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Die Sorglosigkeit der militärischen Oberleitung bezüglich der Vorgänge an der Ochsenzunge sollte sich rächen. Mit dem vorgeschrittenen Sommer kam ein Tag, wo die Einsicht erwachte.
Der Dammbau der Römer, den man, dem Beispiel des Widders folgend, nicht sonderlich beachtet hatte, war gleichsam über Nacht so weit gediehen, daß er sich wirklich schon der Hafeneinfahrt näherte. Neuer Schreck fuhr durch die gequälte Stadt. Niemand wußte, wer plötzlich die Entdeckung gemacht habe, aber einer erzählte es jetzt dem andern als feststehende Tatsache: noch ein, höchstens zwei Monate, so war der Hafen gesperrt! Kein Schiff konnte dann mehr hinein, keines mehr heraus! Das bedeutete die völlige Aushungerung. In letzter Zeit hatte Bithyas, der wackere Äthiopier, der treu bei der belagerten Stadt aushielt, von Nepheris aus Getreidesendungen auf weiten Umwegen an die Küste bringen und verladen lassen. Mehrere Schiffe hintereinander waren, als der Wind kräftig vom Meer gegen das Land blies, mit vollen Segeln losgefahren und hatten die Seesperre glücklich durchbrochen. Auch auf diese ebenso erwünschte wie im Verhältnis zum Bedarf spärliche Beihilfe würde man bald verzichten müssen, wenn das Einlaufen in den Hafen unmöglich würde. Die Lücke, die zwischen dem Damm und dem Dorn des Chomas noch klaffte, verengte sich von Tag zu Tag. Schon jetzt blieb es zweifelhaft, ob ein Schiff noch glatt würde hindurchsegeln können.
Bestürzt lief alles, was Beine hatte, auf die Mauern, um sich durch den Augenschein zu überzeugen. Und jeder, dem es gelungen war, einen Blick auf die Ochsenzunge zu werfen, bestätigte die fürchterliche Wahrheit. Eine Niedergeschlagenheit sondergleichen bemächtigte sich der Bevölkerung. Stimmen wurden laut: eine so unliebsame Überraschung wäre unter jenem andern Hasdrubal, dem Numider, ausgeschlossen gewesen! Bomilkar, als er zufällig über den Marktplatz ging, wurde sogar von einer rasch sich sammelnden Menschenmenge verfolgt und mit Steinen beworfen, daß er sich in ein Haus flüchten mußte.
Der Widder, dem in Augenblicken der Gefahr manchmal alle guten Geister zur Seite zu stehen schienen, sandte Streifposten umher: man möge sich nicht beunruhigen! Bald würden die Römer einsehen lernen, wie zwecklos sie ihre Kräfte im Dammbau vergeudet hätten. Denn seine Pläne stünden fest und würden ihren Eifer zuschanden machen. Das Volk von Kart-Chadast möge ihm nur vertrauen, wie er dem Volk vertraue! In einmütigem Zusammenwirken, zu dem jeder das Seinige beizutragen berufen sei, werde man den Feind aufs Haupt schlagen und zwar früher, als irgendwer es ahnen könne!
Als daraufhin eine gewisse Beruhigung eingetreten und neue Hoffnung erwacht war, ließ er die gesamte Bevölkerung, Weiber und Kinder mit eingeschlossen, verzeichnen und in Arbeitsschichten einteilen. Und dann wurden sie gruppenweise in den Kriegshafen Kothon befohlen, aus dem unaufhörlich Tag und Nacht ein vielfaches Getöse von Klopfen und Hämmern scholl.
Beim Eintritt in den Kothon mußte jeder einen heiligen Eid schwören, niemand zu verraten, was er darin gesehen oder getan hätte, und mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Es zeugte für den Geist der Gemeinsamkeit, von dem unter dem Eindruck der äußersten Gefahr das punische Volk beseelt war, daß dem Feinde in der Tat kein Sterbenswort von dem bekannt wurde, was hinter den Mauern des Kothon vorging, obgleich doch fast täglich am Fischertor oder auf der Landenge kleine Scharmützel stattfanden, in denen gelegentlich der eine oder andere von den Verteidigern der Stadt in römische Gefangenschaft geriet.
Aber auch die Gefangenen, die dem Scipio vorgeführt wurden, und von denen er unter Versprechungen und Drohungen genaue Nachrichten über die Verhältnisse in der Stadt zu erpressen suchte, hielten Treue und verrieten nichts.
