Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Sechzehntes Kapitel.
Das große Trauerhaus.

Wo der Trauerhimmel über eine ganze Stadt ausgespannt ist, wer achtet da sehr auf ein einziges Trauerhaus! Die Ärzte, nach denen er geschickt, waren nicht zu Hause gewesen. Sei doch der Krankheitsfall eine Art, daß ein gesunder Körper sich selbst heile, hatte er geäußert, oder wenn – dann war er plötzlich aufgesprungen und ließ doch noch einen Arzt rufen. Er hatte ihm im Vorzimmer die Symptome beschrieben, sie hatten gelacht, und als der Doktor ins Zimmer trat, hatte er lächelnd den Puls des Kranken befühlt und auch lächelnd zur Baronin gesagt: »Etwas Kamillentee und Einreibungen – das wird den Patienten bald auf die Beine bringen, aber wenn er auf den Beinen ist, gnädige Frau, dann tun sie mir den Gefallen und lassen ihn nicht wieder Melone essen und sich erkälten.«

Liebevoller, aufmerksamer, aufopfernder hätte ein Bruder den Baron nicht pflegen können. Tag und Nacht saß er abwechselnd mit der Baronin an seinem Bette. Er trocknete, er rieb den Leib, er schenkte ihm den Tee, den er selbst vorher kostete.

»Wenn er nur nicht so spaßhaft wäre!« hatte die Baronin gerufen, als sie ins Nebenzimmer trat, um Luft zu schöpfen, und schauderte. Sie ging in Schwarz. Viele wollten nie eine Seele in diesen großen Augen erblickt haben. Heut wären sie anderer Meinung gewesen. Dieser Blick voll tiefer Wehmut, voll Stolz und Ergebung sprach nur von einem Seelenschmerz. Als sie die Worte ausrief, hatte sie sich an die Wand gelehnt. Die Wand antwortete nicht. Da wollte sie die Worte wiederholen, aber sie kamen anders heraus: »Wenn er mir nur nicht das getan! Wenn er nur den Brief nicht geschrieben hätte!«

Hatte Wandel durch die Wand gehorcht! Er war ein anderer, als sie zurückkehrte. Wie wenn ein scharfer Ostwind weht, die Mücken und Insekten, die uns geneckt und geplagt, mit einemmal verscheucht und verschwunden sind, waren die launigen Anekdoten, mit denen er ihre Sorge zu verscheuchen gesucht, auf seinen Lippen erstorben. Er saß da, ein blasses Bild, auch der Seelentrauer. Er hörte kaum ihr Kommen, kaum ihre Frage: »Wie steht es?«

»Wie sollen die Glieder gesund sein, wenn der Körper krank ist!« Er sprang auf.

»Ist eine Veränderung eingetreten?« Der Kranke lag in dem Augenblick still nach der andern Seite gewandt.

Wandel stand am Fenster. Lärm, Unruhe, Hinundhergelaufe, kernige Fluchworte, dazwischen ein Geschrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter sprengte auf der Straße vorüber: »Das ist der Rittmeister Dorville. Ich fürchte, er bringt Übles vom Schlachtfelde.«

Eine Stimme rief zum Fenster hinauf: »Verloren! Es ist alles verloren.« Was eine Stimme, was Stimmen! Es war alles in der Stadt nur eine, und das war ein entsetzlicher Wehruf .Wohl denen, die ihn laut machen konnten; der stumme Schmerz ist der tiefere. Er sprengt nicht immer die Brust, aber er stopft die Adern, er wirkt einen Niederschlag, der alle Funktionen der Glieder lähmt. Das Herz, das so mutig noch eben schlug, scheint stillzustehen, die Gedanken, die gradeaus schossen, zittern und verirren. Es war kein lauter Aufschrei in der Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde geöffnet, aus der das Herzblut mit einemmal ausströmt; es war eine Quetschung, ein Niederschlag. Ein Uhrwerk war's, dessen Räder noch gingen, aber keines griff ins andere.

Die stürzten aus den Häusern, um draußen Nachricht einzuziehen, aus dem Sprachgewirr, den Gesichtern, der Luft. Die drangen in die Häuser, um sie von denen zu erhalten, welche darum wissen mußten. Die fragten mit scheuem Entsetzen: Was ist mit uns? Die drangen: Was sollen wir tun? – Ach, es wußte niemand, was er tun sollte, die am wenigsten, die es wissen sollten!

Ein Knäuel von Hiobsposten wälzte, flog durch die Straßen. Hier schüttete es die entsetzlichsten aus und schien sich erschöpft zu haben, aber elastisch sprang es in die Höhe, um in der nächsten einen neuen Regen zu sprühen. Wenn die Besonnensten und Klügsten es nicht faßten, den Kern nicht herauszogen, was wunder, wenn die, welche nie gedacht, Fäden herausspannen, die ins Märchenreich gehörten. Die Franzosen hatten gesiegt, die Armee war in die Flucht geschlagen; die Besonnen hatten wohl recht, wenn sie schrien, man solle zukochen, heizen, für Stroh, Decken, Quartiere und Lazarette der Flüchtlinge sorgen, andere schrien nach Waffen und Widerstand. Da schreckte beide die Nachricht zum blassen Verstummen: Nichts von Flucht und Widerstand! Unsre Armee ist aufgerieben, vernichtet, alle Generale, der König, die Prinzen gefallen! Nicht unsre Flüchtlinge, die Franzosen kommen, stürmen, brandschatzen, plündern! Das ward zwar von Unterrichteten dahin korrigiert: die preußische Armee sei von den Franzosen nur umgangen worden, Napoleon habe sich zuerst bei Jena auf das Korps Hohenlohe geworfen und es vernichtet, darauf oder zugleich sei die Hauptarmee, wo der König und die Prinzen, bei Auerstedt total geschlagen, der Herzog von Braunschweig, der Oberfeldherr, im Getümmel erschossen, und beide geworfenen Korps, aufeinandergedrängt, würden von den Franzosen nach dem Rheine zu verfolgt; aber für die Begriffe der Masse war das zu schwer zu entwirren. Wenn auch einige Kluge kalkulierten, dann entferne sich ja die Gefahr, wenn noch Klügere meinten, es sei nur eine Kriegslist, um den Krieg nach Frankreich zu wälzen, so hörten andere dafür schon, wenn ein Pikett Husaren durch eine entfernte Straße preschte, die Vorposten der Franzosen in die Stadt einreiten. Andre aber hatten besser gesehen oder gehört, es waren Russen oder gar Engländer, die gelandet oder geflogen waren, um Berlin beizustehen.

