Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Neunzehntes Kapitel.
Der Sturm bricht los.

Eine Tür ging auf, und ein junger Mann trat ein. Sein wildschönes Auge, trüb und wüst wie eines Trunkenen, der eben aus dem Schlaf erwacht, die Haare verstört. Die Halsbinde hing ungeknotet über die Weste, den Rock hatte er nicht nötig gefunden anzuziehen. Er blieb auf der Schwelle stehen und reckte die Arme, um den Schlaf zu vertreiben.

Dies Bild sah Adelheid im Spiegel. Sie blieb atemlos stehen. Jetzt sah er sie; nur ihre Gestalt in der Wirklichkeit, ihr Gesicht im Glase. Sein Auge belebte sich, es schoß auch im Spiegel einen Blitz, vor dem sie erschrak.

»Was habt ihr denn da für eine neue Tugend!«

Rasch, mit drei festen Schritten, war er vorgetreten, und ehe Adelheid ausweichen konnte, hatte er sie umfaßt und wollte sie zu sich umdrehen: »Tugend, ich will dir ins Gesicht sehen!«

»Louis, du wirst –! Um Gottes willen, Louis! sie ist nicht von hier!« hatte Jülli geschrien und riß vergebens an seinem Arm. »Eure Larven kenn ich.« Im selben Augenblick war die andre Tür aufgeflogen, die Obristin hereingestürzt. Ihre sonst so gutmütigen Augen funkelten: »Der wieder da! Oh, das mußte noch kommen! Für einen verlornen Sohn ist die zu gut! Reißt sie dem Trunkenbold aus den Armen!« Es wäre nicht unmöglich gewesen, daß sie mit ihren Fingern einen Griff nach dem Gesicht des jungen Mannes versucht, wenn nicht Adelheid sich jetzt rasch umgewandt, die herabgefallenen Locken aus dem Gesicht gestrichen hätte und gerufen: »Mein Herr! So sehe ich aus.«

Es war etwas Überwältigendes in dem Blicke der äußersten Entrüstung, was man nicht vergißt, im Ton der Stimme ein Metall, das keiner bis da gehört; es tönte durch das Zimmer. und in den nächsten Sekunden hörte man nichts anderes.

Er hatte sie unwillkürlich losgelassen. Sie standen nicht einen Schritt voneinander, und ihre Blicke begegneten sich. Sie wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihr. Tränen wären eine Wohltat geworden, es überstürzte sie nur eine krankhafte Hitze, der sogleich eine fieberhafte Kälte folgte. Sie wandte den Kopf ab, bedeckte das Gesicht, und, ein Schrei der gepreßten Brust, stürzten die Worte heraus: »Oh mein Gott, wo bin ich hingeraten! Was ist das mit mir!«

Sie wankte; aber sie schauderte vor der Obristin, die sie auffangen wollte. Sie tappte mit aufgehobenen Armen, als der junge Mann eine Bewegung machte, war's, seine Beute wieder zu ergreifen, war's, der Ohnmächtigen beizustehen. Aber die Erscheinung eines andern fremden Mannes, der ein »Halt, mein Herr!« ihm entgegenrief, veränderte die Szene.

Es war ein hochgewachsener Mann von leichtem, vornehmen Anstande. In seinem blassen, ausdrucksvollen Gesicht, in dem man einen Philosophen, Staatsmann, wenigstens einen Denker erkennen mögen, brannten auch zwei dunkle Augen, nicht groß, aber bedeutend durch den Ausdruck edlen Zornes, der in ihnen glühte. Ein Mann von mittleren Jahren, der aber durch die Entrüstung, den Stolz seiner Haltung, die Elastizität der Bewegung um vieles jünger schien. Es war ohne Zweifel das bedeutendste, ausdrucksvollste Gesicht im Zimmer, vielleicht, was man überhaupt in diesen Räumen gesehen, ein Mann, in dem jeder Muskelzug, jede Bewegung die Weltkenntnis und Erfahrung ausdrückten, und ein Mann, der geboren schien, um zu imponieren. Den leichten Umwurfmantel, mit dem er ins Zimmer getreten, hatte er schon an der Tür abgeworfen und stand im schwarzen Zivilhofkostüm dem andern gegenüber.

