwertes oder einer Lanze in einen weiblichen Busen zu stoßen, hätte auch der Roheste sich gescheut. Der innere Antrieb der Gefühle, der den Angreifenden Stärke verlieh, fehlte ihnen. Und immer ist es leichter, etwas zu verhindern als durchzusetzen.
So schien es eine Zeitlang, als sollte es den Frauen wirklich glücken, die Oberhand zu gewinnen. Ihr aufrührerisches Vorgehen fand zwar nicht die Billigung der meisten anwesenden Adelsbürger. Aber was nützte es, daß diese, die Väter, männlichen Anverwandten und Freunde der Auszuliefernden, beunruhigt über den weiten Plan hin von Gruppe zu Gruppe eilten, mit erhobener Stimme zur Einsicht mahnend, den Gemeinsinn anrufend, an die der Staatsgewalt schuldige Achtung erinnernd? Die Einschiffung war dennoch ins Stocken geraten und für den Augenblick wenigstens unmöglich geworden. Manche Mutter, die sich ihren Sohn wiedererobert hatte, ihn abermals ihren Armen entrissen sah und sich unter Wehgeschrei neuerdings seiner bemächtigte, gab sich dem Wahn hin, daß ihre berechtigten Gefühle schließlich doch den Sieg über die staatlichen Rücksichten davontragen würden. Und indem das Hin- und Herschwanken des Erfolges die Hoffnungen und Leidenschaften immer aufs neue entfachte und höher und höher trieb, schwand mehr und mehr die Aussicht auf nahe bevorstehende Beruhigung.
Inzwischen hatte der Hipparch Melekpalas, der den Jünglingen von der Bosra her durch die Stadt das Geleite gegeben, mit den Seinen den vom Hafen nach dem Markt führenden Ausgang besetzt. Zornbebend beobachtete er vom Rücken seines Rosses aus die Vorgänge, die sich auf den Steinflözen der Hafendämme abspielten. Sein soldatisches Empfinden bäumte sich gegen die seines Erachtens zu weit gehende Milde, mit der man dort einer offenbar umstürzlerischen Bewegung begegnete. Daß von der Waffe kein Gebrauch gemacht wurde, dünkte ihn eine Entwürdigung seines Standes. Empörer blieb ihm Empörer, welchen Geschlechts immer.
Und er war entschlossen, einem etwaigen Sieg der Rechtswidrigkeit mindestens an der Torpforte des Kothon eine Grenze zu setzen.
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An einzelnen Stellen war es schließlich doch gelungen, die Mütter zu überwältigen, insbesondere der Sturm auf die Penteren selbst schien endgültig abgeschlagen.
Jene hoheitsvolle Frau indessen, die Gattin Hasdrubals, des Widders, stand von den Schiffen abseits noch in vollem Kampfe. Wie durch plötzliche Umnachtung in die Maske einer Furie umgewandelt, rang Allisat, das stolz duldende Leidensbild von eben vorhin, mit Matho, dem Führer der Gesandtschaft, dem einige Seesoldaten zu Hilfe gekommen waren, verzweifelt um ihr halbwüchsiges Söhnchen Adherbal. Mit der unvorherzusehenden Kraft, die die Leidenschaft leiht, gelang es ihr, den Knaben aus Männerfäusten zu befreien und an sich zu reißen. Seine zarte Gestalt, eine zweite Niobe, mit ihrem eignen Leibe schirmend, schleuderte sie den vor ihrer erhobenen Faust Zurückweichenden, die von andern herzustürzenden Frauen eingeschlossen und festgehalten wurden, wuchtige Worte entgegen, die wie eine öffentliche Anklage weithin über den Platz hallten und die Aufmerksamkeit vieler auf diese Stelle lenkten.
Frauen, Bürger, Schiffssoldaten eilten herbei, die Unglückliche umringend und ihren Worten lauschend.
