Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Krieg mit Frankreich wurde nach Sedan mit ungeschwächten Kräften weitergeführt. Die kaiserliche Armee war zwar vernichtet oder gefangen, aber jetzt hatte die Regierung der nationalen Verteidigung, an deren Spitze Gambetta und Freycinet standen, die Organisation neuer Armeen in die Hand genommen. Diese wurden mitten im Kriege sozusagen aus dem Boden gestampft. Ein interessantes Buch über diese großartige Leistung ist »Léon Gambetta und seine Armee« von Freiherrn von der Goltz, Berlin 1877. Das Hauptverdienst fiel aber nicht Gambetta, sondern Freycinet, dem ehemaligen Ingenieur, zu. Hatte der Krieg gegen das Kaiserreich keine sechs Wochen gedauert, so jetzt gegen die Republik noch nahezu sechs Monate. Die neue Regierung hatte zwar Versuche gemacht, Frieden zu schließen, allein diese scheiterten an dem Verlangen Bismarcks nach Annexionen. Auch erklärte Bismarck, der immer noch an die Wiedereinsetzung Napoleons dachte, die Regierung der Landesverteidigung sei keine stabile Regierung, mit der man unterhandeln könne. Schließlich mußte man aber dennoch mit dieser Frieden schließen.
Ende Oktober übergab Bazaine Metz mit 150 000 Mann Besatzung und enormen Kriegsvorräten, was ein Glück für die deutsche Armeeleitung war, die alle Kräfte gegen die neugebildete französische Loire- und Nordarmee brauchte.
Am 26. Oktober wurden Jacoby, Bonhorst und Herbig aus Lötzen entlassen. Es standen die preußischen Landtagswahlen bevor, und da konnte man die wider Recht und Gesetz verhafteten Landesangehörigen nicht in Haft behalten. Einige Wochen später, am 14. November, wurden die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses wiederum in Ketten gefesselt von Lötzen nach Braunschweig zurücktransportiert. Es sollte hier ein Hochverratsprozeß gegen sie inszeniert werden. Endlich wurde Anfang Dezember auch Geib aus Lötzen entlassen, und zwar auf Betreiben des Hamburger Senats. Anklagematerial lag gegen ihn nicht vor.
Auf den 24. November war der norddeutsche Reichstag zu einer außerordentlichen Session einberufen worden, die zwar kurz, aber sehr erregt war. Es handelte sich um eine weitere Bewilligung von Geldmitteln für die Fortführung des Krieges und um die Beratung der Versailler Verträge mit den süddeutschen Staaten und die neue Reichsverfassung.
Was bis dahin über die Versailler Verträge bekannt geworden war, hatte in den liberalen Kreisen große Verstimmung hervorgerufen. Danach waren den süddeutschen Staaten, insbesondere Bayern, sogenannte Reservatrechte eingeräumt worden, die die Reichseinheit nur komplizierten. Die norddeutsche Bundesverfassung sollte mit den unumgänglich nötigen Aenderungen, die die Versailler Verträge bedingten, Reichsverfassung werden. Die Freiheit, die Ende Juli in seinem Dankschreiben der König in Aussicht gestellt hatte, blieb wo sie war, in der Kaserne. Nicht einmal die Diäten wurden bewilligt. War schon durch diese Vorgänge die Stimmung eine gedrückte, so noch mehr durch die Tatsache, daß der Krieg sich in die Länge zog, ungeheure Opfer aller Art kostete und sich ein Ende nicht absehen ließ. Anfang September hatte Moltke an seinen Bruder geschrieben, er hoffe Ende Oktober in Creisau (seinem Gute in Schlesien) zu sein und Hasen zu schießen. Diese blieben aber unbehelligt von der Moltkeschen Flinte.