*
Hirom, der Schmied, war einer der ärgsten Lärmmacher im Kothon. Aus seiner Werkstatt stammten die ehernen Einhornköpfe am Vordersteven der fünf- und dreirudrigen Kriegsschiffe, von denen die letzten der Vollendung entgegengingen. Die meisten waren schon fertig und schwammen bereits im Wasser, trotzig die zum Rammen feindlicher Fahrzeuge bestimmten buntbemalten Tierköpfe mit der fürchterlichen Stoßwaffe aus den wiederhergestellten Schiffshäusern hervorstreckend, die den fast kreisrunden Kriegshafen umringten.
Eben hatte Hirom mit wuchtigen Hammerschlägen eins dieser Ungetüme festgemacht, da rief er zum hageren Elym hinauf, der es hoch oben auf dem Mast mit den Rahen zu tun hatte: »Sieh dir das Vieh einmal an! Die römische Pentere möcht' ich nicht sein, die diesen Spieß in den Bauch bekommt!«
Der lange Seiler kletterte herunter und stellte sich an seine Seite, mit sichtlicher Befriedigung das Werk des Freundes begutachtend.
»Ein grimmes Gesicht macht es,« sagte er vergnügt.
»Weil es sich ärgert, daß ihm sein Horn nicht vergoldet wird,« erklärte Hirom. »Seine Ahnen hatten goldene Hörner, aber das trägt es jetzt nicht mehr ... He, Jarbas!« rief er, »komm heran!«
Der Angerufene, der das Anstreichen zu besorgen hatte, näherte sich mit seinen Farbtöpfen und Pinseln.
»Was meinst du wohl, welche Farbe paßt zu dieser Fratze?«
»Ich stimme für blutrot,« sagte Jarbas. »Für mich ist heute ein Freudentag.«
Er machte sich sogleich an die Arbeit und begann das Einhorn blutrot anzustreichen.
»Steht ihm gut zu Gesicht,« bemerkte Hirom mit Wohlgefallen. Und dann fragte er: »Was ist dir denn Angenehmes vorgekommen?«
»Den Baga hat der Widder zu Tode peitschen lassen,« antwortete Jarbas, während er gelassen dem Einhorn Augen und Lefzen mit roter Farbe bestrich.
»Gleich zu Tode? Und warum denn?«
»Weil er Lebensmittel auf die Seite gebracht hat. Ist doch streng verboten, nicht wahr? Sein ganzes Haus war angefüllt, von oben bis unten. So hat er Wucher getrieben – der Schuft, der sich immer als Volksfreund aufspielte! ... Rote Ohren soll's auch haben,« sagte er, dem Einhorn die Ohren anstreichend.
»Eschmuns Fluch, ich hab' für den Baga nichts übrig. Aber gleich zu Tode peitschen –?«
»Ja, der Widder läßt nicht mit sich spaßen! Und er hat recht!«
Er wendete sich um. Ein langer Zug von Weibern und Kindern aus dem Volk kam eben vorüber. Sie schleppten Erde und Steine und plagten sich keuchend mit Karren und Truhen ab, daß ihnen fast die Zunge aus dem Mund hing.
»Sieh dir die an!« sagte Jarbas. »Sie drängen sich förmlich zur Arbeit und bitten darum. Weshalb? Weil sie von der Handvoll Mehl, die ihnen sonst für den Tag zugeteilt wird, nicht leben und nicht sterben können. Wenn sie aber hier arbeiten, wird ihnen dasselbe zugemessen wie einem Soldaten. So können sie sich wieder einmal satt essen. Das ist der Grund, warum sie schuften wie Zugtiere, denen der Stachel im Schenkel sitzt. Und solche Not soll sich ein Wechsler ungestraft zunutze machen dürfen? Immer bin ich mit dem Widder auch nicht einverstanden, aber diesmal war er ein gerechter Richter!«
Er drehte sich wieder gegen das Schiff und malte nun auch den mörderischen Spieß, der dem sonst pferdähnlichen Tier bedrohlich aus der Stirn ragte, mit roter Farbe an.