Vergebens machte Matho Anstrengungen, sich aus der Menge loszuwinden. Vergebens schrie er den Epibaten seine Befehle zu, die Aufrührerin im Namen des Hohen Rates und der Regierung, als deren Bevollmächtigter er hier stehe, zu verhaften und in Fesseln zu schlagen. Niemand rührte einen Finger, niemand wagte es, die schöne Frau in ihrem Zorne anzutasten.
Und Matho mußte notgedrungen mit anhören, was die Gattin des verbannten Schofeten und Boëtharchen gegen ihn und den Klüngel der derzeitigen Machthaber, dem er angehörte, auf dem Herzen hatte, und was vielleicht als die Meinung der Gesamtheit schon früher und allgemein zum Durchbruch gekommen wäre, hätte Parteilist nicht gerade in dieser Frage eine Volksabstimmung, wie sie sonst bei wichtigen Anlässen üblich war, zu hintertreiben gewußt.
»Ihr Schwachsichtigen,« rief Allisat aus, »Verräter an der eignen Sache, Pächter der Besonnenheit, die genau besehen nichts als Feigheit ist – wie wollt ihr, daß im Erdenkreis sich noch einer finde, der euch nicht verachte? Den eignen Feldherrn, meinen erhabnen Gatten, der mit Löwenmut – was sag' ich? ist doch der Löwe mutig nur dem Schwächeren gegenüber! – nein, mit eines wahren Mannes Mut gegen die Feinde dieser Stadt kämpfte, habt ihr preisgegeben, um in hündischer Selbsterniedrigung vor Rom zu kriechen, das nichts so heiß ersehnt wie unsre Vernichtung! Zeigt mir doch den Erfolg eurer Staatsklugheit! Besteht er darin, daß Utik-Chah treulos wurde? Daß der Feind nun über einen eignen Hafen knapp vor unsren Toren verfügt? Daß auch andre phoinikische Städte zu den Römern übergingen? O Jammer, daß unsrem Volke das Gefühl der Zusammengehörigkeit fehlt, jene Liebe zu seiner Einheit, seiner Heimat, seiner Sprache, seinen Bräuchen und Göttern, die allen andern Völkern, selbst dem kleinsten und ruhmlosesten, eingeboren ist! Was hat die schmachvolle Streckung der Waffen uns genützt? Daß eure Gesandten, die die bedingungslose Unterwerfung auszusprechen, nach Rom kamen, die römischen Penteren und Legionen bereits auf dem Wege nach Sizilien fanden! Denn längst hatte der Senat den Krieg insgeheim beschlossen und gerüstet, bevor der erwünschte Anlaß sich fand, uns, die in Wahrheit Angegriffenen, heuchlerisch vor der Welt als die Angreifenden anzuklagen! Und dennoch wiegt ihr Verblendeten euch noch immer in Gedanken an Frieden und Völkerverbrüderung? Scheint euch dem Glauben hinzugeben, daß die gewaltige römische Streitmacht in Lilybaion der Einschiffung nach Utik-Chah nur zu dem Zwecke harrt, um Friedensfeste auf afrikanischem Boden mit uns zu feiern! Bemerkt nicht, oder wollt es wenigstens das Volk nicht merken lassen, daß die schriftliche Zusicherung unsres Eigentums und unsrer Selbständigkeit, mit der der Senat eure bedingungslose Unterwerfung beantwortete, in Wahrheit kein Sandkorn Sicherheit für uns enthält, während die ohne Kampf Siegreichen alles daraus herauslesen können, was ihrem Übermut belieben wird! Und mit Berufung auf eine solche Urkunde, die nichts als ein beschriebener Lappen ist, wollt ihr jetzt auch noch die blühende Jugend des punischen Volks als Bürgen unsrer Schande stellen, damit unsre Hände mit Sklavenketten gefesselt bleiben, wollen wir nicht gewärtigen, sie bei der geringsten Regung eines selbständigen Willens