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An der Spitze des »Volksstaat« vom 7. September hatten wir mitgeteilt, wir hätten aus sicherster Quelle in Erfahrung gebracht, daß auf entschiedenes Verlangen im deutschen Hauptquartier, speziell des Grafen v. Bismarck, die sächsische Regierung entschlossen sei, gegen unsere Partei mit allem Nachdruck vorzugehen. Haussuchungen und Verhaftungen sollten bevorstehen. Wie auf Kommando ging fast die gesamte Presse, die liberale voran, in Hetzartikeln gegen uns los. Man trieb die Unverschämtheit so weit, daß man uns des Landesverrats zugunsten Frankreichs bezichtigte. Als dann im Dezember die damals erscheinende offiziöse »Zeidlersche Korrespondenz« aus den bei dem Braunschweiger Parteiausschuß beschlagnahmten Briefen von Liebknecht und mir tendenziös herausgerissene Bruchstücke veröffentlichte, um ihre Denunziationen gegen uns gerechtfertigt erscheinen zu lassen, schickte ich der Berliner »Zukunft« folgende Erklärung zur Veröffentlichung:
»Die unter der Mitwirkung des Herrn Wagener auf Dummerwitz erscheinende 'Zeidlersche Korrespondenz' hat, wie ich aus hiesigen Lokalblättern ersehe, Bruchstücke aus Briefen von Liebknecht und mir, die bei Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses gefunden wurden, abgedruckt, um ihre Denunziantenmission daran zu üben. Obgleich ich der Meinung bin, daß nur durch Bruch des Amtseids eines Beamten die 'Zeidlersche Korrespondenz' in der Lage ist, jene Bruchstücke zu veröffentlichen, muß ich dennoch den Wunsch aussprechen, daß sie statt der Bruchstücke den ganzen Inhalt meiner Briefe der Öffentlichkeit übergebe.
Ich habe alle Ursache zu glauben, daß durch eine solche Veröffentlichung klar und zweifellos festgestellt wird, wie Herr Zeidler und Konsorten die bruchstückweise Veröffentlichung von Privatbriefen, die ihnen nur von einem gewissenlosen Beamten zugesteckt sein können, deshalb betreiben, weil sie dadurch ihr schwarzes Handwerk mit größerer Wirkung auf das leichtgläubige Publikum ausüben können.
Mich wundert dieses Treiben nicht. Die offiziöse Preßmeute tut eben, was Natur und Amt ihr vorschreiben.
Leipzig, den 16. Dezember 1870. A. Bebel.«
Am 17. Dezember morgens arbeitete ich in meiner Werkstatt, als plötzlich meine Frau totenbleich hereinstürzte und mir mitteilte, daß oben in unserer Wohnung ein Polizeibeamter sei, der mich zu sprechen wünsche. Ich wußte woran ich war. Ich eile die Hintertreppe hinauf und treffe in unserer Wohnstube den mir bekannten Beamten, zugleich aber auch einen Soldaten in kriegsmäßiger Ausrüstung. Auf meine Frage, was das bedeute, antwortete mir meine Frau, der Mann sei soeben als Einquartierung eingetroffen. Alsdann teilte mir der Beamte mit, er habe Auftrag, meine Papiere zu beschlagnahmen. Das war rasch geschehen, ich hatte für reinen Tisch gesorgt. Der Beamte erklärte weiter, er habe auch Auftrag, mich zu verhaften. Ich kleidete mich rasch um, nahm Abschied von Frau und Kind, mit der Vertröstung, ich würde bald zurückkommen, und stieg in die vor dem Hause wartende Droschke, die mich zunächst nach dem Polizeiamt, von dort nach dem Bezirksgericht führte. Hier wurde mir im Bezirksgerichtsgefängnis eine Zelle angewiesen. Ich mache kein Hehl daraus, daß, nachdem der Beamte das große Schloß und die beiden eisernen Riegel, womit nach alter Väter Weise die Tür versehen war, hinter mir abgeschlossen hatte, ich wütend in der Zelle auf und ab lief und meinen Feinden fluchte. Aber was half es? Der Kluge gibt nach. Am nächsten Morgen (Sonntag) traten der Staatsanwalt und der Bezirksgerichtsdirektor, der die Oberaufsicht über das Gefängnis hatte, herein und fragten: ob ich Wünsche hätte. Ich bat, daß ich mir Bücher dürfe kommen lassen und um Licht bis abends 10 Uhr. Der Direktor sagte beides zu, Licht aber nur bis abends 8 Uhr. Der Staatsanwalt teilte mir mit, daß es sich bei der Untersuchung um meine gesamte agitatorische Tätigkeit handeln werde, die