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Es ist in der Luft eine Magie, die unsre Wissenschaft noch nicht erklärt hat; eine Kommunikation durch unfaßbare Organe, welche die Begebenheiten verbinden. Unergründlich nannten unsere Väter eine Tiefe, die sie noch nicht ergründet; unfaßbar hätten sie das Lichtbild genannt, wir lernten es fassen und festigen auf der Platte, und an Drahtseilen fliegt der Gedanke Hunderte von Meilen in Sekundenschnelle und drückt sich auf die Tafel in bunten Buchstaben, für jedes Auge lesbar.
Dies Lichtbild spiegelte sich auch schon vor den Augen unserer Väter, der Gedanke flog auch da mit derselben Schnelle, nur faßten sie ihn nicht, weil ihnen die Verbindungsmittel unbekannt warten; weil sie die Platten und die Drahtseile nicht sahen, tauften sie es Wunder.
Alte Leute entsinnen sich, daß man in der Stille der Nacht nach dem 14. Oktober vor Berlin auf der Erde die Schläge des Kanonendonners von Auerstedt hatte hören können. Von andern sagt man, daß sie am folgenden Tage schon den Ausgang der Schlacht gewußt. Aufgeklärte meinten, daß sei nur die Nachdröhnung gewesen von dem unglücklichen Gefecht von Saalfeld, die als Vorahnung gespukt.
Nicht alle waren es, es waren nur wenige, darunter zwei, die wir kennen.
Der Rat Fuchsius konnte in der Nacht nicht schlafen, seine Beängstigung ward gegen Morgen immer größer. Er hörte die Kanonenschläge, sein Bett schien unter ihm zu zittern; wie fest er auch die Augen zudrückte, er sah immer wieder den hellen Schein wie ein Nordlicht, das am äußersten Horizont aus der Erde quillt. Er zündete das Licht an und ergriff eine Lektüre, es war ein Band des Shakespeare. Die Stelle aus »Macbeth«, die er aufschlug, war nicht geeignet, seine Träume zu beschwichtigen:
Die Nacht war stürmisch; wo wir schliefen, heult' es Den Schlot herab; und wie man sagt, erscholl Ein Wimmern in der Luft, ein Todesstöhnen, Ein Prophezein in fürchterlichem Laut. Von wildem Brand und gräßlichen Geschichten, Neu ausgebrütet einer Zeit des Leidens, Der dunkle Vogel schrie die ganze Nacht durch; Man sagt, die Erde bebte fieberkrank. |
Er sah die Schlacht, die meilenweit sich dehnende, mit ihren wankenden und wogenden Linien, den dampfenden Batterien, den Kavallerieattacken, und so gewiß er das Herz unter der Brust pochen hörte, so zentnerschwer drückte ihn eine Gewißheit – daß er nichts Frohes sah.
Um den fürchterlichen Alp loszuwerden, zündete er noch ein Licht an und begrub sich unter seinen Akten. Auch aus diesen Bergen stiegen Dünste, tiefe Schachte öffneten sich, deren Ende er nicht sah, und Sphinxe lagerten sich vor dem Eingang.
»Ein Weib, das selbst eine Sphinx ist«, rief er, sich im Armsessel zurücklehnend, »und der Ödipus will nicht erscheinen. Die Tatsache liegt nackt da, und alle Bezüge, Fäden, die zu einem Motiv führen, plötzlich abgeschnitten! Kann ein Weib gebären, ohne empfangen zu haben? Und wo wir einer Spur folgten, verschwindet sie nicht nur, sondern wir haben aktenmäßige Beweise, wie und woraus sie entstanden ist! Werden noch Ungeheuer geboren aus dem Meeresschaum, wenn Götter einen Sterblichen verfluchen, oder gestalten sie sich im Laich der mefitischen Dünste dieser Zeit? Shakespeare läßt die Greueltaten seiner Könige durch ungeheuerliche Erscheinungen vorausverkünden: eine Eule verfolgt einen Falken, die Rosse Duncans fressen sich. Solchen Anteil des Entsetzens nimmt die Natur am Tun der Könige! Die Zeiten sind doch nun vorüber, der Erdgeist kümmert sich nicht besorglicher um die Könige als um die Bettler; selbst wenn große Ideen geboren werden, Ideen, bestimmt, die Welt zu erschüttern, was geht's die Natur an! Sie läßt keine Sterne mehr den Weisen nach der Krippe leuchten, und keine moralische Revolution bringt sie aus ihrem Alltagsrock. Das ist unser Trost. Aber wäre doch ein inniger Konnex da, den wir nur nicht sehen, zwischen den Werken der großen Geschichte und den Taten der kleinen Menschen? Spiegelte sich das Ungeheuerliche des Weltbrandes wider im Tun der Individuen, dort die Revolution in der Desorganisation der natürlichen Gefühle und der krankhafte Drang, der Welteroberer erzeugt, riefe hier in der schwachen Weiberbrust den Kitzel hervor zur scheußlichen Tat!«
Er blätterte weiter in einem Konvolut. Es waren Privatkorrespondenzen der gefangenen Geheimrätin: »Welcher Verstand! Welche klare Erwägung der Verhältnisse, welche ruhige treffende Beobachtung im Urteil über Personen! Und nirgends nur ein Wink von auswärts her! Alle ihre Verbindungen bestehen die Probe. Und vor allem dieser!« Er überlas noch einmal die Billette, welche Wandel an die Lupinus gerichtet und mit ihrer ganzen Korrespondenz zu den Akten genommen waren.