Natürlich waren das nur Luftblasen der Angst und Furcht in den untersten Volksklassen, die nie um öffentliche Dinge sich gekümmert, die in dem Wahne sicher träumten, der Bürger dürfe sich darum nicht kümmern, es sei am Staate, ihn vor Gefahr zu schützen. Ach, aber die Höheren waren die Allerratlosesten in diesen Stunden. Die noch die Besseren, die wenigstens nach Rat verlangten. Wäre er dagewesen, der Wille zur Tat hätte sich auch eingestellt.

Man sah einige durch die Massen sich drängen. Aber wo Rates sich erholen? Die Lenker des Kabinetts sollten im Hauptquartier sein. Hier klopften sie umsonst an die Tür eines Großen. Er lag in einer heftigen Kolik und hatte befohlen, niemand vorzulassen. Ein anderer war bei einem andern, der andere war aber wieder anderswohin geeilt. Im Gedränge trafen sich zwei, die sich einst gesehen und seitdem nicht wieder, Walter und der alte Rittgarten. »Zum Gouverneur!« rief der Invalide. »Er muß die Trommel rühren lassen.« – »Trommeln! Das fehlte noch«, rief ein gutgesinnter Bürger, »um den Wirrwarr voll zu machen.« – »Es gibt nur einen, und wenn er nicht Hilfe weiß –«

Walter ward durch einen lauten Aufschrei unterbrochen, der durch die Stimmen von Tausenden und aber Tausenden immer neu anwuchs. Das waren Laute des Schmerzes, aber auch der Freude: »Die Königin! die Königin!« In der Entfernung bog ein Reisewagen um die Straßenecke. Tränen, Schluchzen, Jubelrufe! Es war in dem Gewirr nichts zu verstehen. Ein Tuch, ein Arm wehte heraus. Die beiden, die sich eben gefunden, wurden wieder getrennt. Jeder hatte ein anderes Ziel. Aber die Stimmung schien sich geändert zu haben. Der Anblick der Königin hatte gewirkt. Der alte Rittgarten traf auf entschlossene Gesichter. Kernworte, Flüche! Da schüttelte einer seinen markigen Arm. Rittgarten ergriff ihn. Er sprach Worte, die zum Herzen drangen. Als sie das Hotel des Ministers erreicht, hatte sich die Zahl bedeutend vestärkt; es waren kräftige Männer, alte Soldaten darunter. Wut und Freude strahlte auf den Gesichtern.

Wo war die alte Ordnung, die heilige Ruhe, wenn man berußte Arme, Schurzfelle auf den Treppen sah, einige sogar bis in das innere Heiligtum gedrungen. Es mußte hier schon viel vorgegangen sein, wenn wir den Minister, denselben, welcher den jungen Walter nach Karlsbad schicken wollte, zwischen diesen, selbst für die Antichambre ungeeigneten Gestalten umhergehen sehen, ohne daß sein Auge Blicke der Entrüstung warf. Nein, er trug weder Uniform noch Hofkleid, auch keinen Stern an der Brust, er ging nicht aufrecht, und die Stirn leuchtete nicht vom Widerschein seiner unantastbaren Würde. »Meine lieben Freunde!« sprach er, zwischen den Eingedrungenen sich bewegend. Seine feinen, aristokratischen Hände, stets in einer Position gehalten, die sie vor jeder Berührung schützen sollte, berührten doch freiwillig die Arme der Bürger, er drückte dem Nagelschmied die Hand, er legte sie dem patriotischen Stadtwachtmeister auf die Schulter: »Mein liebster, guter Freund, nur keine Übereilung.«

»Aber, Exzellenz, sie stürmen Ihnen das Haus!« riefen drei, vier Stimmen.

Der Hausflur war voll, die halbe Treppe, sie drängten von draußen, andre standen im Hofe und gafften mit häßlichen Blicken die Reisewagen an, die in Hast bepackt waren. Die Exzellenz beugte sich übers Geländer, sie rang die Hände, es war der mildeste, freundlichste Ton: »Um Gottes Willen, meine Freunde, keine Übereilung! Was wollen Sie?«

Da brach es los, wie, ich weiß es nicht; es war aber das Unglück, da keiner wußte, was er wissen sollte. Es war die Wut, die in hundert Lauten sich Luft machte. »Wir sind verraten!« – »Der König und die Königin sind verkauft und verraten!« – »Das Vaterland ist in Gefahr.« – »Die Franzosen vor der Tür!«

»Ja, ja, meine lieben Freunde, um Gottes willen, es ist wahr, wir sind alle in Gefahr – aber was wollt ihr, was sollen wir tun?«

Eine rebellische Stimme aus dem Haufen schrie eine Verwünschung gegen die verfluchten Junker, die das Unglück übers Land gebracht.

»Wir sind alle gleich! Wir sind alle Brüder, uns trifft es, wir müssen uns alle im Unglück beistehen.«

Es klang schön, aber die im Hofe zeigten auf die bepackten Reisewagen: »Er kratzt aus, uns läßt er im Stich.« Ein höhnisches Gelächter verschlimmerte die Lage der Autorität, die es nicht mehr war. Da ward der Ruf laut: »«Widerstand! Waffen! Ein Schuft, wer seinen König verläßt!«

»Um Gottes willen, verehrte Mitbürger! Ich beschwöre Sie, bedenken Sie Ihre Familien, Ihre lieben Kinder, Ihre Lage, diese Stadt! Es ist ein Unglück, ja, ein großes unermeßliches Unglück, unsre Armee ist geschlagen, total geschlagen, wir wissen nicht, wo sie ist. Wo eine so tapfere Armee erliegen mußte, ist es Torheit, ich beschwöre Sie, es ist Raserei, an den geringsten Widerstand noch zu denken.«

»War's Torheit«, rief eine Stimme, es war der alte Rittgarten, »als Hadik in unsre Straßen sprengte, daß die Berliner nicht zu Kreuz krochen? Raserei, daß sie Schanzen aufwarfen, daß, wer eine Muskete tragen konnte, der Trommel folgte, als die Russen ihre Kugeln in die Friedrichsstadt warfen? Des Königs Hauptstadt ward gerettet!«

»Meine lieben, teuren Mitbürger, bedenken Sie doch die veränderten Verhältnisse. Wer war Hadik, wer die Russen! Der Kaiser Napoleon ist unüberwindlich. Sie waren selbst Militär. Oh, erklären Sie Ihren Mitbürgern, daß aller Patriotismus und alle Bravour gegen ein diszipliniertes Heer nichts ausrichten. Oh mein Gott, stehn Sie mir doch bei, diese braven, rechtlichen, unsere Mitbürger vor einer entsetzlichen Verirrung zu bewahren.«