man als staatsgefährlich und hochverräterisch ansehe. Die Untersuchung werde längere Zeit währen, da auch Recherchen nach auswärts nötig seien. Ich würde morgen vor dem Untersuchungsrichter mein erstes Verhör haben. Meine Spannung war groß. Der Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Ahnert, dem ich vorgeführt wurde, empfing mich mit strenger Miene und großer Zurückhaltung. Es werde gegen mich, Liebknecht und Hepner, die beide ebenfalls verhaftet seien, was ich erst jetzt erfuhr, die Anklage auf Versuch und Vorbereitung zum Hochverrat erhoben werden. Daß Liebknecht mit mir gepackt war, fand ich natürlich, aber auch der Unglückswurm Hepner, der erst kurze Zeit zweiter Redakteur am »Volksstaat« war? Der war doch so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Weiter teilte mir zu meiner nicht geringen Ueberraschung und Enttäuschung der Richter mit, daß er die Untersuchung noch nicht weiter führen könne, weil der Hauptteil des Untersuchungsmaterials noch in Braunschweig sei. Er hoffe aber, daß dasselbe noch vor Neujahr eintreffe, worauf er alsdann mit allem Fleiß an die Arbeit gehen werde. Man hatte uns also, streng genommen, ohne gesetzlichen Grund verhaftet, denn weder der Richter noch der Staatsanwalt kannten das Anklagematerial, auf Grund dessen wir angeklagt werden sollten. Es war also offenbar der Wunsch des Hauptquartiers, uns möglichst rasch unschädlich zu machen, für unsere Verhaftung maßgebend gewesen.
Ich war sehr ärgerlich, als ich in meine Zelle zurückkehrte; ich hatte jetzt reichlich Zeit, mich zunächst mit dieser zu beschäftigen. Die Zelle hatte genügend Raum, denn sie war fast leer. In einer Ecke an der Tür stand ein großer, verdeckter hölzerner Kübel, über dessen Zweck ich kein Wort zu verlieren nötig habe. An der einen Wand war ein kleines Regal angebracht, auf dem ein Wasserkrug stand und ein Gesangbuch und das Neue Testament lagen. An der anderen Wand war eine drei Fuß lange schmale Bank befestigt, so daß man sie nicht wegrücken konnte, und vor derselben hatte man mir, als besondere Vergünstigung, ein kleines Tischchen aufgestellt, so groß, daß wenn ich einen Band Gartenlaube darauf ausbreitete, die Tischplatte bedeckt war; ein Bett war nicht vorhanden, die Matratze, die abends auf den Fußboden gelegt wurde, wanderte am nächsten Morgen auf den Korridor auf einen Berg anderer Matratzen. Unten vor meinem Fenster, das fest vergittert war und nur durch Besteigen des Tischchens erreicht werden konnte, hörte ich Tag und Nacht ein eigentümliches Geräusch. Als ich an das Fenster stieg, sah ich, daß unten in einem Garten sechs große Kaffeeröstmaschinen aufgestellt waren, in denen große Quantitäten Kaffee für die im Felde stehenden Truppen geröstet wurden. Der Winter 1870/71 war wohl der strengste, den wir in vielen Jahrzehnten hatten. Die armen Teufel im Felde – Deutsche wie Franzosen – litten fürchterlich unter Kälte, Eis und Schnee. Das Unwetter hatte früh eingesetzt und hörte erst spät auf. Aber auch in meiner Zelle war es scheußlich kalt. Der alte vorsintflutliche eiserne Ofen, der morgens um 5 Uhr mit einer Handvoll Kohlen geheizt wurde, gab keine besondere Wärme ab. Außerdem mußte ich doch frische Luft haben. Oeffnete ich also morgens die Fensterklappe, so war das bißchen Wärme im Nu verflogen. Ich fror hundemäßig. Um mich zu erwärmen, setzte ich mich auf das Tischchen, stützte die Füße auf die Bank und umwickelte die Beine mit einer weißen wollenen Decke, die ich als Bettdecke erhalten hatte. Trotzdem bekam ich einen Blasenkatarrh. Zum Unglück lag meine Zelle auch noch nach Norden. Liebknecht, als dem ältesten unter uns, hatte man ein Zimmer, das damals für sogenannte Wechselgefangene reserviert war, eingeräumt. Dies erfuhr ich bei einem Besuche meiner Frau, die wöchentlich einmal in Gegenwart des Untersuchungsrichters mich kurze Zeit sprechen durfte. Auch wurde mir die Korrespondenz mit ihr unter Kontrolle des Richters gestattet.