Auf dem Gesichte dieses Jüngeren, dem die Leidenschaften viele Falten eingedrückt hatten, suchte man indes umsonst nach einem Zuge, der eine Inklination verriet, sich imponieren zu lassen. Mit einem verächtlichen Achselzucken: »Das geht Sie nichts an! Die Dame ist ohnmächtig!« wollte er an ihm vorüber. Ein »Elender, zurück!« donnerte ihm entgegen. »Ihr Arm darf die Unschuld nicht berühren.« Die Hand des Kavaliers hatte die Halsbinde des jungen Mannes gefaßt, als dieser auch auf diese Worte nicht geachtet. Ein fürchterlicher Blick des Jüngeren, während seine Arme krampfhaft zitterten, sagte dem Kavalier, was er im nächsten Moment erwarten konnte, wenn er nicht zuvorkam. Louis war unzweifelhaft der Stärkere, aber er war in einer ungünstigen Stellung, des Angriffs nicht gewärtig, noch vom wüsten Traumschlaf ermattet. Der Kavalier war, auf einen Angriff gefaßt, eingetreten, wahrscheinlich ein gewandter Fechter, der die Schwäche des Gegners zu nutzen weiß. Ihn kurz an sich ziehend, warf er ihn mit einem heftigen Stoß zurück: »Schlafen Sie Ihren Rausch aus!«

Louis fiel auf einen hinter ihm stehenden Stuhl; doch so heftig gegen die Lehne geschleudert, daß er einen Moment besinnungslos blieb. Ein fürchterlicher Moment. Heulen, Schreien, Lärm jeder Art.

Es polterte von oben, es stürmte die Treppen herauf, Leute waren eingedrungen ins Haus, schon sogar als ungerufene Zeugen ins Zimmer. Als Adelheid, an die Wand gelehnt, ihre Besinnung zurückkam, hatte auch der junge Mann sie wiedergewonnen. Es war der entsetzlichste Blick, den Sie gesehen, ein Basiliskenblick, die Zornader glühte auf seiner Stirn, und die Brust hob sich wie eine Meereswelle, als er aufsprang und nach einer Waffe griff. »Mord!« »Totschlag!« »Polizei!« – »Blut!« schrien verwirrte Stimmen. Dem Stuhle, den der Rasende wie eine Keule in der Luft schwang, hätte der Galanteriedegen, den der andere rasch gezogen, nicht pariert. Aber die Obristin faßte nach dem Stuhlbein, als der Degen schon mit einem gefährlichen Parierstoß nach der Brust zuckte. Jülli sah die Spitze funkeln, sie hing an Louis' Brust, sie umklammerte seinen Hals, ein Schild, das ihn schützte, aber ihm die freie Bewegung raubte: »Louis, nicht dein Blut!« Der Stoß des nur zur Verteidigung gezückten Degens hätte tödlich werden können, wo der Feind in blinder Wut sich auf den Gegner gestürzt hatte, als Adelheid dem Kavalier in den Arm fiel: »Um Gottes, um Gottes Barmherzigkeit willen, kein Blut um mich!«

Es war alles das Werk eines Momentes. Die Degenspitze hatte Jüllis Schulter gestreift; es rieselte rot von ihrem Nacken. Im selben Augenblick trennte ein dritter Fremder die Kämpfer. »Auch Mord und Blut in diesem Sündenhaus.« Des Predigers Gesicht war krampfhaft verzogen, er hob die zitternden Arme gegen die Obristin, er drohte ihr. Aber die Stimme schien auch ihm zu versagen. Er griff in die Tasche und warf ihr eine kleine Börse zu Füßen: »Weib, mach dich bezahlt mit meinem Sparpfenning.«