»Exzellenz«, erwiderte Rittgarten, »eine Schlacht können wir den Franzosen nicht liefern, noch besteht Bürger und Bauer vor denen, die den Krieg erlernt. Das weiß ein Kind. Aber hier gilt's, was keiner erlernt, was geboren ist, das Herz zeigen am rechten Fleck. Ist der König geschlagen, so gilt's, ihm aufbewahren als treue Untertanen unsren Mut, unsre Treue, uns selbst. Er wird wissen, ob er Berlin halten soll oder aufgeben, und an uns ist's, ihm die Entscheidung offenerhalten. Das ist unsere Schuldigkeit. Es gilt, der Obrigkeit, die er zurückließ, gehorchen, und wenn sie stumm bleibt, sie fragen, was müssen wir tun, daß dem Könige seine Hauptstadt gerettet wird? Sind Soldaten da, so sammelt sie, sind Invaliden, ruft sie auf, sie werden dastehen. Sollen die Bürger ihnen zutragen, schanzen, Wache stehen? Sollen Wagen und Proviant hinaus, die Flüchtlinge einzuholen? Soll ihnen ein Lager abgesteckt werden? Soll junge Mannschaft geworben werden? Sollen wir Pullover holen, Kugeln gießen, abkochen für die Ankömmlinge? Alles das weiß der Bürger nicht, Exzellenz, aber er hat ein Recht, von denen es zu erfahren, die der König zurückließ an seiner Statt. Die müssen es wissen, die uns vorangehen. Und die und wir alle haben die Verpflichtung, uns so zu zeigen, daß der Feind erfährt, er hat eine Stadt von Männern vor sich, nicht von Memmen.«

Gewirkt hätte die Rede, wenn nicht zwei Umstände die Wirkung paralysierten. Von draußen schrie es: »Die Königin! Die Königin flieht aus Berlin!« – »Die Königin redet zu den Bürgern!« Darauf eilten die Entschlossenen nach dem Palais. Vielleicht war dort Rat und Hilfe. Im hintern Hofe aber hatten andere einen Reisewagen umgestürzt. Wo mischt sich nicht schlechtes Gesindel hinein, wenn der Patriotismus aufbraust! »Sie plündern! Herr Major, hindern Sie's! Man weiß nicht, was draus wird! – Es sind Soldaten dabei.« Es bedurfte für den Offizier kaum der Aufforderung.

Die Exzellenz ließ ihren Wagen im Stich, sie hatte eine höhere Aufgabe, das Terrain war günstiger, die Haufen gelichtet, er glaubte geneigtere Gesichter zu sehen. Er war auf die letzte Stufe in ihren Kreis getreten:

»Mitbürger! Teuerste Freunde! Der Augenblick ist entsetzlich, aber lassen Sie sich von unruhigen Köpfen nichts aufreden. Hier ist nicht zu helfen. Der Himmel hat es so gefügt, wir müssen uns drin finden. Der mindeste Widerstand, irgendein unruhiges Benehmen von Ihrer Seite könnte die schrecklichsten Folgen haben. Denken Sie an Ihre Frauen, Ihre Kinder, denken Sie an Wien! Wie ungnädig hat seine Majestät, der Kaiser Napoleon, das trotzige Benehmen der Bürger aufgenommen. Er ist nun einmal der Sieger. Er wird ein großmütiger Sieger sein, wenn Sie der Vernunft Gehör schenken. Sein Sie freundlich, sein Sie sehr freundlich gegen ihn. Überwinden Sie sich; wenn er einzieht, rufen Sie ›Vive l'Empereur!‹ Ich weiß, es wird Ihnen schwer werden, aber der Mensch kann sich überwinden, meine Herren, der Mensch kann viel, wenn die Not ihn zwingt. Recht friedlich, recht besonnen! Illuminieren Sie! Das wird ihn überraschen, sein Herz wird sich aufschließen. Liebe Mitbürger, hören Sie auf den Rat eines Mannes, der's mit Ihnen wohlmeint, es ist nicht für mich. Bedenken Sie, erwägen Sie, ich wiederhole es nochmals, wie schrecklich sein Zorn auf Wien fiel. Sie sind keine Wiener, Sie sind Berliner, und das Beispiel wird Sie lehren, daß eine männliche, ruhige Hingebung im Unglück es allein ist, die den Patrioten ehrt.«

In den Akten der Zeit wird man freilich diese Rede nicht aufgeschrieben finden. Aber man findet mehr – ein gedrucktes Aktenstück. An allen Straßenecken stand – an einem spätern Tage – folgendes Proklama, und in den Berliner Zeitungen las man es am 21. Oktober 1806.

In dem Proklama hieß es:

 

»Nur festes Anschließen an diejenigen, welche das mühselige Geschäft übernehmen, die von einer solchen Begebenheit unvermeidlichen Folgen zu mindern, sowie die mehr als jemals nötig gewordene Ordnung zu handhaben, kann die schrecklichen Folgen abwenden, welche der mindeste Widerstand oder irgendein unruhiges Benehmen der Einwohner über die Stadt verbreiten würde, und das noch neuerliche Andenken des Betragens, welches die Einwohner Wiens in einer ähnlichen traurigen Lage beobachtet haben, muß die Einwohner Berlins belehren: daß der Überwinder nur ruhige, männliche Hingebung im Unglücke ehrt... Ich ermahne jeden (denn – hoffentlich werde ich es nicht nötig haben zu befehlen)... ruhig bei seinem Gewerbe zu bleiben und alle Sorgen denjenigen zu überlassen, welche sich rastlos mit seinem Wohl beschäftigen werden. Ich verbiete durchaus alles Zusammenlaufen, alles Schreien auf den Straßen, alles öffentliche Teilnehmen an denen so verschiedentlich einlaufenden Kriegsgerüchten; denn ruhige Fassung ist dermalen unser Los, unsre Aussichten müssen sich nicht über dasjenige entfernen, was in unseren Mauern vorgeht; dieses ist nur unser einziges höheres Interesse, mit welchem wir uns allein beschäftigen müssen.

Berlin, den 19. Oktober 1806. Fürst von Hatzfeld«

 

Es mußten schon Flüchtlinge in der Stadt sein; vielleicht verbargen sie sich vor der Neugier oder dem Grimm des Volkes in den entfernteren Teilen. Aber das Volk suchte nach ihnen. Da hielt es eine staubbedeckte Reisekalesche an und zwang einen Offizier herauszusteigen. Vergebens protestierte er, daß er die Schlacht nicht mitgemacht, nicht vom Schlachtfeld komme, vielmehr über Schlesien aus Österreich; der Wagen kam ja vom Schlesischen Tor. Zum Gouverneur wollte er sich führen lassen, obgleich ihm die Eskorte unangenehm war, als Herr von Fuchsius ihm begegnete und von der verdächtigenden Begleitung befreite.