Im Reichstag herrschte über die Nachrichten vom Kriegsschauplatz eine sehr gedrückte Stimmung. So hatte man sich den Gang der Dinge nicht vorgestellt. Der Kriegsberichterstatter der »Kölnischen Zeitung«, ein Herr v. Wickede, schrieb noch Ende Dezember:
»Dieser entsetzliche Krieg, der mit Streitermassen geführt wird, wie solche die Geschichte aller Zeiten und Völker noch niemals in dem Umfang gehabt hat, spottet in der Tat aller und jeglicher Berechnung. Man glaubte endlich am Ende desselben zu sein, und nun stellt sich heraus, daß man am Ende des Monats genau so weit ist wie am Anfang desselben. Wir schlagen fort und fort die Franzosen, töten und verwunden ihnen Tausende von Soldaten ... und immer von neuem und wieder von neuem sammeln sich ihre geschlagenen Scharen ... und werfen sich uns sehr häufig mit dem wilden Mut der äußersten Verzweiflung entgegen.... Es herrscht jetzt schon in manchen von unseren Gruppen besonders ausgesogenen Gegenden eine entsetzliche Hungersnot, die Leute fallen wie die Fliegen im Hochsommer zu Dutzenden um, und dieser Zustand wird sich im Laufe des strengen Winters in noch furchtbarerer Weise steigern.«
Die Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, verlas der Präsident des Bundeskanzleramts, Delbrück; es hieß darin, die jetzigen Machthaber Frankreichs zögen es vor, die Kräfte einer edlen Nation einem aussichtslosen Kampfe zu opfern. In einem gewissen Widerspruch hiermit wurde bemerkt: Frankreich habe keine Regierung, mit der man unterhandeln könne; es seien auch durch die Haltung der Bevölkerung die Hoffnungen auf dauernden Frieden vernichtet worden. Sobald Frankreich sich erholt oder durch Bündnisse sich stark genug fühle, sei eine Wiederaufnahme des Krieges zu erwarten. Man sah also ein, wohin das Verlangen nach Annexionen die künftige Entwicklung treiben werde.
Am 26. November stand die Forderung der weiteren Geldbewilligung (100 Millionen Taler) auf der Tagesordnung. Ich nahm zu dieser Forderung das Wort. Vor mir hatte der Abgeordnete Reichensperger sich für die Bewilligung ausgesprochen. Meine Rede war nicht lang, aber sie erweckte einen Sturm, wie ich ihn seitdem nie wieder mit einer Rede hervorrief. Ich führte aus: Ich glaubte ein so guter Deutscher zu sein wie der Vorredner, trotzdem käme ich bei Prüfung der Sache zu dem entgegengesetzten Resultat. Ich gab eine kurze historische Uebersicht bis zum Sturze des Kaiserreichs und wies nach, daß mit der Gefangennahme Napoleons die eigentliche Kriegsursache beseitigt sei. Dabei stützte ich mich auf die Thronrede vom 19. Juli und die Proklamation des Königs von Preußen vom 11. August. Meine Ausführungen riefen große Unruhe und heftigen Widerspruch hervor. Die Behauptung, Frankreich besitze keine Regierung, mit der man unterhandeln könne, sei falsch. Ich wies dieses in meinen Ausführungen nach. Was den Friedensschluß unmöglich mache, sei die Forderung der Annexionen. Ich verurteilte dann scharf, daß man uns verbiete, in öffentlichen Versammlungen unseren Standpunkt über die Annexionen darzulegen. Diesen unseren Standpunkt begründete ich näher. Wiederum regnete es Unterbrechungen. Als ich dann auf die traurige Rolle hinwies, die die deutsche Kapitalistenklasse bei der ersten Kriegsanleihe gespielt und wie ganz anders sich dagegen die französische Bourgeoisie im gleichen Falle benommen habe, brach vollends der Sturm los. Ein großer Teil des Hauses hatte einen förmlichen Tobsuchtsanfall; man überschüttete uns mit Schimpfworten der gröbsten Art, Dutzende von Mitgliedern drangen mit erhobenen Fäusten auf uns ein und drohten uns hinauszuwerfen. Viele Minuten lang konnte ich nicht zum Worte kommen; zum Schluß empfahl ich die Annahme des Antrags, den Liebknecht und ich gestellt hatten. Dieser Antrag lautete:
»Der Reichstag wolle beschließen:
Den Gesetzentwurf betreffend den ferneren Geldbedarf für die Kriegführung abzulehnen und folgendem Antrag seine Zustimmung zu geben:
In Erwägung, daß der am 19. Juli von Louis Bonaparte, damals Kaiser der Franzosen, erklärte Krieg durch die Gefangennahme Louis Bonapartes und die Niederwerfung des französischen Kaiserreichs tatsächlich sein Ende erreicht hat;