Der Lärm hatte inzwischen einen bacchantischen Charakter angenommen. Den Pöbel kitzelte die wilde Lust, hier die Nemesis zu spielen, zerstören zu können. Die Träger der Effekten des Predigers, die er in aller Hast hinunterschaffen ließ, fanden auf Treppen und Türen kaum Durchweg; man wollte untersuchen, ob nichts Verdächtiges damit entschlüpfte. Rohe Witzworte begleiteten diese Improvisation; noch ärgere Invektiven schallten von der Straße, denn das Gerücht von dem, was im Hause sich zugetragen, wuchs natürlich, je entfernter man davon stand. Die Schwadronen zogen ab, und das von den Blasinstrumenten angestimmte Lied »Ach, du lieber Augustin!« dröhnte als Parodie durch das Getöse. Da hatte die Obristin, die nicht nach dem Geldbeutel griff, denn sie sah, es war hier mehr verspielt, eine unbeschreibliche Wut ergriffen. Die Larve der Sanftmut und Gleisnerei war abgefallen, die innerste Natur des gemeinen Weibes hatte sich herausgekehrt, und ihre funkelnden Augen und fletschenden Zähne suchten nach einem Gegenstande der Rache. Sie hatte ihn gefunden. Den Geistlichen hatte sie mit dem Ellenbogen und einem Schimpfwort beiseite geschoben, die »Natterbrut an ihrem Busen«, die ihr so mit Undank gelohnt, die den Störenfried versteckt, sollte es entgelten. Aber stand der nicht selbst vor ihr, der all das Unglück angerichtet – mit seinen bösen, schönen Augen? Sprach sie's aus, oder sah sie's an ihren gespitzten Fingern, an den gehobnen Armen, die Hyäne auf dem Sprunge? Jüllis Augen blitzten auch dämonisch: »An seinen schönen Augen deine Hand, du schändlich Weib! Erst über meinen Leib! den zertritt nun vollends.«

»Die Weiber bringen sich um!« schrie es. »Polizei!« Schon arbeitete sich der Kommissar durch die Tür. Das Weib hatte das Mädchen an der Schulter gepackt, wo der Degen gestreift. Das Mädchen stieß einen Schmerzensschrei aus und sank ohnmächtig nieder, während von hinten eine andere Megäre die Wütende umklammerte. Auch hier eine abgefallene Larve, auch hier die lang verhaltene Wut einer gemeinen Natur, die keine Rücksichten mehr kennt!

Der Polizeibeamte sah nicht mehr des Kavaliers gezückten Degen, er hatte ihn eingesteckt, auch der geschwungene Sessel war längst aus Louis' Händen zu Boden gefallen; er saß zurückgesunken in einem Stuhl und starrte, Totenblässe im Gesicht, auf das zu seinen Füßen liegende Mädchen, seine Lebensretterin. Der Polizeibeamte sah nur die ringenden Weiber, eine blutbedeckte Hand von der zusammenschnürenden Umarmung einer Wütenden in die Luft gestreckt. Mit kräftigem Arm, mit dem Griff des Säbels, der unsanft auf ihre Schultern fuhr, riß er sie auseinander. Die beiden Sergeanten ergriffen die Obristin und Karolinen. Indem sein Blick umherstreifte, nach den übrigen Komplicen zu suchen, fiel er zunächst auf Adelheid. Sie war, von Mitleid fortgerissen, neben der Verwundeten hingekniet; aus dem natürlichen Impuls, sich den Blicken zu verbergen, beugte sie sich tiefer über das unglückliche Mädchen, als nötig war, in dem Augenblick vielleicht das glücklichere; sie wußte ja nicht, was um sie vorging. Auch Adelheid wußte es kaum, als die rauhe Hand des Kommissars sie aufriß: »Aufgestanden! Marsch!« – »Sie ist unschuldig!« rief eine Stimme. »Da der Beweis ihrer Unschuld!« entgegnete der Kommissar und zeigte Adelheids Hand, auch sie blutig von der Berührung. »Auf der Wache wird sich alles herausfinden, mein schönes Kind. Einstweilen mitgefangen, mitgehangen.« – »Sie ist unschuldig!« schrie Louis, aus seinem Starrsinn erwachend. Er war aufgesprungen. Der Beamte sah ihn mit einem höhnischen Blicke an: »Wenn man Sie als Zeugen aufrufen wird, ist Zeit für Sie, zu sprechen. Oder sind Sie etwa auch unschuldig? Die Person hier auf eine Trage, und vorsichtig! Auf der Wache wollen wir untersuchen, wo sie hinmuß.«

Wie so viele Nadelstiche bohrte das rohe Gelächter in Adelheids Herz. An wen sich wenden! Sie hatte keinen Freund, keinen Bekannten hier. Der Kammerherr war verschwunden. Sollte sie das Weib anrufen, das noch vor Wut kochte und, grimmige Blicke mit dem andern Mädchen tauschend, von neuen Tätlichkeiten nur durch die Wache abgehalten ward! Und was hätte deren Zeugnis in dieser Lage ihr geholfen! Durfte sie den Namen ihres Vaters nennen?