Er fuhr, wie ein Unzufriedener mit sich selbst, mit beiden Händen über das Gesicht:
»Wie ein Kriminalrichter sich in acht nehmen muß, auch auf den dringendsten Verdacht hin, eine bestimmte Meinung zu fassen! Wie leicht verführt er sich, und wie schwer wird es ihm, dann wieder auf den richtigen Weg einzulenken! – War ich nicht schon innerlich überzeugt von der Identität jenes von der französischen Justiz verfolgten Aventuriers mit Herrn von Wandel! Seine Verbindung mit meiner Giftmischerin erschien mir als ein nur zu deutlicher Fingerzeig! – Selbst die kecke Weise, wie er sich mir damals aufdrängte, konnte mich noch nicht ganz überzeugen. Man hat Beispiele – und er ist klug, sehr klug! – Aber diese Briefe an die Lupinus! Der klarste Spiegel einer unbefangenen Seele, besser als er sich selbst darstellt. Er mag anderweitig – aber in dieser Sache ist er nicht impliziert. Nichts von Ostentation, Raffinement! Er schreibt wie ein welterfahrener Mann. Seine Ratschläge, wie vernünftig! Er warnt sie vor der Exaltation, ihr aufrichtiger Freund; anfänglich zwar scheint ein anderes Gefühl im Spiele, die Neigung steigert sich, aber dann dies allmähliche Zurückfallen in den Ton der Achtung und des Respekts. – Schade, daß ihre Briefe fehlen! Ja, eine Ahnung von dem, was in ihr vorging, mag er gehabt haben, darum zog er sich zurück. Und soll ich es ihm als Verbrechen anrechnen, daß er sich jetzt Mühe gibt, eine von ihm hochverehrte Frau zu verteidigen? – Als Kriminalist sollte ich es vielleicht, als Mensch kann ich es nicht.«
Fuchsius war an ein anderes Konvolut, das auf einem Nebentisch lag, getreten. Es waren französische Akten, er nahm eine Silhouette heraus und hielt sie ans Licht: »Und was bedeutet die Ähnlichkeit eines Schattenbildes mit einem lebendigen Menschen, wenn sie zu entdecken wäre! – Und dann, wie viele Jahre Staub hat an diesen Papieren gezehrt! – Übrigens« – sagte er mit wehmütigem Lächeln, »muß man die Gefälligkeit der französischen Behörden bewundern. Daß wir in einem Kampf auf Leben und Tod sind, in einem Kriege, der sie verpflichtet, Tausende und aber Tausende der Unsern umzubringen, hindert sie nicht, uns in unserm köstlichen Rechte beizustehen, damit wir ja nicht fehlgehen, ein uns verfallenes Justizopfer, und wäre es auch aus ihren Reihen, zum Tode zu fangen! Welche Zuvorkommenheit! Es war Laforests letzter Akt, hier unserm Kanzler die Akten aus Paris zu kommunizieren. Eine schöne Sache um das Band der Zivilisation! Die Revolutionen, die große Verbrecher krönen, retten die kleinen nicht vorm Galgen. Die ganze Welt wird für ihn zum Netz, und ein Verbrecher findet in keinem Staat und keinem Volke mehr ein Asyl!«
Er war ans Fenster getreten. Es war noch totenstille, finstre Nacht, obgleich schon hie und da in abgelegenen Gehöften die Hähne krähten. Die Straßenlampen brannten düster, die Laternen wurden vom Morgenwinde geschaukelt. Ob er horchte –? Er hörte nicht mehr den Kanonendonner, aber der Tritt jedes verspäteten oder verfrühten Fußgängers schallte aus der Tiefe zu ihm herauf. Fuchsius wohnte hoch; er konnte die Dächer der nächstgelegenen Straßen mit niedrigen Häusern überschauen. Als er nach den Sternen ausschaute, sah er einen fernen Lichtschein. Er kam aus einem Hoffenster in einer jenseits gelegenen Straße. Er kannte die Straße, das Haus, das Fenster. Hier wohnte der Legationsrat. Das Fenster gehörte zu seiner Küche, die Küche diente ihm zum Laboratorium. Was konnte Wandel so früh hier zu schaffen haben? Er war ein Nachtschwärmer; er experimentierte nie anders als bei Tageslicht, hatte er selbst zu Fuchsius gesagt. Was präparierte er jetzt? Es war zwischen drei und vier. Und das Licht verschwand nicht. Gedanken durchzuckten ihn in rascher Folge. Was kann er in dieser Nachtstunde experimentieren? Warum die Heimlichkeit? Warum hat er, bei aller Offenherzigkeit in anderen Dingen, niemand klaren Wein über seine Vermögensverhältnisse eingeschenkt? Warum schweigt über ihn der alte van Asten, der einmal merken ließ, daß er etwas wisse, und jetzt behauptet, daß er nichts weiß? Er hatte Wechsel von ihm in der Hand! – Wechsel! – Fuchsius sah Wandel schreiben. Er rieb sich wieder die Stirn. Plötzlich saß er am Tisch und wühlte in den französischen Akten. In einem kleinen, vergilbten Handbillett verfolgte er mit dem Auge und mit dem Finger die Buchstaben. Ebenso rasch riß er das vorige Aktenstück herbei und verglich Wort um Wort, es erschien, Buchstabe um Buchstabe. Es war ein französisch geschriebenes Billett Wandels an die Lupinus: »Welche täuschende Waffe die Ähnlichkeit der Schriftzüge! Wie man auch da sich in acht nehmen muß!« Aber plötzlich vergrößerten sich seine Augen, sein Mund öffnete sich – ein, zwei – drei Worte – nicht nur die Schriftzüge der Buchstaben, die Schleifzüge, die Abbreviaturen waren dieselben, auch die ungewöhnliche Orthographie.