Sehr rasch entdeckte ich aber zu meinem großen Unbehagen, daß ich die Zelle nicht allein bewohnte; dieselbe wimmelte von Ungeziefer. Nun, ich hatte Zeit zur Jagd, und ich war dabei erfolgreicher als Moltke mit seiner Hoffnung auf die Greisauer Hasen. Die weiße Wolldecke wurde zur Falle. Ich hatte bald eine Rekordziffer erreicht. Ich tötete an einem Tage, meine Leserinnen mögen nicht erschrecken, einundachtzig der braunen Kerle, die man Flöhe nennt. Allmählich brachte ich die Zelle rein, auch ohne Insektenpulver, das mir meine Frau auf mein Verlangen ein paarmal sandte, das ich aber nie erhielt, weil es die Aufseher für sich verbrauchten. Ich hatte auch durchgesetzt, daß meine Matratze in der Zelle blieb, die vordem jedesmal am Abend voll Ungeziefer wieder zu mir hereingebracht wurde. Kaum hatte ich aber mein »Heim« rein, so wurde ich auf Anordnung des Arztes nach der Westseite umquartiert. Ich erhielt jetzt eine Zelle, in der vor mir eine Kindsmörderin zugebracht hatte, wie mir mein Aufseher in liebenswürdiger Weise mitteilte. Nun hatte ich die Arbeit des Reinigens von neuem vorzunehmen.
Eine Untersuchungshaft wie die unsere ist die scheußlichste aller Haftarten. In strenger Einzelhaft hinter Schloß und Riegel sitzen müssen, ohne zu wissen, wie lange die Haft währt und welches Anklagematerial vorliegt, wirkt ungemein aufregend und nervenzerrüttend. Endlich wurde ich Anfang Januar wieder dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Als ich in das Zimmer des Richters trat, fiel mein Blick auf ein stattliches Bündel blauer Papiere, die auf der breiten Fensterbank lagen. Es waren meine Briefe an den Parteiausschuß, die dieser mit den Briefen von Liebknecht, Marx und Engels ganz besonders sorgfältig und liebevoll aufbewahrt hatte. Ich weiß nicht, was ich getan, hätte ich in diesem Augenblick unseren Parteisekretär Bonhorst zwischen den Fingern gehabt. Bald ergab sich aber, daß ich keine Ursache hatte, mich über die beschlagnahmten Briefe zu ärgern. Der Untersuchungsrichter teilte mir mit, daß er erst vor ein paar Tagen das Anklagematerial erhalten habe, daß er aber gewillt sei, nach Möglichkeit die Untersuchung zu beschleunigen. Und er hielt Wort. Mit jedem neuen Verhör wurde der Richter zugänglicher. Selbstverständlich waren unsere Briefe das erste Material, was er durchstudierte. Und da nun diese fast alle streng vertraulicher Natur waren, so hatten wir darin uns gegenseitig nicht nur unsere Parteischmerzen, sondern auch unsere großen und kleinen Privatschmerzen mitgeteilt, und dabei stellte sich heraus, daß keiner von uns auf Rosen gebettet war. Wohl zu seiner eigenen Ueberraschung entdeckte der Untersuchungsrichter, daß wir keine Landesverräter und Königsmörder seien, sondern Menschen, die von den besten Absichten beseelt waren und warmes Herzblut in den Adern hatten. Ende Februar hatte der Untersuchungsrichter das Riesenmaterial, das quantativ sehr groß war – es waren allein gegen 2000 Briefe vorhanden – , durchgearbeitet und die Untersuchung geschlossen. Der Untersuchungsrichter hatte, und er war ein sehr intelligenter und gewissenhafter Mann, wie wir später durch unseren Rechtsanwalt Otto Freytag erfuhren, die Ueberzeugung gewonnen, daß wir nicht nur nicht wegen Versuchs, sondern auch nicht wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt werden könnten. Er stellte demgemäß den Antrag auf unsere Haftentlassung, dem aber die Staatsanwaltschaft widersprach.