wie Schlachtvieh hingemordet zu sehen? Dagegen erhebe ich Einspruch im Namen der Götter Kart-Chadasts, die älter und ehrwürdiger sind als die Götter Roms! Einspruch im Namen Hasdrubals, den ihr verleugnet, und der doch einer der besten und größten Söhne seines Volkes ist! Feierlichen Einspruch auch im eigenen Namen als Tochter dieser Stadt, als Frau, als Gattin und als Mutter! Und niemals, solange noch ein Funken Leben in mir ist, werde ich dulden, daß ihr dieses mein Kind ans Messer liefert, bevor ich nicht die Stimme Hasdrubals, meines Herrn, sprechen höre: Laß ihn ziehen, es ist mein Wille, daß er geopfert werde!«
In jeder Mutter Brust rissen ihre flammenden Worte die blutenden Wunden noch weiter auf, so daß ein verzweifeltes Weinen und Wehklagen die Luft erschütterte. Aber auch viele Männer, die zugehört hatten, sogar Römischgesinnte und Soldaten, standen unter jenem starken Eindruck, den nur die Wahrheit zurückläßt. Und mancher stimmte der mutigen Frau sogar offen und unverhohlen bei. Stimmen riefen durcheinander: Die Sache müsse noch einmal vor den Hohen Rat! Ohne Volksbefragung könnten so wichtige Entscheidungen nicht getroffen werden! Es sei auch gar nicht nötig, sich zu übereilen, und gefährlich, einem vielleicht vorschnell gefaßten Beschluß die Ausführung, die nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, sogleich auf dem Fuße folgen zu lassen. Indessen kam es zunächst lediglich darauf an, wie Matho sich hiezu stellen, und ob er seine Befehle rückgängig machen würde. Und da dieser, wieder im Besitze seiner Bewegungsfreiheit, finster und verschlossen seitab stand und zu überlegen schien, so verstummten allmählich die andern.
Man wollte ihm Gelegenheit bieten, sich zu äußern, man blickte gespannt nach ihm hinüber, und völlige Stille trat ein.
Da klang die Stimme des Knaben, den Allisat noch immer an sich gedrückt hielt: »Mutter! Der Vater hat mir oft gesagt: Kein Opfer darf dir zu groß sein, wenn es das Wohl des Vaterlands gilt. Und selbst zu sterben mußt du dafür bereit sein!«
Eine Bewegung des Staunens und der Ergriffenheit ging durch die Ansammlung von Menschen, die Zeugen dieses Auftritts waren. Allisats Arme aber sanken kraftlos nieder und gaben den Knaben frei.
»Führt ihn nach den Penteren!« befahl Matho.
Und die Epibaten gehorchten.
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Während dieser Ereignisse lief ein junges Mädchen, wie von der Nacht verfolgt, weil eine Wolke schwarzen Haares hinter ihm drein flatterte, geängstigt in der Nähe der Schiffe umher und rief nach seiner Mutter. Das noch kurze, nach ägyptischer Art hängende Kleid, das sie trug, war weiß wie die Kleidung der trauernden Mütter und ließ vermuten, daß sie in Begleitung einer dieser vornehmen Frauen aus den Edelgeschlechtern hierher gekommen sei.
Knapp am Landungsplatz, auf einem der starken Uferpflöcke, um die man das Haltetau der anlegenden Schiffe zu schlingen pflegte, hatte ein Jüngling von erlesener Schönheit sich niedergelassen und sah, den Kopf in die Hand gestützt, ernst und nachdenklich ins Gewühl der Menschen, unbeteiligt an den leidenschaftlichen Auftritten, die sich vor seinen Augen abspielten. Er gewahrte die ratlos Umherirrende, die in seiner Nähe vorbeikam, und winkte sie zu sich heran.
