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Für den Parteikongreß in Gotha – 19. bis 23. August – hatten wir als Tagesordnung festgesetzt:
»1. Die Tätigkeit der sozialistischen Abgeordneten; 2. Gang und Stand der sozialistischen Organisation in Deutschland; 3. die bevorstehenden Reichstagswahlen; 4. Feststellung der sozialistischen Kandidaturen; 5. die sozialistische Organisation in Deutschland; 6. die Parteipresse.«
Die offiziöse »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« lärmte gewaltig über diese Veranstaltung und drohte, man werde festzustellen suchen, ob dieser Kongreß nicht eine Gesetzesumgehung mit Hinblick auf die erfolgten Schließungen und Auflösungen sei. Indes an diese Drohungen kehrten wir uns nicht. Wir mußten zeigen, daß wir uns nicht einschüchtern ließen und entschlossen waren, jedes Mittel zu benutzen, das die Umstände uns zu ergreifen ermöglichten, um die gegen uns gerichteten Schläge zu parieren.
Geib und Hasenclever führten auf dem Kongreß wieder den Vorsitz. Anwesend waren 98 Delegierte, die aus 291 Orten 38254 Mandanten zu vertreten hatten. Liebknecht und ich konnten aus privaten Gründen erst am zweiten Tage der Verhandlungen erscheinen. Aus dem von Auer vorgetragenen Bericht ging hervor, daß die Einnahmen der Parteileitung vom 8. Juni 1875 bis 19. August 1876 sich auf 53973 Mark beliefen, denen eine Ausgabe von 54432 Mark gegenüberstand. Es war also ein kleines Defizit vorhanden, das durch den Ueberschuß des »Wähler« in Höhe von 4330 Mark gedeckt wurde. Die Partei besaß zu jener Zeit 23 politische Organe und das neu gegründete Unterhaltungsblatt »Die Neue Welt«. Von den Organen erschienen acht sechsmal, acht drei-, vier zwei- und drei einmal wöchentlich. Zum erstenmal liefen auf einem deutschen Parteikongreß eine Reihe Zuschriften von sozialistischen Organisationen des Auslandes ein, in denen die Partei wegen ihrer tapferen Haltung beglückwünscht wurde. Ich war in der Lage, die Grüße einer internationalen Konferenz in Bern zu überbringen, der ich gelegentlich einer Geschäftsreise in der Schweiz beigewohnt hatte. Zum Zeichen brüderlicher internationaler Solidarität wurde beschlossen, für die in großer Not befindlichen Kommunards in geeigneter Weise Geld aufzubringen. Karl Hirsch erschien als Delegierter Pariser Arbeiter auf dem Kongreß. Ueber die Tätigkeit der Fraktion im Reichstag berichtete Hasenclever. Ich ergriff die Gelegenheit, um unsere Stimmenthaltung in der Diätenfrage zu rechtfertigen, die mehrfach angegriffen worden war. Molkenbuhr, der namens der Gegner unserer Abstimmung das Wort ergriff, behauptete, die Abstimmung habe uns in der Agitation geschadet, diese Taktik habe bei den Parteigenossen befremdend gewirkt. Die Fraktion müsse stets klare Stellung nehmen für oder gegen eine Vorlage und geschlossen stimmen. Nach längerer Debatte brachten A. Kapell und Dreesbach einen Antrag ein, wonach unsere Abstimmung in der Diätenfrage als unpraktisch erklärt werden sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Dagegen wurde ein Antrag Löwenstein angenommen, der vorschlug, über die Frage zur Tagesordnung überzugehen, denn es sei selbstverständlich, daß die sozialistischen Abgeordneten für Diätenzahlung seien und in vorliegendem Falle mit der Stimmenthaltung nur der Schwindel hätte konstatiert werden sollen, dessen sich ein Teil der liberalen Abgeordneten schuldig machte.
Die weiteren Verhandlungen zeigten, daß noch starke persönliche und sachliche Gegensätze in der neu geeinten Partei vorhanden waren, die jetzt zum Ausbruch kamen. So rief Frohme dadurch eine heftige Diskussion hervor, daß er die Anschuldigung erhob, verschiedene Parteiblätter und ebenso Liebknecht und ich hätten von Sonnemann-Frankfurt Geldunterstützungen bezogen. Es wurde festgestellt, daß kein Blatt genannt werden konnte, das von Sonnemann Geldunterstützung erhalten hatte, das gleiche galt von Liebknecht. Ich teilte mit, daß Sonnemann, der während meiner Haft sich wiederholt bereit erklärt habe, mir mit einem Darlehen zu helfen, falls ich solches für die Rehabilitierung meines Geschäfts nach meiner Haftentlassung bedürfe, mir ein solches in Höhe von 600 Taler gewährt habe, das ich mit 5 Prozent verzinste und in Raten zurückzahlte. Das sei um so unbedenklicher, da ich seit 1865 mit Sonnemann befreundet und die ganze Angelegenheit eine rein private sei. Sonnemann selbst hatte durch eine Indiskretion gegen einen Frankfurter Genossen den Fall in weitere Kreise getragen. Das Endresultat der Debatte war, daß ein Antrag von Bracke – der zum erstenmal seit Jahren wieder einen Kongreß besuchte – mit allen gegen sieben Stimmen angenommen wurde, der das gegen mich beliebte Vorgehen tadelte. Ich nahm Veranlassung, noch im Laufe des Jahres das Darlehen an Sonnemann zurückzuzahlen.