Als Ende Februar 1871 in Oesterreich das Ministerium Graf Hohenwart-Schäffle ans Ruder kam und durch eine Amnestie die Wiener Hochverräter Oberwinder, A. Scheu, Most usw. aus dem Zuchthaus entlassen wurden, legte mir eines Abends gelegentlich eines Verhörs der Untersuchungsrichter schweigend die »Leipziger Zeitung« vor, in der die Depesche über die Amnestie enthalten war. Ich konnte mich nicht enthalten zu bemerken, dergleichen würde uns nicht blühen; und ich behielt recht. Ich hatte die feste Ueberzeugung, daß wir verurteilt würden, nicht weil ich mich schuldig fühlte, sondern weil ich wegen der Hatz, die namentlich auch während unserer Haft gegen uns fortgesetzt betrieben wurde, der Stimmung der Geschworenen nicht traute. Außerdem sagte ich mir auch, daß die Regierung alles aufbieten werde, unsere Verurteilung herbeizuführen. Andernfalls wäre der Prozeß eine Blamage für sie geworden. Ich hatte sogar in einem Brief an einen Freund, den ich meiner Frau zur Uebermittlung schickte, ausgesprochen, wir würden wohl mit zwei Jahren Festung hängen bleiben. Darüber war namentlich Frau Liebknecht, der meine Frau meine Ansicht mitgeteilt hatte, ganz entsetzt. Aber meine Prophezeiung traf wieder einmal ein.
Nachdem wir in Haft genommen waren, beriefen die Leipziger Parteigenossen Karl Hirsch, der damals Redakteur am »Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund« war, nach Leipzig, um die Redaktion des »Volksstaat« zu übernehmen. Karl Hirsch sprang bereitwillig ein und verdiente sich durch die Art, wie er das Blatt in schwerster Zeit redigierte, den Dank der Partei. In der Nummer 102 des »Volksstaat« vom 21. Dezember kündigte er an, daß er die Redaktion auf unseren Wunsch übernommen habe, und fuhr dann fort:
»Die gegen unsere Freunde eingeleitete Untersuchung wird, wie ich hoffe, nicht von langer Dauer sein und, wie ich überzeugt bin, die Schuldlosigkeit derselben zum Ergebnis haben. Einstweilen werde ich mir die edle, kühne und nicht 'landesverräterische', sondern im Gegenteil wahrhaft patriotische Haltung, die der 'Volksstaat' unter seiner bisherigen Leitung eingenommen hat, bei meiner Redaktion zum Vorbild nehmen.
An der Tendenz und am Erscheinen des Blattes wird nichts geändert, die gegnerischerseits gehegte Hoffnung, der Schlag, der unser Organ betroffen, werde die Partei mundtot machen, wird zuschanden werden.«
Kaum war Hirsch in die Redaktion des »Volksstaat« eingetreten, so begann Professor Biedermann in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« auch gegen ihn zu denunzieren. Im gleichen Sinne arbeitete die »Zeidlersche Korrespondenz«, die, wie sie von uns Briefe tendenziös stückweise veröffentlichte, dasselbe mit Briefen von Hirsch machte, die in Braunschweig beschlagnahmt worden waren. Hirsch schüttelte die Denunzianten kräftig ab. Weiter antwortete Hirsch damit, daß er an der Spitze des »Volksstaat« vom 1. Januar 1871 Freiligraths Gedicht »Die Schlacht am Birkenbaum« zum Abdruck brachte.