»Zu spät!« – »Wieder zu spät!« erwiderte Eisenhauch und drückte die ihm entgegengehaltene Hand. »Das ist mehr als Austerlitz.«

»Zum Gouverneur! Kommen Sie mit? – Solange die Möglichkeit da ist –«

»Die Gewißheit!« unterbrach der Rat.

»Auch Sie ohne Trost und Hoffnung?«

»Die Gesetze der Natur sind ewig. Die Kugel rollt nur, bis sie den Abgrund erreicht, und der Verbrecher bleibt nur ungestraft, bis sein Maß voll ist.«

Welche fast lüsterne Freude glänzte auf Fuchsius' Gesicht, als er dem alten Bundesgenossen die Hand rasch zum Abschied gedrückt. »Wohin? Wohin?«

»Das im kleinen tun, was Gott im großen vollenden wird, wenn – auch da das Maß voll ist. Jetzt entlarven – ein Scheusal!«

Eisenhauch begriff ihn nicht. Wer konnte einer Bagatelle jetzt nachgehen! Das Reich der Pygmäen war ja aus. Er bedachte nicht, daß um deswillen noch nicht das von Titanen beginnt. Er traf den Minister auf dem Flur – er kannte ihn, er wußte, was er unter andern Umständen von ihm erwarten durfte, aber jetzt –. Der Minister war zugleich preußischer Krieger, ein hoher General, er hatte einst ein Armeekorps kommandiert. Jetzt mußte er den Zopf fortgeworfen haben, jetzt in Stahl und Eisen aufspringen, und wirklich, der Minister schien erfreut, wie man erfreut ist nach einer guten Tat. Er erkannte sogleich den Freiherrn: »Gott sei Dank, mir gelang eben etwas, was von dieser Stadt eine große Gefahr abwendet.«

Da rückte Eisenhauch rasch in kurzen Worten mit seinen Anträgen vor: er bot seine Dienste an, er stellte sich zur Disposition, wohin man ihn brauchen könne, er wollte noch mehr: einen unterwegs entworfenen strategischen Plan andeuten, wie man durch rasches Zusammenziehen der gebliebenen militärischen Kräfte und Benutzung der Lokalitäten Positionen einnehmen könne, nicht stark genug, um einen ernsten Angriff des siegreichen Feindes zu widerstehen, doch ausreichend, um die Hauptstadt vor dem ersten Anprall zu schützen, die zersprengten und flüchtigen Truppen aufzunehmen, in Kader zu sammeln – als der Minister mit Entsetzen ihn unterbrach:

»Sind Sie rasend! In ein brennend Haus sich stürzen! Wir – wir werben nicht, was neue Soldaten – sollen wir noch den Kaiser reizen! Wir können Gott danken –«

»Wenn wir unser elendes Leben salvieren«, rief eine Stimme von der Hoftür her.

»Machen Sie sich aus dem Staube, liebster Freiherr Eisenhauch, verschwinden Sie, schnell, schnell, ehe ein Spion Sie erblickt. Gott sei Dank, mir gelang wenigstens eins: das Pulver ist aus Berlin, ehe er eintrifft. Er wittert überall Verschwörungen, Empörungen, Herr Gott, er hätte in Zorn geraten können –«

»Über die Kreatur, die er zum Mann schuf, und sie ward ein Wurm!« rief die Stimme, und der alte Rittgarten hob seinen Stock. Es war ein erschreckender Anblick, der Greis, der sichtlich auf den Füßen schwankte, seine Brust bebend, sein Gesicht vom Blutandrang gerötet, aber weiße, verräterische Streifen zogen sich von der Nasenwurzel bis an die Mundwinkel. Seine Stimme polterte, aber die Laute waren nicht mehr artikuliert. Man konnte auf einen Schlaganfall aus Gemütserschütterung schließen. Und den Stock in der Luft schwingend, drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Eisenhauch hatte ihn rasch unterfaßt. Mit äußerster Anstrengung stieß der alte Krieger Worte vor: »Fluch – über die Verräter! – Diese Sykophanten an Friedrichs Thron, die sein Volk nichts achteten – sie werden die ersten sein – die ihm die Füße lecken, dem neuen Herrn –. Stempelt diesen, zeichnet ihn, daß man ihn wiedererkennt – er wird die fremde Livree tragen. – Oh, fort – hinaus, die Luft hier erstickt.«

Rittgartens Stock hatte den Minister nicht getroffen, aber sein Blick und Wort. Er war verschwunden, in der nächsten Stunde auch aus Berlin. Die Prophezeiung des Sterbenden ging in Erfüllung. Der Minister – aber er nicht allein – ließ wenig Monate darauf sich ein neues borniertes Galakleid anmessen; er antichambrierte im Ministerrock des Königs von Westfalen, so stolz und aufrecht, die Brust so reich geschmückt, und er sah so gnädig und herablassend auf Niedere als damals, wo er nichts war und sein wollte als ein treuer Diener seines Herrn, des Königs von Preußen. Kleider machen Leute, sagt das Sprichwort, aber nicht auf alle paßt es, denn in der Politik gibt es Männer, für die alle Kleider passen.

Ein Sterbender war der Major Rittgarten. Er atmete draußen noch einmal die freie Luft, er schien Eisenhauch zu erkennen, er erschrak nicht. Der führte ihn, den er einst auf Tod und Leben gefordert. Ein anderer hatte die Lose geworfen, eine andre Hand die Kugel abgedrückt. Aber da lief ein Mann mit Pinsel und Zettel heran und klatschte ein Plakat an die Tür. Als er das gelesen, zitterte er zusammen. Eisenhauch fühlte eine Erschütterung in den Gliedern des Greises. Auf dem Plakate standen die Worte:

 

»Der König hat eine Bataille verloren. Seine Majestät und dessen Bruder, Königliche Hoheit, sind am Leben und nicht verwundet. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Ich bitte darum.

Schulenburg.«

 

»Es wird besser«, antwortete Rittgarten auf des Majors Frage, der Hilfeleistende heranwinkte.

»Ja, es wird besser, es muß besser werden!« rief Eisenhauch. »Oh mein Gott, mein Vaterland!«

»Er kann nicht mehr allein stehen«, sagte jemand.

»Preußen!« atmete der Sterbende, an des Freiherrn Brust sinkend – es war sein letztes Wort.

