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Am 12. Juni 1877 stand endlich auch ich vor der berüchtigten siebenten Deputation des Stadtgerichts in Berlin als Angeklagter. Tessendorf hatte in meiner Broschüre nicht weniger als drei Bismarckbeleidigungen entdeckt, außerdem, wie ich schon erwähnte, eine Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs gefunden. Bismarck hatte bereitwillig den Strafantrag gestellt. Es war richtig, ich hatte den Reichskanzler etwas unsanft angefaßt. Als ich die Broschüre schrieb, wurmte mich noch immer die beleidigende Rede, die er mir Anfang 1876 im Reichstag ins Gesicht geschleudert hatte, auf die zu antworten mich die Mehrheit durch Annahme eines Schlußantrags verhindert hatte. Wäre ich damals ausführlich zum Wort gekommen, höchst wahrscheinlich wäre mir die Reichskanzlerbeleidigung erspart geblieben, denn es waren die Vorgänge im Reichstag, auf die ich in den Angriffen auf Bismarck in meiner Broschüre Bezug nahm. Außerdem hatte ich in einem Angriff auf die Nationalliberalen diese gehöhnt, daß sie sich vom Reichskanzler hausknechtmäßig behandeln ließen, und dachte gar nicht daran, damit eine Beleidigung Bismarcks begehen zu wollen. Es war eben die Zeit, in der der Abgeordnete Bamberger in einem Augenblick anerkennenswerter Selbsterkenntnis wegen seiner und seiner Freunde Behandlung durch den Reichskanzler das Wort geprägt hatte: Hunde sind wir ja doch!
Die Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs wurde in der scharfen Kritik gefunden, die ich dem Militarismus hatte angedeihen lassen, die aber ganz den von uns vertretenen Anschauungen entsprach. Ich empfand es als eine persönliche Beleidigung, daß man mich anklagte, erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet und verbreitet zu haben, um damit die Einrichtungen des Militarismus verächtlich zu machen; denn was ich geschrieben hatte, entsprach meinem Standpunkt und meiner Ueberzeugung.
Tessendorf als öffentlicher Ankläger machte sich sein Amt sehr leicht, er kannte ja genügend die siebente Deputation. Nonchalant, als pflege er eine private Unterhaltung, stand er vor dem Gerichtshof, die eine Hand in der Tasche einer hellgestreiften Sommerhose – die heute übliche Amtskleidung wurde erst später eingeführt – , angetan mit einem schäbigen schwarzen Frack, und beantragte nach einer kaum fünf Minuten langen Rede 9 Monate wegen Beleidigung des Reichskanzlers und 5 Monate wegen der Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs, also 14 Monate Gefängnis, die er auf ein Jahr Gefängnis zusammenzuziehen vorschlug.
Die Art, wie Tessendorf die Sache behandelte, brachte mich noch mehr in Erregung, als es ohnedem schon der Fall war. Ich verteidigte mich selbst. In anderthalbstündiger Rede suchte ich die Anklage Punkt für Punkt zu widerlegen. Wolle man aus meiner Broschüre eine Beleidigung des Reichskanzlers herauslesen, dann müßten die Umstände berücksichtigt werden, unter denen ich zu meinen Ausführungen gekommen sei, und in Anbetracht dieser sei das beantragte Strafmaß viel zu hoch. Eine Verletzung des § 131 liege aber in allewege nicht vor. Ich betrachtete es als unerhört, mich auf diesen Paragraphen hin anzuklagen, da es doch gerichtsnotorisch sein müsse, daß die obendrein mit Tatsachen und Zitaten wissenschaftlicher und militärischer Autoritäten begründeten Ausführungen nur meinem Parteistandpunkt und meiner Ueberzeugung entsprächen.
Ich glaube, ich hielt eine sehr gute Rede, aber sie würde auch keinen Eindruck auf die Richter gemacht haben, wenn deren Aufmerksamkeit nicht durch ein ausgebrochenes Hagelwetter, dessen Körner gegen die Fensterscheiben trommelten, in Anspruch genommen gewesen wäre. Die Frage, in welchem Augenblick wohl die Fensterscheiben durch die Hagelkörner zertrümmert würden, war den Richtern offenbar wichtiger als meine schönen Ausführungen. Der Gerichtshof zog sich zurück, da Tessendorf es nicht der Mühe wert fand, mir zu antworten, und verkündete nach kurzer Beratung in allen Fällen meine Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis.
Ich appellierte, und die Sache kam am 28. Oktober vor dem Kammergericht zur Verhandlung. Hier führte Staatsanwalt Groschuff die Anklage. Im Laufe seiner Rede machte er geltend, daß ich schon wegen meiner Vorstrafen keine milde Verurteilung verdiente; er beantragte Bestätigung des Urteils der ersten Instanz.