Eine weitere Debatte, die zeitweilig ebenfalls einen heftigen Charakter annahm, wurde durch die Frage herbeigeführt, ob fernerweit zwei offizielle Organe (»Der Neue Sozialdemokrat« in Berlin und »Der Volksstaat« in Leipzig) bestehen sollten oder eines und welches dazu ernannt werden sollte. Schließlich wurden 49 Stimmen für Leipzig und 38 Stimmen für Berlin abgegeben, 6 Delegierte enthielten sich der Abstimmung. Darauf wurde weiter beschlossen, das Zentralorgan solle vom 1. Oktober ab unter dem Namen »Vorwärts« erscheinen, und zwar dreimal wöchentlich. Lebhafte Erörterung rief alsdann die Wahl der beiden Redakteure hervor. Hasselmann, der der Vereinigung nie grün war, erklärte, unter keinen Umständen nach Leipzig überzusiedeln und verzichtete auf eine Redakteurstelle. Auf Vorschlag Geibs erklärte sich Hasenclever bereit, neben Liebknecht die Redaktion zu übernehmen. Des weiteren kam man überein, nachdem die Partei in Preußen aufgelöst war, an Stelle des Parteivorstandes in Hamburg ein Zentralkomitee zu setzen, in das Auer, Brasch, Derossi, Geib und Hartmann eintraten. Auf meinen Antrag wurde das Gehalt des Sekretärs auf 150 Mark, des Kassiers auf 105 Mark und der beiden Beisitzer auf je 45 Mark monatlich festgesetzt.
Im weiteren beschäftigte sich zum erstenmal ein Parteikongreß mit der Stellungnahme zu wirtschaftlichen Tagesfragen. Die industrielle Krise, die mit dem Jahre 1874 einsetzte und sich mit jedem Jahre mehr verschärfte, hatte einen vollständigen Umschwung in den Kreisen der Industriellen über die Frage: Schutzzoll oder Freihandel? herbeigeführt und schließlich auch in den landwirtschaftlichen Kreisen, die seit Jahrzehnten die Hauptstützen des Freihandelssystems bildeten, Anhang gefunden. In erster Linie waren es die Eisenindustriellen, die über die beschlossene Aufhebung der Eisenzölle, die vom 1. Januar 1877 ab eintreten sollte, schon Jahre zuvor in Aufregung gerieten und dagegen kämpften. Ihnen schlossen sich andere Industrielle, namentlich die Baumwollindustriellen an. Und da durch die jetzt sich immer bemerkbarer machende amerikanische Getreidekonkurrenz auch die Getreidepreise nicht die erwünschte Höhe behielten, sondern sanken, schwenkten die ostelbischen Getreideproduzenten, die ihren Absatz nach dem Ausland unter der amerikanischen Konkurrenz immer mehr einbüßten und diese Konkurrenz selbst im eigenen Lande verspürten, ins schutzzöllnerische Lager ab. Diese Umwandlung in den Anschauungen weiter Kreise über Freihandel und Schutzzoll mußte notwendig auch in den Parteikreisen Beachtung finden. So erklärten sich im Laufe der Jahre namentlich Auer, Fritzsche und Max Kayser für eine mehr oder weniger ausgeprägte Schutzzollpolitik. Der Kongreß konnte also nicht umhin, zu der veränderten Strömung Stellung zu nehmen; er tat dies allerdings in einer Weise, die unbefriedigend war und eine gewisse Unklarheit verriet. Auf Antrag von Bracke, Frick, Fritzsche, Grillenberger, Hasselmann, Liebknecht und Most nahm der Kongreß ohne jede Debatte eine Resolution an, in der es hieß: Die Sozialisten Deutschlands stehen dem innerhalb der besitzenden Klassen ausgebrochenen Kampfe zwischen Schutzzoll und Freihandel fremd gegenüber; die Frage, ob Schutzzoll oder nicht, ist nur eine praktische Frage, die in jedem einzelnen Falle entschieden werden muß; die Not der arbeitenden Klassen wurzelt in den allgemeinen wirtschaftlichen Zuständen, doch sind die bestehenden Handelsverträge seitens der Reichsregierung ungünstig für die deutsche Industrie abgeschlossen und erheischen eine Aenderung. Die Parteipresse wurde aufgefordert, die Arbeiter davor zu warnen, für die unter dem Verlangen nach Schutzzoll eine Staatshilfe erstrebende Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Und da zu jener Zeit auch die Frage aufgetaucht war, ob Privat- oder Staatseisenbahnen, und Bismarck die Monopolisierung der Bahnen durch das Reich erstrebte, nahmen die beantragten Resolutionen auch zu dieser Frage Stellung. Der Kongreß sprach sich für die Verstaatlichung der Eisenbahnen aus, aber gegen das Reichseisenbahnprojekt, weil dieses letztere bestimmt sei, die Interessen des Klassen- und Militärstaats zu fördern, und die Einnahmen zu unproduktiven Zwecken verwendet werden sollten, wodurch das Reich ein neues Gewicht im volksfeindlichen Sinne erlangte und den Börsenjobbern große Summen vom Volkseigentum zugespielt würden.