Der Retter stand aber schon vor ihr: »Diese Dame ist an den Auftritten hier so unbeteiligt als ich selbst«, rief der Fremde; und schon sein Kostüm und Anstand brachte auf den Kommissar so viel Eindruck hervor, daß er unmerklich Adelheids Arm losließ. »Ich bin der Legationsrat Kammerherr von Wandel aus Thüringen. Auf der Rückkehr von der Tafel Seiner Königlichen Hoheit führte mich der Zufall, ich meine der Spektakel, in dies Haus, und ich kam glücklicherweise noch zu rechter Zeit, um dieses junge Mädchen vor Beleidigungen zu retten, über die ich, wenn es erfordert wird, Zeugnis ablegen kann. Ich verbürge mich für den unbescholtenen Ruf der Dame, deren Name und Familie mir bekannt sind und die nur der Zufall oder die Bosheit hierherlocken konnte. Diesem würdigen Geistlichen und seiner Familie ist es nicht besser ergangen. Daß sie keinen Teil an den Exzessen dieser Personen da hat, brauche ich kaum auszusprechen; das Blut an ihrer Hand rührt, wie Sie sehen, von der liebreichen Pflege, die sie jenem armen Geschöpfe angedeihen ließ.«

Der Polizeikommissar verneigte sich leicht vor dem Fremden, nachdem dieser ihm den Namen des Vaters ins Ohr geflüstert hatte: »Diese Demoiselle kann demnächst auf Bürgschaft des Herrn Legationsrates entlassen werden.«

»Und ich ersuche Sie, mein Herr Prediger«, wandte sich der Legationsrat an den durch das Gedränge noch immer festgehaltenen Geistlichen, »das junge Mädchen unter dem Geleit Ihrer Töchter aus diesem Hause zu bringen. Sie bedarf eines weiblichen Schutzes vor Neckereien und Brutalitäten, die Begleitung eines Mannes, wer es auch sei, würde sie nur anlocken.«

»Bleiben Sie mir vom Leibe! Soll ich noch von der Brut mir anhängen, wo ich kaum weiß, wie ich mit meinen unschuldigen Töchtern ohne Insulten davonkomme.«

Dem Geistlichen diente die eigene peinliche Lage gewiß zur Entschuldigung, wenn er jetzt so hart erschien, als er früher leichtgläubig gewesen. Auch die Reden unter den Zuschauern konnten ihn rechtfertigen, denn man zischelte sich zu oder sagte es vielmehr ganz laut: »Die Hübscheste wird losgebissen von dem vornehmen Herrn.« – »Das weiß man schon, an wem nichts mehr zu verlieren ist, den läßt man dem Galgen.«

Der Polizeikommissar, der mit dem Bleistift einige Notizen gemacht, wies auf Louis. »Wollen Herr Legationsrat auch etwa für diesen jungen Herrn bürgen?«

»Mich dünkt, sein Zustand bürgt für ihn«, sagte Wandel. »Wenn er ernüchtert ist, wird er selbst am besten Rechenschaft geben, welche Motive ihn in dies Haus geführt. Ich meinerseits habe durchaus keine Ansprüche an den Sohn des Herrn –«, er flüsterte wieder den Namen in das Ohr des Beamten, »sollte der Herr an mich Forderungen haben, so ist ihm meine Adresse bekannt«, setzte er scharf betonend mit einem ebenso scharfen als kurzen Blick auf den Betreffenden hinzu.

»Demoiselle«, sagte er dann, Adelheid seinen Arm bietend, »da sich kein anderer Ritter findet, müssen Sie sich meinem Schutz anvertrauen. Platz!« Die Menge machte ihn. Im Hinausgehen sah Adelheid unwillkürlich zurück. »Sie mögen sich entfernen, Herr von Bovillard«, hatte der Kommissar diesem zugeflüstert, indem er anscheinend in seinem Taschenbuche Bemerkungen notierte. »Doch erst nachher, wenn die Menge sich verlief. Sie verdanken diese Berücksichtigung dem Zeugnis des Herrn Legationsrats; Sie werden selbst am besten wissen, daß die Polizei andere über Sie hat.« Der junge Mann stand aufgerichtet, wie eine Bildsäule regungslos; seine Hand wühlte krampfhaft in der Brust, nur die Augen schossen noch einen Blick auf Adelheids Begleiter, dessen Ausdruck sich nicht beschreiben läßt. Es war nicht mehr das Feuer des Zornes, nicht das Aufprasseln eines Brandes, der seinen Höhepunkt erreicht, es war die Glut des Hasses, die still fortlodert, weil sie unerschöpflichen Stoff unter der Asche gefunden. Und doch zuckte dies stiere Auge, als es dem des jungen Mädchens begegnete, und senkte unwillkürlich die Lider.