»Das Gold ist in Verruf geraten in diesen Zeiten,« sagte er, »das Einhorn aber ist ein anständiges Tier. Es weiß noch von Ehre und Vaterland!«
Und ein paar Schritte zurücktretend, um sein Werk zu betrachten, setzte er noch hinzu: »Sieht es nicht jetzt schon viel umgänglicher drein? Das kommt daher, weil es sich darüber freut, daß sein Horn rot ist wie vom Blut der Feinde. Es würde sich nur schämen, wär's von jenem Gold, das die Schurken höher stellen als die heiligsten Güter des geplagten Menschen!«
*
So spannten die Handwerker ihre Kräfte an, die letzten noch fertigzustellenden Schiffe flügge zu machen, und waren vergnügt dabei und voll Zuversicht. Wer aber keine fachmännische Hantierung gelernt hatte, der brauchte darum nicht zu feiern.
Der Widder ließ – und das war das große Geheimnis, von dem niemand sprechen durfte – eine künstliche Wasserstraße graben, die vom Kriegshafen geradenwegs ins offene Meer führte.
Sonst hatte ein Kriegsschiff, um in See zu stechen, einen langen Weg zurücklegen müssen: erst durch die eingedeckte Verbindungsstraße zwischen Kriegs- und Handelshafen, dann den ganzen langgestreckten Handelshafen selbst hindurch und schließlich noch durch den engen Kanal, der zwischen dem Sporn des Chomas und der Ochsenzunge ins Freie führte, und den eben jetzt die Römer zu versperren im Begriffe standen. Die neue Wasserstraße sollte diesen Umweg überflüssig machen. Unmittelbar vom Kothon aus würde man in die hohe See hinausfahren, und zwar an einer Stelle, die sechs- bis siebenhundert Schritt nördlich des Chomas im felsigen Ufer lag, und gegen die einen Damm vorzutreiben, ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, denn hier war das Meer tief.
Ein großes Werk war es freilich und nicht leicht zu bewältigen. Die Entfernung vom Kriegshafen zum Meer maß gut zweihundert Schritt, und zwei starke Mauern mußten durchbrochen werden, die, welche den Kothon umkreiste, und die knapp an der Küstenlinie hinziehende. Schon das Fortschaffen des Erdreichs und Schuttes allein erforderte eine ungeheure Arbeitsleistung, vom Niederreißen, Graben und Ausheben ganz abgesehn. Aber es waren auch vieltausend Hände unausgesetzt dabei tätig, Tag und Nacht ohne Unterbrechung.
Hier standen all die ungelernten Arbeiter in Verwendung oder solche, deren Gewerbe mit dem Schiffsbau nichts zu tun hatte.
Hier schleppte der Riese Goliath ungeheure Lasten, der Fischmeister Dajag schwang den Karst, als wäre er sein Lebtag Erdarbeiter gewesen, der Gerber Juba und der Weinhändler Nampon verschmähten es nicht, beim Abbrechen der Mauern behilflich zu sein. Sogar Adelsbürger wie Maharbal und Bomilkar leisteten Handlangerdienste an der Seite von Fischern, Hafenarbeitern, kleinen Händlern und sonstigen Geschäftsleuten. Und Tausende von Weibern und Kindern setzten ihren Ehrgeiz darein, mit den Männern zu wetteifern und sich ebenso nützlich zu machen wie diese.
Alle Standesunterschiede waren aufgehoben, keiner dünkte sich etwas besseres als sein Nebenmann. Der gemeinsame Eifer der Arbeit, die gemeinsame Gesinnung, die gemeinsamen Hoffnungen machten alle zu Brüdern. Selbst Greise und Greisinnen, die sich kaum mehr schleppen konnten, wie der alte Zarz aus Chammonslust und sein Weib Scherah, oder der verwitterte Fischer Sicharbas, der Hanno bei sich aufgenommen hatte und ihn wie einen eigenen Sohn betreute, fanden sich ein und ließen sich's nicht nehmen, auch das Ihrige beizutragen zum Sieg des punischen Volkes über den römischen Vernichtungswillen. Und alles befand sich in gehobener Stimmung. Die einen, weil sie die größten Erwartungen ins Gelingen setzten, die andern, weil sie den Göttern Kart-Chadasts durch ihre Arbeit zu dienen glaubten, noch andere vielleicht wirklich nur aus dem Grunde, weil sie satt zu essen hatten.
Aber ein Gefühl immerhin war dabei doch allen gemeinsam: das der Erleichterung, daß man nicht mehr bloß zuzusehen brauchte, untätig und den Geiern der Verzweiflung hilflos preisgegeben. Schon daß sie endlich nur überhaupt etwas tun und leisten konnten, das der allgemeinen Not vielleicht doch irgendwie ein Ziel setzen würde, machte sie froh und gab ihnen inneren Halt.