»Hast du deine Mutter verloren, Mädchen?«
»Als alles gegen die Schiffe stürmte, wurde ich von ihrer Seite gedrängt.«
»Bleib' hier stehen,« riet er, »und warte, bis die Menge sich verlaufen hat. Du wirst nur herumgestoßen im Gewühl und erspähst die Gesuchte vielleicht eher aus einiger Entfernung als mitten im Menschenschwarm.«
Gehorsam stellte sie sich an seine Seite und wartete. Er betrachtete sie mit verstohlenen Blicken, und eine leise Wehmut schlich sich in sein Herz. Denn er sann nach, in welchem fernen Lande er wohl weilen würde, wenn dieses Mädchen mannbar geworden wäre. Und es tat ihm weh, daß er sie dann nicht würde sehen können.
Er fragte: »Hast du einem meiner Schicksalsgenossen das Geleit gegeben?«
»Bist du auch einer von den Geiseln, die eingeschifft werden sollen?« fragte sie dagegen. Und als er das Haupt neigte, sagte sie mitleiderfüllt: »Und du hast keine Mutter, die sich deiner annimmt und dich zurückhält?«
So wahr, so innig, so teilnehmend kam die Frage über ihre Lippen, daß es ihn, den vom Schicksal nicht Verwöhnten, wohltuend berührte. Er dachte: Es wohnt schon eine echte Weibesseele in diesem halben Kinde.
»Ich habe keine Mutter mehr,« sagte er traurig. »Und auch keinen Vater, keinen Bruder, keine Schwester, keine Braut. Aber selbst wenn ich all diese Lieben hätte, ich würde sie dennoch bitten, mich nicht zurückzuhalten.«
»Gehst du denn gern in die Gefangenschaft?« wunderte sie sich.
»Nicht doch! Ich würde lieber mein Leben kämpfend in die Schanze schlagen. Aber sieh, wenn jeder einzelne täte, wie er wollte, wo bliebe dann der Wille des Ganzen?«
»Muß der schließlich nicht doch wieder der Wille eines einzelnen sein?« wendete sie ein.
»Gewiß! Aber er wird zum Willen der Gesamtheit, indem die andern ihn als den ihrigen anerkennen, auch wenn er es im Grunde gar nicht wäre. Weißt du, warum Rom so groß geworden ist? Weil in Augenblicken der Gefahr jeder nur mehr die Meinung der Konsuln hat. Weißt du, warum Kart-Chadast so tief herabgesunken ist? Weil selbst damals, als Hannibal es zum Gipfel der Macht emporhob, ein jeder hartnäckig an seiner eigenen Meinung festhielt.«
»Ein Mann soll aber doch auch an seiner Überzeugung festhalten, sagt mein Vater?«
»Im Geist und im Wesen! Indem er beides in den Dienst des Lebens stellt, braucht er sich darum nicht selbst zu verlieren. Der Baum, für sich, das ist die Gestalt, die dauernd im Reich der Wahrheit schwebt. Die Bäume der Wirklichkeit hingegen entstehen und vergehen, ihrer viele zusammen erst machen den Wald aus. So gehört das Bild seines höheren Selbst, das jeder Mensch in sich trägt, der Ewigkeit und soll unberührt bleiben wie die Altäre der Ahnen. Und doch ist es auch in die Zeit gestellt. Die Gemeinschaft, von der wir alles empfangen, was uns erhält und schützt, fordert unsre Hingabe. Diese erst ermöglicht ein Zusammenleben. Diese erst erhöht uns, indem sie uns in eine menschenwürdige Gesamtheit reiht, zum wahren Menschentum. Denn ob auch jedem Altar seine Flamme entzündet ist, die rein und in verborgener Stille brennt und leuchtet, so sind sie doch alle wesensgleich und ein und dasselbe: Feuer! ... Aber das kannst du noch nicht verstehen, Mädchen,« schloß er, sich besinnend. »Erst Erleben und Erfahren öffnet die Augen dafür.«