»Florestan Vansitter!« rief er aufstehend, und es schien, als fröstelte ihn. Er warf einen Blick in den Spiegel, sein Auge glänzte ihm entgegen, ein Glanz, den man der Freude beimißt. »Pfui«, entfuhr es seinen Lippen. »Ist das nicht die kannibalische Lust des Menschenfressers, wenn er sein Opfer auf Schußweite erblickt! – Ach, wir sind alle Kannibalen, alle, uns dürstet nach Menschenblut. Bin ich der einzige, dessen Gesicht sich röten wird von diabolischem Entzücken, wenn es ans Tageslicht kommt! Wie wird die Gesellschaft hier von der Wollust des Entsetzens beben, wenn es ausgesprochen ist, wenn der Mann, mit dem sie Hände gedrückt, Gläser angestoßen, zu dem sie sich gedrängt, von dessen Lippen der Honig geistvoller Unterhaltung floß, arretiert, in Ketten eingebracht wird, ein gemeiner Verbrecher. ›Unmöglich!‹ werden sie rufen und doch innerlich zittern, wenn es nun nicht wahr wäre! – Oh du Mantel der Humanität, der uns so schön sitzt, aus welchen Mondscheinspinnefäden bist du gewebt!«
Als er sich angekleidet und der graue Tag schon durch die Fensterscheiben blickte, stand ein junger Mensch in unansehnlicher Kleidung vor dem Rate.
»Nichts von Wichtigkeit«, antwortete der Eingetretene auf eine Frage des Rates. »Ihr Benehmen im Gefängnis bleibt dasselbe. Sie ließ den Hofrat Heim, der ihr die Wahrheit sagte, anlaufen und verbat sich seine fernere Teilnahme.«
»Sie kennen wir«, entgegnete Fuchsius, »aber mein Auftrag war, daß Sie auf alle Ereignisse und Bewegungen in dem Kreise achthätten, dem sie bis jetzt angehört. Was haben Sie da beobachtet, Eckard?«
»Nicht das Geringste, was zur Sache gehört«, erwiderte Eckard mit einiger Selbstzufriedenheit.
»Ob es dazugehört, werde ich beurteilen. Was macht ihr Schwager?«
»Er wird sich doch nicht freuen, daß er pensioniert ist. Der Auszug aus seiner Amtswohnung in der Vogtei liegt ihm noch in den Gliedern. Er spuckt. Neulich in der Weinstube bei Sala Tarone ließ er einen Witz los. Sie haben darüber gelacht. Das passiert ihm jetzt selten.«
»Welchen?«
»Damals, als er wirklich eine Bêtise begangen, sagte er, nämlich mit den Gefangenen, sei er mit blauem Aug davongekommen, und jetzt müsse er büßen, wo er unschuldig sei wie ein neugeboren Kind. Er hätte doch seinem Bruder nie etwas zu trinken gegeben. Nun müsse er aus Haus und Brot, bloß weil es sich nicht schicke, daß er der Kerkermeister seiner Schwägerin würde.«
»Die Justiz ist blind, trifft aber in der Regel doch am rechten Fleck. Noch etwas von ihm?«
»Er heiratet sie. Das ist abgemacht. Im Dom ist schon die Trauung bestellt.«
»Aus Dépit, daß er die Vogtei verlor?«
»Nun ja! Er sagt aber, weil er das Heulen der Charlotte nicht länger aushalten können. Das ist wahr, ihr Wachtmeister ist bei Saalfeld niedergehauen, als er den Prinzen raushauen wollte.«
»Was ist denn nicht wahr?«
»Daß der Major Stier von Dohleneck auch da geblieben wäre. Der ist nur blessiert vom Pferd gefallen. Sie haben ihn splitternackt ausgezogen, dann gefangengenommen, dann hat er ihnen sein Ehrenwort geben müssen, und so kommt er retour nach Berlin. Die Baroneß Eitelbach weiß es nur noch nicht; sie geht schwarz.«
Der Vigilant mußte sehr genau, auch mit den inneren Familienverhältnissen, vertraut sein. Ein flüchtiges Lächeln ging über die Lippen des Rates.
»Was macht Geheimrat Bovillard?«
»Sieht schon wie eine Leiche aus. Laxiert einen Tag um den andern; zur Abwechselung nimmt er auch Vomissements. Der Legationsrat Wandel sagt, wenn er so fortführe, würde es ihm ans Leben gehen. Es sei kein Spaß damit. Die Ruhr geht ohnedies bei der Witterung um, und die Werderschen bringen unreifes Obst. Man wisse aber gar nicht, was noch draus werden könne, denn die Ruhr könne noch was ganz andres sein, woran jetzt kein Mensch denkt.«
Fuchsius hatte nur auf den einen Namen acht gegeben: »Läßt der Legationsrat sich viel beim Kranken sehn?«
»Nicht eben. Er steckt ja fast immer bei der Braunbiegler. Auch mit dem Baron Eitelbach hat er viel zu schaffen. Der mag ihn nicht; aber er läßt ihn nicht los. Besonders, wenn er in der Fabrik ist, da spricht er in allen Dingen mit. Der Baron sagte: ›Wenn er mal in den Farbkessel fiele, dann wäre auch nichts verdorben als die Farbe‹.«
»Eckard!« Der Rat zog ihn in den Winkel, als könnte die Luft hören, was er ihm zu sagen hatte. Er schloß: »Von jetzt ab vigilieren Sie auf ihn, Schritt und Tritt. Sie lassen ihn keinen Moment aus dem Auge, wo er hingeht, an wen er Briefe abschickt, von wo er Briefe empfängt, und wo möglich sehn Sie durch seine Wände. Ist denn durch seine Dienerschaft nichts zu ermitteln?«
»Er wechselt oft die Bedienten, und sie kommen nie weiter als in seine Wohnzimmer. Die Mädchen im Hause sagen, in der Küche müsse's wie im Schweinestall aussehen, er läßt keinen Besen rein.«
»Was lächeln Sie?«
»Die Mädchen meinen, wenn eine Hintertreppe wäre, so begriffen sie's.«
»So fährt der Spiritus familiaris wohl durch den Schlot!« sprach Fuchsius für sich. »seltsam, auch er wie sie nachweislich ohne nähern Umgang, ohne einen Vertrauten, ein isoliertes Ungeheuer, das, wie der Schwamm, aus der Luft den Atem saugt.«
»Es war schon einer mal drin«, setzte Eckard im Fortgehen hinzu, »der sagt aber nichts.«
»Wer?«
»Der alte van Asten.«
»Wie kam der hinein?«
»Sie sagen, er hätte die Tür aufgelassen. Seitdem läßt er die Tür nicht mehr auf.«
»Haben Sie Verdacht gegen den alten van Asten?«
Der junge Vigilant schüttelte den Kopf: »Wenn er auch die tausend Stückfässer in Stettin auf den Buckel laden könnte, wo sollte er damit hin? Er ist ein ruinierter Mann, rein in Rotwein. Durch 'nen Pfuschmakler hat er schon unterderhand zum halben Preis ausgeboten. Wer will's jetzt! Gewinnen die Franzosen, so trinken die's aus und zahlen nicht, gewinnen wir, so finden unsre überm Rhein den Wein wohlfeiler. Vielleicht«, setzte er mit schlauer Miene hinzu, »soll ihm der Herr von Wandel den Medoc in was andres verwandeln, was Käufer findet. Er ist ja ein Tausendkünstler.«
»Vigilieren Sie!« schloß der Rat die Unterredung.