*
Um jene Zeit sollte der große Fünfruderer vom Stapel laufen, an dem Hirom letzthin das von Jarbas rot angestrichene eiserne Bugtier befestigt hatte. Alle, die daran mitgearbeitet, versammelten sich um die Stelle, dazu die künftige Bemannung und viele Schwerarbeiter, deren kräftiger Arme man bei dieser Gelegenheit bedurfte.
Schon war alles vorbereitet, da kroch erst noch Muttines mit seinen Zimmerleuten unter dem Bauch des stattlichen Zweimasters hervor. Er hatte am Kiel noch die letzte Hand anlegen und die Rundbalken mit Fett einreiben lassen, auf denen das gewaltige Fahrzeug noch ruhte, erhöht über dem steinernen Uferstaden am Wasser.
Jetzt kommandierte er: »Los!«
Hundert Schultern stemmten sich gegen die Planken, ein Kollern und Poltern wurde hörbar, mit mächtigem Aufrauschen der Wellen tauchte die Pentere in die Flut und glitt wie ein stolzer Schwan dahin. Ein Jubel wie aus einer einzigen Kehle und einem einzigen Herzen stieg aus der Menge auf.
Mit geschmeicheltem Lächeln sagte Muttines, sichtlich erleichtert: »Ein banger Augenblick bleibt's immer. Das Sprichwort sagt: ein neues Schiff ist gut, solang es auf der Werft liegt.«
Eine Stimme an seiner Seite antwortete: »Ein Schiff, vom Muttines gebaut, ist im Wasser erst recht gut, das konnte man im voraus wissen. Was der macht, das schwimmt!«
Er blickte auf, Hirom war's, der das gesagt hatte, Hirom, mit dem er doch auf gespanntem Fuße stand, seit damals, wo er für seinen Sohn um Channa hatte werben wollen. Es machte ihm warm ums Herz, daß der Schmied sein Werk gelobt hatte.
»Der schwere Einhornschädel am Bug ist gut ausgewogen,« gab er die Artigkeit zurück. »Vielleicht könnt's nicht so gut schwimmen, hielte der nicht das Gleichgewicht.«
Beide waren sie versöhnlich gestimmt, leise ergriffen durch den Stapellauf des wie aus dem Ei gepellten Schiffes, das hoffentlich eine hübsche Anzahl römischer Penteren und Trieren auf den Grund des Meeres hinuntersenden würde.
»Bist du mir noch böse?« fragte der Schmied, »weil ich meine Channa deinem Dubar zum Weibe gab, obgleich du eigentlich gegen die Heirat warst?«
»Böse –? Was dir nicht einfällt!« antwortete Muttines. »Wüßte nicht, was ich dagegen sollte einzuwenden gehabt haben. Im Gegenteil! Froh bin ich, daß mein Dubar ein so braves Weib bekommen hat. Aber du wolltest ja deine Channa nicht hergeben. Und so trägst du mir's vermutlich nach, daß ich sie trotzdem mit offenen Armen in meine Familie aufnahm.«
»Nachtragen sollte ich dir's? Im Gegenteil! Dankbar bin ich dir dafür! Wüßt' ich mir doch für meine Channa keinen besseren Mann zu wünschen als dein Dubar es ist.«
»Sonach könnten wir ja eigentlich die besten Freunde sein – wie?« schlug Muttines vor, ihm die Rechte entgegenstreckend.
Mit Freuden die dargebotene Hand ergreifend, die er kräftig schüttelte, sagte Hirom bewegt: »Recht so, lieber Gegenschwäher! Es gibt der Feinde genug außerhalb der Mauern!«
Und im Angesicht der Menge, die in Beifallsrufe ausbrach, umarmten die beiden Männer einander und gaben sich den Bruderkuß.
*
Ithobaal, der reiche Handelsherr und Adelsbürger, der immer ein Gegner des Krieges gewesen war, weil er ein durch verfeinerte Genüsse verschöntes, mit den Früchten der Künste und Wissenschaften geschmücktes Leben für das einzig lebenswerte hielt, erging sich mit seinem Freunde Bostar in dem etwas abschüssigen, einst prächtig gehaltenen, jetzt freilich auch recht verwahrlosten Garten, an dessen oberem Ende sein villenartiger Palast lag.
