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Die erste Session der ersten Legislaturperiode des norddeutschen Reichstags wurde am 10. September 1867 eröffnet. Unter den Abgeordneten, die neugewählt waren, ragten besonders hervor Freiherr v. Hoverbeck, Franz Ziegler und v. Kirchmann. Alle drei gehörten zur Fortschrittspartei! Kirchmann hatte wie Ziegler eine längere demokratische Vergangenheit hinter sich. So gehörte er in der preußischen Nationalversammlung im Jahre 1848 zu den Steuerverweigerern. Er war aber auch einer der am meisten verfolgten preußischen Richter, gegen den sich die Reaktion die nichtswürdigsten Mittel erlaubte. Schließlich wurde er seines Amtes als Vizepräsident des Appellationsgerichts in Ratibor ohne Pension entsetzt, weil er einen Vortrag gehalten hatte über den Kommunismus in der Natur, in dem er für eine Einschränkung der Bevölkerungsvermehrung eintrat, und zwar im Interesse einer höheren Kulturentwicklung und der Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheit. Er hatte darin vor seinen Zuhörern ausgeführt: »Das Ideal einer fortschreitenden Gleichheit aller Menschen im Glück und Wohlbefinden liegt so tief in der Brust eines jeden, daß man nicht zu verzagen braucht. Die Bewegung, die Annäherung zu diesem Ziele wird vorschreiten, des seien Sie gewiß. Wenn viertausend Jahre dazu gehörten, um nur die Gleichheit des Rechts in einem hohen Grade zu gewinnen, so dürfen wir nicht den Mut verlieren, weil die Gleichheit der Glücksgüter, diese viel schwerere Aufgabe, innerhalb zweier Generationen nicht hat erreicht werden können.« Dieser Vortrag sollte »unsittlich« sein und einen so unsittlichen höheren Richter konnte der allezeit so fromme und sittliche preußische Staat nicht gebrauchen. Kirchmann war wohl der philosophisch gebildetste Kopf im Reichstag, jedenfalls stand er an Bildung und Wissen hoch über den Mitgliedern des Gerichtshofs, die ihm seine Stellung aberkannten. Außer den drei Genannten war auch Feldmarschall v. Moltke Mitglied des Hauses geworden. Ferner gehörte dem Hause der später berüchtigt gewordene Strousberg an, der es meisterhaft verstand, zahlreiche Vertreter des preußischen Hochadels als Lockvögel für seine Gründungen zu gewinnen, deren Unterschriften denn auch unter seinen Prospekten prangten. Das schien um so unbegreiflicher, als Strousbergs Aeußeres schon den Eindruck eines höchst unsympathischen Emporkömmlings machte. Sein Auftreten war protzenhaft. Die Feste, die er veranstaltete, machten in dem Berlin jener Zeit großes Aufsehen. Die Berliner Presse veröffentlichte lange Berichte über dieselben. So verschwenderisch wie er hatte bis dahin in Berlin kein Privatmann gewirtschaftet. Es war die Aera des Großkapitalismus, die Strousberg einläutete. Aristokratie und Plutokratie verschwägerten sich.
Meine erste Rede in der neuen Session hielt ich anläßlich einer Adreßdebatte am 24. September. Ich legte Verwahrung dagegen ein, daß in der Adresse an das Bundesoberhaupt – den König von Preußen – sich der Reichstag als die Vertretung der deutschen Nation bezeichne. Der Präsident unterbrach mich, es gebe keine andere Vertretung der Nation. Darauf antwortete ich, der Reichstag vertrete nur einen Teil der Nation. Man habe 18 Millionen Deutsche preisgegeben – 10 Millionen Deutsch-Oesterreicher, 8 Millionen Süddeutsche – und Luxemburg, das ebenfalls aus dem Bunde geschieden sei. Außerdem bestehe auf Grund Artikel 4 des Prager Friedensvertrags die Gefahr, daß wir eines Tages die nordschleswigschen Distrikte an Dänemark abtreten müßten. Das sei keine nationale Politik.