Im Januar wurden die Wahlen zum Reichstag ausgeschrieben; sie sollten am 3. März vorgenommen werden. Eine Landesversammlung der Partei hatte uns wieder in unseren alten Wahlkreisen aufgestellt. In Leipzig vereinigten sich die Lassalleaner mit unseren Genossen auf meine Kandidatur. Ich ließ das Komitee wissen, daß ich im Interesse der Konzentration der Mittel und Kräfte auf die aussichtsreichen Wahlkreise eine Kandidatur für Leipzig nicht annehmen könne. Es blieb aber dabei. In bürgerlichen Kreisen veranstaltete man Geldsammlungen, um Liebknechts und meine Wahl zu verhindern. In meinem Wahlkreis – Glauchau-Meerane-Hohenstein – hatten die Gegner sich auf die Kandidatur von Schulze-Delitzsch gegen mich vereinigt. Schulze nahm die Kandidatur an, er weigerte sich aber, Wählerversammlungen abzuhalten, da ich an der Abhaltung solcher verhindert sei; dieselben wären ihm wahrscheinlich schlecht bekommen. Ende Januar legte der provisorische Parteiausschuß in Dresden sein Mandat nieder; es galt, die Kräfte zu konzentrieren, und so wurde auf Anordnung der Kontrollkommission in Hamburg Leipzig Sitz des provisorischen Ausschusses. Die Geldmittel waren natürlich sehr knapp. Die Parteigenossen von heute ahnen nicht, mit wie wenig Geld damals die Wahlen betrieben wurden. Ueber 500 bis 600 Mark gingen die Wahlkosten kaum irgendwo hinaus.
Die Wahlen verliefen ungünstig; sie fanden statt unter Glockengeläute und Kanonendonner, da am 3. März der Präliminarfriede in Versailles unterzeichnet wurde. Die einzigen Sieger waren Schraps und ich im 17. und 18. sächsischen Wahlkreis. Ich hatte mit 7344 Stimmen gegen Schulze-Delitzsch mit 4679 Stimmen gesiegt. Schraps, der streng genommen nicht mehr zur Partei gehörte und an dessen Stelle von Rechts wegen Julius Motteler hätte aufgestellt werden sollen, siegte mit 5875 gegen 5706 Stimmen. Liebknecht unterlag im 19. sächsischen Wahlkreis mit 3981 gegen 5134 Stimmen. Spier war in Mittweida-Frankenberg in engere Wahl gekommen, er unterlag aber mit 4017 gegen 5430 Stimmen, die auf Professor Biedermann fielen. In Leipzig hatte ich 2576, mein Gegenkandidat Bürgermeister Dr. Stephani 7312 Stimmen erhalten. Das Resultat galt als sehr günstig; im Herbst 1867 erhielten wir nur 900 Stimmen. In Leipzig-Land war Johann Jacoby aufgestellt worden, der mit 2877 gegen 5718 Stimmen seinem Gegner unterlag. Bracke wurde in Chemnitz und im 22. sächsischen Wahlkreis aufgestellt und erhielt 2972 bezw. 3477 Stimmen. Wir hatten in Sachsen über 39 000 Stimmen auf unsere Kandidaten vereinigt. In manchen Wahlkreisen, wie Bielefeld, hatten unsere Parteigenossen den Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Pfannkuch) unterstützt, in Mittel- und Süddeutschland hatten sie fast überall von der Aufstellung eigener Kandidaten abgesehen. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hatte im ganzen 63 000 Stimmen auf seine Kandidaten vereinigt.
Wie die angeführten Zahlen zeigen, war die Beteiligung an der Wahl eine schwache, nirgends herrschte Begeisterung für das neue Reich. Der schwere Druck, der auf Handel und Wandel lastete, die Arbeitslosigkeit, alles Folgen des Krieges, dazu der lange und harte Winter, der den Massen ebenfalls schwere Opfer auferlegte, schufen eine sehr gedrückte Stimmung.
Sobald ich die offizielle Nachricht von meiner Wahl erhalten hatte, schickte ich aus dem Gefängnis meinem Wahlkomitee folgende Danksagung zur Veröffentlichung:
»An meine Wähler! Parteigenossen! Ihr habt mir aufs neue einen glänzenden Beweis Eures Vertrauens gegeben, indem Ihr mich nunmehr zum dritten Male zum Vertreter des 17. Wahlkreises in den Reichstag erwähltet.