»Eilen Sie!« rief ihr Begleiter. »Draußen ist frische Luft.« Sie schwankte an seinem Arme, als er sie durch die Tür gerissen.

»Nur einen – einen Augenblick nur!« – stöhnte sie im Vorzimmer. – »Oh Gott, mein Vater, meine Mutter!« Sie war in einen Sessel im Vorzimmer gesunken. Der Retter hatte ein Etui mit kleinen Essenzfläschchen aus der Tasche gezogen und tupfte, vorsichtig Tropfen davon auf den Finger gießend, über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre Glossen, es waren keine freundliche. Ein Glück für die Ohnmächtige, daß sie nichts davon hörte. Ihr Begleiter hörte und verstand sie, aber keine Miene, kein Blick verriet eine innere Bewegung.

Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war, lüftete er vorsichtig das Tuch, das sie um sich geschlungen: »In der Tat ein Prachtwerk der Schöpferin. Fast zu schön, um es zu verschwenden«, setzte er hinzu. »Und doch, wenn wir es nicht verschwendeten, nicht mehr wert als eine Mumie in einer Raritätensammlung.«

Erst die Tropfen aus dem letzten Fläschchen, die er noch behutsamer anwandte, brachten die Wirkung, die er beabsichtigt, hervor. Es mußte eine sehr starke, gefährliche Essenz sein, denn nur, nachdem er verdrießlich nach der Uhr und der Sonne gesehen und die Schläferin, ohne daß sie erwachte, stark am Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapsel und den Stöpsel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre Augen, ihr Atem, ihr Lächeln, bald auch die Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Nerven, die der Retter nicht beabsichtigt hatte. Sie erhob sich und sprach in Ekstase. Es war das schöne Metall der Stimme, das vorhin fast berauschend ins Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein schneidender Laut der Totenglocke, es klang und wogte melodischer, wie ein Lobgesang, als sie ihrem Retter ihren Dank aussprach, ihn versichernd, es werde alles gelingen, alles gut werden, er sollte nicht sorgen. Sie sprach sehr schnell. Der Legationsrat kniff sich ängstlich in die Lippen, als sie Schillersche Verse rezitierte, von der Tugend, die kein leerer Wahn; von der Welt, die das Strahlende zu schwärzen liebe, aber die edlen Herzen schlügen überall, auch im Hause des Verderbens. Oh, wie würde sich ihr herrlicher Lehrer freuen, welch ein Triumph für ihn, daß sein Wort in Erfüllung gehe: nur durch die Leiden, die großen Leiden, entwickele sich die Seele. Und wie erst würde ihr Vater sich freuen, wie sehne sie sich, ihm in die Arme zu sinken. Da, da! – sie zeigte ans Fenster. Die Türme auf dem Gendarmenmarkt glühten in der Abendsonne, in jener wunderbaren Pracht, wie sie ein kalter nordischer Abendhimmel zuweilen auf die Dächer und Spitzen höherer Gebäude ausgießt, die gelben Streiflichter am fernen Horizont deuteten aber dem Kenner, daß diese schöne Röte kein Vorbote eines schönen Tages sei. »Mein Vater sieht sie auch aus seinem Fenster, er freut sich, und er darf sich freuen, denn bald werde ich auch in seine Arme stürzen, rot von dieser Sonne angeleuchtet.«

»Wickeln Sie sich fester in Ihr Tuch, Mademoiselle. Sie sind erhitzt, und es ist sehr kühl draußen geworden.« Das Gewitter, das sich auswärts entladen, hatte eine empfindliche Kälte verursacht.