Darauf nahm Bismarck das Wort. Er wolle mir nicht persönlich entgegnen – bemerkte er etwas maliziös – , sondern weil ich mich zum Mundstück eines weitverbreiteten Irrtums gemacht hätte. Luxemburg sei nicht preisgegeben, was er durch eine Reihe Sophismen zu beweisen versuchte. Oder ob ich etwa wünschte, daß man wegen Luxemburg habe einen Krieg machen sollen? Das fiel mir selbstverständlich nicht ein, ich wollte nur konstatieren, daß die alten Beziehungen des Landes zu Deutschland infolge Bismarcks »nationaler« Politik gelöst werden mußten, und zwar auf Verlangen Napoleons. Luxemburg war vordem deutscher Bundesstaat, es hatte Sitz und Stimme im Bundestag in Frankfurt, und die Stadt Luxemburg war deutsche Bundesfestung, und da der Großherzog von Luxemburg der König von Holland war, so waren Hollands Interessen in hohem Grade an die Deutschlands gekettet, was bei internationalen Verwicklungen ein Vorteil war.
Am 17. Oktober hielt ich meine zweite Rede bei der Beratung des Entwurfes betreffend die Wehrpflicht. Der Gesetzentwurf fordere nur scheinbar die allgemeine Wehrpflicht, denn alle Wehrfähigen wehrpflichtig zu machen, sei bei der langen Dienstzeit unmöglich. Alle Wehrfähigen militärisch auszubilden, sei aber ein Akt der Gerechtigkeit und eine Wohltat für das Land. Das sei nur bei einem Wehrsystem möglich, wie es infolge der Militärreorganisation von Scharnhorst und Gneisenau in Preußen von 1809 bis 1813 bestanden habe. Daß man mit kürzerer Dienstzeit ebenfalls kriegstüchtige Mannschaften liefern könne, habe 1866 auch Sachsen gezeigt, dessen weitaus größte Zahl der Mannschaften nicht über neun Monate bei den Fahnen gewesen sei. Auch das in Preußen bestehende Einjährig-Freiwilligensystem beweise es.
In großer Erregung trat mir Hans Blum entgegen, der sehr ausfallend gegen mich wurde. Woher ich die Stirne zu einer solchen Rede nehme? (Rüge des Präsidenten.) In persönlicher Bemerkung antwortete ich Blum, ich hätte die Stirne hergenommen, wo sein Vater sie 1848 hergenommen habe, als er für ähnliche Forderungen wie ich im Frankfurter Parlament eintrat. Liebknechts und meine Reden bei diesem Gesetzentwurf hatten nach außen Aufsehen erregt. Wir erhielten über dreißig Zustimmungsadressen, fast alle aus preußischen Städten. Die Leipziger Parteigenossen schickten uns als Anerkennung einen neun Pfund schweren Schinken, der uns als diätenlosen Abgeordneten, die wir jetzt waren, willkommen war.
Bei der Beratung des Paßgesetzes stellten Liebknecht und ich einen Antrag, wonach die Polizei kein Recht zu Ausweisungen haben solle. Zum Freizügigkeitsgesetz stellten wir Anträge, wonach die Polizei niemand Aufenthaltsbeschränkungen unterwerfen dürfe, solche sollten nur infolge eines richterlichen Urteils ausgesprochen werden können. Alle bisher erfolgten Ausweisungen sollten mit Inkrafttreten des Gesetzes aufgehoben sein. In der Rede, mit der Liebknecht den Antrag begründete, kam er auf die Vorgänge zu sprechen, die 1865 zu seiner Ausweisung aus Preußen und Herbst 1866 zu seiner Verurteilung wegen Bannbruch führten. Natürlich wurden die Anträge abgelehnt.
Die Session ging bereits am 26. November zu Ende.