in Erwägung, daß nach den eigenen Erklärungen des Königs von Preußen in der Thronrede am 19. Juli und der Proklamation an das französische Volk vom 11. August der Krieg deutscherseits nur ein Verteidigungskrieg und kein Krieg gegen das französische Volk sei;
in Erwägung, daß der Krieg, welcher trotzdem seit dem 4. September geführt wird, in schroffstem Widerspruch mit dem königlichen Wort, nicht ein Krieg gegen die kaiserliche Regierung und die kaiserliche Armee, welche nicht mehr existieren, sondern ein Krieg gegen das französische Volk ist, nicht ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg, nicht ein Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands, sondern ein Krieg für die Unterdrückung der edlen französischen Nation, die nach den Worten der Thronrede vom 19. Juli berufen ist, 'die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig zu genießen und zu begehren und zu einem heilsameren Wettkampf als zu dem blutigen der Waffen',
beschließt der Reichstag, die verlangte Geldbewilligung für die Kriegführung abzulehnen, und fordert den Bundeskanzler auf, dahin zu wirken, daß unter Verzichtleistung auf jede Annexion französischen Gebiets mit der französischen Republik schleunigst Frieden geschlossen werde.«
Nach mir kam der Abgeordnete Lasker zum Wort, der sich in den Tönen höchster sittlicher Entrüstung über uns und das französische Volk erging. Köstlich war, wie er die Finanzwelt gegen meine Vorwürfe in Schutz nahm. »Es ist wahr,« führte er aus, »daß die große Finanzwelt sich nicht erheblich beteiligt hat; es stand kein Gewinn in Aussicht (im Falle des Sieges sogar ein recht großer. A.B.), und es ist die Weise der Geschäftsleute, wie dies in der Natur des Geschäftslebens liegt, sich nicht als Geschäftsleute zu beteiligen, wenn eben ein Gewinn nicht sichtbar ist. Nun, auch dort die Männer – auf uns zeigend – , die über den Gewinn und die Belohnung lachen, üben doch ihre ideale Tätigkeit gegen Entgelt aus (Heiterkeit), und ihre Leitungen, welche sie als apostolische bezeichnen, erfolgen gegen Diäten. (Heiterkeit. Sehr gut!) Welche Verwirrung der Begriffe, wenn diese Herren, welche nach der Natur ihrer Leistungen vielleicht mit geringeren Summen sich begnügen müssen (das Haus schüttelt sich vor Lachen), über die Lust am Gewinn die Nase rümpfen. Also, die höhere Finanzwelt hat die Gelegenheit nicht für geeignet gehalten, gewinnbringende Geschäfte zu machen.«
Oeder und widerspruchsvoller konnte wirklich nicht die deutsche Kapitalistenklasse zu rechtfertigen versucht werden. (In einer zweiten Rede antwortete ich gebührend Lasker.) Nach Lasker folgte Braun-Wiesbaden, diesem Liebknecht. Dieser ging den liberalen Vorrednern kräftigst zu Leibe. Wiederum heftige Unterbrechungen, Ordnungsruf des Präsidenten.
Liebknecht führte unter anderem aus:
»Die Regierung, die im Juli den Krieg erklärt hat, ist beseitigt und ihr Führer sitzt auf Wilhelmshöhe und ist der gute Bruder des Königs von Preußen; er schwelgt in kaiserlichem Luxus, während die deutschen Krieger draußen ihr Blut vergießen und die furchtbarsten Strapazen erdulden müssen im Kampfe gegen das französische Volk, welches unser Brudervolk trotz alledem und alledem ist, und welches den Frieden mit uns will. (Unruhe, Zurufe) Es ist wahrlich ehrenhafter, der Bruder des französischen Volkes und der französischen Arbeiter zu sein, als der liebe Bruder des Schurken auf Wilhelmshöhe. (Abgeordneter Dr. v. Schweitzer: Bravo, bravo!)«
Liebknecht schloß:
»Die Anleihe, die man von uns fordert, ist für die Durchführung der Annexion bestimmt, wie das ja auch aus dem Wortlaut der Thronrede hervorgeht. Die Annexion aber bringt uns nicht den Frieden, sondern den Krieg. Indem sie auch nach dem Frieden eine beständige Kriegsgefahr schafft, befestigt sie in Deutschland die Militärdiktatur.... Aus diesen Gründen bin ich natürlich gegen die Kriegsbeile und habe mit meinem Freunde Bebel den Antrag auf Verweigerung derselben gestellt.«
Dieser Antrag wurde gegen fünf Stimmen abgelehnt.