Ja, wenn die Wände, die des Legationsrats Wohnung umschlossen, vor ihm niedergefallen wären und er hätte einen Blick freigehabt!
Auch der Legationsrat konnte in der Nacht nicht schlafen, auch er hörte den Kanonendonner, auch unter ihm zitterte das Bette, der Himmel leuchtete, er sah die Bataillelinien hin und her schwanken und war aufgesprungen, um Herr zu werden seiner Sinne.
Auch er zündete Licht an und ergriff eine Lektüre, es war zufällig dieselbe, die Fuchsius ergriffen. Da schlug er die Stelle auf:
Auf siebzig Jahr kann ich mich gut erinnern; In diesem Zeitraum sah ich Schreckenstage Und wunderbare Ding', doch diese böse Nacht Macht alles Vor'ge klein. |
Der Leser hielt inne: »Ein Zeichen ! Warum diese Nacht?« Er las weiter:
Der Himmel, sieh, als zürn er Menschentaten, Dräut dieser blutigen Bühn. Die Uhr zeigt Tag, Doch dunkle Nacht erstickt die Wanderlampe: Ist's Sieg der Nacht, ist es die Scham des Tages, Daß Finsternis der Erd Antlitz begräbt, Wenn lebend Licht es küssen sollte? |
Er warf den Band fort: »Albernheit! Was hat der Himmel ein Recht, auf Menschentaten zu zürnen! Wir sind's, die die wesenlose Leere bevölkern, die Schwächlinge mit ihren Phantasiegespinsten, die Starken mit ihren Taten. Da ist die Frage: welcher Zauber ist stärker, die Vogelscheuchen, die sie an die Sterne binden, oder der Wille, der der Nacht und ihren Uhustimmen ins Antlitz lacht?«
Er zündete eine chemisch präparierte Kerze an, welche einen besonders hellen Schein warf, und trat, was er wirklich selten bei Nacht tat, in sein Laboratorium. Alles, wie er es am Abend verlassen, dort hingen die Bilder, da das Gerippe, die Retorten, Kolben, Tiegel auf dem Herde; einige kleine Fläschchen, auf die sein Auge zuerst fiel, standen wie zur Abkühlung am Fenster. Er hielt den Atem an, wie um zu horchen. Es bewegte sich außer ihm etwas. Er biß sich in die Lippen: »Torheit! es ist die aufgeregte Phantasie von der Lektüre des Dichters, des größten, der geboren ward, aber warum ließ das Schicksal in einer dunkeln Zeit den Riesen ans Licht treten, daß an seinen gigantischen Gliedern noch immer ihre Moderfetzen kleben! Er hat Geister beschworen, ich kann es auch. Nur jeder in seiner Art!«
Da bewegte sich das Gerippe sichtlich, ein schrillender Ton kam aus der Mundhöhlung, es rauschte etwas heraus, es wehte durch die Luft, und das Licht erlosch. Wandel sank nicht zu Boden, aber er preßte den Leuchter so fest, daß das Metall eingebogen war, der Totenschweiß, der von seiner Stirn tropfte, hatte ihn aus seinem Starrkrampf geweckt.
»Von einem Nachtvogel sich erschrecken lassen, der in seiner Angst durch den Schornstein eindrang!« rief er, nachdem er mittels eines chemischen Feuerzeuges das Licht wieder angezündet. »Flattre nur, Unhold, du bist kein Leben und lügst keines mehr der schönen Hülle an. Es gibt keine Geister, nur Spuk, den, den die Schwäche unsrer Nerven gebiert. Aber ein Spuk und eine Verhöhnung unsrer Kraft, daß wir uns zumeist von denen in Angst setzen lassen, die selbst vor Angst aus sich herausgehen.«
Aber weshalb war er hier? Um mit den Gespenstern, an die er nicht glaubte, eine Lanze zu brechen? – Warum hatte ihn die Dröhnung des Kanonendonners, warum das Phantasma der Schlacht aufgeschreckt? Berührte ihn der Ausgang, welcher es sei? – »Doch!« rief er plötzlich. »Das ist der Vorteil jener chaotischen Katastrophen, welche die kleine Menschenwelt und ihre Ameisenhaufen, Staat und Gesellschaft genannt, durcheinanderwerfen, daß wir uns da frei fühlen, Wo das Haus über ihren Köpfen zusammenbricht, merken sie nicht das Insekt, das sie sticht. – Die Kerker öffnen sich – vielleicht! Die Schuldbücher werden zerrissen – Es wird vergessen, alles – nein, doch vieles – auch das? – Vielleicht.