Im Frühjahr 1868 wurde die Session des Reichstags, die am 23. März eröffnet worden war, unterbrochen; es sollte nach den Osterferien das Zollparlament zusammentreten, das für den 27. April nach Berlin berufen worden war. Dessen Sitzungen wurden im Sitzungssaal des preußischen Landtags – damals am Dönhofsplatz – abgehalten, weil für die um rund hundert größere Abgeordnetenzahl der Saal des Herrenhauses nicht reichte. Die Arrangeure für die Verteilung der Plätze begingen dabei die kleine Bosheit, daß sie Rothschild neben Liebknecht placierten. Alles lachte. Der Frankfurter Weltbankier hielt es aber in der gefährlichen Nachbarschaft nicht lange aus, er ließ sich einen anderen Platz anweisen.
Unter den süddeutschen Zollparlamentsmitgliedern befanden sich eine Anzahl, die bereits eine politische Rolle hinter sich hatten, so Ludwig Bamberger, der Staatsrechtslehrer Professor Bluntschli, der katholische Sozialpolitiker Jörg, der Statistiker Dr. Kolb, Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der spätere Reichskanzler, Professor Marquardsen, Rechtsanwalt Metz-Darmstadt, Moritz v. Mohl, Rechtsanwalt Oesterlen-Stuttgart, der gewesene Minister v. Roggenbach, Professor Schäffle, Professor Sepp, Freiherr v. Stauffenberg, Dr. Tafel-Stuttgart, Minister v. Varnbühler, Rechtsanwalt Völck – die Frühlingslerche – und andere.
Da ich bei der Eröffnungssitzung des Zollparlaments zugegen war, wurde ich neben den Abgeordneten Hans Blum, v. Watzdorf und Tobias Jugendschriftführer. Damals bestand noch in der Geschäftsordnung des Reichstags die Bestimmung, daß die bei der Eröffnungssitzung anwesenden vier jüngsten Mitglieder neben dem Alterspräsidenten das provisorische Bureau bildeten. Aus Aerger, daß auf diese Weise Sozialdemokraten in das Bureau kommen konnten, änderte man später die Geschäftsordnung. Jetzt wählt der Alterspräsident die vier Schriftführer des provisorischen Bureaus. An Kleinlichkeit der Auffassung der Opposition gegenüber hat es dem Reichstag nie gefehlt.
Unter den süddeutschen Abgeordneten befanden sich eine Anzahl, mit denen Liebknecht und ich in nähere Beziehungen traten: Ammermüller, Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle, Tafel usw. Mehrere derselben, wie Kolb und Tafel, gehörten zur Demokratie. Der größte Teil der süddeutschen Abgeordneten fand sich nur sehr schwer in die neue Ordnung der Dinge. Das Zollparlament war eine der Früchte des zwei Jahre vorher stattgehabten Bruderkriegs, dessen Wunden in Süddeutschland noch nicht vernarbt waren. Man fühlte sich immer noch als Besiegte. Zudem war das Zollparlament eine politische Zangengeburt, ein Verlegenheitsprodukt, nicht Fisch, noch Fleisch. Die Liberalen, als Vertreter der modernen kapitalistischen Entwicklung, wollten aus dem Zollparlament ein Vollparlament machen; dem widerstrebte nicht nur Bismarck, aus politischen Rücksichten auf Frankreich und die Stimmung in Süddeutschland, dem widerstrebten auch die Vertreter aller anderen Parteien in Süddeutschland, die in dem Nordbund, seiner Verfassung und seinen Einrichtungen kein politisches Ideal sahen. Nimmt man hinzu, daß zu jener Zeit noch ein besonders scharfer Gegensatz in der Volksgesinnung zwischen Süd und Nord bestand, auf Grund dessen man in Süddeutschland besser Wien und Paris als Berlin kannte, das Süddeutsche zu jener Zeit selten besuchten, so begreift man, daß die Geister scharf aufeinanderplatzten, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Doch zeigte sich auch hier, daß die Süddeutschen an Zähigkeit hinter den Norddeutschen zurückstanden. Liebknecht und ich hatten manchmal Mühe, dem uns näher stehenden Teil der süddeutschen Abgeordneten den Rücken zu steifen.