Es war ein prangender Herbsttag, die zartgefiederten Palmen strotzten von großen Trauben goldiger Datteln, die unter den anmutig geschwungenen zartgefiederten Blattwedeln hervorlugten. Sooft die auf und nieder Wandelnden eine der höher gelegenen Stellen des Gartens erreichten, bot sich ihnen über die flachen Dächer der Stadt hinweg ein überwältigender Ausblick auf die tiefblaue See. Dann standen sie wohl eine kleine Weile still und sogen trunkenen Auges die zauberische Schönheit der meerumbrandeten Heimaterde in sich ein. Wie mit einem unsichtbaren Schleier herzbeklemmender Wehmut war sie jetzt überhaucht, der sie aber nur umso liebwerter machte. Denn der seelische Anteil an jedem Besitz, der umstritten ist und uns entrissen zu werden droht, vertieft sich und läßt ihn uns doppelt teuer erscheinen.
»Wie konnte ich mich sonst,« sagte Ithobaal, »über mein von den Vätern ererbtes Anwesen freuen! Hier war ich mein eigener Herr, nichts schien mich zu bedrohen, nichts mich entwurzeln zu können. Nun schwankt mir der Boden unter den Füßen wie die unbeständigen Planken eines Schiffes.«
»Eigener Grund schwächt die Widerstandskraft gegen die Wechselfälle des Lebens,« antwortete Bostar; »darum hab' ich das Meinige nie zusammengehalten. Ich zog es vor, mich als das zu betrachten, was wir in Wirklichkeit alle sind: Reisende auf hoher See. Bei ruhigem Wind merken wir freilich das Schwanken und Schaukeln nicht und bilden uns wohl ein, auf unerschütterlichem Felsboden zu fußen. Wenn aber die Wogen hochgehn, klärt sich die Sache auf. Wie sehr ist der im Nachteil, der immer ein festes Ziel im Auge hat und sich ewig darum bangt, es auch wirklich zu erreichen! Weit besser, die Überfahrt selbst als das eigentliche Leben betrachten und sich dabei so gut wie möglich unterhalten! Darum sage ich mir jeden Morgen, wenn ich erwache: Der Weg selbst ist das Ziel! Und des Abends, eh' ich einschlafe, zähle ich zusammen, wie oft ich wohl an diesem Tage gelacht. Weiß ich doch, daß es nicht sicher ist, ob ich morgen noch lachen werde.«
»Für mich gibt es kein Lachen mehr,« sagte Ithobaal bekümmert, »weder heute noch morgen, noch jemals wieder ...«
Schweres Leid in der Familie, das sich zum öffentlichen Unglück gesellte, drückte ihn fast zu Boden. Von seinem Sohn Melikertes, den er den Römern als Geisel hingegeben, hatte er nie wieder das geringste gehört; es hätte mehr Schönseherei erfordert, als er aufzubringen imstande war, ihn noch zu den Lebenden zu zählen. Nanai, seine Lieblingstochter, war freiwillig in den Tod gegangen, unter so erschütternden und aufsehenerregenden Umständen, daß sogar ihm, der in dieser Hinsicht gerne blind gewesen wäre, die Augen aufgehen mußten. Denn immer noch hatte er sich einreden wollen, ihre Ehe, die er um Bagas vermeintlicher Reichtümer willen unverantwortlicherweise einst mit allen Mitteln gefördert, ja durchgesetzt hatte, sei auch nicht viel unglücklicher als die meisten Ehen sonst. Jetzt nachträglich machte er sich Vorwürfe. Mehr als drei Vierteljahre waren seit Nanais Tod hingegangen, den Schmerz allein hätte er vielleicht überwunden gehabt, das Schuldbewußtsein, das sich darein verflocht, verlieh ihm Dauer.
Dazu kam noch die Sorge um die jüngere Tochter, die sonst so munter lachende Attar, die einst Gisgons Verlobte gewesen. In jener zwischen Trotz und Laune schwankenden Bereitwilligkeit einmal verschmähter Mädchen, dem ersten ernst zu nehmenden Bewerber ihr Jawort zu geben, hatte sie sich den Annäherungsversuchen Jophischats gegenüber, des Sohnes Wahballats, nicht ablehnend verhalten, obgleich sie sich hätte sagen können, daß dieser vornehme und glänzende, aber ausschweifende und verderbte Jüngling höchstens vorübergehend als Liebhaber, keinesfalls aber als Ehemann ernst zu nehmen sei. Aber Ithobaal, der nicht auch noch seine zweite Tochter unglücklich sehen wollte, verwahrte sich gegen einen Bewerber, dem er von vornherein keine ehrlichen Absichten zutrauen mochte. Die dadurch entstandenen häuslichen Mißhelligkeiten fanden ihre Lösung durch Jophischats allerdings nicht unrühmlichen Tod. Darüber war Attar in Schwermut verfallen. Wie früher ihr Lachen, so klang jetzt Tag für Tag ihr Weinen durchs Haus ...