Er nahm die Fläschchen, hielt sie gegen das Licht und tat sie dann in ein Etui. »So viele Arbeit um – eine Bagatelle. Ich ging doch an schwerere mit leichterem Mut, fast im elastischen Tänzerschritt. Aber der alte Asten hatte recht. Die Polypragmosyne hat mir Schaden getan. Das erste Gesetz lautet: nicht zu vieles im Aug! Dies Abwägen verwirrt und schwächt unsre Sehkraft. Rasch drauflos. Die Weisheit unsrer Väter: Frisch gewagt, halb gewonnen! Es ist eine ewige, alte Fabel vom Hunde und dem Fleisch, und doch, wer wehrt sich vor dem Blendwerk, daß ihn das große Bild im Wasser verlockt. Und das: Morgen, morgen, nur nicht heute – wieviel kühnen Entschlüssen brach es den Hals.«
Und doch schien er selbst durch hervorgezogene Sprichwörterphilosophie entweder sich Mut einzusprechen, oder sich immer noch einen Aufschub abzulisten. Er packte die Fläschchen aus, um zu sehen, ob sie auch eingewickelt waren. Er befühlte auch Gegenstände, die er nicht mitnehmen wollte. Es war so heiß in der Küche, ob von der eingeschlossenen Luft oder von seiner inneren Hitze? Schon hatte er die Tür in der Hand, als er zurückkehrte. Ihm fiel ein, daß er auch auf die schlimmste Eventualität sich waffnen müsse. »Sie dürfen auch nicht das finden, was sie bei der Lupinus gefunden.« Er mußte schon vorgearbeitet haben. Nur aus einem Tiegel schabte er vorsichtig den Bodensatz und warf ihn in den Abzugsgraben. Dann streute er verschiedene Farbenpuder verschwenderisch umher. Die Küche bekam dadurch einen Wohlgeruch: »In meinen Schminkpräparaten mögen sie meine Arkane entdecken.«
Dann näherte er sich dem Gerippe: »Wieder eifersüchtig? Gib mir die Hand, Angelika.« Sie gab sie ihm, aber schüttelte er so heftig, oder war der Wandnagel lose? Das Knochenweib stürzte herab. Wir wissen nicht, ob er geschaudert, doch schnell hatte er sich und das Gerippe gefaßt: »Das hätte ein böser Fall werden können, wie damals, als du vom Pferde sprangst und ich dich auffing. Du nanntest mich deinen Lebensretter. Ja, ein teurer war ich dir. Zweimal für das eine bißchen Rettung nahm ich dein Leben. Ihr armen jungen Weiber! Mit eurem warmen Blut und leichten Sinn seid ihr nun einmal vom Fatum destiniert, in unsre Netze zu flattern. Hier lernte ich Klügere, Kältere kennen, die auch denken, sogar berechnen konnten. Das war euch unmöglich. Und doch weiß ich nicht, ob ihr nicht die Glücklicheren seid. Ihr nipptet, und dann schlürftet ihr die Wonne des Lebens in vollen Zügen. Dann – mit einemmal – war es aus! Aber jetzt – jetzt – mach mir das Leben nicht schwer. Du könntest hier an der Wand in einem unbedachten Augenblick plaudern. Dort im Kasten bist du nicht gefährlich, du bist ein Präparat, eine anatomische Studie. Ruhe da sanft, und was würdest du sagen, Liebchen, wenn ich dir über Jahr und Tag eine Gesellschafterin zulegte? Schön und groß wie du, aber etwas dumm. Was tut das? Sie wird dich nicht langweilen. Sie ist stumm wie du. Und wenn ihr beide dann friedlich nebeneinander ruht, sieh, den Trost gebe ich dir, bei dir wird mein Sinnen bleiben, wir werden nach wie vor kosen, bei dir werde ich mir Rates erholen, du wirst mich verstehen. Die andre ist eine Gliederpuppe, jetzt gelenkig, dann wie du, aber deine Folie. Adieu, mein Herz!«
Und wer behauptet, daß seines nicht doch schlug, daß der kalte, gräßliche Hohn auf seinen Lippen nicht nur der Mantel war, der die Natterstiche, das konvulsivische Ächzen, die Qualen, die keinen Namen haben, bedecken sollte? Nicht täglich, wie er der Lupinus log, drückte er das Gerippe an seine Brust. Es waren nur die fürchterlichsten Momente, wo er der Kraft bedurfte, und er konnte sie in sich nicht finden. Wer sah den Angstschweiß auf seiner Stirn, wer, wie die Knie wankten, wie er sich an das Treppengeländer hielt, als er herunterstieg. Es war ein saurer Gang. Warum? das wußte er sich nicht zu sagen. Er hatte schon viele Gänge der Art gemacht.
Aber draußen sah man ihm nichts davon an. Wie der Hahn, um die Witterung anzukrähen, schlürfte er sie ein. Die Luft war grau, regenhaltig, eine bange Stimmung, wie sie einem großen Unglück vorangeht. Der Tausendkünstler hatte schnell die Physiognomie sich angeeignet.
Wo fand er nicht auf der Straße Bekannte! Wo sah man sich nicht ängstlich an, hatte sich trübe Nachrichten, bange Ahnungen mitzuteilen. Schon wandelten Frauengestalten in Trauer, die frühe Nachwirkung des Gefechtes von Saalfeld.