»Kann nicht mehr allein stehen«, wiederholte Eisenhauch dumpf. »Es hätte nicht allein stehen dürfen, ohne Deutschland.«

Der Schlag hatte den Invaliden getroffen.

 

Im Trauerhause, dem Hotel des Ministers gegenüber, hatte auch ein Schlag getroffen. Die Baronin lag auf ihren Knien am Bette, ihr Gesicht verbergend. Gott verzeih ihrer Seele, wenn sie nicht für die des Mannes betete, der eben, nach furchtbaren Konvulsionen, sanft entschlummert war.

Es war ja Krieg, der in seinem Zorn Tausenden unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, selber sie aber hinstreute zum Fraße den Hunden
Und dem Gevögel der Luft. So ward sein Wille vollendet.

Warum war's eine Sünde, wenn ein edles Weib in ihrem Gebet an eine andre Seele dachte, wenn sie für diese um Vergebung flehte. Der Tote vor ihr hatte nie jemand getäuscht, was er war, hatte immer zutage gelegen, der Richter überm Sternenzelt kannte ihn und würde nach seinem Wert oder Unwert das Urteil fällen. Aber die Seele des einen war mit einem Fleck dahingegangen. Ein einziger Fleck hatte die reinste Seele getrübt, und ehe er sich verantworten können, hatte das blitzende Schwert den Helden niedergeschmettert. Wußte sie, in welchen Ängsten, daß er keinen hatte, dem er beichten, gegen den er sich von dem einzigen Fehler, der ihn drückte, entlasten konnte! Und war es denn eine Sünde, hatte er nicht wissen können, daß sie gern alles für ihn hingab, daß sie mit Freuden seine Schulden bezahlt hätte, wenn er sich nur an sie gewandt! War das nicht edel, daß er es nicht getan! Nur in einem schwachen Augenblick hatte er sich verführen lassen, auch nur vielleicht in betreff des Wucherers, der ihn aus der Not ziehen sollte. Und darum auf ewig verdammt! Nein, wenn einer, er bedurfte des Mitleids. Und sie hatte zum Vater, von dem alle guten Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck vergebe.

Da war sie, fast erheitert, aufgestanden, sie hatte des Toten Hand gedrückt, auch er würde im Leben nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in stiller Fassung saß sie im Lehnstuhl, die Augen schließend, als ein heftiger Schrei sie aufschreckte. Der Legationsrat, der, um Nachricht, ob Gefahr sei, einzuziehen, sie verlassen, war zurückgekehrt, er hatte sich über das Bett geworfen, der stöhnende, konvulsivische Schrei kam von ihm.

»Da ist ein edler Freund mir hingegangen. Er da oben nur weiß, was er mir war!« rief er, sich erhebend, die Hände übers Gesicht deckend. – Nur auf kurze Sekunden. Den nächsten Augenblick beugte er sich über die Witwe, sie fühlte einen langen Kuß auf ihre Stirn gedrückt:

»Das ist der Bruderkuß, der Schwester gegeben. Die Sterne wollen es so. Edler Toter, deine Seele blickt auf uns, aber ich sehe dich ruhig lächeln, denn du weißt, daß ich deine heiligen Pflichten gegen dein Weib erfüllen werde. Durch diesen Kuß besiegte ich mein Gelöbnis.«

Sie war vorhin überrascht worden; jetzt, als seine Lippen sich ihr näherten, stieß sie ihn zurück. Sie wollte sich auf die Leiche werfen, aber mit ebensolcher Entschlossenheit riß er sie am Arm zurück:

»Unglückselige! Wissen Sie, was Sie tun? Er ist an Cholera gestorben, sein Hauch ist Pest. Er muß noch heut unter die Erde.«

Er stand gebieterisch zwischen ihr und der Leiche, Ehe sie Zeit zu antworten hatte, führte er sie schon, halb zwang er sie an den Schreibsekretär:

»Schnell, keine Minute verloren! Ihre wichtigsten Papiere, Kleinodien, was Sie an Geldeswert fassen können – in einen Kasten, was es ist. Ich besorge mit Ihrem Kammermädchen die nötigsten Kleider. Der Wagen rollt vor –«

»Was ist's, mein Herr!«

»Sie wissen nicht! In einer Viertelstunde spätestens müssen wir fort. Auf der Schöneberger Höhe sieht man schon die Avantgarde. Alles flieht, wer nur Pferde auftreibt. Die Königin beinahe in Lebensgefahr. Sie wird jetzt schon aus dem Tore sein. Gestreckter Galopp. Die Franzosen werden plündern, vielleicht die Stadt in Brand stecken. Napoleons Wut ist unaussprechlich. Nur keine Frauen zurückgelassen, ruft es durch alle Straßen. Sie mißhandeln – ihre Brutalität ist ohne Grenzen. Unglücklich Weib! keinen Augenblick verloren!«

Er hatte den Sekretär aufgerissen. Mechanisch folgte sie seinem Befehl; sie hatte keine Luft, keinen Atem zum Denken, zum Erwägen. Das Rädergerassel draußen, das Stimmengewirr unterstützten, was Wandel sagte. Eine Schatulle war in lautloser Angst gepackt.

»Nur nichts Unnützes!« rief er, als sie ein Pack eröffneter Briefe hineinwerfen wollte. »Wozu sich mit Erinnerungen beschweren! Nur nichts hinter uns.«

Die Briefe fielen zerstreut auf die Tischplatte. Sie ließ alles geschehen in sprachloser Erstarrung. Da nahm er einen: »Ah, Dohlenecks Hand. Selig sind die Toten, aber sie haben nichts zu schwatzen.«

Ehe sie es hindern konnte, hatte er den Brief in kleine Stücke zerrissen. Aber sie hatte den Blick gesehen, der auf das Papier schoß, die Freude, die aus seinen Augen blitzte – es war eine ganz eigentümliche Freude –, das Weiße des Auges verzog sich, er kniff die Unterlippe mit den Zähnen ein. Da blitzte etwas in ihr; es war, als ob ein Vorhang riß. Einige Schritte zurückfahrend, maß sie ihn von Kopf bis Fuß. Es war ein fürchterliches Licht, das in ihr aufschoß. Ihr Gesicht rötete sich, ein Strahl von einer Freude schoß darüber, während sie unwillkürlich die weißen Zähne zeigte und die Finger der schönen Hände sich krümmten.