»Ungefähr fühl' ich's doch,« sagte sie, »wie du es meinst, so unerfahren ich bin. Schon manchmal dachte ich darüber nach, was für ein Wunder dies sei: daß alle Opferflammen, die auf unzähligen Altären lodern und nichts voneinander wissen, doch im Grunde das gleiche sind. Ungreifbar und geheimnisvoll wie ein Geist, jede für sich Ursprung der Wärme und des Lichts, bleiben sie in ihrer Vielheit dennoch ein Ganzes, tausendfach geteilt und immer doch eins.«
»Und eins auch mit den feurigen Strahlen, die Eschmun-Milkarts Gestirn zur Erde sendet! Eins auch mit dem Feuer, das in deiner Brust lodert und in meiner! Wie arm ist jeder für sich allein, der nichts von dieser Einheit ahnt! Nur wo die Flammen der vielen zu einem einzigen, großen Feuer der Liebe und des Opfers zusammenschlagen, durchbricht der einzelne seine Einsamkeit. Freudig vermählt er seine Seele dem Urquell aller Wärme und des Lichts. Und dieses Feuer ist heilig, wie jenes ewige Feuer, das seit unvordenklichen Zeiten im finstern Gruftbau unter dem Tempel Eschmuns gehütet wird. Unsre Vorfahren schändeten es, die Feuergrube damit in Brand steckend, die die unglücklichen Opfer Baal Molochs verschlang. An uns ist es, es doppelt zu heiligen, indem wir es als Sinnbild des Unvergänglichen verehren, das jeden Menschen im Volksgenossen sich selbst erkennen läßt. So gewinnt er, indem er sich hingibt, wie durch ein Wunder sich wieder zurück. Kein sinnlos dumpfes Molochs-Opfer ist es, das er darbringt. Ein freigewählter Flammentod des eigenen Willens, der sich im erhabenen Lodern aller und für alle verzehrt. Ein reines, großherziges, beseligendes Verbrennen zum Preis der Gottheit, die ihr verborgenstes Wesen im alles durchdringenden Hauch des Feuers offenbart ... Ein solches Leben möchte ich leben! Darum, Mädchen, ist es, daß ich sage: Niemand soll mich daran hindern; das Joch der Gefangenschaft auf mich zu nehmen.«
»So sollten freilich wir alle denken,« sagte sie; »aber es ist hart, daß Adherbal fort muß. Meine Mutter würde sich durch deine Worte nicht abhalten lassen, Einspruch dagegen zu erheben.«
»Wer ist Adherbal?«
»Mein Bruder. Es tut mir bitter leid um ihn. Aber fast ebenso leid tut es mir um dich. So wenig ich von dir weiß – die Art, wie du sprichst, läßt mich ahnen, daß die Stadt ärmer wird, indem sie dich hingibt. Und stünde es in meiner Macht, ich würde mit Freuden mein Liebstes opfern, dich vor der Auslieferung an die Römer zu bewahren.«
»Was ist dein Liebstes?« fragte er lächelnd.
Ohne sich lange zu bedenken, antwortete sie: »Mein mauretanisches Pferdchen! Es läuft dir mit einem Vogel Strauß um die Wette.«
»Ich bin stolz, so hoch in deiner Schätzung zu stehen,« sagte er mit leichtem Spott, »daß du sogar dein mauretanisches Pferdchen um mich hingeben würdest.«
Da errötete sie über und über und stammelte verwirrt: »Verzeih mir, es war kindisch, was ich da sagte! Ich würde natürlich noch viel mehr um dich hingeben. Ich weiß nicht, wie mir gerade das Pferdchen in den Sinn kam ... In Wahrheit besitze ich es nicht einmal mehr,« gestand sie betrübt. »Man hat uns ja alles genommen, wir sind arm geworden.«
»Wie heißt du?« fragte er.