Ueber den Verlauf des Kongresses schrieb der weiche und gemütvolle Bracke, der die mancherlei Unbill, die man ihm nach seinem Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von jener Seite hatte angetan, noch nicht vergessen konnte, in einem Briefe vom 31. August an Friedrich Engels:
»Die Verhandlungen waren famos, die Angelegenheit Frohme-Sonnemann, dann die Abstimmung über die Diäten, dann die Frage, ob das Zentralorgan nach Berlin oder Leipzig kommen solle, das waren die drei Hauptpositionen; die Lassalleaner hatten ernstlich geglaubt, die Bewegung in ihre Hände zu bekommen, jedenfalls waren sie ihres Sieges in der Organisation sicher. Und dazu hatten sie allen Grund. Auf einer in Berlin stattgehabten Konferenz hatte Ramm-Leipzig (der Leiter der Leipziger Parteibuchdruckerei. A.B.) der Verlegung nach Berlin zugestimmt, und Geib, der sich allein sah, machte dann keine Opposition mehr. Bebel aber und ich, sowie Auer erklärten die Verlegung für ganz unmöglich, wir fanden auch viele Zustimmung und erweckten Liebknecht und Geib und andere zu neuem Leben. Die Schlacht wurde dann auch glorreich geschlagen. Nachdem in der Angelegenheit Sonnemann und in der bezüglich der Diäten der Sieg auf unserer Seite gewesen, setzten die Lassalleaner, denen nun doch das wirtschaftliche Interesse des Berliner Unternehmens zu Hilfe kam, alles daran. Die Erregung auf beiden Seiten war groß; es wurde eine regelmäßige parlamentarische Schlacht geschlagen. Zuerst waren 42 Redner eingezeichnet, voran außer Bebel lauter Berliner. Wir brachten durch passende Anträge diese Liste zu Fall, kamen, da die Gegner das nicht erwartet, dann unsererseits zuerst auf die Liste und konnten nun großmütig sein, wobei uns schließlich Richter-Wandsbeck noch einen großen Dienst leistete. Die Erregung war außerordentlich, jedes Mittel wurde von beiden Seiten benutzt. Die Gegner aber ließen sich von ihrer Erregung hinreißen, polterten hitzig hervor, um die fünfminutige Redezeit auszunutzen, während wir ruhig blieben und durchweg langsam und gemessen sprachen. Das Resultat ist Ihnen begannt. Liebknecht und Bebel waren famos.
Daß Hasenclever sich schließlich von Geib breitschlagen ließ, ans Zentralblatt nach Leipzig zu gehen, vollendete den Sieg, da man sonst mit Frick-Bremen gesagt habe würde: Das neue Blatt ist nur das Organ der Herren Bebel und Liebknecht. Damit ist die Einheit besiegelt....«
Hasselmann gab zum 1. Oktober 1876 seine Stellung an der »Berliner Freien Presse« auf und zog sich nach Barmen-Elberfeld zurück, woselbst er die Redaktion der »Bergischen Volksstimme« übernahm und ein neues Organ, »Die rote Fahne«, das angeblich nur als Flugblatt erscheinen sollte, ins Leben rief. Es zeigte sich aber bald, daß Hasselmann mit der Gründung dieses Blattes separatistische Ziele verfolgte, was ihn in eine schiefe Stellung zur Partei und zum Zentralwahlkomitee brachte und auf dem nächstjährigen Parteikongreß wieder zu unerquicklichen Debatten führte.