»Warum vernichten Sie gerade den Brief?«

»Weil – weil ich im Interesse dieses heiligen Toten seiner Witwe Erinnerungen sparen will, die den Seelenfrieden einer treuen Gattin trüben könnten.«

Der imponierende Ton verfehlte sein Wirkung. Ein krampfhaftes Lachen erheiterte ihre Brust: »Falsch! es ist alles falsch an Ihnen – jetzt – ich ahne – Sie sind ein Mensch, dem niemand trauen durfte – oh mein Gott! – und da der tote Mann – Wer schützt mich!«

Wir zweifeln nicht, daß der Legationsrat auch jetzt noch Mittel gefunden – wenigstens würde er danach gesucht haben, das Mißtrauen der Witwe zu beschwichtigen, wenn sein Blick nicht plötzlich durch einen Gegenstand an der Tür absorbiert worden wäre. Es lag in der Natur der Dinge, daß, nachdem durch die Diener die Nachricht von dem Tode des Barons bekanntgeworden, eine Anzahl Freunde, Angehöriger und Teilnehmender sich in das Haus drängte. Ebenso natürlich war es, wenn bei der obwaltenden Krisis einige unangemeldet in das Zimmer drangen, zur Förmlichkeit eines Trauerbesuches war nicht mehr Zeit. Alle trauerten, und alle Trauer mischt sich. Die Baronin ward embrassiert, Dienstleute aus dem Hause drängten herein und schrien beim Anblick der Leiche auf. Das: »Wissen Sie schon?« – »Oh, der ist glücklich, der nichts davon hört!« – »Ach, wer weiß, was uns allen bevorsteht!« – »Und so jung noch!« – Das Schluchzen, das stille Weinen, das Händeringen, es war alles zusammen wohl geeignet, die peinliche Lage der Baronin zu vermehren und ihre Aufmerksamkeit abzuziehen, aber die Wandels war auf einen andern Gegenstand gerichtet gewesen. Er glaubte, als die Tür aufgerissen ward, den roten Kragen eines obern Polizeibeamten entdeckt zu haben.

Der war zwar noch nicht eingetreten, aber wie aus einer geöffneten Schleuse ergossen sich Nachrichten, die ihm nicht alle angenehm waren. Dem »Wissen Sie schon?« der und jener Freundin folgte eine Reihe von Unglücksfällen und eine Totenliste. Der ist erschossen, der gefangen, der niedergehauen! Rittmeister Dorville schien die Pandorabüchse, welche alle diese Hiobsposten ausgeschüttet hatte.

»Sah er auch den Major Dohleneck fallen?« fragte sie, sich selbst überwindend, die Baronin schüchtern.

»Den hat Dorville selbst gesprochen.«

»Gesprochen! eh er fiel?«

»Nur verwundet, aber nicht schwer. Er ist ranzioniert, oder losgegeben, er kommt direkt nach Berlin, nur darf er nicht mehr dienen in dem Kriege.«

Wandel hatte nicht mehr Zeit, den Blick zu sehn, den ihm Auguste Eitelbach zuwarf, ein triumphierender, durchbohrender Blick. Er sah auch nicht, wie ihre Brust sich hob, wie tief sie Atem schöpfte, um dann auf dem Stuhl zusammenzusinken, ihre Hände zu falten und ihre Gesicht zu verbergen. Der junge Mensch, den wir am Morgen bei Fuchsius sahen und den er Eckard nannte, hatte sich hinter ihn geschlichen und ihm zugeflüstert: »Es will Sie draußen jemand sprechen.«

Wandel fixierte den Menschen, ob er ihn einer Antwort zu würdigen habe, als sein Auge auf Fuchsius fiel, der unbeweglich an der Tür stand. »Ah, ein alter Freund!« sagte er.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der junge Mensch.

In dem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Polizeiinspektor schritt zum Befremden der Anwesenden auf Wandel zu:

»Da Sie meiner Invitation nicht gefolgt sind, erlaube ich mir, Sie abzuholen, mein Herr.«

»Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.«

»Wir werden uns kennenlernen.«

»Ah, ich sah nicht den roten Kragen! Als was soll ich Ihnen folgen?«

»Als mein Gefangener.«

Noch einmal warf sich Wandel in die Brust: »Noch Possen im alten Kurialstil! Auf Ihre Gefahr hin! In vierundzwanzig Stunden wird mein Kaiser Rechenschaft fordern für die mir angetane Beleidigung. Wollen Sie es noch wagen? Immerhin!«

Aller Augen starrten auf ihn. Nur der Polizeimann sah ihm fest ins Gesicht und sprach mit tönender Stimme:

»Auf Requisition des Tribunals der Seine zu Paris und auf ausdrückliches Ansuchen des Kaisers der Franzosen durch seine vormalige Gesandtschaft hier verhafte ich Sie.«

Totenstille. Wandel erblaßte, doch nur auf einen Augenblick: »Dann ist's ein Mißverständnis!« Er knöpfte sich zu, verbeugte sich leicht gegen die Anwesenden und folgte rasch dem Inspektor. Hinter ihm schnitt ein greller Pfiff durch die Luft. Der junge Vigilant hatte sich einen Spaß gemacht. Er schien ihn fortzusetzen, indem er beim Hinausgehen zu einem Angehörigen des Hauses sagte: »Sehn Sie nur im Sekretär nach, ob da nichts fehlt.«

Der Inspektor brachte den Gefangenen in ein abgesondertes Zimmer zu flacher Erde, bis der bestellte Wagen ankam. Fuchsius' Gesicht war undurchdringlich geblieben, als Wandel an ihm vorüberging. Das des Polizeimanns versprach ihm vielleicht mehr, als er mit verschlungenen Armen ihn beweglich anblickte:

»So will man mich wirklich ausliefern – auf Requisition des Napoleonischen Gerichts?«

»Sie hörten es.«

»Wissen Sie, was mit mir geschieht? In vierundzwanzig Stunden bin ich erschossen. Ich wußte um eine Verschwörung gegen Bonapartes Leben, ich war vielleicht selbst dabei impliziert. Der Kaiser weiß es; mein Leben ist entschieden. Ist Ihre Regierung so verzagt, mich ihrem Feind auszuliefern, weil er droht, so sind vielleicht doch noch Patrioten im Volke, die den Vorteil ihres Vaterlandes und ihren eigenen bedenken.«

Der fatale Pfiff des Vigilanten antwortete von draußen. Der Inspektor erwiderte ruhig: »Sie sind wegen Giftmordes verhaftet.«

»Das ist eine andere Sache«, hatte Wandel auch ruhig erwidert und sich nach dem Fenster gewandt.