Irgendwie hing all dies dreifache Mißgeschick und Leidwesen mit dem Krieg zusammen, darum verfluchte Ithobaal ihn dreifach. Und weil es jetzt, wo man Fänge und Schnabel des römischen Adlers bereits am eigenen Fleische zu spüren bekam, müßig gewesen wäre, den Unmut gegen das eigene Nest zu kehren, so sah er sich endlich doch zu der für einen Punier einzig natürlichen Empfindung gedrungen: einer gerechten Entrüstung über den äußeren Feind, der eine zu allen Zugeständnissen bereite und freiwillig entwaffnete Stadt durch eine mörderische Belagerung zu Tode folterte, weil sie sich nicht selbst vom Erdboden hatte austilgen wollen.
»Manchmal frage ich mich,« sagte er an diesem Tage zu Bostar, »ob und wo ein Ausgleich zu finden sei für den Gerechten, der Gewalt leidet. Darf er darauf hoffen, daß er irgendwie einmal entschädigt werde? Oder muß er für immer verzichten auf Sühne und Wiedergutmachung des Unrechts, das ihm auf dieser Erde widerfuhr? Und wenn dem so ist und die Arglist siegreich bleibt, wie konnten die Menschen darauf verfallen, sich Götter zu erdichten? Denn erdichtet wären sie dann!«
»Wenn es dir gelänge, diese Fragen zu beantworten,« versetzte Bostar, »so hättest du tausendmal mehr geleistet für die Menschheit als alle Eroberer der Welt zusammengenommen, Alexander, den sie den Großen nennen, mit eingerechnet. Aber sieh –« unterbrach er sich: »jener entsagende Bruder und Feuerhüter, oder was er sonst sein mag, den viele im Volk für einen Propheten halten, kommt eben den Weg von der Zypresse her gewandelt! Vielleicht kann er deine Zweifel lösen, sie sagen, er sei vom Geist besessen. Wollen wir ihn anrufen?«
Langsam und in sich versunken schritt Hanno die Straße entlang, die knapp am Grundstück vorbei gegen das Hafenviertel hinunterführte. Er schrak zusammen und blickte verwundert auf, als Ithobaal ihn bat, in den Garten einzutreten.
Aber nach kurzem Zögern folgte er der Einladung und näherte sich.
*
Ein Gärtnerjunge, der in der Nähe beschäftigt war, hatte eben mit dem langgestielten Dattelpflücker die goldenen Früchte von einigen der Palmen gelangt und in einen Korb gesammelt. Ithobaal bot Hanno welche davon dar, er nahm sie dankbar an und labte sich.
An Hannos und Bostars Seite sein Auf- und Niederschreiten im Garten wieder aufnehmend, legte Ithobaal dann dem vom Geist Besessenen die Frage vor, die ihn quälte. Und er fügte hinzu: »Bei allen griechischen Denkern und auch bei Kleitomachos, dem einzigen Philosophen, den das punische Volk hervorgebracht hat, suchte ich vergebens Trost. Der blinde Sänger Homeros dagegen berichtet, daß Odysseus in der Unterwelt den Schatten der Abgeschiedenen begegnete, und in meiner Sammlung von Kunstwerken aus dem ägyptischen Totenbuch findet sich eine Wage abgebildet, auf der der ibisköpfige Gott Thot im Beisein des Osiris das Herz eines Verstorbenen abwiegt. In der andern Wagschale liegt eine Feder, das Sinnbild der Wahrheit. Besteht der Tote die Prüfung, so geht er ein in die seligen Gefilde von Walu, wo er sät und erntet in ewigem Überfluß ... Gibt es nun wirklich eine solche Unsterblichkeit, dann dürfen wir hoffen, daß es letzten Endes auch eine Gerechtigkeit gebe. Dann will ich gern darauf vertrauen, daß die, so Gewalt übten in dieser Welt, im Grunde die Unklugen gewesen seien, und der zu Unrecht Leidende schließlich doch zu seinem Recht kommen werde. Es würde mir zum Trost gereichen, wüßte ich bestimmt, daß ich mein durch Kunst und Wissenschaft geschmücktes Leben, welches ich beglückt und in Dankbarkeit genoß, solang der tückische Einbruch des Feindes es mir nicht verleidete, fortsetzen könnte nach meinem Absterben, umgeben von all der Schönheit, die mich hier umgab. Darf ich solche Hoffnung nähren? Wenn der Geist, der in dir wohnt, ein Bote des Lichts ist, so kann er mir vielleicht diese Beruhigung gönnen.«