»In dies Tuch!« rief Adelheid, als der Legationsrat bemüht war, den seidenen Shawl fester um ihre Schultern zu ziehen. Sie riß es hastig ab und schleuderte es in den Winkel. »Es ist nicht meines.« Sie schauderte. »Fort, fort! nach Hause!«

»Unmöglich, Demoiselle! Sie ziehen sich eine gefährliche Krankheit zu. Wenn das Tuch nicht Ihnen gehört, schicken wir es sogleich zurück. Nur bis ich Sie zu Ihrem Herrn Vater gebracht.«

»Mein Vater soll das Netz nicht sehen, worin sie seine Tochter fangen wollten.« Sie hing sich mit Ungestüm an seinen Arm. »Mich friert; aber nur hier. Gewiß nur hier, draußen ist es warm.«

Auch den Legationsrat fröstelte. Er konnte die Retterrolle, die er übernommen, bereuen. Die entschlossenen Züge seines Gesichtes schienen dem zu widersprechen. Aber seine Lage war eine kitzlige für einen vornehmen Mann, dem der Anstand vor der Welt allen Rücksichten vorangeht. Öffentlich aus diesem Hause eine Dame zu führen, deren aufgeregter, halb verwilderter Zustand den Vermutungen, die sich von selbst machten, nur zu sehr Tor und Tür bot. »Sie ist ja offenbar betrunken«, mußte er im Vorbeigehen hören.

»Die Schminke eben abgewischt«, sagte ein anderer.

»Und in der Windfahne auf offener Straße!«

Dies waren nicht mehr die Stimmen des Pöbels, es waren die Urteile ruhiger Bürger. Es waren dieselben Personen, welche vorhin den Prediger und seine Töchter vor den Insulten der Buben geschützt. Denn diesen Landmädchen sähe man es ja an, daß sie nicht in das Haus gehörten, aber es sei doch eine Verhöhnung alles Anstandes, wenn ein Kavalier im Hofkostüm mit einer solchen frechen Dirne ohne Scham und Scheu auf offener Straße sich zeigt. So etwas sei selbst zu den schlimmsten Zeiten der Lichtenauschen Wirtschaft nicht vorgekommen.

Zum Glück hörte davon Adelheid nichts. Der Legationsrat hörte alles, aber keine Miene verriet es. Die ruhigen Bürger blickten ihm kopfschüttelnd, die Gassenbuben liefen ihm höhnend nach. Er schwieg auch da, er beschleunigte nicht einmal seine Schritte. Er suchte nur nach etwas, vielleicht nach einem Bekannten; nach einem Fiaker konnte er sich nicht umsehen, es gaben deren in Berlin noch nicht. »Wissen Sie die Wohnung meines Vaters?« fragte Adelheid. »Ich weiß sie.« Aber er nahm eine andere Richtung und beschleunigte jetzt seine Schritte. Als Adelheid ihn daran erinnern wollte, trat er an eine offene Kutsche, welche in der Querstraße vorüberfuhr, und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Halten. Zum großen Befremden der Dame, welche darin saß; zu ihrem noch größeren aber redete er sie bei ihrem Namen an und bat sie um einen Dienst der Menschenfreundlichkeit. Er nannte seinen Namen. Eine leichte Röte überflog die blassen Wangen der Geheimrätin Lupinus. Sie neigte sich anmutig über den Wagenrand, sein Anliegen zu hören.

»Erlauben Sie, daß ich französisch spreche«, sagte er, »wegen der Zuhörer.« Es blieb zweifelhaft, ob er die Gassenbevölkerung meinte, die sich schon um den Wagen drängte, oder Adelheid, die noch an seinen Armen hing. In einer fließenden kurzen Darstellung, mit einem Akzent, in welchem die Geheimrätin den Pariser zu erkennen glaubte, erzählte er die skandalösen Vorfälle in dem Hause, ohne alle Personen, die darin verwickelt waren, zu nennen, und den wahrscheinlichen Grund, wie das arglistige Weib das junge Mädchen in ihr Garn gelockt. »Sie sehen, Madame«, schloß er, »die schreckliche Lage, in welche eine Verkettung von Umständen die Tochter ehrbarer Eltern gebracht hat. Wenn es mir auch dort mit meinem Degen gelang, sie vor der Brutalität zu schützen, so ist der Stahl doch eine ganz unzulängliche Waffe gegen böse Vermutungen und die aufgeregte Populace hier. Ich rufe vertrauensvoll Ihre Hilfe an. Meine Bitte, sie in Ihrem Wagen aufzunehmen und den Eltern zu überliefern, ist nur der geringste Teil meines Anliegens. Die Ehrenrettung des jungen Mädchens erfordert einen offenen Akt der Anerkennung. Wenn Sie sich entschließen könnten, sie hier öffentlich zu embrassieren, so ist ihre Ehre wenigstens vor diesem Straßenpublikum retabliert. Denn wer kann zweifeln, wenn eine Dame vom Ruf der Frau Geheimrätin Lupinus sie dieser Auszeichnung werthält.«

