Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ob die Fürstin in der Hedwigskirche ihr Herz ausgeschüttet, wissen wir nicht, aber einige Stunden, nachdem wir sie verlassen, finden wir sie schon in vollständiger Morgentoilette, wie sie mit einiger Verwunderung die Meldung eines Besuches anhört. Der Besuch ward angenommen, und der Gesandte, Herr von Laforest, erschien im Zimmer, um bald darauf im Fauteuil ihre gegenüberzusitzen. Die Fürstin hatte diese – Aufmerksamkeit, wie sie sagte, nicht erwartet.
»Die Scheidestunde ist so ernst, daß man über die gewöhnlichen Höflichkeitsformeln wegsieht«, setzte sie hinzu.
»Warum ernster, Fürstin, als jede andre Trennung?«
»Weil es eine auf immer ist.«
»Das Wort immer und ewig ist, dünkt mich, aus dem Lexikon der Diplomatie gestrichen. Nämlich aus dem zum Gebrauch der Adepten. In der Ausgabe, die ins Publikum kommt, ist es freilich dick unterstrichen; wir schließen immer ewige Verträge. Die Formeln aber dürfen wir nicht aus dem Auge lassen, sie sind die ewigen Fäden, an denen ein zerrissenes Gewebe wieder zusammengeknüpft wird. Man muß auch mit dem Teufel höflich sein, weil man nie weiß, ob man nicht seine Allianz einmal braucht.«
»Sie können unmöglich glauben, daß man auch jetzt noch einmal den Bruch kittet.«
»Mit diesen hier? Nein. Gott sei Dank, die Saat ist reif zur Ernte und die Sicheln geschliffen; für Körbe und Scheuern werden Napoleons Receveurs gesorgt haben. Preußen hat uns viel, sehr viel Geld gekostet. Es wird mit Zins auf Zins alles wiederzahlen müssen, auch wenn es darüber draufgeht.«
»Ihre Assurance laß ich auf sich beruhen, aber wir sind Preußens Alliierte.«
Laforest fixierte sie lächelnd: »Ist der starke Mann, der einen Knaben hinter sich aufs Pferd nimmt, weil das Kind allein durch den Wald sich fürchtet, der Alliierte desselben? Eigentlich ist's ein Zwerg, der sich an die Kruppe des Riesen klammert.«
»Durch zehn Jahre hat das große Frankreich unter allen seinen wechselnden Regimenten diesem Zwerge geschmeichelt.«
»Um so verdrießlicher sind wir gestimmt, und um so schärfer wird die Züchtigung ausfallen.«
»Wenn der Riese es zugibt!«
»Das ist der Punkt, Prinzessin. Wir müssen uns darüber klarwerden. Der Zwerg hinten auf der Kruppe wird auf die Länge dem Reiter eine lästige Zugabe, er hindert ihn in seiner freien Bewegung und will wohl gar mitsprechen und das Pferd mitlenken. Wenn man ihn vor aller Welt aufhob und von seiner Großmut ein Fait machte, kann man ihn nicht immer ohne weiteres wieder in den Staub setzen.«
»Lassen wir die Gleichnisse. Sie sind merveillös in Ihrer Zuversicht auf Sieg.«
»Mein Kaiser schlägt nur los, wenn er ihn schon in Händen hat.«
»Das kontrastiert furchtbar gegen den Glauben hier.«
»Desto besser. Seit Friedrichs Auge erlosch, sieht man hier durch eine Brille, die ihnen immer das Gegenteil von dem zeigt, wie die Dinge sind. Eine wahre Wohltat der Vorsehung. Was braucht ein Maulwurf in die Sonne zu sehn! Den Lauf der Gestirne berechnen andre.«
»Sie gefallen sich heut in Paradoxien.«
»Ohne alle Gleichnisse, Prinzessin, und aufrichtig, Gedanke gegen Gedanke! Wenn große Mächte über große Fragen miteinander in Streit liegen, so ist die Einmischung der kleinen immer verdrießlich. Was haben sie in die Waagschale zu legen, wo Kraft, Wille, Genie auf beiden Seiten stehen?«
»Wo das Zünglein der Waage hin und her schwankt, dünkt mich, gibt grade ein kleines Gewicht den Ausschlag.«