Demütig neigte Hanno das Haupt und sagte: »Ich bin kein gelehrter Mann, wie sollte ich dich, einen in Künsten und Wissenschaften Erfahrenen belehren können? Als ich noch am Leben war, da hoffte ich wohl auf eine Vergeltung in dem gleichen Sinne, wie du es meinst. Seit ich gestorben, ist auch mein Wünschen tot, soweit es sich auf mich selbst bezog. Aber eines ist mir seither kund geworden: Daß nichts, was wertvoll war, verloren geht im Reich der Sonne. Und es wird leben, auch wenn wir beide längst nichts mehr davon wissen, ich und du ...«
»Einst hörte ich,« fuhr er fort, »von einem wohlhabenden Manne erzählen, der hatte zwei Knechte. Und er sandte sie in die Berge, den einen gegen Sonnenuntergang, den andern gegen Sonnenaufgang. Und sprach zu ihnen: Meine Schafe weiden im Felsgebirg und finden reichlich Nahrung. Nun aber kommt der Winter ins Land, sammelt sie mir und treibt sie heim, damit sie nicht umkommen.
Da gürteten sich die Knechte und zogen fort. Der eine, der gegen Sonnenuntergang gewandert war, hatte die Schafe eben gesammelt und wollte sie heimtreiben. Da trat ein Räuber ihm in den Weg, der sagte: ›Gib mir deine Schafe, oder du bist des Todes!‹ Der Knecht dachte: Mein Leben ist mir lieb, und mein Herr hat der Schafe noch mehr. Und er kam mit dem Räuber überein und überließ ihm die Hälfte der Schafe. Die andere Hälfte aber trieb er nicht heim, denn er fürchtete, sein Herr würde ihn schelten. Darum trieb er sie auf der entgegengesetzten Seite des Gebirges ins Tal und siedelte sich an. Und wurde ein wohlhabender und angesehener Mann in der Gemeinde.
Dem andern Knecht aber, den sein Herr gegen Sonnenaufgang geschickt hatte, trat in den felsigen Bergen ebenfalls ein Räuber in den Weg. Und auch zu ihm sprach der Räuber: ›Gib mir deine Schafe, oder du bist des Todes!‹ Da dachte der Knecht bei sich: Die Schafe sind nicht mein, der Herr hat sie mir anvertraut, ich wäre feige und ein ungetreuer Knecht, gäbe ich sie preis‹. Und er setzte sich mit seinem Stab zur Wehr. Der Räuber aber, der gute Waffen trug, fiel über ihn her und ermordete ihn.
Inzwischen hatte der Herr die Winterställe bereitet und wartete auf die Heimkehr seiner Knechte. Als aber die Zeit verstrich und sie nicht wiederkamen, da sagte er zu seinen Nachbarn: ›Seht, wie die Menschen beschaffen sind! Ich hatte zwei Knechte, beide waren sie untreu und betrogen mich.‹
Allmählich aber fanden sich Leute bei ihm ein, die über die Gebirge gewandert waren und auf ihrem Wege manches beobachtet oder zufällig vernommen hatten. Und einer war darunter, der hatte den Knecht, welcher die halbe Herde sich angeeignet, im Dorfe jenseits der Berge mit eigenen Augen gesehen und wiedererkannt, wie er dort als Nutznießer des unrechten Gutes gesichert lebte und sich seines Besitzes freute. Und ein anderer war darunter, der hatte sich vor dem Räuber versteckt, welcher den getreuen Knecht ermordet hatte, und war heimlich Zeuge gewesen, wie dieser um das Gut seines Herrn sich wehrte. So kam mit der Zeit die Wahrheit an den Tag.