Die Geheimrätin war durch die Vorstellung nicht unangenehm berührt. Sie fragte leise, übergebeugt: »Wer ist eigentlich die junge Person, ich hörte den Namen nicht deutlich?« – Der Name des Kriegsrats mochte der Geheimrätin eine sehr gleichgültige Bekanntschaft sein. Aber sie stieß plötzlich den Schlag auf und breitete ihre Arme dem jungen Mädchen entgegen, welches der Legationsrat rasch hineinschob.

»Meine werteste Demoiselle, mein liebes Kind, wie konnte ich auch nicht gleich die Tochter meines Freundes, des wackern Kriegsrats erkennen! Das ist ja abscheulich, daß Ihre Gouvernante so wenig Ortskenntnis hat und sich in das Haus verirren mußte! Aber wie sind Sie in diesem Jahre gewachsen, ach, und wie echauffiert! Johann, schnell den Mantel aus dem Kasten! Ich hoffe, das wird nicht von üblen Folgen sein. Wie sie zittert! – Herr von Wandel, es gibt eine Justiz hier und einen König, der solchen Affront, einer achtungswerten Familie angetan, strafen wird!« – »Dessen bin ich gewiß!« rief der Legationsrat, seinen Hut abziehend.

»Mein Gott, Sie steigen doch auch ein?«

»Meine Gegenwart könnte stören.«

»Wie das? Wer verdient wie Sie, den Dank des erfreuten Vaters entgegenzunehmen! Oh, rasch ein, daß ich das Vergnügen habe, dem Manne den Wohltäter, den Retter seines Kindes zu präsentieren.«

»Erlauben Sie mir, ich bitte inständigst darum, Ihre gütige Einladung ablehnen zu dürfen. Es gibt Erörterungen, welche das Gefühl verwunden; die Wunde wird schmerzlicher, wenn ein fremder Mann sich in das Heiligtum des Familienkreises drängt. Vermutungen könnten aufsteigen, die, so empörend sie klingen, doch immer ihr Recht verlangen. Den Dank, ach, mein Gott, wer denkt in dieser Welt an Dank! – Es ist Ihr Schützling jetzt, tragen Sie das ganze Wohlwollen Ihres edlen Herzens auf die Arme über und, wenn es anginge, verschweigen Sie meinen Namen. Ich übte nur die Pflicht eines jeden Kavaliers, weiter nichts, Sie setzen Ihren guten Namen an ein gutes Werk und auf die bloße Bitte eines Ihnen fremden Mannes. Vergönnen Sie ihm nur, dieser Tage seine Aufwartung zu machen, um sich nach dem Wohlergehen Ihres Schützlings zu erkundigend,

»Ein Mann von seltener Delikatesse«, sagte die Geheimrätin, nachdem er sich beurlaubt. Adelheids Zustand erforderte ihre ganze Sorgfalt. Sie saß wieder sprachlos, in sich versunken, und ein heftiger Fieberfrost fing ihre Glieder zu schütteln an. Der Kutscher erhielt den Auftrag, rasch zu fahren.

Gruppen von Bürgern standen noch immer um das Haus, das die Polizei bereits verlassen und vermutlich geräumt und verschlossen hatte, als der Legationsrat auf seinem Rückweg die Straße passierte. Man war jetzt schon besser von den Verhältnissen unterrichtet, man wußte, wer das junge Mädchen war, man hatte auch Kunde von dem, was wir eben erzählt: »Schade um sie, die ist auf immer verloren«, sagte ein ältlicher Mann, von der Haltung und dem Gesichtsausdruck, woran man sogenannte solide Bürger erkennt.