In der Sitzung vom 28. November, in der die dritte Lesung der Kriegsanleihe auf der Tagesordnung stand, nahm der von unserer Partei gewählte Dr. Götz-Lindenau, der im März desselben Jahres noch die Kandidatur Johann Jacobys für den Reichstag befürwortet hatte, das Wort, um sich für die Kriegsanleihe auszusprechen, obgleich ihm dieses, wie er versicherte, »blutessigsauer« werde, und obgleich er aus der Thronrede entnommen, daß der Krieg nicht den Frieden bringe und auch keine Verminderung der Militärlasten zu hoffen sei. Die Rede war ungemein konfus. Bezeichnend war, daß, als wir in dieser Sitzung gegen Angriffe durch Zwischenrufe uns wehrten, Lasker die Frage an den Präsidenten richtete, ob nicht durch sofortige Aenderung der Geschäftsordnung diesem »Unfug« ein Ende gemacht werden könne. Liebknecht antwortete, indem er auf die beleidigenden Zurufe und Reden hinwies, die wir in der Sitzung am 26. November zu hören bekommen hatten. Als Liebknecht dann bei dem §1 des Gesetzentwurfes über die Kriegsanleihe auf die gehörten Angriffe antworten wollte, unterbrach ihn der Präsident, er könne nicht auf die allgemeine Debatte zurückgreifen. Als Liebknecht mit vollem Recht diesen Standpunkt nicht anerkannte, denn der §1 enthielt die Geldforderung für Fortsetzung des Krieges, entzog ihm das Haus auf Anfrage des Präsidenten das Wort. Gegen die Kriegsanleihe stimmten in dritter Lesung Dr. Ewald (Hannoveraner), Fritzsche, Hasenclever, Liebknecht, Mende, Schraps, Schweitzer und ich.
Einige Tage später stand eine Interpellation des Abgeordneten Duncker und Genossen, betreffend die Handhabung der Verfassungsbestimmungen während des Kriegszustandes, auf der Tagesordnung. Dieselbe richtete sich gegen die Maßnahmen des Generals Vogel v. Falckenstein. Uns war eine solche Interpellation einzubringen nicht möglich, weil wir nicht die nötigen dreißig Unterschriften bekamen. Wenn man in bürgerlichen Kreisen den Gewaltakt gegen unseren Parteiausschuß sich gefallen ließ, so hatte die Verhaftung Johann Jacobys viel böses Blut gemacht; sie paßte schlecht zu dem, was man von der neuen Reichsgründung erwartete. Jacoby harte sich nach seiner Verhaftung direkt beschwerdeführend an Bismarck im Versailler Hauptquartier gewandt und dessen Intervention für seine Freilassung verlangt, da seine Verhaftung ungesetzlicherweise erfolgt sei. Bismarck gab in seiner Antwort an Jacoby indirekt diesem recht, er tat aber nichts zu seiner Freilassung, offenbar wollte er es mit den Militärs im Hauptquartier, mit denen er auf sehr gespanntem Fuße stand, nicht noch mehr verderben. Aber nach der Niederschrift seines Leibjournalisten Moritz Busch, der über die Herd- und Tischunterhaltungen Bismarcks getreulich Bericht erstattete, äußerte er am 20. Oktober, als das Gespräch auf die Verhaftung Jacobys kam: »Ich freue mich darüber ganz und gar nicht; der Parteimann mag das tun, weil seine Rachegefühle dadurch befriedigt werden; der politische Mann, die Politik kennt solche Gefühle nicht; die fragt nur, ob es nützt, wenn politische Gegner mißhandelt werden.« Und als am 24. November, also wenige Tage vor der Interpellation im Reichstag, das Gespräch wieder auf das Thema kam, äußerte Bismarck – nach derselben Quelle – , die Militärs befragten ihn zu selten um seine Meinung. »So war's auch mit der Ernennung Vogel v. Falckensteins, der jetzt den Jacoby gemaßregelt hat. Wenn ich mich vor dem Reichstag darüber aussprechen müßte, würde ich meine Hände in Unschuld waschen; man hätte mir nichts Unangenehmeres einbrocken können. Ich bin militärfromm in den Krieg gekommen, künftig gehe ich mit den Parlamentarischen, und wenn sie mich weiter ärgern, lasse ich mir einen Stuhl auf die äußerste Linke stellen.«
Schade, daß er diese Drohung nicht wahr machte, ich würde mich sehr gefreut haben, wenn ich ihn in der nächsten Session, in der ich allein die äußerste Linke markierte, als Kampfgenossen an meiner Seite gehabt hätte.