»Ellot. Und du?«
»Hanno ... Mehr darfst du nicht fragen. Das Geschlecht, dessen Sproß ich bin, führt einen Namen, den man nicht mehr laut aussprechen darf in Kart-Chadast, ohne Gefahr, staatsfeindlicher Gesinnung verdächtig zu werden. Aber auch den Namen Ellot hörte ich von einem Manne nennen, der bei den jetzt Regierenden nicht in Gnaden steht. Du hast eine Namensschwester aus hohem Stamme, Mädchen. Denn es war der Boëtharch, unter dem ich in der Heiligen Schar gegen die Numider kämpfte, Hasdrubal, der Widder, der im Zelte, in süßen Erinnerungen schwelgend, manchmal von einer kleinen Ellot sprach, die er sein Lieblingstöchterchen nannte.«
»Meinen Schwestern ist Unrecht geschehen,« sagte sie, »wenn Hasdrubal jene Ellot seine Lieblingstochter nannte. Konnte er doch niemand sonst als mich selbst damit gemeint haben. Denn ich bin Ellot, die Tochter Hasdrubals, des Widders.«
Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung der Hand seine dunklen Locken aus der Stirn streichend, hatte Hanno sich ihr voll zugewendet. Ein Strahl der Freude erhellte sein Antlitz.
»So grüße ich in dir, Ellot, das Blut eines Mannes, den ich als einen der Größten unsres Volkes verehre!« Und doppelt danke ich dir nun, daß du es mir so gut meinst! Denn womit habe ich es verdient, daß du sogar ein Opfer nicht scheuen würdest, ja, dein Liebstes hingeben möchtest ...« Er hielt inne, ein Lächeln wollte sich auf seine Lippen drängen, er unterdrückte es und fragte, wieder ernst geworden: »Man hat Hasdrubals gesamtes Hab und Gut von Staats wegen eingezogen?«
»Nun dachtest du wieder an das mauretanische Pferdchen!« sagte sie aufrichtig bekümmert und wurde abermals rot. »Es ist ein Jammer, wie rasch einem unüberlegten Ding, wie ich es bin, etwas Törichtes über die Lippen gleitet, und wie lang es einem dann anhängt!«
»Nicht doch! Halte mich nicht für spottlustig!« bat er. »Du ahnst nicht, wie sehr es mich beglückt, daß du so warmen Anteil an meinem Schicksal nimmst.«
»Und es ist mir auch wirklich ernst damit!« beteuerte sie. »Wenn ich sagte, ich würde gern mein Liebstes hingeben, könnt' ich dich aus Römerfesseln lösen, so meine ich es auch in Wahrheit! Denn du siehst nicht aus wie einer, dem die Knechtschaft eine leichte Bürde sein wird.«
Er aber schien wie getröstet und gehoben, sein Haupt von himmlischem Glanz umflossen.