Ich verteidigte mich wiederum selbst. In einstündiger Rede wendete ich mich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts. Seine Bemerkung, daß ich quasi wegen Rückfälligkeit härter bestraft werden müßte, hatte mich besonders gereizt. Ich protestierte, daß man einen Angeklagten, der im Kampfe für seine Ueberzeugungen wiederholt mit dem Strafrichter Bekanntschaft gemacht habe, mit einem gemeinen Verbrecher – einem Diebe oder Betrüger im Rückfalle – auf gleiche Stufe stelle. Der gemeine Verbrecher handle gegen das Gesetz, um einen persönlichen Vorteil zu erlangen, also aus Eigennutz, der politische »Verbrecher«, der, geschehe es in Verteidigung oder Propagierung seiner Ansichten, gegen das Gesetz verstoße, handle aus Idealismus. Ihm gebühre für die unentwegte Vertretung seiner Anschauungen nicht verschärfte Strafe, sondern Anerkennung. Kein politischer »Verbrecher« werde wegen der Vertretung seiner Ueberzeugungen, die ihn mit dem Strafgesetz in Konflikt brächten, gesellschaftlich mißachtet, wie das mit dem gemeinen Verbrecher wohl die Regel sei. Der politische Verbrecher gewinne sogar an Ansehen in den Augen seiner Gesinnungsgenossen.
In meiner weiteren Rede legte ich den Schwerpunkt auf die Anklage wegen Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs. Ich erreichte damit, daß der Vorsitzende des Gerichtshof sieben Seiten meiner Schrift, die Urteile über den Militarismus enthielten, vorlesen ließ. Das Endresultat war: ich wurde von der Anklage, den § 131 verletzt zu haben, freigesprochen, aber wegen Beleidigung Bismarcks zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Hinzufügen möchte ich hier, daß, als einige Monate später, im Dezember, der konservative Sozialpolitiker Dr. Rudolf Meier ebenfalls wegen Bismarckbeleidigung von dem Kammergericht zu einem Jahre Gefängnis verurteilt wurde, derselbe Staatsanwalt Groschuff, der die Anklage auch gegen mich geführt hatte, jetzt äußerte: er hege den Wunsch, dieses möge der letzte Bismarckbeleidigungsprozeß sein. Diese hörten aber erst auf, als Bismarck aufhörte, Reichskanzler zu sein, das heißt dreizehn Jahre später.
Da es mir sehr darum zu tun war, in Rücksicht auf meine Familie und mein Geschäft, meine Haft in Leipzig zu verbüßen, hier aber nach den ministeriellen Vorschriften nur Haftstrafen bis zum Höchstmaß von fünf Monaten erledigt werden konnten, wandte ich mich an die zuständige Stelle mit der Frage: ob ich eventuell für die Verbüßung einer fünfmonatigen Haft im Leipziger Gefängnis zugelassen würde. Nachdem dieses bejaht worden war, begab ich mich nach Berlin zu dem Vorsitzenden der siebenten Deputation, Reich, und ersuchte diesen, zu gestatten, daß ich nach Verbüßung einer einmonatigen Haft in Plötzensee die restlichen fünf Monate im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis verbringen könne. Zu meiner nicht geringen Verwunderung empfing er mich mit ausgesuchter Höflichkeit und erklärte seine Zustimmung zu meinem Antrag.
Darauf trat ich am 23. November meine Haft in Plötzensee an. Die Prozedur der Aufnahme war eine sehr umständliche und widerwärtige. Als ich dem Arbeitsinspektor vorgeführt wurde, empfing mich dieser mit den Worten: Nun, Herr Bebel, wie es in der Bastille am Plötzensee aussieht, werden Sie aus Mosts Schrift ersehen haben. Ich antwortete: Ich hätte zwar die Schrift gelesen, aber das sei schon längere Zeit her, ich bäte ihn, mich zu informieren. Nun brach bei ihm der offenbar schon lange verhaltene Grimm gegen Most los. Er verstehe, daß der Gefangene in den Beamten seine Feinde sehe und sich hinter deren Rücken an Vorteilen zu verschaffen suche, was ihm möglich sei, aber dann sich nachher auf den Markt zu stellen und auszuschreien, wie man die Beamten hintergangen oder diese zu Konzessionen verleitet habe, sei eine Gemeinheit und eine Dummheit. Er erzählte alsdann, welche Wirkung und welche Folgen die Mostsche Schrift nach ihrer Veröffentlichung unter den Beamten in Plötzensee hervorgerufen habe. Er schloß seine erregten Auseinandersetzungen mit den Worten: Most soll uns nur mal wieder zwischen die Finger kommen, dem wollen wir seine Indiskretionen eintränken.