Die Verhandlung, die am 3. Dezember stattfand, war sehr erregt. Duncker wies nach, daß Jacoby und Herbig zu unrecht verhaftet worden seien, dasselbe gestand er auch unseren nach Lötzen geschleppten Braunschweiger Genossen zu. Er verlangte – da mittlerweile, wie schon bemerkt, die gefangenen preußischen Staatsangehörigen in Rücksicht auf die bevorstehenden preußischen Landtagswahlen freigekommen waren – , daß Aehnliches künftig unterbleibe. Der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, nahm als Vertreter Bismarcks das Wort und versuchte die Maßregeln zu rechtfertigen. Ihm antwortete Windthorst, der ihm scharf zu Leibe ging und unter anderem bissig bemerkte, daß nach dem, was er heute vom Präsidenten des Bundeskanzleramtes gehört, er nicht recht daran glaube, daß es nunmehr gelingen werde, was zu Anfang des Krieges versprochen worden war, »daß der deutsche Staat ein Staat der Gottesfurcht, der guten Sitten und der wahren Freiheit werde«. Er empfahl höhnisch, in die Friedensbedingungen mit Frankreich die Bestimmung aufzunehmen, daß es uns auch Cayenne und Lambessa abtrete, damit man geeignete Orte habe, um unbequeme Persönlichkeiten unterzubringen. Im weiteren beschwerte sich Windthorst bitter über die Mißhandlungen, die Vogel v. Falckenstein gefangen gesetzten Hannoveranern habe zuteil werden lassen. Im Laufe der Debatte nahm auch ich das Wort, um die Behandlung zu schildern, die unseren gefangen gesetzten Genossen auf der Reise nach und von Lötzen und während ihrer Haft in Lötzen widerfahren sei. Auch beschwerte ich mich über das generelle Versammlungsverbot in Sachsen. Die Maßregeln seien ein Hohn auf Recht und Gesetz. Miquel billigte, wie nicht anders von ihm zu erwarten war, nicht nur die Maßregeln Vogel v. Falckensteins, er behauptete sogar, daß durch unsere Haltung in Deutschland Frankreich in seinem Widerstand bestärkt worden sei, eine Behauptung, deren Unwahrheit ich ihm sofort nachwies. Bekanntlich gehen in der Regel Interpellationen aus wie das berühmte Hornberger Schießen, so auch diesmal.
In einer der folgenden Sitzungen standen die Verträge mit Baden, Hessen, Württemberg und Bayern zur Beratung. Ich erklärte mich sowohl gegen diese wie gegen die neue Verfassung überhaupt. Das Volk werde in Bälde zur Einsicht darüber kommen, wie es mit der deutschen Freiheit und Einheit aussehe. Die drei Kriege, die Deutschland seit zehn Jahren durchzuführen gehabt habe, hätten es in freiheitlicher Beziehung nur zurückgebracht. Doch das Volk werde einst sein Selbstbestimmungsrecht fordern und erlangen und dann eine Verfassung sich selber schaffen, die nur die Republik zum Ziele haben könne.
Nach mir nahm der Geheime Regierungsrat Wagener das Wort und erzählte zu Liebknechts und meiner großen Ueberraschung, daß wir, wie er aus der ihm soeben übermittelten »Börsenzeitung« ersehen habe, von dem französischen Konsul in Wien, Lefaivre, den Dank der französischen Republik für unser Auftreten im Reichstag empfangen hätten. (Lebhafte Zurufe: Hört! Hört! und Pfui!) Ich konnte darauf in einer persönlichen Bemerkung nur antworten, daß bis zu diesem Augenblick weder Liebknecht noch mir ein solcher Brief zugegangen sei, was mir um so unbegreiflicher wäre, da, wie ich eben gehört, auch die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« den Brief abgedruckt habe. Ich sei der Meinung, daß der Brief eine elende Modifikation sei, die vom preußischen Pressebureau ausgehe, um mich und Liebknecht zu diskreditieren. In der folgenden Sitzung hielt Wagener seine Behauptung aufrecht. Der Brief, der an meine Adresse geschickt worden, sei echt. Ich antwortete am Schlusse der Sitzung, daß ich bis zu diesem Augenblick den fraglichen Brief nicht erhalten habe, also bei meiner ersten Erklärung verbleiben müsse. Schließlich erhielt ich ihn aber dennoch; er war an Liebknecht und mich gerichtet. Der Brief existierte also, er war vom 2. Dezember datiert und hatte sechs Tage gebraucht, bis er in meine Hände gelangte. Er lautete:
»Meine Herren! Im Namen der französischen Republik, deren Regierung mich zu ihrem speziellen Vertreter bei der Demokratie Deutschlands bestellt hat, erachte ich es für meine Pflicht, Ihnen für die edlen Worte, die Sie im Berliner Parlament inmitten einer durch den Geist der Eroberung und der Trunkenheit des Militarismus fanatisierten Versammlung gesprochen haben, meinen Dank auszudrucken. Der Mut, den Sie bei dieser Gelegenheit bewiesen, hat die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf Sie gelenkt und Ihnen einen ruhmvollen Platz in der Reihe der Streiter für Freiheit erobert. Der freisinnige und humanitäre Geist Deutschlands erleidet in diesem Augenblick, wie Sie, meine Herren, es so beredt dargetan haben, eine jener Verfinsterungen, die wir selbst während der Periode unseres ersten Kaiserreichs durchgemacht haben, und geht denselben Enttäuschungen entgegen. Eine Sucht nach brutaler Herrschaft hat sich der erleuchteten Geister bemächtigt. Jene Denker, die noch vor kurzem solche Lichtstrahlen über die Welt aussandten, sind heute unter der Eingebung des Herrn v. Bismarck zu Aposteln des Mordes und der Vernichtung einer ganzen Nation geworden. Sie, meine Herren, sind es und Ihre Partei, welche bei diesem allgemeinen Abfall die große deutsche Tradition aufrecht erhalten. – In unseren Augen sind Sie die großen Vertreter einer deutschen Nation, die wir mit einer wahrhaft brüderlichen Liebe umfassen und die wir zu lieben nicht aufgehört haben. Frankreich begrüßt Sie, meine Herren, und dankt Ihnen, denn es erblickt in Ihnen die Zukunft Deutschlands und die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen den beiden Völkern.«
Der Brief mochte gut gemeint sein, aber in jenem Augenblick bedeutete er eine große Taktlosigkeit. Wer ihn veröffentlichte, haben wir nie erfahren. Ich vermute, der Konsul wurde zu dem Briefe von einer Seite animiert, die ein Interesse daran hatte, uns zu schaden. –
Während der Verfassungsberatung kam es zu einer heiteren Szene. Es war bekannt geworden, daß der König Ludwig II. von Bayern nach langem Drängen und Unterhandeln sich bereit erklärt hatte, die deutschen Bundesfürsten und freien Städte zu ersuchen, dem König von Preußen die deutsche Kaiserkrone anzutragen. Die Mitteilung dieses Ereignisses sollte mit einer gewissen feierlichen Ueberraschung im Reichstag erfolgen. In der betreffenden Sitzung erhob sich der Abgeordnete Friedenthal und stellte eine diesbezügliche Anfrage. Darauf erhob sich feierlich der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, um das betreffende Schriftstück vorzulesen. Aber er wußte nicht, in welche Tasche er es gesteckt hatte. In höchster Aufregung durchsuchte er krampfhaft alle Taschen, ein Schauspiel, das im Hause ungeheure Heiterkeit hervorrief. Schließlich fand er den Brief, aber die Wirkung war verpufft. Delbrück war ein sehr tüchtiger Beamter, aber die trockenste Bureaukratennatur, die man sich vorstellen konnte. Eine feierliche Manifestation zu inszenieren, dazu war er ganz und gar nicht der Mann. Bismarck brauste auf, als er in Versailles von der mißlungenen Manifestation hörte.
In dieser Debatte erregte eine Rede Liebknechts über die neue Verfassung und das neue Kaisertum Stürme der Entrüstung. Er warf einen Rückblick auf die deutschen Einheitsbestrebungen, die eine ganz andere Einheit Deutschlands als Ziel gehabt hätten, als jene, die jetzt geschaffen werde. Diese sei ein Gewaltwerk von oben, über die sich die Fürsten verständigt hätten und zu dem der Reichstag einfach Ja sagen solle und müsse. Die Verfassung zeige, daß sie im Heerlager zu Versailles ihren Ursprung habe. Die dort abgeschlossenen Verträge mit den süddeutschen Staaten zeigten aber auch, daß es sich nicht einmal um eine äußere Einheit handle. Das Hindernis einer wirklichen Einheit Deutschlands bilde das Haus Hohenzollern, dessen Interessen im Gegensatz zu denen des deutschen Volkes stünden. Die Krönung des neuen Kaisers solle man auf dem (Berliner) Gendarmenmarkt vornehmen, der das geeignete Symbol hierfür sei. Denn dieses Kaisertum könne nur durch den Gendarmen aufrecht erhalten werden. Mehrere Ordnungsrufe und eine Reihe von Zurechtweisungen durch den Präsidenten gaben der Rede die Weihe.