Da versammelte der Herr alle Nachbarn um sich, die ganze Gemeinde, und sprach zu ihnen: ›Seht, ich habe euch falsch berichtet, nur einer meiner Knechte war ungetreu. Er nahm, was ihm nicht gebührte, und bereicherte sich und lebt im Wohlstand, geachtet und geehrt von jedermann. Ich will ihm nicht nachstellen um seines irdischen Gewinnes willen, er trägt seine Strafe in sich. Denn es wird ruchbar werden, daß er ein höheres Gut veruntreut hat, als es die Hälfte meiner Schafe war, und noch den Kindern und Kindeskindern wird man von ihm erzählen, als von einem Ruchlosen, der Treu und Glauben zerstörte unter den Menschen.
Meinen andern Knecht hingegen sollt ihr mit mir beklagen. Er hat nicht sich, er hat uns alle bereichert, indem er unsre Seelen stärkte. Es gibt noch Menschen unter uns, nun wissen wir es, die feige Vergleiche verschmähen und das Gut, das ihnen anvertraut ist, mit ihrem eigenen Blute verteidigen. Und es gibt noch Menschen unter uns, die zu andern Göttern beten als zum Gott des Vorteils. Sie tragen ihren Lohn in sich wie jene anderen ihre Strafe, und was sie taten, wirkt fort, auch wenn sie selbst darüber zugrunde gingen.
Unberührt aber von allem Erfolg oder Mißerfolg dieser Erde, schwebt hoch im Himmelsraum das feurige Gestirn, von dem wir die heilige Flamme empfingen, die uns anvertraut war. Und haben wir sie getreulich behütet und bewahrt, so wird sie eines Tages zurückkehren in dieses ewige Feuer und wieder eins mit ihm sein wie ehedem. Haben wir sie aber nicht bewahrt und behütet, sondern feige preisgegeben, so ist sie erloschen für immer und kann auch nicht mehr dahin zurückkehren, wo ihre Heimat wäre. So verlieren wir uns selbst, indem wir uns um jeden Preis erhalten wollten. So gewinnen wir uns wieder, indem wir uns hingeben. Denn nicht, wer klüglich sich abzufinden, nur wer zu sterben weiß, wird leben.‹
So sprach,« schloß Hanno, »der Herr zu den versammelten Nachbarn und Freunden.«
Sie hatten im Auf- und Niederschreiten die höchste Stelle des Gartens erreicht. Sie sahen Kart-Chadast zu ihren Füßen hingebreitet und die tiefblaue See, sie sahen die flammenden Farben des Herbstes ringsum, die zackigen Gebirge jenseits der Bai im Sonnenglast. Den Blick in die Ferne gerichtet, wo Meer und Himmel einander berührten, war Hanno stehengeblieben, wie der Erde entrückt.
Bewegt und innerlich erhoben und dennoch schaudernd, sann Ithobaal seinen Worten nach. Es fiel ihm hart, sich von der Vorstellung zu lösen, daß er selbst, als derselbe, als der er hier gewandelt, sein Leben in einer andern Welt würde fortsetzen können, umgeben von Schönheit und vergeistigten Genüssen. Und versonnen, mit gepreßtem Herzen, wiederholte er das strenge Wort, das ihn erschütterte und wie der Ton einer Posaune, die Schrecken einflößt, indem sie Erlösung ankündigt, in ihm nachklang: »Nur wer zu sterben weiß, wird leben ...«
»Vorausgesetzt, daß er nicht von einem Räuber erschlagen wird,« spottete Bostar mit gewohnter Trockenheit.
Mit bitterster Ernüchterung fühlte Ithobaal sich in die Wirklichkeit zurückgerissen. Und auch Hanno schrak auf. Wie aus einer Betäubung erwacht, blickte er um sich. Und jenes seltsam irre Lächeln um die Lippen, das ihm eigen war, wiederholte er noch einmal: »So sprach der Mann zu den versammelten Nachbarn über seine Knechte.«
Und dann verabschiedete er sich mit einem Neigen des Hauptes und verließ, wie ein Nachtwandler dahinschreitend, den Garten.
Die beiden Freunde blickten ihm nach. Sie sahen ihn auf die Straße hinaustreten und hinter Gebüschen verschwinden.
Da lachte Bostar auf: »Ein wunderlicher Prophet! Die Leute, die ihn für einen Boten des Lichts halten, sind Narren wie er selbst. Ich halte ihn ganz einfach für verrückt!«
Ithobaal aber hatte das Haupt gesenkt. Es gor in ihm wie von neuen Erkenntnissen und Aussichten.
»Und doch muß es ein hehrer Geist sein, der aus ihm redet!«
*