Der Versuch der Nationalliberalen, eine Adresse an den König von Preußen durchzusetzen, fiel nach heftiger Debatte mit 186 gegen 150 Stimmen, ein Resultat, das die Antragsteller ganz perplex machte. Ich nahm in dieser Session zu zwei längeren Ausführungen das Wort. Das erstemal sprach ich gegen den Entwurf eines Gesetzes, wonach der Tabak besteuert werden sollte, das zweitemal zu dem Zollvertrag zwischen dem Zollverein und Oesterreich. Ich stieß bei dieser Debatte scharf mit dem Abgeordneten Lasker zusammen. Derselbe hatte sich wieder einmal allerlei schulmeisterliche Bemerkungen gegen uns erlaubt und die Zustände in den Kleinstaaten in übertriebenster Weise angegriffen. Ich wies seine schulmeisterlichen Bemerkungen energisch zurück und äußerte wegen seiner Angriffe auf die Kleinstaaten, daß mich diese aus seinem Munde um so mehr wunderten, da er einem Kleinstaat (Meiningen) sein Mandat verdanke, eine Bemerkung, durch die ich die Lacher auf meiner Seite hatte.
Auf den 14. Mai war eine Volksversammlung von Berliner Demokraten und Parteigenossen nach dem Konzerthaus berufen worden, und zwar saßen unter anderem im Komitee: Buchhändler Jonas, der nachher wegen geschäftlicher Misere nach den Vereinigten Staaten auswanderte und dort die New Yorker Volkszeitung mitbegründete, deren Chefredakteur er wurde, Ludwig Löwe, Paul Singer, Fr. Stephani, Tölde usw. Von den süddeutschen Abgeordneten waren Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle und Tafel, ferner Liebknecht, Dr. Reinke, der vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Lennep-Mettmann gewählt worden war, und ich anwesend. Liebknecht griff die Politik der Fortschrittspartei und speziell Waldeck und Genossen heftig an, auch sprach er so scharf gegen den Nordbund, daß es einem Teil der Komiteemitglieder angst und bange wurde. Ich führte aus: Was jetzt unter den Formen der deutschen Einheit vorgenommen werde, sei nie und nimmer das einige Deutschland. Wir hegten die Erwartung, daß in einem Deutschland, das durch den Gesamtwillen der Bevölkerung getragen werde und an dessen Spitze eine Regierung stehe, die aus dem freien Willen des Volkes hervorgegangen sei, allein das wirkliche Heil für die Bevölkerung, insbesondere für die arbeitende Bevölkerung zu erwarten sei. Ich kritisierte weiter die Zustände im Norddeutschen Bund mit Bezug auf die Entwicklung des Militarismus: nicht Verminderung, sondern Vergrößerung der Lasten werde die Folge sein.
Dr. Max Hirsch, der mit seinem Anhang erschienen war, versuchte Lärm hervorzurufen; das Tischtuch sei zwischen uns zerschnitten. Das war es längst; sein lärmender Anhang wurde zur Ruhe verwiesen.