Ihr habt mir Euer Vertrauen erhalten, obgleich ich nicht in Eurer Mitte erscheinen konnte, um meinen Standpunkt gegenüber der neuen Sachlage der Dinge darzutun. Ebensowenig habt Ihr Euch auch beirren lassen durch die heftige und niedrige Kampfweise, womit die Gegner den Wahlkampf führten.
Dies, verbunden mit der Tatsache, daß der unterlegene Gegner als die gefeiertste Größe des Liberalismus und Kapitalismus gilt, macht die diesmalige Wahl für mich doppelt ehrenvoll. Nehmt dafür meinen wärmsten und innigsten Dank entgegen und das Versprechen, daß ich tun werde, was in meinen Kräften steht, Euer Vertrauen zu rechtfertigen.
Es lebe die Sozialdemokratie! Das sei der Ruf, mit dem wir neuen Kämpfen entgegengehen.
Leipzig, Bezirksgerichtsgefängnis, den 13. März 1871.
Mit sozialdemokratischem Gruß
Euer A. Bebel.«
Ich habe in meinem Leben oft das Glück gehabt, angesungen zu werden, und zwar im guten wie im schlimmen Sinne. Auch in dem jetzt verflossenen Wahlkampf spielte die Poesie eine, wenn auch zweifelhafte Rolle. So veröffentlichte der Bürgermeister Hohensteins, natürlich anonym, folgendes Gedicht:
Napoleon und Bebel.
Er sitzt auf Wilhelmshöhe, Er im Bezirksgericht. Er hat sie in der Zehe Und er im Kopf die Gicht.
Im »Meeraner Wochenblatt« höhnte ein anderer Anonymus über mich:
» Der Wilhelmshöher an Bebel.
Mein lieber Bebel!
Lassen Sie uns ein vernünftiges Wort miteinander reden! Sehen Sie, ich bin ein alter Praktikus und habe das alles schon durchgemacht, was Sie noch vor sich haben. Ach, Bebel, wenn mir auch der Schlummerkopf vom »New-York-Herald« neulich wieder einige Hoffnung gemacht hat – ich fürcht', ich fürchte doch sehr, es wird mit mir nichts mehr werden. Mir fehlen die Mittel, noch einmal von vorn wieder anzufangen.
Aber Sie, Bebel, Sie haben ohne Frage eine Zukunft. Sie sind noch jung, haben ein gewinnendes Aeußeres, einen guten Appetit, eine edle Dreistigkeit, eine formidable Sprache und ein harmloses Wesen. Kommt dazu noch die Gunst der Weiber und die Freundschaft der Kirche, so haben wir alle Eigenschaften beisammen, deren ein junger Mann bedarf, um en gros sein Glück zu machen.
Jetzt, Bebel, will ich Ihnen ein wichtiges Wort über die Republik sagen. Die Republik ist eine sehr gute Einrichtung, wenn man – Präsident derselben ist. Ist man es nicht, so ist die Republik eine ebenso mangelhafte Staatsform wie alle anderen, das Papsttum mit einbegriffen. Wie man Präsident wird, Bebel, das will ich Ihnen einmal unter vier Augen sagen. Das aber kann ich Ihnen gleich ganz offen sagen, daß von der Präsidentschaft bis zur Kaiserkrone nur ein Schritt ist.« Und so weiter.
In Leipzig hatte man, und das ist von einem gewissen kulturhistorischen Interesse, die Verhöhnung unserer Personen während unserer Haft noch weiter getrieben. So wurde in einem Tingeltangel eine Posse aufgeführt, betitelt: »Nebel und Piepknecht«; in einem anderen größeren Lokal der Stadt wurde eine Posse aufgeführt, betitelt: »Bebel oder der erleuchtete Schuster mit seinem Jungen.« In dieser Weise machten die »Patrioten« ihrem Zorn wider uns Luft.