Am 10. Dezember wurde eine Deputation gewählt, die dem König die beschlossene Adresse mit den Glückwünschen des Reichstags zur Kaiserwürde nach Versailles überbringen sollte. Die Fortschrittspartei, die mit uns zum größeren Teil gegen das Verfassungswerk stimmte, hatte dem Bureau mitgeteilt, daß sie auf Beteiligung an der Deputation verzichte. Die Mitglieder sollten durch das Los bestimmt werden. Wir schwiegen und ließen es darauf ankommen, ob einer von uns durch das Los für die Deputation bestimmt würde. Selbstverständlich hätte er nicht angenommen. Aber das Glück blieb uns fern. Als der Name Rothschilds aus der Urne gezogen wurde, ging Windthorst feierlich auf diesen zu, schüttelte ihm kräftig die Hand und gratulierte ihm zur Wahl. Das ganze Haus brach in stürmische Heiterkeit aus.
Die Deputation war von ihrer von vielen Hindernissen begleiteten Reise und von dem Empfang im Versailler Hauptquartier nicht entzückt. Der Empfang stand so gar nicht im Einklang mit den Vorstellungen, die sich die Deputation von ihrer »hehren Mission« gemacht hatte. Der König selbst stand der Kaisermache so gleichgültig gegenüber, daß er ganz überrascht war, als der Kronprinz ihm mitteilte, die anwesenden Fürsten und Generale hätten den Wunsch, bei Ueberreichung der Reichstagsadresse durch die Deputation anwesend zu sein. Die trockene Antwort des Königs lautete: Wenn wirklich jemand von den Genannten dabei zu sein Lust habe, habe er nichts dawider. Seine Stimmung wäre wohl eine der neuen Würde günstigere gewesen, hätte die Deputation ihm in Aussicht stellen können, daß im Falle der Annexion von Elsaß-Lothringen dieses Preußen angegliedert werden solle. Es war der erste große Krieg, den ein Hohenzoller siegreich führte, der ohne Landeserwerb für Preußen endete. Das konnte ein Hohenzoller nur schwer verwinden.
Es ist also wie so vieles andere eine Geschichtslegende, zu behaupten, der damalige König habe die deutsche Kaiserwürde als das Ziel seines Sehnens angesehen. Daher entspricht auch die Darstellung, die der Kaiser Wilhelm II. am 26. Februar 1894 in einer Rede bei dem Festessen des Provinziallandtags der Provinz Brandenburg gab, nicht den gerichtlichen Tatsachen. Damals führte Wilhelm II. mit Hinweis auf die Einigung Deutschlands aus:
»Das alte Deutsche Reich wurde verfolgt von außen, von seinen Nachbarn, und von innen, durch seine Parteiungen. Der einzige, dem es gelang, gewissermaßen das Land einmal zusammenzufassen, das war der Kaiser Friedrich Barbarossa. Ihm dankt das deutsche Volk noch heute dafür. Seit der Zeit verfiel unser Vaterland, und es schien, als ob niemals der Mann kommen sollte, der imstande wäre, dasselbe wieder zusammenzufügen. Die Vorsehung schuf sich dieses Instrument und suchte sich aus den Herrn, den wir als den ersten großen Kaiser des neuen Deutschen Reiches begrüßen konnten. Wir können ihn verfolgen, wie er langsam heranreifte von der schweren Zeit der Prüfung bis zu dem Zeitpunkt, wo er als fertiger Mann, dem Greisenalter nahe, zur Arbeit berufen wurde, sich jahrelang auf seinen Beruf vorbereitend, die großen Gedanken bereits in seinem Haupte fertig, die es ihm ermöglichen sollten, das Reich wieder erstehen zu lassen. Wir sehen, wie er zuerst sein Heer stellt und aus dinghaften Bauernsöhnen seiner Provinzen sie zusammenreiht zu einer kräftigen, waffenglänzenden Schar; wir sehen, wie es ihm gelingt, mit dem Heer allmählich eine Vormacht in Deutschland zu werden und Brandenburg-Preußen an die führende Stelle zu setzen. Und als dies erreicht war, kam der Moment, wo er das gesamte Vaterland aufrief und auf dem Schlachtfeld der Gegner Einigung herbeiführte.«