An einem Maisonntag waren Liebknecht und ich zu einem Fest des Berliner Schneidervereins geladen. Wir nahmen auf ihren Wunsch die Abgeordneten Oesterlen, Schäffle und Tafel zu demselben mit. Bei dem Ball kam es zu einem sogenannten Damenengagement. Die Damen stürzten sich auf uns fünf. Jede wollte mit einem von uns tanzen. Die vier Kollegen erklärten aber, nicht tanzen zu können. Nun fielen die Damen über mich Unglücklichen her. Vier Engagements hatte ich glücklich hinter mir, beim fünften versagten mir Kopf und Magen. Mir wurde übel, ich mußte in den Garten flüchten. Nächsten Vormittag kam eine Damendeputation zu mir in meine Wohnung, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich konnte ihr die beruhigende Versicherung geben, daß ich die Strapazen glücklich überwunden hätte. Als wir in jener Nacht nach Hause gingen, äußerte sich Schäffle höchst überrascht über den guten Ton und die ganze Haltung der Ballgesellschaft, die nicht besser hätte sein können. Er glaube, in Süddeutschland sei dergleichen auf einem Ballfest der Arbeiter unmöglich, dort würde es zu Prügeleien kommen. Ich protestierte gegen diese Auffassung. Ich sei zwar noch auf keinem Ballfest süddeutscher Arbeiter gewesen, sei aber fest überzeugt, daß dergleichen auf einem Fest organisierter Arbeiter nicht vorkomme.
Für den 20. Mai hatte die Berliner Kaufmannschaft die Mitglieder des Zollparlaments zu einem Festessen geladen, bei dem das Kuvert 25 Taler kostete. Ich nahm an demselben nicht teil. Kollegen, die daran teilgenommen hatten, versicherten mir nächsten Tages, die Arrangements seien so mangelhaft gewesen, daß eine Anzahl Gäste sich nicht einmal habe satt essen können.
Die meisten Süddeutschen waren froh, als sie nach vierwöchiger diätenloser Anwesenheit in Berlin wieder zu ihren Penaten zurückkehren konnten. Im übrigen waren die Sitzungen meist so schlecht besucht, daß die Berliner den Witz machten: Zollparlament bedeutet Leerparlament. An den Schlußberatungen der unterbrochenen Reichstagssession beteiligte ich mich nicht.
Die nächste Session des norddeutschen Reichstags begann den 4. März 1869. Hauptgegenstand seiner Beratung war der Gesetzentwurf für eine Gewerbeordnung. Ich trat erst in der 10. Sitzung in das Haus und nahm gleich zur Generaldebatte über den Gesetzentwurf das Wort. Ich polemisierte unter anderem gegen den Geheimen Regierungsrat Wagener, den ich wegen seines Auftretens in der Debatte als königlich preußischen Hofsozialisten bezeichnete. Im weiteren wandte ich mich gegen den Freiherrn v. Stumm, der uns heftig angegriffen hatte. Ich rechtfertigte unsere Agitation und Organisation. Organisierten die Arbeiter sich international, was er ihnen zum Vorwurf gemacht hatte, so sei dieses die notwendige Konsequenz gegenüber der Internationalität des Kapitalismus. Gegen den Abgeordneten Miquel trat ich ebenfalls polemisch in die Schranken, der behauptet hatte, wir in Deutschland seien in sozialen Dingen weiter als England und Frankreich. Ich antwortete: Jedenfalls streite man sich in England und Frankreich nicht mehr wochenlang wie wir um Gewerbefreiheit und Freizügigkeit. Ich führte ferner aus: Der Abgeordnete Wagener habe dem Abgeordneten Schulze-Delitzsch gegenüber gesagt: was er (Schulze) fordere, sei ihm (Wagener) insofern angenehm, als es gelte, die letzten Konsequenzen des Wirtschaftssystems zu ziehen, das führe dann zur Reaktion. Ich sei der Meinung, er (Wagener) habe sich in der Schlußfolgerung geirrt, nicht die Reaktion, sondern die Revolution werde schließlich kommen und kommen müssen.
Ich hatte mich in meiner Rede gegen eine Kommissionsberatung des Gesetzentwurfes erklärt, da das Haus doch keinen von uns in die Kommission wähle. Das hatte die Wirkung, daß man mich in die Kommission schickte.