Nach einer kleinen Weile trat Herr von Fuchsius ein. Wandel begrüßte ihn höhnisch:

»Ich gratuliere, Ihr Staat macht noch in seinem Untergang Progressen zur Gesetzlichkeit. Als wäre ich in dem glücklichen England, hat man mir soeben das Verbrechen benannt, um was man Lust hatte, an mir einen Justizmord zu begehen. Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Regierungsrat, für die Berücksichtigung, da ich weiß, daß ich nach der alten Observanz sehr wohl ein halbes, auch Jahre in Ihrem freien Quartiere schmachten können, ohne mit einer Sterbenssilbe zu erfahren, was mir die Ehre verschafft.«

»Guido Florestan Baron Vansitter, genannt von Wandel!« redete Fuchsius ihn an.

Er irrte, wenn er auf eine Bestürzung des Gefangenen gerechnet hatte. Nur ein mokanter Zug schwebte um die Lippen desselben, als er erwiderte:

»Ich bedaure die Mühe, die es Ihnen machen wird, meine Identität mit der meines genannten Vetters herzustellen. Die meisten Zeugen sind gestorben; bis Sie die Überlebenden auftreiben und nach Berlin schaffen, darüber können Jahre vergehen. Der Untersuchungsrichter hat ein saures Geschäft, mein Herr von Fuchsius, wenn er Inquisiten vor sich hat, welche die Gesetze, die Menschen und ihre Inquirenten kennen. Aus persönlicher Freundschaft und Respekt vor Ihrem Charakter würde ich Ihnen raten, die Untersuchung abzugeben. Sie erscheint Ihrem Ehrgeiz lockend, ich versichere Sie aber, ich ärgere Sie zu Tode.«

»Aus Respekt vor Ihrer Bildung, und nur darum, habe ich zwei Worte mit Ihnen allein zu reden.«

»Allen Respekt vor Ihrer Versicherung, aber ich glaube Ihnen nicht, weil die Pflicht der Selbsterhaltung mir gebietet, Ihnen zu mißtrauen. Allein Ihnen, was Sie wünschen, aber vorher die Gewißheit, daß hinter der Tapete kein Protokollführer lauert.«

Wandel schien sich diese Gewißheit verschafft zu haben: »Was steht zu Ihren Diensten?«

»Führen Sie Gift bei sich? Ich meine Mittel, die es Ihnen ermöglichen, sich der Schande und der weltlichen Strafe Ihres Richters zu entziehen? Es ist meine Pflicht, mich davon zu vergewissern.«

»Soll ich Ihnen mit Macbeth antworten:

Weshalb sollt ich den römschen Narren spielen,
Sterbend durchs eigne Schwert? Solange Leben
Noch vor mir sind, stehn denen Wunden besser.

Solange ich atme, will ich von dieser süßen Gewohnheit des Daseins nicht lassen. Besser Kerkerluft und schimmlichte Brotrinde als schwimmen ein Atom im grauen Nebel der wesenlosen Leere. Nein, da beruhigen Sie sich, Sie sollen mich als Epikureer kennenlernen. Ich wollte viel, ich lasse mich aber auch genügen am wenigen. Die Welt ist ein Kerker, warum sollte nicht der Kerker zur Welt werden für den, der noch Lust am Leben hat! Ich trank Neapels Sonnenschein, der sich im Golfe badete, aber auch wenn sie mich in einen Kerker mit Blechkasten würfen, will ich wie ein Kind mit dem Sonnenstrahl kosen, der sich durch die trüben Scheiben mittags zu mir stiehlt. Ich kann mich auch wie jener mit der Spinne vergnügen, mit Mäusen, dem Insekt im Stroh. Ich will mit ihnen spielen, mich necken wie mit vernünftigen Wesen. Sie sollen meine Könige, Staatsmänner, Volkstribunen sein, und ich werde nicht zu großen Unterschied mit den wirklichen finden. Oder wollen Sie mich an die Mauer ketten, Eisenstangen mir an Hände und Füße legen, ich bleibe doch der freie Mann. Können Sie meinen Geist, meine Phantasie fesseln? Können Sie ihr verbieten, mein Gefängnis zu bevölkern mit Wesen, die, ohne Selbstschmeichelei, etwas geistreicher sind als Ihre erwählten Gesellschaften. Fürchten Sie sich nicht vor dem Nagel in der Wand, gönnen Sie mir ein Strumpfband, ein Halstuch, ich schwöre es Ihnen beim höchsten Eide, bei der Achtung vor mir selbst, den Versucher, der mich auch nur um eine Spanne meines Lebens betrügen wollte, jage ich hohnlachend zum Gitterfenster hinaus.«

»Baron Vansitter, es wäre besser für Sie, wenn Sie mit ernsten Dingen sich in der Spanne Zeit beschäftigten, die Ihnen noch gemessen wird.«

»Spanne Zeit! Sie täuschen sich. Es wird eine recht lange Zeit werden. Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde mich verteidigen – besser als Ihr Staat gegen seinen Überwinder. Gewissermaßen soll jetzt mein Leben erst anfangen. Sie kennen mich doch einigermaßen und wissen, wie ich in die Schranken trat. Man meinte, ich war ein glücklicher Advokat, ich setzte manches durch, noch mehr wandte ich ab. Alles für andre! Nun, mein Herr, jetzt gilt es für mich selbst. Werde ich mich schlagen, wie Ihre Soldaten, für Kommißbrot, aus Furcht vor dem Korporalstock? Nein, wie der Pirat, den die Fregatten eingeholt. In dem Todeskampf siegt er wohl zuweilen gegen die Übermacht, es kommt öfter vor, daß er die Verfolger mit sich in die Luft sprengt. Oh, es soll ein Kampf werden, auf den ich mich freue; eine Beschäftigung für den Geist, wie ich sie wünsche. Sperren Sie mich in den engsten Kerker; je kleiner der Kessel, um so größer die Expansionskraft des Gases. Mein Kompliment Ihnen, ich weiß, wen ich vor mir habe: keine plumpe Kriminalspinne, die außer ihrer Aktenhöhle, blödsichtig, nicht um sich weiß, nein, einen feinen Welt- und Lebemann, der mit seinen Kenntnissen und psychologischen Erfahrungen mich umgarnen und harmlos fangen möchte. Grade auf solchen Gegner freue ich mich. Ich schätze Sie. Wir wollen uns in Minen und Konterminen begegnen. Das wird meinen Geist frisch erhalten; das erfrischt auch das Blut weit mehr als die körperliche Bewegung. Ich werde ein gesunder Gefangener bleiben. Auch Sie sollen Ihre Freude an mir haben. Ein Inquisitor verliebt sich am Ende in seinen Inquisiten – er sehnt sich in der Nacht auf den nächsten Morgen, wo er ihn wieder erblickt –«