Der Baron Eitelbach ging zur Börse. Er ward unterwegs von mehreren angesprochen. Man kondolierte ihm. »Wie nahm sie's auf?« – »Ich kann wohl sagen, sie deployiert eine große Seelenstärke.« – »Ist's denn auch ganz gewiß?« – »Na, warum denn nicht? Sein Neveu, der Wolfskehl, hat ihn selbst vom Pferde hauen sehn; er hat's hergeschrieben.«
Der Legationsrat trat in dem Augenblick an die Gruppe, und es war der vollste Ausdruck inniger Teilnahme, mit der er dem Baron die Hand drückte: »Sie sind ein Mann.« Er zog ihn etwas beiseite. »Und sie ist eine Frau, die durch Leiden geadelt wird. Ich bin überzeugt, daß dies Unglück den wahren Bund Ihrer Seelen nur fester schlingen wird. Es ist schön, es ist edel, – ich sage nicht, groß, von ihnen, daß Sie ihre Empfindungen durch solche Teilnahme ehren.«
»Gehn Sie doch zu ihr, Legationsrat, trösten Sie sie. Sie hört Sie so gern plaudern.« Ein zweiter Händedruck: »Erlassen Sie mir das. Sie werden selbst den besten Trost wissen.«
Als noch jemand an die Gruppe getreten, war der Legationsrat plötzlich fortgesprungen. Fuchsius sah ihm verwundert nach, aber noch verwunderter sah er dem zu, was Wandel begann. Er unterhandelte mit einer Obsthökerin. Er zog die Börse und schien eine ansehnliche Summe ihr in die Hand zu drücken. Dann nahm er plötzlich die Körbe mit Birnen und Pflaumen, den ganzen Vorrat der Händlerin, und warf ihn in einen der tiefen Rinnsteine, die den ganzen schwimmenden Vorrat alsbald in ein Abzugsloch trieben. Die Straßenjugend jubelte, andre jubelten nicht, sie schimpften auf den vornehmen Herrn, der so mit Gottes Gabe umgehe; statt armen Leuten sie zu schenken, verderbe er sie. Es gab einen kleinen Auflauf, aus welchem Wandel sich nur mit einer Mühe losmachte.
Die Herren in der Gruppe hatten zwar mit Verwunderung zugesehen, doch ahnten sie die Aufklärung. Wahrscheinlich war das Obst unreif, oder der Legationsrat hielt es dafür. Er hatte schon an mehreren Orten von der unverzeihlichen Nachlässigkeit der Polizei gesprochen, daß sie solchen Verkauf zulasse, wo die Ruhr in der Stadt grassiere; man wisse ja nicht, was noch daraus entstehe.
»Ihre Intention in Ehren«, sagte jemand zu dem Zurückkehrenden, »in dieser allgemeinen Kalamität ist es aber nicht recht, Anlaß zum Skandal zu geben. Das Volk ist ohnedem aufsässig.«
»Und was helfen zwei Körbe weniger!«
»Sie haben vollkommen recht, meine Herren«, sagte Wandel, »doch wer ist Herr über seine Impulse! Zudem sehe ich ein Gespenst, welches mir fürchterlicher dünkt als alle Kriegskalamitäten, die uns noch drohen mögen«.
Man sah ihn verwundert an, auch auf die Sonne, die eben hell durch die Nebel brach, eine Szenerie, die gar nicht zu Gespenstererscheinungen paßte. Aber Wandels Gesicht hatte den Ausdruck:
»Wissen Sie, meine Herren, welches Unglück uns droht? Noch ist es nicht hier, aber es wogt aus dem fernen Asien herüber, eine Pest, gegen die der schwarze Tod, das gelbe Fieber, und was sonst den Namen führte, unbedeutend erscheinen werden. Eine Krankheit, die ganze Ortschaften, Landstriche hinrafft, entwickelt sich in dem britischen Indien. Die englischen Ärzte geben entsetzliche Schilderungen und behaupten, daß sie ihren Siegeszug durch die ganze Welt halten werde. Sie nennen sie Cholera morbus, und was das Schrecklichste, es ist kein ärztliches Mittel dagegen zu entdecken. Sie fängt mit Vomieren an, heftiger Dysentrie, dies steigert sich in wenigen Stunden bis zum Tode. Der geringste Diätfehler, namentlich der Genuß von unreifem, ja selbst von reifem Obst ruft sie hervor. Ich kann Ihnen meine Besorgnis nicht verhehlen, ich hörte durch Selle vorhin von Fällen, die mich fürchten machen, daß sie schon in den Ringmauern von Berlin ist. – Ich bitte, lassen Sie sich nicht ängstlich machen, meine Herren, aber hüten Sie sich ja vor jeder Erkältung, vor Obstgenuß. Ja, ja, meine Herren, wir wissen alle nicht, was uns bevorsteht, und welche neue Wendung das Schicksal nimmt. Wo diese Krankheit grassiert, hört der Krieg von selbst auf – Sie fühlen sich doch nicht unwohl, liebster Baron, Sie fassen sich an den Magen?«
Der Baron hatte Melonen gegessen. Die Gesichter einiger andern verrieten die Nachwirkung einer zu lebhaften Schilderung. Da erst erblickte Wandel den Rat Fuchsius. Er ergriff seine Hand: »Ach, mein wertester Freund! Vorsicht, Vorsicht, meine Herren, weiter nichts! Apropos, was macht denn unser Freund Bovillard? Ich sah ihn seit vorgestern nicht.«
Der Rat zuckte die Achseln: »Durch seine Selbstkur –«
»Tut er Buße«, fiel der Baron ein, »für die Gänseleberpasteten und Trüffelwürste, um die er seine Nebenmenschen übervorteilt hat. Es hat einer ausgerechnet, was er in seinem Leben verschlungen hat – die Summe ist gar nicht auszusprechen.«
»Ich bin sehr um ihn besorgt«, sagte Wandel, den Kopf schüttelnd. »Die fixe Idee kehrt immer wieder. Und sonst die Räson selbst! Bestätigt sich noch das gräßliche Gerücht, daß sein Sohn gefangen und als Spion – das Leben verloren hat – so gebe ich auch den edlen Mann verloren. Heim will es nicht Wort haben, aber – glauben Sie mir –«, sprach er, Fuchsius beiseite ziehend, »das sind schon die veritablen Symptome der Cholera. Ach, mein Gott«, sprach er, seine Hand drückend, »teuerster Freund, was macht denn unsre Freundin?«
»Sie wird mit der Rücksicht behandelt, die ihre Bildung beansprucht.«