»Leicht oder schwer – die Götter Kart-Chadasts spielen nicht wie die der Römer mit dem Schicksal der Menschen. Ich weiß, daß ich wie Gras und Blume und Falter und Vogel aus dem Lichte gezeugt bin, das den Himmel durchflutet, und aus der Erde geboren, die uns mit ihren Früchten nährt. Und eines Tages werde ich dahin zurückkehren, woher ich kam, zur Erde und zum Licht. Ich bin älter als du und doch noch jung. Schon daß die Sonne leuchtet, erfüllt mich mit Glück und Frohsinn. Und manchmal, wenn ich bloß das Meer rauschen höre, meine ich, das Herz ginge mir über, weil es soviel Schönheit gibt in der Welt. Ich habe sie tausendfach erlebt, obgleich ich das Mannesalter noch nicht erreichte, und wäre dankbar für mein Leben, hätte es auch nur einen einzigen Tag gewährt. Keine Gewalt der Erde, nichts kann mir dieses heiße Glück rauben. Es begleitet mich in die Gefangenschaft, und wenn ich einmal zurückkehren sollte, so will ich dich aufsuchen und dir erzählen, wie ich sie ertrug. Bin ich dann ein anderer geworden, ein Gebrochener und Verdrossener, in dem die Flamme erloschen ist, die mich heute durchglüht, so wollen wir gemeinsam darüber weinen, daß ich nicht früher gestorben bin. Kehre ich aber wieder als der, der ich war, dann wollen wir uns dieser Stunde erinnern und dem Geist des Lebens danken, der mich aufrecht hielt, und dessen geheimnisvolle Macht es vielleicht gewesen ist, die uns heute zusammenführte. Wie einen letzten teuren Gruß aus der Heimat nehme ich dein Bild mit mir in die Fremde. Im verborgenen Altar meines Herzens bleibt es aufgestellt, immer wird ein Licht vor ihm brennen, und wenn ich einmal Gefahr laufen sollte zu verzagen, so will ich zu ihm beten.«
»Und ich werde oft daran denken, wie es dir wohl ergehen mag. So oft ich die jungfräuliche Tanit über dem Meere aufsteigen sehe, werde ich an dich denken. Und dann will ich mich von ihr, der ewig Wechselnden und sich Erneuernden, daran erinnern lassen, daß es nicht nur ein Abschiednehmen gibt, sondern auch ein Wiedersehen!«
*
Die beiden jungen Menschenkinder hatten in ihrer Versunkenheit der Vorgänge fast vergessen, die sich in ihrer Umgebung abspielten. Jetzt wurden sie durch Trompetenrufe aufgeschreckt, die von Bord der nahen Penteren erschollen. Die starke Bewegung um die Anlandestellen und der Strom von Gestalten, der sich über die wiederhergestellten Fallbrücken aufs Deck der Fahrzeuge ergoß, belehrte sie darüber, daß die Einschiffung in Gang gekommen war.
Die Menge auf den entfernteren Hafenstaden hatte sich gelichtet. Die meisten der Angehörigen schienen den Widerstand als fruchtlos aufgegeben und sich ins Unvermeidliche gefügt zu haben. Man sah ganze Züge vornehmer Frauen und Männer mit gesenkten Häuptern sich gegen das Ausgangstor des Kothon bewegen. Nur einzelne von den Müttern waren ihren Söhnen bis an die steinernen Uferbuhnen gefolgt. Nach den letzten verzweifelten Umarmungen überließen sie sich nun zügellos ihrem Schmerz, indem sie sich zu Boden warfen, ihre Kleider zerrissen und die Brüste blutig schlugen, an denen sie einst die Kinder gesäugt, die rohe Gewalt ihnen jetzt raubte.
Ein Knabe, von Epibaten geleitet, der sich dem Fallreep einer der Penteren näherte, bog plötzlich ab, unweit seines Weges hatte er Ellot erblickt.
Ungestüm fiel er über die Schwester her und umhalste sie stürmisch, indem er sie mit Liebkosungen überhäufte und weinend Worte des Abschieds stammelte. Und ehe sie recht zur Besinnung gekommen war, hatte er sich wieder losgerissen und eilte dem Schiffe zu, das ihn aufzunehmen bestimmt war.
»Wo ist die Mutter?« rief das bestürzte Mädchen ihm nach.
»Vermutlich nach Hause gegangen!« gab er zurück. »Sie wähnte dich längst heimgekehrt.«
Damit verlor er sich im Schwarm der Jünglinge, die um die Schiffsbrücke drängten. Da kein Widerstand sich mehr entgegenstellte, befand binnen kurzem sich alles an Bord. An einzelnen Penteren wurden bereits die Falltreppen aufgezogen.
»Leb' wohl, Ellot!« rief Hanno, gewaltsam mit sich kämpfend, seinen Blick aus dem ihrigen zu lösen.
Tränen betauten ihre Wangen. War es der Bruder, den sie beweinte?