»Bis er ihn an einem Morgen dem Richter abliefert, der ihn nicht zurückliefert.«

»Das bilden Sie sich ja nicht ein. Sie meinen das Schafott. Was wollen wir wetten? Aufs Schafott bringen Sie mich nicht. Ich kenne Ihre Gesetze, die Ansichten Ihrer Richter. Höchstens, wenn alles gut geht, nämlich für Sie, eine außerordentliche Strafe. Zehn, funfzehn, vielleicht zwanzig Jahr Gefängnis. Die ganze Welt ist ein Gefängnis; wie angestrichen, schwarz-weiß, blau, grün, schwarz-gelb, das ist am Ende gleichgültig. Ja, wenn Sie mich nach Frankreich auslieferten, das wäre eine andre Frage, vor den Geschwornen, da hört unsre Logik auf. Aber Sie sind ein zu guter Patriot, und die Sache ist doch wohl auch für Sie zu interessant, um sie aus der Hand zu geben.«

»Der Baron Eitelbach ist nicht an der Cholera gestorben«, sprach Fuchsius, ihn fixierend.

»Dann wäre es mir doch sehr interessant, zu erfahren, was man bei ihm finden wird! – Nichts Mineralisches, darauf können Sie sich verlassen«, sprach Wandel mit höhnisch freundlicher Stimme, indem er die Frechheit hatte, dem Rat dabei sanft auf die Schulter zu klopfen.

»Scheusal!« rief dieser, zurückweichend.

»Warum das? Nur keine Affekte, sie passen nicht für Sie, nicht für mich. Überhaupt, sein Sie darauf gefaßt, durch Überraschungen, Impulse, Gefühlsaufwallungen ringen Sie mir nichts ab. Es ist für uns beide besser, wenn wir uns auf den Standpunkt der Humanität und Courtoisie stellen, wie zwei geschickte Schachspieler, wo jeder die Intentionen des andern durchschaut. Einer muß endlich gewinnen, der, der die meiste Geduld hat und am längsten wach bleibt. Bleiben Sie wach, Herr von Fuchsius, Sie haben einen alerten Gegner. Nein, die Kränkung trau ich Ihnen nicht zu, zu glauben, ich könnte so einfältig gewesen sein, wenn ich den mir gleichgültigsten Mann auf der Welt aus ihr fortschaffen wollen, daß ich es mit Arsenik getan und nicht mit Pflanzensäften, deren Spuren schon nach ein paar Stunden verflüchtigt sind.«

Der Wagen, der Wandel nach dem Gefängnis schaffen sollte, war vorgerollt. An der Tür wandte Fuchsius sich noch einmal um: »Herr von Wandel, es ist möglich, daß Sie recht behalten, daß die Gerichte mit ihren groben Werkzeugen nicht in alle verborgenen Winkel Ihrer Verbrechen dringen, ich aber habe die volle moralische Überzeugung. Um deshalb werde ich die Untersuchung vielleicht einem unbefangenen Richter geben. Hier aber, vor Gott, vor der Ewigkeit, oder, wenn Sie wollen, vor der wesenlosen Leere, deren Annahen Sie grauen machte, möchte ich in Ihre Seele schauen und eine Frage tun –«

»Deren Inhalt ich mir denken kann. Geben Sie sich nicht die fruchtlose Mühe. Nur ein Wort. Nicht wahr, vor dieser Ihrer moralischen Überzeugung bin ich ein gräßlicher Verbrecher, weil – weil ich mit Menschenleben gespielt habe, das nehmen Sie an, zu meinem Vorteil, der Wißbegier, des Vergnügens wegen, was es sei. Nun blicken Sie um sich, links und rechts, in West und Ost, in Nord und Süd, auf die großen Spieler. Die haben gespielt und spielen fort, mit Tausenden, mit Hunderttausenden von Menschenleben, und ich kleiner bescheidener Bankhalter! – Ja, die haben Motive, antworten Sie, Menschenliebe, Allgemeinwohl, Religion, Freiheit und Gleichheit, Thron und Altar, Sitte und Nationalität – Herr, wer sagt Ihnen, daß ich nicht auch Motive habe, Ideen, vor denen alle Rücksichten schwinden müssen? Kann ich sie nicht auch überkleistern mit Goldschaum und Tugendfloskeln? Das wahre Motiv, Herr, das ist überall dasselbe: der Größere frißt den Kleineren, wenn er Appetit hat und sein Magen es verträgt, und der Unterschied ist nur der: die großen Verbrecher kommen in die Geschichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Kriminalregister. Wenn der Wurm auf uns Mahlzeit hält, ist's uns beiden gleichgültig. – Aber ich, nein, mir ist's nicht gleichgültig, ein Stein ist mir vom Herzen gewälzt, ein Quell sprudelt in der Wüste – ich habe nichts mit der verfluchten Politik zu tun. Dieser Verstellung, dieser Heuchelei, für andre denken, fühlen zu sollen, bin ich quitt. Mögen sie sich totschlagen, betrügen, verreden, glorifizieren, wie sie Lust haben, mich kümmert's nicht mehr. Von nun an bin ich wahr, ja, mein Herr, ich fühle ganz die Seligkeit der Wahrheit, ich atme, kämpfe, lebe nur für mich.«

Die Gerichtsdiener waren eingetreten.

»Haben Sie mir nichts mehr zu sagen? Wir sehn uns wahrscheinlich zum letztenmal.«

»Das würde ich aufrichtig bedauern.«

»Nichts der Baronin Eitelbach, deren –«

»Deren Glück ich gemacht, wollen Sie andeuten«, lachte Wandel auf »Wider Willen allerdings, wenn es wäre! Wenn ihre Wunden und seine Wunden geheilt, die Trauermonate mit honetten Tränen anständig verweint sind, wird sie ihn heiraten, und wenn ich an das Glück dieser geistreichen Ehe denke – wahrhaftig, dann wird mein Gefängnis mir noch einmal so interessant erscheinen.«

»Und keinen Wunsch mehr?«

»Nur eine Bitte. Haben Sie die Güte und empfehlen mich der Frau Geheimrätin Lupinus. Ich traue ihr zwar zu, daß, wenn sie von dem Evenement hört, eine kleine Schadenfreude in ihr aufblitzt. Warum nicht, sie bleibt doch eine charmante Frau. Wir verstanden uns, es war eine wirkliche Sympathie. Durch Mauern und Räume getrennt, werden wir noch miteinander leben, eine platonische Ehe; um so sicherer, denn unter einem Dach hätte sie mir doch vielleicht, aus Rache oder Liebe, einen ihrer Tränke gereicht, die für meinen Geschmack zu stark sind. Es hat sich so besser gefügt.«

 


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