»Das bestreite ich. In der Theorie mag es richtig sein, in der Praxis grundfalsch. Bundesgenossen bringen Prätensionen mit und beschweren, hemmen die Macht, die zu entscheiden hat. Wodurch siegte Friedrich? Weil er keine Bagage von Alliierten hatte, weil er immer frei handeln konnte. Wodurch ist dies Deutsche Reich mit seinem König und Kaiser römischer Nation, das ehedem die Weltherrschaft prätendierte, untergegangen? Weil seine Kaiser nie frei handeln konnten; an den Rücksichten, die sie allen möglichen Berechtigungen in dem bunten Reiche gewähren mußten. Österreich verblutet, England lassen wir auf seinem Brett im Meer ›Rule Britannia‹ singen, die Frage steht nur noch zwischen Frankreich und Rußland. Ich bin wenigstens des Glaubens, daß Rußlands große Staatsmänner die Sache so ins Auge fassen. Es ist der Kampf um die Herrschaft auf dem Kontinent zwischen dem Okzident und dem Orient. Was soll, was hat da mitzusprechen in diesem Kampfe zwischen zwei Kolossen die Bagatelle Preußens?«
»Und doch ist jetzt von ihr allein die Rede. Sie ruft unsern Beistand an, wir gewähren ihn ihr. Außerdem beruft sie sich auf geheiligte Rechte, die mein Kaiser respektiert.«
»Rechte! Sagen Sie, in aller Welt, was, Prinzeß, gab diesem Pilz von gestern ein Recht, sich unter die Großmächte einzuschieben und, wenn sie über Weltfragen entscheiden, ein Wort mitzusprechen?«
»Da Herr von Laforest Geschichte studiert hat, bin ich wohl der Antwort überhoben.«
»Es ist einmal so gewesen, aber nun ist es nicht mehr. Lassen Sie uns doch darüber klarwerden. Ja, ein großer Geist hat in einer mesquinen Zeitepoche die Gelegenheit ergriffen und das Problem gelöst, aus nichts etwas zu machen. Ich leugne auch nicht, daß einige andre tüchtige Geister, die ihm vorangingen, ihm vorgearbeitet hatten. Gibt dies aber dem Produkt ein Recht, für immer zu bestehen? Der große Geist schläft in Potsdam. Schon jetzt, nach zwanzig Jahren, sind seine Traditionen erloschen, wie sein Schatz erschöpft ist. Nur seine Zöpfe und Gamaschen sind noch da; auch die schon durchlöchert seit der Kanonade von Valmy. Seit dem Baseler Frieden ward die Ehre schadhaft, der Riß immer größer, seine Reputation in Europa ist aus. – Womit denn erhält man eine unnatürliche Existenz als durch krampfhafte Exaltation der kleinen Mittel. Sind sie erschöpft, dann fällt der sieche Leib um so schneller zusammen. Der Erbe des Emporkömmlings hat das Gut des Erblassers verpraßt. Ein Friedrich selbst, wenn er seine Gruft sprengte, wenn er mit der berühmten Krücke auf seinen Schimmel stiege, fände nicht mehr das Material. Er siegte über zersplitterte, uneinige Kräfte, durch die Bewunderung seiner Feinde. Jetzt fände er einige große Nationen wider sich, und die Bewunderung der Völker gehört einem andern. Lasse man doch zerfallen, was sich nicht selbst mehr hält.« Die Gargazin war nachdenklich geworden. »Die hier sehen davon freilich nichts!« sprach sie mehr für sich als zu ihrem Besuch.
Dem Gesandten schien es angemessen, ihren Gedanken nicht zu Hilfe zu kommen; er fürchtete ein Zurückschnellen. Diesmal aber rekollierte sich die Diplomatin selbst:
»Und doch, ist es nicht wunderbar, ein Finger Gottes scheint da im Spiel, wie oft hat dieser Zwerg unter den Staaten aus ähnlichen Kalamitäten sich wieder erhoben, ein Phönix aus der Asche! Es kann doch plötzlich wieder ein Geist aufschießen –«
»Sehn Sie einen? Einen, der nur begreift, was Friedrich wollte, der ahnt, was er tun müßte, um in seinem Sinn zu handeln! Er ging seiner Zeit vorauf, diese alle sind im Nachtrabe. Sehn Sie einen einzigen, frage ich?«
»Einen doch –«
»Der ist beiseit geworfen, früh verfault, weil er zu üppig aufschoß. Ist das nicht wieder ein Finger Gottes, wie sie diesen einzigen behandelt, der klüger als sie war. Sie wollten nicht gerettet sein. Gott hat sie mit Blindheit geschlagen! Das darf freilich ein profaner Mann wie ich nicht sagen, aber Fürstin Gargazin muß es denken.«
Die Fürstin schien in einem Meer von Gedanken versenkt. Ihr Schweigen war ein zugestandener Sieg für den Gegner. Aber plötzlich öffnete sie die Lippen:
»Einen Mann seh ich noch nicht, aber eine Frau –! Wer kann sagen, daß er die Königin kennt! Es ist schon jetzt eine wunderbare Umwandlung vorgegangen. Wer erkennt in ihr wieder die immer tanzende Huldgöttin vom vorigen Jahre, die nur auf Blumenkränzen sich zu schaukeln schien und mit ihren Taubenaugen die sentimentalen Gemüter entzückte. Wo ist diese schwärmerisch tändelnde Fee geblieben! Alexanders Besuch, die Nacht in der Gruft, hat sie wie ausgetauscht. In diesen Augen leuchtet jetzt ein Geist – es ist eine Majestät in dem Blick. Wir wissen nicht, was sie vermag – was sie wird.«
»Um des Himmels willen nur keine Jael und Judith!«
»Warum nicht eine Jeanne d'Arc?«
»Auch dazu sind Ihre Majestät zu lieblich schön. Im übrigen« – er verneigte sich – »habe ich nie daran gezweifelt, daß die Frauen zum Herrschen und Beglücken geboren sind.«
Der Diplomat hielt inne. Hinter dem Komplimente für die Dame vor ihm schien er jetzt ernsteren Gedanken Raum zu geben. Die Diplomatin las etwas davon, sie nahm das Kompliment nur für das, was es war:
»Napoleon scheint auf den Einfluß der Königin Luise aufmerksam.«
Laforest lachte auf: »Wenn er überhaupt noch auf etwas hier aufmerksam ist.«
»Preußen ist ihm eine zurückgelegte Station. Er legt wohl schon Relais bis Petersburg?«
Laforest verfolgte den vorigen Gedanken – momentan: »Übrigens keine üble Idee, daß eine Dynastie, die ihre Aufgabe vergaß, durch Frauen daran erinnert wird! Mirakulös, wie der Deutsche es liebt. Was würde Friedrich im Elysium dazu sagen. Napoleon wird herzlich lachen. – Doch was kümmert uns das! Ich bin hier, um Abschied zu nehmen.«
»Aber doch auch, um noch etwas zu mir zu sagen, was bis jetzt nicht über die Lippen wollte. – Besitzen Sie ein vollständiges Kataster aller Truppenteile, die ins Feld rücken?« setzte die Gargazin hinzu.
»Napoleon kennt die Kranken und Maroden in jeder Kompanie, er weiß, wieviel Schüsse jede preußische Kanone machen kann.«
»Dann wird der Krieg nur ein Rechenexempel.«
»Das ist er auch. Die Übermacht erdrückt die Macht. Das Vernünftige, nein, das Natürlichste wäre doch, daß Preußen den Ausbruch des Krieges hinzuzögern suchte, bis die russischen Armeen sich nähern; dann allerdings wäre der Erfolg zweifelhaft. Aber man will Ihre Hilfe nicht abwarten, die Herren Offiziere, selbst die Feldherrn betrachten es als eine Ehrensache, daß Preußen es allein auf sich nimmt. Wenigstens den ersten Schock wollen sie aushalten und natürlich siegen; alsdann will man Ihrer Armee das Geschäft mit dem Kehrbesen überlassen. Sehn Sie, wie alles drängt, treibt, spornt nach Erfurt. Die Straße nach Magdeburg ist schon aufgewühlt. Die Motive, welche die alten Helden anführen, klingen auch plausibel, wenigstens ritterlich, romantisch: Preußen müsse die Schmach des langen Zauderns dadurch auswetzen, daß es nun allein den Entscheidungsschlag führt. Die jungen Helden sagen: Was hat er denn bewiesen? Die Österreicher konnte er schlagen und die Russen. Die haben wir auch geschlagen. Nun gilt es beweisen, wer besser schlägt. Kurz, der Chorus der Alten und Jungen ist: Drauflos, ehe die Russen kommen, damit wir die Ehre allein haben. Wenn das Rechenexempel richtig ist, ist auch nichts gegen die Motive zu sagen. Wenn ich der großmütige Alexander wäre, gönnte ich meinen guten Alliierten diese kleine Freude.«
»Aber Alexander gehorcht höheren Pflichten als dem Kitzel der Schadenfreude. Er läßt marschieren, Herr von Laforest. Möge Ihr Kaiser auf einen ernsteren Zusammenstoß bereit sein, als – Sie denken.«
»Wir sind bereit und – freuen uns darauf, denn endlich muß es doch entschieden werden, wem zwischen zwei gleich großen Spielern das Schachbrett gehört. Aber das ist ein Kampf, der im Jahre 1806 noch nicht ausgefochten wird. Jetzt räumen wir nur das Feld von kleinen Mitspielern, unnützen Ratgebern; es könnte eigentlich beiden Großmächten gleichgültig sein, welche es über sich nimmt, diese Parteigänger fortzukehren, denn beide haben den Vorteil, wenn das Feld frei wird. Ihre Armeen können sich entwickeln. Und« – setzte er aufstehend hinzu – »sie können ihre ganze Stärke zeigen, sie kämpfen nicht für einen Vorwand, sie kämpfen für sich – wer weiß, ob es dann zum Kampfe mit den Massen kommt, ob beide Gewaltige sich nicht besser im Frieden über die Teile der Erde zu verständigen wissen.«
