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Mit einem Aufruf, datiert vom 12. Oktober 1876, eröffnete das Zentralwahlkomitee den Wahlkampf. Auf seinen und vieler Genossen Wunsch hatte ich wiederum eine Broschüre, betitelt: »Die parlamentarische Tätigkeit des deutschen Reichstags und der Landtage von 1874 bis 1876«, verfaßt. Die Schrift erschien diesmal unter meinem Namen in der Genossenschaftsbuchdruckerei zu Berlin, also unter den Augen Tessendorfs, der diesen Umstand, wie ich bald genug zu meinem Schaden erfuhr, gebührend ausnützte.
Am 30. Oktober trat der Reichstag zu seiner letzten Session zusammen. Diese konnte aber nur kurz sein, und da Gesetzentwürfe von besonderem Interesse für uns nicht vorlagen, befaßten wir uns mit den parlamentarischen Verhandlungen nur wenig, aber um so mehr mit der Wahlagitation, die mich in jenen Wochen von Leipzig nach Köln, von dort nach Königsberg i.Pr. und von hier nach Breslau usw. führte. In Königsberg mußte ich an zwei Abenden in überfüllten Versammlungen sprechen, weil die Diskussion, die mein Vortrag hervorgerufen hatte, erst am zweiten Abend zu Ende geführt werden konnte. In der ersten Versammlung war auch Johann Jacoby anwesend, den man zum Ehrenvorsitzenden der Versammlung ernannt hatte. Ich lernte erst jetzt Jacoby persönlich kennen. Der kaum mittelgroße Mann, der offensichtlich in seinem ganzen Wesen zurückhaltender Natur war und nur durch die Verhältnisse gezwungen sich zu einem demonstrativen Eingreifen in die öffentlichen Angelegenheiten herbeiließ, machte auf mich einen ungemein günstigen Eindruck. Ich hatte ihn vor der ersten Versammlung in seiner Wohnung besucht, wobei er mich in seinem sehr geräumigen Arbeitszimmer empfing, dessen Regale und Schränke bis an die Decke mit Büchern vollgepfropft waren. Ich beneidete ihn um diesen ideal ausgestatteten Raum, der in seiner behaglichen Einrichtung zum Arbeiten geradezu einlud. Jacoby starb im nächsten Frühjahr infolge einer Steinoperation; im Oktober des vorhergehenden Jahres war ihm Franz Ziegler im Tode vorausgegangen.
Nach Leipzig zurückgekehrt, ließ ich eine Volksversammlung einberufen mit der Tagesordnung: »Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum Sozialismus.« Obgleich wir den größten Saal Leipzigs zur Verfügung hatten, faßte er nicht die Masse der herbeiströmenden Zuhörer, von denen viele wieder wegen Mangel an Raum umkehren mußten. Die Frauen waren sehr zahlreich vertreten. Ich setzte ihnen unter anderem auseinander, welch lebhaftes Interesse auch sie an den bevorstehenden Reichstagswahlen nehmen müßten; da sie aber vorläufig kein Wahlrecht besäßen, sei es ihre Aufgabe, agitatorisch in den Wahlkampf einzugreifen und ihre Männer und wahlberechtigten männlichen Verwandten für die Beteiligung an der Wahl anzutreiben, und zwar zugunsten der Sozialdemokratie, die für ihre volle politische und soziale Gleichberechtigung eintrete. Die Versammlung verlief nach Wunsch; es war die erste Versammlung, in der die Frauen zur politischen Beteiligung bei einer Wahl aufgefordert wurden.
Von Leipzig eilte ich nach Dresden zur Agitation, woselbst ich als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Die organisierten Genossen im 17. sächsischen Wahlkreis Glauchau-Meerane, in dem ich ebenfalls wieder kandidierte, hatten bereits im voraus erklärt, sollte ich auch in einem zweiten Wahlkreis gewählt werden, so seien sie zu einer Neuwahl an meiner Stelle bereit, denn daß sie im 17. Wahlkreis wieder siegen würden, sah alle Welt als selbstverständlich an. Und so geschah es.
