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Meinungsdifferenzen.

Die geschilderten Vorgänge hatten zwischen Liebknecht und mir abermals eine Meinungsverschiedenheit hervorgerufen. Liebknecht hatte die Ansicht, Napoleon wolle den Krieg, Bismarck habe aber nicht den Mut, den hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. So schrieb er am 13. Juli im »Volksstaat«: »Das Frankreich des Bonaparte hat dem Preußen des Bismarck die Kriegsfrage gestellt, und wenn letzteres sich nicht zu einem schimpflichen Rückzug entschließt, ist der Krieg unvermeidlich.« Am 16. Juli schrieb er: »Der Mutige weicht zurück – vor dem Stärkeren. Die Hohenzollernkandidatur ist gegenüber der drohenden Haltung Bonapartes zurückgezogen worden; es bleibt Friede, und der großmächtige Norddeutsche Bund, der Deutschland Achtung im Ausland verschaffen sollte, hat mit derselben Demut, wie weiland in der Luxemburger Affäre, vor dem französischen Kaiserreich die Segel gestrichen.«

Ich vertrat den entgegengesetzten Standpunkt. Wohl habe Napoleon den Krieg erklärt, aber er sei nach meinem Gefühl in eine Falle getappt, die Bismarck ihm gestellt; letzterer wolle den Krieg, und er habe sein Ziel erreicht. Ich war über die Auffassung des »Volksstaat« im höchsten Grade erregt, es kam zu lebhaften Erörterungen zwischen Liebknecht und mir, und erst auf eine Intervention Geibs kam es zu einer Verständigung zwischen uns. Vom 20. Juli ab vertrat der »Volksstaat« eine Auffassung, die auch ich durchaus teilte.

Ohne Ahnung, daß ein Krieg ausbrechen werde, hatten wir zum 17. Juli eine Landesversammlung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei nach Chemnitz einberufen. Natürlich mußten wir nunmehr zur Kriegsfrage Stellung nehmen. Dieses geschah durch folgende Resolution, die Liebknecht und ich vorschlugen und die einstimmig angenommen wurde.

»Die Landesversammlung protestiert gegen jeden nicht im Interesse der Freiheit und Humanität geführten Krieg, als einen Hohn auf die moderne Kultur. Die Landesversammlung protestiert gegen einen Krieg, der nur im dynastischen Interesse geführt wird und das Leben von Hunderttausenden, den Wohlstand von Millionen auf das Spiel setzt, um den Ehrgeiz einiger Machthaber zu befriedigen. Die Versammlung begrüßt mit Freuden die Haltung der französischen Demokratie und insbesondere der sozialistischen Arbeiter, sie erklärt sich mit deren Bestrebungen gegen den Krieg vollständig einverstanden und erwartet, daß auch die deutsche Demokratie und die deutschen Arbeiter in diesem Sinne ihre Stimme erheben.«

Die Pariser Arbeiter hatten schon vor uns sich gegen den Krieg ausgesprochen. In ähnlichem Sinne wie wir erklärten sich die Arbeiter vieler Städte in öffentlichen Versammlungen, so unter anderen in Barmen, Berlin, Nürnberg, München, Königsberg, Fürth, Krefeld.

Anders dachte der Braunschweiger Parteiausschuß, der zum 16. Juli eine Volksversammlung einberufen hatte, in der er eine Resolution annehmen ließ, in der die Versammelten sich auf den Standpunkt stellten, daß Napoleon und die Majorität der Volksvertreter Frankreichs die frivolen Friedensbrecher und Ruhestörer Europas seien. Die deutsche Nation dagegen sei die beschimpfte, die angegriffene, deshalb müsse die Versammlung den Verteidigungskrieg als unvermeidliches Uebel anerkennen, sie fordere jedoch das gesamte Volk auf, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß dem Volke selbst die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden, wie überhaupt die vollste Selbstbestimmung werde. Dieser Auffassung des Parteiausschusses schlossen sich eine große Zahl Parteiorte, namentlich in Norddeutschland, an. Es war also eine starke Meinungsverschiedenheit in der Partei vorhanden.


Der Reichstag war zum 19. Juli einberufen worden. Als Liebknecht und ich am 18. von Chemnitz abreisten, waren bereits die Bahnen durch die Militärtransporte so in Anspruch genommen, daß wir auf dem Gößnitzer Bahnhof mehrere Stunden warten mußten, ehe wir weiterfahren konnten. Hier besprachen wir unsere im Reichstag zu beobachtende Taktik. Liebknecht war der Ansicht, wir müßten die Geldforderung strikte ablehnen, da beide Teile am Kriege schuld seien und wir für keinen Teil Partei ergreifen dürften. Ich erklärte dieses für einen Fehler. Nach Lage der Sache könnten wir allerdings für keinen der streitenden Teile Partei ergreifen. Dieser Eindruck würde aber gerade dann, und zwar zugunsten Napoleons, hervorgerufen, wenn wir gegen die Anleihe stimmten; es bliebe uns kein anderer Weg, als uns der Abstimmung zu enthalten. Schließlich ersuchte mich Liebknecht, den Entwurf einer Erklärung auszuarbeiten und am nächsten Tage mit nach Berlin zu bringen. Dies geschah. Nach einigen kleinen Aenderungen stimmte Liebknecht meinem Entwurf zu, auch sollte ich die Erklärung im Reichstag abgeben. In der Sitzung vom 21. Juli nahm ich das Wort: »Da, wie wir vernommen, es der Wunsch ist, die Tagesordnung ohne Debatte zu erledigen, so sind wir übereingekommen, keine Debatte zu provozieren, obgleich wir mit der Ansicht des Hauses in keiner Weise einverstanden sind. Wir sind entschlossen, in der vorliegenden Frage uns der Abstimmung zu enthalten, und werden unsere Motive in einer schriftlichen Erklärung zu den Akten des Hauses niederlegen.«