»Und warum das, mein Herr van Asten?«, fragte der Legationsrat, der herangetreten war und in dem Kaufmann einen Geschäftsfreund erkannte.

»Weil sich gewisse Dinge nicht wieder reparieren lassen, die einmal schadhaft geworden sind.«

»Auch wenn ich Ihnen beweise, durch welche Ränke und Intrigen sie in dies Haus verlockt ward?«

»Mir werden Sie es vielleicht beweisen und vielleicht auch diesen Herren, welche uns zuhören. Aber schon den beiden nicht, welche dort eben fortgehen, noch weniger der ganzen Stadt, welche heut abend im Theater, in den Gesellschaften, in den Wirtshäusern von dem Vorfall plaudern wird. Man wird schon heut mehr erzählen, als sich ereignet hat, und morgen weit mehr wissen, als wir heut gesehen haben. Man glaubt aber immer lieber das Schlimmste, weil es das Interessanteste ist. Wollen Sie es durch den Ausrufer ausschreien lassen, daß die Demoiselle Alltag ein unschuldiges Mädchen ist, oder an die Ecken es anschlagen lassen? Das Übel würde nur schlimmer. Sie könnten freilich, wie man wohl jetzt tut, durch Artikel in den Zeitungen der Sache den Anstrich geben, den man wünscht, aber, mein Herr Legationsrat, ich weiß doch nicht, ob das der jungen Dame oder ob es Ihnen von Vorteil wäre.«

»Was kann es mich betreffen?« fragte rasch der Kavalier.

»Man würde nach den Ursachen fragen, weshalb Sie eines jungen Mädchens, das Sie als Fremder in dieser Stadt kaum kennen, sich so besonders annehmen. Schon dies besondere Interesse würde aber auch dem Mädchen schaden. Doch ganz davon abgesehen, frage ich Sie, was würde es einer Firma helfen, die in der Meßwoche ihre Wechsel nicht zahlt und protestieren läßt, wenn ihre Freunde durch ein Zirkular nachher bewiesen, daß das Haus eigentlich solide sei und aus welchen zufälligen Umständen es grade an dem Tage und in der Woche nicht zahlen konnte? Unter seinen Bekannten möchte das Haus sich wohl wieder aufrappeln, sein Kredit aber in der großen Handelswelt bliebe erschüttert.«

»So muß man sie verheiraten, dann ist die Sache vergessen«, sagte ein dritter.

Der Legationsrat schwieg einen Augenblick vor sich hin. Wer ihn genau kannte, hätte vielleicht in der Muskelbewegung um den Mund einen inneren Kampf wahrgenommen: »Sie meinen also, das sei ganz unmöglich? – Es ist nichts unmöglich, sage ich Ihnen, was man will. Wenn man den Kredit eines Hauses schaffen und erschüttern kann, warum nicht auch ihn reparieren!«

»Ein geflicktes Haus, und meine Ehre ist verloren«, sagte der Kaufmann.

»Was kommt es auf die eigene Wertschätzung an«, fiel Herr von Wandel nach einigem Nachdenken ein, »wo es sich handelt um die Konstellation zum Allgemeinen. Die Ehre eines Handlungshauses wie eines Staates beruht auf der Meinung; die Meinung auf Illusionen. Herr über diese zu werden, ist die Aufgabe des Mannes, der überhaupt seine versteht. Und dieser gebrechlichste Schein aller gebrechlichen Dinge, der Ruf eines Mädchens, sollte über diese Aufgabe hinausliegen! Was wir mit einem spöttischen Blick, einer Geste, einem flüchtigen Wort vernichten können, sollte uns nicht gelingen, mit aller Kraft unsres Geistes, allen Mitteln, die uns die Natur gab, wiederherzustellen? Herr van Asten, was gilt die Wette, ich stelle den Ruf dieses Mädchens so wieder her, daß die tugendreichste Mutter ihre Töchter mit Vergnügen ihr zuführt.«

»Er mag ein guter Kavalier sein, aber kein guter Kaufmann«, sagte der Begleiter des andern, als der Legationsrat sich rasch entfernt hatte. »Ein guter Kaufmann setzt nicht so viel ein um etwas, was ihm so wenig einbringt.«

»Und doch«, entgegnete der Kaufmann, »sah ich niemand so glücklich spekulieren seit der kurzen Zeit, daß wir in Geschäftsverbindung stehen.«


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