Ein Teil der liberalen Presse war über meine Wahl höchlich aufgebracht und agitierte dafür, daß der Reichstag bei seinem Zusammentritt sich gegen meine Freilassung aus der Untersuchungshaft aussprechen sollte. Die »Magdeburger Zeitung« war von Leipzig aus im gleichen Sinne inspiriert worden. Darauf veröffentlichte unser Anwalt Otto Freytag eine Erklärung, in der er ausführte, die Behauptung, wir würden wegen Landesverrat oder Vorbereitung zum Landesverrat angeklagt, sei eine Unwahrheit. Wir würden wegen Vorbereitung zum Hochverrat, begangen durch unsere Agitation, angeklagt. Liebknechts und mein Verhalten in der Kriegsfrage spiele auch nicht einmal nebensächlich eine Rolle. Es sei auch eine dreiste Unwahrheit, wenn behauptet werde, Staatsanwalt und Untersuchungsrichter würden sich einer Haftentlassung widersetzen. Im Gegenteil, ihm habe der Untersuchungsrichter erklärt, daß gegen eine Haftentlassung, nachdem die Untersuchung beendet sei, nicht das geringste Bedenken vorliege. Ebenso werde der Staatsanwalt keine Bedenken gegen die Freilassung erheben.
Am 27. März stellte Schraps, unterstützt von den Mitgliedern der Fortschrittspartei, im Reichstag den Antrag auf meine Freilassung. Im Gegensatz hierzu beantragten die Abgeordneten Dr. Stephani-Leipzig und Professor Biedermann, den Reichskanzler um Auskunft über den Stand der Sache zu ersuchen. In ihrem blinden Haß fühlten sie nicht das Kleinliche und Verächtliche ihrer Handlungsweise. Am 29. März wollte der Präsident die beiden Anträge auf die Tagesordnung der Sitzung vom 30. März setzen. Darauf erklärte der Abgeordnete Schraps zur Geschäftsordnung: Er habe die Nachricht erhalten, daß wir am gestrigen Tage aus der Haft entlassen worden seien.
So war es in der Tat. Die sächsische Regierung wollte die Debatte im Reichstag umgehen, so ordnete sie unsere Freilassung an. Am Nachmittag des 28. März gegen 4 Uhr wurden plötzlich mit besonderer Hast Schloß und Riegel an meiner Tür geöffnet, und herein stürzte der Aufseher mit dem Ruf: Ich glaube, Sie kommen frei! Als ich aus der Zelle trat, standen Liebknecht und Hepner bereits auf dem Korridor. Ohne ein Wort zu sagen, stürzten wir uns alle drei in die Arme. Wir hatten uns seit jener ominösen Versammlung am 15. Dezember mit keinem Auge gesehen. Vor den Untersuchungsrichter geführt, erklärte dieser, wir seien aus der Haft entlassen, doch müßten wir durch Handschlag versichern, keinen Fluchtversuch zu unternehmen und den Bezirk, Stadt- und Amtshauptmannschaft Leipzig, nicht ohne seine Zustimmung zu überschreiten. Nachdem wir unsere Siebensachen zur Abholung bereit gestellt, eilten wir fort nach Hause, wo es ein frohes Wiedersehen gab. Mein Töchterchen sprang mir mit einem Freudenschrei an den Hals.
Zwei Tage danach, am 30. März, wurde auch der Braunschweiger Ausschuß aus der Haft entlassen. Das Obergericht zu Wolfenbüttel hatte die Erhebung einer Anklage wegen Hoch-und Landesverrat abgelehnt. Die Braunschweiger hatten 200, wir 101 Tage in der Haft zugebracht. Optimisten nahmen an, daß nunmehr auch wider uns die Anklage auf Hochverrat fallen würde.
Der Braunschweiger Ausschuß wurde darauf im Herbst 1871 von dem Kreisgericht in Braunschweig wegen einer Reihe Verstöße wider verschiedene Paragraphen des Strafgesetzes verurteilt, und zwar Bracke und Bonhorst zu 16 Monaten, Spier zu 14 Monaten, Kühn zu 5 Monaten Gefängnis. Auf erhobene Nichtigkeitsbeschwerde hob das Obergericht zu Wolfenbüttel das erste Urteil auf und verurteilte die Genannten wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz: Bracke und Bonhorst zu 3 Monaten, Spier zu 2 Monaten Gefängnis und Kühn zu einer 6wöchigen Haft. Die Strafen wurden durch die Untersuchungshaft als verbüßt erachtet.