»Davon bin ich bei solchem Inquisitor überzeugt. Aber noch kein Geständnis, keine Regung des Gewissens?«
»Stolz, fest, starr wie immer.«
»Dann bin ich von ihrer Unschuld überzeugt. Jedes Weib verrät sich, wenn der rechte Inquirent zu ihrem Gefühle spricht.«
»Dieser Ausspruch des vollendetsten Weiberkenners sollte auch mir Beruhigung geben.«
»Nein, nein, inquirieren Sie, scharf und schärfer, nehmen Sie sie ins Gebet, wie ich jetzt meinen Baron. Er will noch nichts davon wissen, er ist ein starrer Anhänger des Alten, der gute Eitelbach, aber bei einer Flasche Burgunder hoffe ich es ihm einleuchtend zu machen, denn er ist doch ein guter Patriot –«
»Was?«
»Daß wir unpatriotisch, unverantwortlich handeln, wenn wir nach wie vor unser Tuch mit Indigo färben. Wozu den Engländern den Gewinst gönnen, wenn wir das Blau im Lande haben?«
»Wollen Sie die Uniformen in Berliner Blau tauchen?«
»Kein Scherz. Die Mark produziert seit alter Zeit einen Färbestoff in ihrer Waidpflanze, welche bis zur Entdeckung der Schiffahrt nach Ostindien nicht nur für das Bedürfnis ausreichte, sondern für Brandenburg zum ergiebigsten Handelsartikel ward. Da verließ man die Produktion, natürlich, weil der Indigo wohlfeiler, besser präpariert war. Jetzt, durch die Kriegsverhältnisse, ist er nicht mehr wohlfeil, durch Sperrung der Schiffahrt kann er uns sogar ganz abgeschnitten werden, es ist also Aufgabe der Industrie, ein Surrogat zu finden, welches in diesem Falle schon vor uns liegt. Warum in der Fremde suchen, was wir zu Hause haben! Es kommt nur auf die Preparation an, und ich hoffe den Baron heut beim Frühstück zu überzeugen, daß die, welche ich versucht, dem Zweck entspricht. Ja, damals war Waid nichts gegen Indigo, aber ist die Chemie nicht fortgeschritten? Ich wage zu behaupten, der Indigo ist jetzt nichts gegen den Waid. Im Ernst, die Sache verdient Aufmerksamkeit. Preußens Rock ist blau, und die Natur weist uns auf unsern Fluren die Pflanze, welche dies Blau in reicher Fülle enthält. Uns in jeder Beziehung unabhängig vom Auslande zu machen, ist, dünkt mich, die erste Aufgabe jedes Patrioten. Bester Rat, beehren Sie uns mit Ihrer Gegenwart bei Dallach, und helfen Sie mir, unsern Baron von seinem eigenen Vorteil zu überzeugen.«
Fuchsius war vermutlich der Ansicht, daß es für einen Patrioten in dem Augenblick näherliegende Aufgaben gäbe, als die Blaufärberei; er lehnte die Einladung ab. Auch der Baron schien nur ungern vom Arm des Legationsrats fortgerissen zu werden. »Aßen Sie viel Melone?« hörte man im Abgehen Wandel zum Baron sagen. »So springen wir vorher bei Selle an; er verschreibt Ihnen eine kleine Magenstärkung.«
Die Zurückbleibenden hörten nicht die Antwort, sie haben den Baron nicht wiedergesehen. »Er scheint seinem künftigen Kompagnon überhaupt nur sehr ungern zu folgen, der es doch an Aufmerksamkeit nicht fehlen läßt.«
»Ist die Sache mit der Braunbiegler wirklich schon soweit?« antwortete ein anderer. Das stumme Lächeln der andern war eine bejahende Antwort.
Die Indigo- und Waidangelegenheit schien den Baron um so weniger zu interessieren, je mehr der Legationsrat in ein wahres Feuer der Begeisterung geriet. Auf dem Frühstückstisch, in einem separaten Zimmer der Restauration gedeckt, nahmen die Proben Tuch, mit Indigo und Waid gefärbt, und die Fläschchen mit Färbestoff fast mehr Platz ein, als die Teller und Flaschen aus Herrn Dallachs Keller.
»Alles ganz schön«, sagte der Baron, »wenn nur –«
»In Gedanken! Was ist's?«
»Wenn wir überhaupt noch blaues Tuch brauchen!«
»Was, Sie Patriot und verzweifeln! Was wollen Sie da am Fenster?«
»Ich dachte, wenn es ein Kurier wäre.«
»Wir sind unter uns, Patrioten beide. Hören Sie, liebster Baron, und wenn's denn wäre, Tuch brauchen sie, solange die Welt steht. Ist's nicht blaues, dann grünes –«
»Und wenn wir französisch würden?«
»Changieren wir nur etwas das Blau. – Qu'importe! Der Weltbürger ist auch ein Patriot. Aber Sie trinken nicht. Schmeckt Ihnen der Burgunder nicht?«
»Das könnte ich Ihnen wiedergeben.«
»Ich bin etwas trunken, nicht vom Wein; aber ich möchte heut aller Welt um den Hals fallen. Mir ist, als stände mir etwas Erfreuliches bevor.«
Herr Dallach war eingetreten und erlaubte sich, seinen Stammgästen eine Prise zu offerieren: »Herr Baron sehn etwas angegriffen aus. Ihnen ist doch wohl?«
»Es wird vorübergehn«, sagte Eitelbach.
»Er ist ein Anglomane, will an seinem Indigo festhalten. Da sehen sie, Dallach, das ist mit Waid gefärbt, wie ich Ihnen sagte – halten Sie's gegen 's Licht. – Der Baron krümmt sich, es einzugestehen, das passiert so obstinaten Leuten. – Aber was Teufel, Eitelbach! Hätte er sich beinah vergriffen und aus der Färberflasche eingeschenkt.«
»In der Stadt ist man sehr unruhig«, sagte Dallach, »niemand weiß recht was, aber es sollen beunruhigende Nachrichten eingelaufen sein.«
»Pah!« nichts von Politik. – Herzensmann, Sie essen zuviel Kompott! Nach der Melone, Vorsicht! Vorsicht! Das merken Sie sich auch, Herr Dallach, nicht zuviel Obst Ihren Gästen, Sie haben es zu verantworten. Schicken Sie uns Portwein, der wird dem Magen des Barons guttun.«
Ein Zeichen für Herrn Dallach, sich zu entfernen. Auch der Baron war einen Augenblick aufgestanden und wiedergekommen. Der Portwein schien ihm wohlzutun. Und doch saß er wieder in sich versunken. Es war nicht seine Art:
»Eine niederträchtige Geschichte«.