In Wahrheit lagen die Dinge so, daß nicht der alte Wilhelm, sondern sein Sohn, der Kronprinz – der spätere Kaiser Friedrich – , Sehnsucht nach der Kaiserwürde empfand und damals in Versailles alles aufbot, um dieselbe durchzusetzen. Sein Freund, der bekannte Schriftsteller Gustav Freitag, behauptete sogar, daß dem Kronprinzen allein die Erlangung der Kaiserwürde für die Hohenzollern zu danken sei. Sicher ist, daß neben dem Kronprinzen auch Bismarck alles aufbot, um die Kaiserwürde für die Hohenzollern zu erlangen. Bismarck, der sicher hier der kompetenteste Beurteiler ist, schreibt über die Stellung des Königs zur Kaiserwürde in seinen »Gedanken und Erinnerungen«:
Die Kaiserkrone erschien ihm im Lichte eines übertragenen modernen Amtes, dessen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft war, den großen Kurfürsten bedrückt hatte. Bei den ersten Erörterungen sagte er: »Was soll mir der Charakter-Major?« worauf ich unter anderem erwiderte: »Euer Majestät wollen doch nicht ewig ein Neutrum bleiben,'das Präsidium'? In dem Ausdruck 'Präsidium' liegt eine Abstraktion, in dem Worte 'Kaiser' eine große Schwungkraft.«
Ausführlich und sehr lehrreich wird die Kaiserfrage in des Kronprinzen Friedrich Tagebuch erörtert, das der Geheimrat Geffken nach dem Tode Friedrichs in der »Deutschen Rundschau«, Oktoberheft 1888, zum größten Aerger Bismarcks veröffentlichte. Dort schreibt Friedrich unter dem 30. September 1870:
»Ich rede Seine Majestät auf die Kaiserfrage an, die im Anrücken begriffen; er betrachtet sie als gar nicht in Aussicht stehend; beruft sich auf du Bois-Reymonds Aeußerung, der Imperialismus liege zu Boden, so daß es in Deutschland künftig nur einen König von Preußen, Herzog der Deutschen, geben könne. Ich zeige dagegen, daß die drei Könige uns nötigen, den Supremat durch den Kaiser zu ergreifen, daß die tausendjährige Kaiser- oder Königskrone nichts mit dem modernen Imperialismus zu tun habe, schließlich wird sein Widerspruch schwächer.«
Und am 17. Januar, dem Tage vor der Ausrufung des Königs zum deutschen Kaiser, schreibt Friedrich:
»Die Reichsfarben machen wenig Bedenken, die, wie der König sagt, sind nicht aus dem Straßenschmutz gestiegen; doch werde er die Kokarde nur neben der preußischen dulden, er verbat sich die Zumutung, von einem kaiserlichen Heere zu hören, die Marine aber möge kaiserlich genannt werden; man sah, wie schwer es ihm wurde, morgen von dem alten Preußen, an dem er so festhält, Abschied nehmen zu müssen. Als ich auf die Hausgeschichte hinwies, wie wir vom Burggrafen zum Kurfürsten und dann zum König gestiegen seien, wie auch Friedrich I. ein Scheinkönigtum geübt und dasselbe doch so mächtig geworden, daß uns jetzt die Kaiserwürde zufalle, erwiderte er: Mein Sohn ist mit ganzer Seele bei dem neuen Stand der Dinge, während ich mir nicht ein Haar breit daraus mache und nur zu Preußen halte.«
Am 11. Dezember, nach Schluß des Reichstags, reisten Liebknecht und ich nach Leipzig zurück. Am 15. referierten wir in einer öffentlichen Versammlung des sozialdemokratischen Arbeitervereins über die Verhandlungen des Reichstags. Die Versammlung war so massenhaft besucht, daß sie zur Volksversammlung wurde. Unter den Zuhörern befanden sich eine Menge französischer Offiziere in Zivil, die als Kriegsgefangene in Leipzig interniert waren. Die Versammlung verlief ausgezeichnet; dieselbe nahm mit großer Begeisterung eine Resolution an, in der uns für unsere Haltung im Reichstag gedankt wurde. Zustimmungen zu unserer Haltung waren uns auch aus einer Reihe anderer Orte zugegangen. Es war auf längere Zeit die letzte Versammlung, die wir abhalten sollten. Am 17. traf uns der Schlag, den wir längst erwartet hatten. Ich hatte bereits in einem Briefe vom 1. Dezember an den Parteigenossen F.A. Sorge in Hoboken geschrieben: Die Wut der »patriotischen« Kreise gegen uns ist grenzenlos; wenn man uns nächstens packen kann, dann geschieht's sicher und fest.