Ich möchte hier die Bemerkung einschalten, daß die Teilnahme an den Reichstags- und Zollparlamentsverhandlungen für Liebknecht und mich ein großes Opfer war. Zwar taten unsere Wahlkreise, und namentlich der meine, was sie konnten, um uns finanziell zu unterstützen. Es war aber doch ein peinliches Gefühl für uns beide, von einer Wählerschaft finanzielle Hilfe annehmen zu sollen, die mit zur ärmsten in Deutschland gehörte. Eine Parteiunterstützung gab es damals noch nicht, für Diäten war kein Geld vorhanden. Die Diätenzahlung durch die Partei trat erst vom Jahre 1874 ab ein, die mager genug ausfiel. Auch mußten wir die Reisen nach und von Berlin aus eigener Tasche bezahlen. So fehlten wir häufig in den Sitzungen, manchmal sogar, wenn unser Parteiinteresse gebot anwesend zu sein. Schweitzer und Genossen hatten es darin besser. Sie wohnten in Berlin, mit Ausnahme von Reinke, der aber bereits 1868 sein Mandat niederlegte, worauf Fritzsche an seine Stelle trat; sie konnten ohne Mühe und größere Opfer jeder wichtigen Sitzung beiwohnen. Doch waren wir bei weitem nicht die einzigen, die schwänzten. Die große Mehrzahl der Gesetze wurde von beschlußunfähigen Häusern angenommen. So blieb es bekanntlich bis zur Einführung der Diäten im Frühjahr 1906.
Bei der zweiten Beratung der Gewerbeordnung stellten wir eine Anzahl Anträge, mit denen wir aber nur vereinzelt Glück hatten. Wir beantragten Bestimmungen, nach denen die Streitigkeiten betreffend Kündigungsfristen usw. Gewerbegerichten überwiesen werden sollten; wir forderten ferner das Verbot des Trucksystems; obligatorische Fabrikordnungen für alle Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern, wobei die Arbeiter gutachtlich zu hören seien; weiter beantragten wir Bestimmungen über den Lehrvertrag, Aufhebung der Arbeitsbücher, Verbot der Kinderarbeit für Kinder unter vierzehn Jahren in Fabriken. Weiter verlangten wir das Verbot der Sonntagsarbeit, einen zehnstündigen Normalarbeitstag für Betriebe mit mehr als zehn Lohnarbeitern, volle Vereinigungsfreiheit für die Gewerkschaftsorganisationen, Einführung von Fabrikinspektoren. Meist hatten Schweitzer und Genossen dasselbe beantragt.
Einen unerwarteten Erfolg hatte ich mit meinem Antrag, die Arbeitsbücher abzuschaffen. Das kam so. Das Leipziger Polizeiamt hatte eine Verordnung erlassen, in der es hieß: Wirte, bei denen einwandernde Gewerbsgehilfen einkehrten, seien verbunden, ihnen sogleich nach ihrer Ankunft ihre Wanderlegitimationen abzufordern und solche an das Fremdenbureau abzugeben. Diejenigen Gesellen aber, welche eine Wanderlegitimation vorzuzeigen nicht vermöchten, ohne Verzug dem Fremdenbureau zuzuführen. Ueberdies sollten die Wirte darauf sehen, daß zugewanderte oder arbeitslos gewordene Gewerbsgehilfen ohne polizeiliche Erlaubnis nicht über vierundzwanzig Stunden in Leipzig verweilten.
Diese Verordnung stand in schneidendem Widerspruch mit dem Paßgesetz, das den Legitimationszwang für das Inland aufgehoben hatte. Die bezüglichen Bestimmungen der sächsischen Gewerbeordnung, die die Arbeitsbücher vorschrieben, seien, so führte ich aus, durch das Paßgesetz gegenstandslos geworden. Lasker unterstützte meinen Antrag, und so wurde derselbe angenommen. Zehn Jahre später wurden bei einer Revision der Gewerbeordnung von der konservativ-ultramontanen Mehrheit die Arbeitsbücher für Personen unter 21 Jahren wieder eingeführt.