»Was kümmert meinen Freund, schütten Sie Ihr Herz aus. Mein Gott, Teuerster, ich weiß es ja, Sie wünschen mich nicht als Kompagnon. Verdenk ich es Ihnen? Wer läßt gern in seine Geheimnisse einen andern blicken! Aber die Sache ließe sich ja anders arrangieren. Hänge ich denn so sehr an der Kompagnonschaft in der Fabrik, oder ist Madam Braunbieglers Herz grade ans Tuch gewachsen? Wir machen nach der Hochzeit eine Tour durch Europa. Wer weiß, ob wir wiederkommen.«
»Es ist nicht das. Denken Sie sich, der Schmeckedanz, der Kerl auf dem Mühlendamm – ein verfluchter Jude –«
»Hat doch nicht Wechsel auf Baron Eitelbach?«
»Aber Dohlenecks Wechsel aufgekauft, Gott weiß, wie. – Und nun der tot ist –«
»Bravo! kann er sich Fidibus davon machen.«
»Nein, er schickt sie meiner Frau.«
»Oh, das ist zum Totlachen.«
»Nein, zum Einlösen.«
»Ist der Kerl verrückt?«
»Wenn nur nicht ein Brief dabei wäre –«
»Von wem?«
»Vom toten Rittmeister, ich meine, vom Major Dohleneck.«
»Schreiben die Toten wieder Briefe?«
»Nein, eh er ausmarschierte. Solch ein Galimathias. Wenn er fiele, sollt er sich nur an meine Frau wenden, die sei so sterblich in ihn verliebt, daß sie seine Ehre auch nach dem Tode nicht sitzenließe. Bei Lebzeiten hätte er sie können um den Finger wickeln, und sie hätte gehörig blechen müssen. Und wenn sie nach seinem Tode nicht zahlen wollte, so –«
»Schnell noch ein Glas Port. Ich kann mir denken, wie die Niederträchtigkeit Sie affiziert.«
Der Baron saß zurückgelehnt auf dem Stuhl, leichenblaß.
»Die Erzählung hat Sie angegriffen. Hoffentlich hat der Jude nicht die Effronterie gehabt, Ihrer Frau Gemahlin den Brief zu schicken.«
»Hat's! Das ist es eben!«
»Oh pfui! Sind Sie auch sicher, daß der Brief wirklich von Dohleneck ist? Ich hielt ihn für sehr beschränkt, aber ehrlich.«
»Das ist's eben – darüber heult sie mehr, als daß er tot ist.«
»Gemeine Seelen! – Nun hat sie ihn kennengelernt. – Sie hat doch den Brief in gerechtem Zorn zerrissen und die Wechsel auch?«
»Nein – sie will sie auslösen – sie ist obstinat. Ich soll's aus ihrem –«
»Oh, das müssen wir hindern – auf der Stelle – wir wollen zu ihr – Was ist Ihnen?«
Der Baron stürzte hinaus. Er kam nach einer Weile, von einem Kellner geführt, wieder herein. Wandel schien die Verwandlung auf seinem Gesicht nicht zu bemerken; in solcher Agitation ging er im Zimmer auf und ab: »Ich kann's mir denken – ihren Seelenzustand! Sie verachtet ihn. Und doch, sie will sich dadurch an ihm rächen, daß sie seine Manen beschämt. Das soll das letzte Opfer sein, was sie auf ewig von ihm scheidet. Oh, dort in jener Ewigkeit – mit welchem stolzen, vernichtenden Blicke wird sie ihm entgegentreten –«
Der Baron hörte nichts davon, er konnte nichts davon hören. Der Legationsrat tat einen Schrei – er riß die Türen auf. Herr Dallach und die Kellner, die hereintraten, sahen die liebende Teilnahme, mit welcher Wandel dem Erkrankten den Kopf hielt.
»Ein Arzt!« – »Ein Wagen!«
»Die verdammte Melone! Habe ich ihn nicht gewarnt?«
Herr Dallach reichte dem Kranken wieder ein Glas Portwein. Er wehrte es mit der Hand ab, Wandel schenkte ihm ein Glas Wasser ein. Er atmete wieder auf »Ach, das Wasser«, sagte Wandel, »wenn die Ärzte erst seine wunderbare Heilkraft ganz kennten! – Jetzt nur frische Luft!«
Es kam kein Arzt, kein Wagen. »Die Stadt ist in Verwirrung.«
»Würden Sie sich stark finden, teuerster Baron, zu Fuß nach Ihrer Wohnung – ich führe Sie.«
Der Baron war aufgestanden: »Es wird gehen, es wird schon besser werden. Ich erhole mich.«
»Die verfluchte Melone!« knirschte Wandel und stampfte: er stülpte den Hut auf. Er zog den Wirt noch einmal beiseite: »Herr Dallach, habe ich's nicht gesagt? Oh, es wird noch ärger kommen. Wir können uns gratulieren.«
»Was ist denn, Herr Legationsrat?«
»Die Cholera!« schrie er ihm ins Ohr. »Ein Anfall der asiatischen Cholera morbus! Und der Leichtsinn! Aber still, liebster Dallach, erschrecken Sie nicht Ihre Gäste; wir werden bald mehr hören.«
Indem er den Kranken über die Schwelle mehr schleppte als führte, rief er zurück: »Dallach, lassen Sie ja alles auf dem Tische stehen, wie es liegt. Man kann doch nicht wissen, ob nicht Recherchen –«
Es war ein saurer Weg für den Legationsrat. Zum Glück, daß die Straßenjungen mit andern Dingen beschäftigt waren.