Simson als Präsident meinte: Das zu tun, könne er uns nicht hindern. Die Motivierung unseres Standpunktes lautete:

»Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern; denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbund zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft, als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Uebel, zu beseitigen.«

Die geforderten 120 Millionen Taler Kriegsanleihe wurden vom Reichstag bewilligt. Fritzsche, Hasenclever, Mende und Schweitzer stimmten dafür, Försterling hatte im Frühjahr sein Mandat für Chemnitz niedergelegt. In der Nachwahl war der Kreis den Hatzfeldtianern verloren gegangen. Als aber die Anleihe zur Zeichnung aufgelegt wurde, gab die deutsche Kapitalistenklasse der Welt ein trauriges Schauspiel. Obgleich das Geld mit 5 Prozent verzinst werden sollte und der Gläubiger für 100 Taler nur 88 zu geben brauchte, für die er aber nachher 100 Taler erhielt, wurden nur 68 Millionen Taler gezeichnet. Das war eine ungeheure Blamage. Anders in Frankreich. Dort wurden die geforderten 700 Millionen Franken voll gezeichnet, und zwar zu dem gleichen Zins, den Deutschland bot.


Unser Verhalten im Reichstag hatte die Differenzen zwischen uns und dem Parteiausschuß erweitert. Es kam zu sehr gereizten brieflichen Auseinandersetzungen, namentlich zwischen Liebknecht und dem Ausschuß, da Liebknecht nicht im Sinne des Ausschusses den »Volksstaat« redigieren wollte. Vergebens mahnte Liebknecht zur Vernunft. Unter dem 26. Juli schrieb er an Bracke unter anderem: »Ich nehme Euch Euren patriotischen Eifer nicht übel. Aber seid auch Eurerseits tolerant. Wenn Ihr mit Bebels und meinem Verhalten auf dem Reichstag nicht einverstanden seid, so muß dieser Zwist jetzt um jeden Preis beigelegt oder wenigstens ein offener Ausbruch vermieden werden. Es darf in einem Moment, wie dem jetzigen, in der Partei nichts vorkommen, was wie Uneinigkeit aussähe, und ich beschwöre Euch, alles zu unterlassen, was die Differenzen verschärfen könnte.«

Diese Bitte war vergeblich. Schließlich war Liebknecht so verärgert, daß er drohte auszuwandern, die Wirtschaft und der nationale Paroxismus ekle ihn an. Auch mir wurden die Nörgeleien der Braunschweiger zu arg. Am 13. August schrieb ich nach dort: »Wenn der Ausschuß gegen Liebknecht vorgeht, verzichten wir auf jede fernere Mitarbeit am 'Volksstaat'. Nach Eurem Briefe (der an Liebknecht gerichtet war und Drohungen gegen ihn enthielt) scheint Ihr in eine Art von nationalem Paroxismus verfallen zu sein, scheint Ihr den Skandal und den Bruch in der Partei um jeden Preis zu wollen. Einen Verstoß gegen die Parteiprinzipien könnt Ihr in unserem Verhalten auf dem Reichstag nicht nachweisen. Statt Euch damit zu begnügen, daß keine Verschärfung des Konflikts eintritt, verlangt Ihr von Leuten, die eine feste Meinung haben, die Aenderung, die Verleugnung dieser Ansicht. Der 'Volksstaat' hat sich gerade in den letzten Wochen streng als Parteiorgan gezeigt. Beweis: das einstimmige Wutgeheul unserer Gegner. Wollt Ihr auch in dieses nationalliberale Geheul mit einstimmen? Ihr sprecht von sächsischem Partikularismus. Und doch sind wir gerade in Sachsen gut sozialrepublikanisch, und wir betrachten alle den Krieg als einen dynastischen. Marx hat sich auch für uns erklärt.«

Am 1. September schrieb Liebknecht auf einen Brief von Bracke: »Nicht aus Furcht vor den Strebern habe ich Lust, wegzugehen, sondern aus Ekel vor dem patriotischen Dusel. Diese Krankheit muß ihren Verlauf nehmen, und während derselben bin ich hier sehr überflüssig, kann aber anderwärts sehr nützlich sein, zum Beispiel in Amerika. Doch es wird nicht so schlimm kommen, und ich werde nicht zu gehen brauchen.«

August Geib-Hamburg suchte abermals zu vermitteln. Aber erfolgreicher als alle Vermittlung wirkte der Gang der Ereignisse, der uns bald wieder in die gleiche Schlachtlinie trieb.


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