Die Annahme meines Antrags auf Beseitigung der Arbeitsbücher verschnupfte in den Kreisen der selbständigen Handwerker. Das ganze Raffinement, mit dem ich bei Stellung dieses Antrags zu Werke gegangen sein sollte, beschrieb Dr. C. Roscher, der Sohn des bekannten verstorbenen Nationalökonomen W. Roscher – dem Marx und Lassalle übel mitspielten – , in einem Artikel überschrieben: Wie der deutsche Gewerbsstand die Arbeitsbücher verlor. Fragment aus einem sozialen Roman. Nach C. Roscher, der heute noch in einem hohen Amt in der sächsischen Regierung sitzt, hatte ich meinen schlau erdachten Plan meinem »Freund Tübicke« – der Mann hat wohl nie gelebt – entwickelt, als er mich eines Abends »in meinem öden Zimmer« aufsucht, wo ich eben meine – nebenbei bemerkt – sehr kurze Rede zu meinem Antrag entwarf. Ich lasse mich nun – immer nach Roscher – mit Tübicke in ein Gespräch ein, wobei ich ihm auseinandersetze, wie ich morgen den Reichstag düpieren würde, damit er für meinen Antrag stimme. Ich war nicht wenig stolz, zu lesen, welche Schlauheit mir Roscher zuschrieb, um meine verehrten Kollegen über den Löffel zu barbieren. Natürlich gelang der Streich genau so, wie ich den Plan entworfen haben sollte. Als der Präsident verkündete, der Antrag habe die Mehrheit, hörte man auf der Tribüne ein unterdrücktes Kichern. Es war mein Freund Tübicke, der sich über das Gelingen meines Planes diebisch freute. Ich bin überzeugt, mancher, der diese Schilderung las, nahm sie ernst und sagte sich: Der Bebel ist doch ein verfluchter Kerl! Aber geschichtliche Wahrheit enthielt die Schilderung nicht. So wird aber oft Geschichte gemacht.
Ein zweiter, minder wertvoller Antrag, den ich durchsetzte, war, daß überall, wo es im Gesetz »Muße« hieß, »Pause« gesetzt wurde. Die Regierung sah selbst ein, daß das Wort »Muße« unpassend sei, und akzeptierte meinen Vorschlag. Dagegen wurden alle unsere anderen Anträge abgelehnt.
In derselben Session wurde auch das Wahlgesetz für den Reichstag festgestellt. Schweitzer und Hasenclever beantragten, statt fünfundzwanzig Jahre zwanzig zu setzen, und der Wahltag müsse ein Sonntag sein. Ich beantragte, daß die Wahlen am gleichen Tage im ganzen Bundesgebiet stattfinden und der Wahltag ein Sonn- oder Feiertag sein müsse. Ferner verlangte ich, die Bestimmung zu streichen, wonach Personen das Wahlrecht verlieren sollten, die eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen oder im letzten Jahre vor der Wahl bezogen haben.
Es ist überflüssig zu sagen, daß trotz aller unserer Reden diese Anträge ebenfalls abgelehnt wurden. Auch verloren jetzt die unter der Fahne stehenden Militärpersonen das aktive Wahlrecht. Es waren die Nationalliberalen, die hierfür eifrig eintraten. Die Regierungen hatten diese Forderung nicht gestellt.
Bei der Debatte über den Haushaltsetat – 24. April – hatte sich der Abgeordnete v. Hoverbeck für eine Entwaffnung ausgesprochen. Darauf antwortete ich: Ich sei der Ansicht, daß, wie gegenwärtig die Dinge in Europa stünden, wo der Zäsarismus hüben und der Zäsarismus drüben das Ruder führe, ernstlich eine Entwaffnung für möglich zu halten eine Torheit sei. Ich hielte es für unmöglich, daß unsere Zäsaren, von denen jeder nach der Gelegenheit hasche, über den anderen herzufallen und ihn niederzuschlagen, sich einfallen ließen, eine noch so mäßige Entwaffnung eintreten zu lassen. Es geschehe eben hier, was von den beiden Löwen der Fabel erzählt werde, sie fielen über sich her und fraßen sich bis auf die Schwänze auf. Dabei könnten wir nur profitieren.