Und er kam ihnen bald genug wieder zwischen die Finger, und sie habend ihm tüchtig eingetränkt. Einen Vorgeschmack bekam Most von dem, was ihn gegebenenfalls erwartete, daß, als er mir in Plötzensee einen Besuch machen wollte, er kurzerhand abgewiesen wurde.
Ich erlangte das Recht, mich literarisch beschäftigen zu dürfen und bis abends 10 Uhr Licht zu brennen. Marx' »Kapital« und verschiedene andere sozialistische Schriften wurden mir fortgenommen, als wenn an mir noch etwas zu verderben gewesen wäre. Und da der Arbeitsinspektor absolut verlangte, daß ich mich nicht bloß mit dem Studium von Büchern abgeben dürfe, sondern auch irgendeine literarische Arbeit vorzeigen müsse, setzte ich mich hin und schrieb ein kleines Broschürchen, das unter dem Titel erschien: »Frankreich im achtzehnten Jahrhundert.«
Selbstbeköstigung gab es nicht, die war Börsenjobbern, die wegen Gaunereien in Plötzensee Quartier bezogen hatten, gewährt worden, politischen Gefangenen nicht. Was aber dem Gefangenen die magere Kost noch besonders verleidete, um nicht zu sagen verekelte, war der feststehende Küchenzettel, das heißt die in einer Woche morgens, mittags und abends verabreichte Kost kehrte fast in derselben Reihenfolge Woche für Woche, Tag für Tag wieder. Ich verlor in den nahezu zwei Monaten, die ich in Plötzensee verbrachte, erheblich an Gewicht. Ich begriff nicht, wie Anstaltsärzte eine solche Verpflegungsordnung zulassen konnten. Auf meinen Antrag bewilligte mir der Arzt die sogenannte Krankenkost. Danach erhielt ich dreimal in der Woche zu Mittag einen Teller wirklich gute Fleischbrühsuppe, einen Sperling Fleisch, das auf ein spitzes Holzstäbchen gespießt war, da man Messer und Gabel dem Gefangenen nicht anvertraut, und Kartoffeln und Gemüse. Die Bezeichnung Sperling rührte daher, daß das Stückchen Fleisch nach Form und Größe einem gerupften Sperling ähnlich sah.
Ich hatte darauf gerechnet, unmittelbar vor Weihnachten von Plötzensee nach Leipzig übersiedeln und alsdann die Weihnachtsfeiertage bei meiner Familie verbringen zu können. Von den acht Weihnachtsfesten, die bis dahin mein Töchterchen erlebt hatte, hatte ich vier in den Gefängnissen zugebracht. Ich hoffte, nicht das fünfte Mal die Weihnachtsfeier im Gefängnis verbringen zu müssen. Es kam aber doch so. Auf meine Anfrage bei der Leipziger Gefängnisverwaltung, ob ich nach den Weihnachtsfeiertagen die Haft dort antreten könne, kam die Antwort, daß dieses vorläufig nicht möglich sei, die Räume seien alle besetzt. Erst am 18. Januar 1878 konnte ich nach Leipzig übersiedeln.
Während meiner Haft in Plötzensee besuchte mich wiederholt der Gefängnisgeistliche, um sich mit mir über die politischen Vorgänge zu unterhalten. Mir war das Halten der »Vossischen Zeitung« bewilligt worden, deren sämtliche Tagesnummern ich aber regelmäßig erst am Ende der Woche, am Sonntag, zugestellt erhielt. Most hatte um jene Zeit mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments eine öffentliche Agitation für den Austritt aus der Landeskirche begonnen. Die von ihm veranlaßten Volksversammlungen waren überfüllt und von leidenschaftlicher Erregung getragen. Diese wuchs, als jetzt die neu erstandene christlich-soziale Partei unter Führung des Hofpredigers Stöcker ebenfalls Versammlungen abhielt und Redner dieser Partei auch in den Mostschen Versammlungen erschienen, dort aber, wie vorauszusehen war, unter dem Jubel der Massen den kürzeren zogen. Diese Agitation rief bei den Frommen im Lande eine ungeheure Aufregung hervor, die auch den Gefängnisgeistlichen ergriffen hatte. Selbst der alte Kaiser sah sich veranlaßt, als ihm zu seinem Geburtstag im März 1878 das Präsidium des Landtags gratulierte, in seiner Antwort zu betonen: Die Religion muß dem Volke erhalten werden.