»Fahr' wohl, Hanno!«
Er beugte sich nieder, berührte ihre Stirn wie ein Heiligtum mit seinen Lippen und wendete sich ab. Mit der Schnelligkeit eines Läufers in der Rennbahn eilte er den Uferrand entlang über die Steinfliesen. Bald war er in derselben Pentere verschwunden, die auch Adherbal aufgenommen.
Sofort rasselte die Landungsbrücke hinter ihm in die Höhe.
In Ellots tränenumflorten Blicken schwankten die Schiffe mit jedem Zucken des Augenlids wie vom Sturm geschaukelt auf und nieder.
Als sie aber ihre Tränen getrocknet hatte, gewahrte sie, daß die Schiffe wirklich schon von den höhergehenden Wogen geschaukelt wurden, die sie spielend hochhoben und auf ihren starken Schultern hinaustrugen. Eine Pentere nach der andern hatte sich von der Mole gelöst und glitt in königlicher Haltung durchs Hafenbecken dahin. Die Hunderte von langen Spinnenbeinen begannen sich zu rühren und ruderten wie Flossen. Und nun setzte auch der dreigeteilte Rhythmus von Flöten und Pfeifen ein, der die Ruderbewegung regelte. Die beiden obersten Riemenreihen griffen am weitesten aus und taten nur einen einzigen Ruderschlag in derselben Zeit, in der die mittlere zwei und die beiden untersten ihrer vier machten. Und immer sangen und tuteten im Takt dazu die Flöten und Pfeifen ihre traurige, leiernde Weise ...
Und die weißen Segel plausterten sich wie Flügel von Schwänen, die sich treiben lassen. Und die granatblütenfarbigen Wimpel flatterten ...
Ellots aber bemächtigte sich ein tiefes Weh, wie sie es ihr junges Leben lang noch nie gekannt. Und dabei war ihr, als müßte sie die ganze Welt an ihr Herz ziehen.
Lange stand sie noch am Hafenbord und winkte mit einem Tuche.
Von allen Schiffen sah sie Abschiedsgrüße zurückwinken, mit Tüchern und Händen. Aber sie wußte nicht, ob ein Gruß auch ihr selbst galt, und welcher es hätte sein können. Denn sie war nicht die einzige, die den Penteren mit ihren Blicken folgte, auf allen Hafendämmen standen Leute, die ihnen nachwinkten. Und auch aus einzelnen Häusern der Stadt, soweit sie in ansteigenden Straßen lagen und über die Mauern hinwegsehen konnten, sogar von der Höhe der Bosra, wehten Tücher und Wimpel ...
Der Weg ins offene Meer tat sich erst am unteren Ende des langgestreckten und noch viel geräumigeren Handelshafens auf, den eine enge Wasserstraße mit dem fast kreisrunden Kriegshafen verband. Als die Schiffe den Kothon durchquert hatten und vor jenem Kanal anlangten, gab es noch einen kurzen Aufenthalt. Denn die Wasserstraße zwischen Kriegs- und Handelshafen war der ganzen Länge nach überdacht, um vom Meer her die Beobachtung von Schiffsbewegungen zu verhindern. Die Penteren mußten ihre Masten umlegen, um sie zu durchfahren.
Die Segel sanken nieder, langsam entschwand, nur von den Rudern getrieben, ein Schiff nach dem andern durch den eingedeckten Gang.
Und schließlich waren all die stolzen Schwäne verschwunden, und Ellot sah nichts mehr vor sich als die weite Fläche des Kothon.
Schwere, breite Wogen, vom Kiel der Schiffe aufgewühlt, wälzten sich langsam darüber hin und brandeten mit dumpfem Krachen an die Ufermauern. Aber aus dem ruhelosen Wasser blaute der ewig gleiche, stille, wolkenlose afrikanische Himmel ...
So spiegelte sich in Ellots aufgewühlter Seele ein Himmel, rein und ruhevoll.
*