In Dresden erhielt ich zunächst die relative Mehrheit unter den aufgestellten drei Kandidaten. Ich kam mit dem Kandidaten der Liberalen, Professor Maihoff, in engere Wahl und siegte über diesen mit 10837 gegen 9920 Stimmen. Als mir am Tage nach der Wahl die Depesche, die meinen Sieg meldete, zuging – ich hatte gebeten, am Wahltagabend mir das Wahlresultat nicht zu telegraphieren – , fragte ich meine Frau, ob wir noch eine Flasche Wein im Keller hätten, und als sie dies bejahte, äußerte ich: Gut, dann wollen wir sie heute mittag auf das Wohl meiner Dresdener Wähler trinken. Darauf meinte mein Töchterchen, das dieser Unterhaltung beigewohnt hatte: Papa, wird Herr Professor Maihoff heute mittag auch eine Flasche Wein trinken? Ich gab lachend zur Antwort: Das wüßte ich nicht, ich kennte nicht den Geschmack des Herrn Professors. An meine Stelle im 17. Wahlkreis wurde nunmehr Wilhelm Bracke gewählt.
Der Ausfall der Wahlen war für uns ein sehr günstiger. Hasselmann war zwar in Barmen-Elberfeld mit 14245 gegen 14485 Stimmen unterlegen, aber der benachbarte Solinger Kreis schickte Rittinghausen mit 10636 gegen 7453 Stimmen in den Reichstag, und beinahe wäre auch Grillenberger in Nürnberg gewählt worden, der mit 12089 gegen 12625 Stimmen seinem Gegner unterlag. Die Partei war bei 24 Stichwahlen beteiligt. Gewählt wurden 12 Abgeordnete: Auer, Blos, Bracke, der Hofbaurat Demmler-Schwerin im 13. sächsischen Wahlkreis Leipzig-Land, Fritzsche, Hasenclever, A. Kapell, Liebknecht, Most, Motteler, Rittinghausen und ich.
Wie der alte Demmler uns gelegentlich erzählte, hatte er die Gepflogenheit, wenn er auf längere Zeit Schwerin verließ, sich bei dem Großherzog von Mecklenburg, als dessen ehemaliger Hofbaumeister er das prachtvolle Schweriner Schloß gebaut hatte, zu verabschieden. So auch dieses Mal, als er die Reise nach Berlin zum Reichstag antrat. Bei dieser Gelegenheit hatte der Großherzog geäußert: »Ich wünsche Ihnen glückliche Reise, aber lieber Demmler – und dabei erhob er lächelnd drohend den Finger – , machen Sie es in Berlin nur nicht zu arg.« Hier sei bemerkt: Demmler hatte den Schweriner Schloßbau ohne Meister allein durch Vertrag mit den Arbeitern gebaut und war mit dem erzielten Resultat sehr zufrieden.
Am 2. Februar schrieb ich an den Parteigenossen Schlüter in Dresden, der Expedient unseres dortigen Parteiorgans war, daß ich dem Wahlkommissar die Annahme der Dresdener Wahl mitgeteilt hätte, und bemerkte dazu:
»Es amüsiert mich, daß es gerade neunzehn Jahre waren, seitdem ich als Handwerksbursche in die Fremde ging, natürlich ohne eine Ahnung, daß ich neunzehn Jahre später auf denselben Tag an einen Wahlkommissar meine Erklärung für die Annahme des Reichstagsmandats für die sächsische Residenz abschicken würde. Der alte Napoleon äußerte einmal, jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister, heute könnte man sagen: jeder Handwerksbursche trägt ein Reichstagsmandat im Berliner. Es geht vorwärts. Unsere Freunde, die Feinde, sollen leben.«
Und die letzteren machten zu dem Wahlausfall böse Gesichter, denn weit mehr als die paar gewonnenen Mandate lag ihnen das starke Wachstum der gewonnenen Stimmen in den Gliedern. Die Stimmenzahl der Partei war von 351670 im Jahre 1874 auf 493447 gestiegen, die wir jetzt im Januar 1877 auf unsere Kandidaten vereinigten. Das war ein Mehr von 141777 Stimmen gleich 36 Prozent. In Sachsen hatten wir die relative Mehrheit der Stimmen erhalten, 124600 von 318740.
Das System Tessendorf, das allmählich über die Grenzen Preußens hinaus in den meisten Mittel- und Kleinstaaten Schule gemacht hatte, war also, wie der Wahlausfall zeigte, elend zusammengebrochen. Und wenn nunmehr auch das Wüten gegen die sozialdemokratische Presse und die sozialdemokratischen Organisationen von neuem losging und gegen die Vertreter der Partei Urteile gefällt wurden eins drakonischer als das andere, auch das half nicht. Es half auch nichts, als Bismarck, vom Glück begünstigt, endlich erhielt, wonach er lange gelechzt, ein schneidiges Ausnahmegesetz gegen die ihm verhaßte und doch so gefürchtete Partei.