Am 13. Mai hielt ich eine Rede gegen das Privileg der Portofreiheit der Fürsten. Ich wurde wiederholt heftig unterbrochen. Meine Ausführungen hatten die »loyalen Gefühle« eines Teils der Mitglieder verletzt. Dafür erhielt ich aus der Wählerschaft viele Zustimmungen.
Am 3. Juni wurde das Zollparlament wieder eröffnet, aber bereits am 22. Juni geschlossen. Ich beteiligte mich nicht an den Debatten, die für mich keine besondere Bedeutung hatten; außerdem erforderte mein Geschäft meine Anwesenheit in Leipzig.
In der Frühjahrssession des norddeutschen Reichstags von 1870 war der Hauptberatungsgegenstand der Strafgesetzentwurf für den Norddeutschen Bund. Ich nahm bei dessen Beratung nur einmal das Wort, und zwar in dritter Lesung bei Beratung der Todesstrafe. Der Reichstag, der in der zweiten Lesung mit erheblicher Mehrheit sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte – das im Jahre 1868 erlassene sächsische Strafgesetzbuch hatte sie abgeschafft, ebenso war sie in Baden abgeschafft worden – , stimmte jetzt auf Drängen und Drohen Bismarcks für dieselbe, und zwar mit 127 gegen 110 Stimmen. Der einzige sächsische Abgeordnete, der für die Todesstrafe eintrat, war Dr. Hans Blum, der Sohn des im Herbst 1848 in der Brigittenau bei Wien erschossenen Robert Blum. Als Blum sein Ja für die Todesstrafe abgab, antworteten wir auf der äußersten Linken mit einem kräftigen Pfui!
Hans Blum gehörte zu den schmutzigsten und perfidesten Gegnern der Sozialdemokratie; um uns zu bekämpfen, war ihm jedes Mittel recht. Selbstverständlich war er ein begeisterter Verehrer Bismarcks, und dieser wollte ihm wohl. Aber er konnte ihn vor schimpflichem Untergang nicht retten. Blum wurde wegen ehrloser Handlungen die Advokatur entzogen. Er ging alsdann nach der Schweiz, woselbst er eine Zigarrenfabrik betrieb. Er starb 1909 als wohlhabender Mann.
In einer zweiten Rede in der Frühjahrssession 1870 trat ich für einen Antrag Lasker ein, der eine Revision des Militärstrafrechtes verlangte. Der Antrag wurde mit 117 gegen 73 Stimmen angenommen.
Die Zollparlamentssession von 1870 war wiederum sehr kurz, sie währte nur gegen drei Wochen. Vor Beginn derselben hatte der Abgeordnete Dr. Kolb-Bayern sein Mandat für das Zollparlament niedergelegt. Das Zollparlament sei ein Werk der Täuschung und des Truges, das nur für die Machtstellung Preußens zu arbeiten habe. Es ist bemerkenswert, wie kampfunlustig die bürgerliche Demokratie wurde. Damit erhält man aber keine Partei am Leben, geschweige, daß man sie stärker macht. Die Klügeren sahen eben schon damals, daß bei der Entwicklung, die die Sozialdemokratie nahm, die bürgerliche Demokratie keine Zukunft mehr habe. Die wachsenden Klassengegensätze schieden immer mehr die Geister.
Die Frühjahrssession 1870 war die letzte des Zollparlaments, denn wenige Monate nachher begann die große Tragödie, die auch die politischen Verhältnisse Deutschlands sehr wesentlich änderte und das Zollparlament überflüssig machte.