»Nur nicht Menschheitsbeglückungsträume, Herr von Laforest!« sprach die Fürstin. »Mit dem Ossian konnten Sie diese hier beschwatzen; uns in Rußland –«
»Männer wird Napoleon nicht mit Kinderspielzeug fangen wollen. Die Welt bedarf der Autorität. Ein Stempel der Kraft muß den Völkern wieder aufgedrückt werden, damit sie nicht vom Winde der Meinungen wie Flugsand durcheinandertreiben. In Frankreich hat sein Fuß die Jakobiner zertreten, er hat die zerrüttete Ruhe und Ordnung der Gesellschaft wiedergeschenkt, er ist des Willens, sie auch den Völkern wieder aufzudrücken, wenn – wenn nicht, die seine Bundesgenossen darin sein sollten, mit dem gemeinschaftlichen Feind gemeinschaftliche Sache machen.«
Die Fürstin blickte ihn scharf an. Sie war verwundert, sie wollte mehr hören. Der Mund schien, halb geöffnet, als ein Zeichen der Aufmerksamkeit, aber er spitzte sich auch wohl schon zu einer satirischen Entgegnung, während Laforest fortfuhr:
»Ist dies Preußen nicht das wahrhafte Wespennest der Sektierer, Illuminaten, wo täglich Ideen und Neuerungen geheckt werden, Laiche und Brut zu neuen Revolutionen? Und das Schlimmste, sie wurden von oben unterstützt oder gingen von oben aus; die Philosophen läßt man Systeme bauen, man schmeichelt ihnen, ruft sie in den Staatsdienst, und was man niedertreten und ausrotten sollte, begießt man noch! Können wir, nach solchen Erfahrungen, uns noch täuschen, wie weit diese Systeme tragen, wie sie das Blut vergiften, den Glauben an die Autorität in Kirche und Staat untergraben, wo jeder dürftige Verstand sich anmaßt, selbst alles von vorn an zu prüfen, bis in den Grund der Dinge hinein! Täuschen wir uns auch darüber nicht, daß die Könige von Preußen noch die Macht hätten, wenn sie wollten, das Unkraut auszujäten. Wir sahen ja, wie der Versuch unter dem vorigen Monarchen mißlang. Es hat sich so eingefressen in den fruchtbaren Boden, daß es den Weizen nicht mehr aufkommen läßt; ja, man wird noch oft Versuche machen, aber ich besorge, immer vergebens. Was hat selbst in Österreich das kurze Beispiel Josephs geschadet; nun bedenken Sie, was und wie tief eine sechsundvierzigjährige Regierung, und eines Friedrich, das Blut des Volkes vergiften mußte! Voran dem Reigen ging, um das Maß voll zu machen, sogar eine philosophische Königin! Es ist in der Nation zur Tradition geworden, daß die Macht ihres Staates auf der sogenannten Intelligenz beruht, und sie hat, meines Dafürhaltens, darin nicht so ganz unrecht. Darum, Prinzessin, darf dieser Staat keine Macht bleiben, oder er wird der Funke zu einem Brande für alle Staaten. Und welche Verpflichtungen haben denn die alten, mächtigen, in ihrer Mitte einen Emporkömmling zu dulden, der auf seine Bildung sich geckenhaft brüstet und sich zuweilen die Miene gibt, sie zu verachten; stand er nicht jetzt eben noch, es war unerhört, wie der Minos da und maßte sich an, zwischen den Kombattanten über Europas Schicksal zu richten?«
Die Gargazin war ihm mit gespannter, dann, wie es schien, gesättigter Aufmerksamkeit gefolgt: »Herr von Laforest überraschen mich. Wer hätte das vermutet. Auch Ihr Kaiser will als ein neuer Sankt Georg den Drachen des Unglaubens zertreten! Seit wann ging diese remarkable Veränderung in Seiner Majestät vor?«
»Können Sie mit Spott das Einmaleins umändern oder einen mathematischen Lehrsatz umstoßen? Der Satz heißt in diesem Falle: Er folgt den Maximen, die er zu seiner Selbsterhaltung für notwendig hält. Seine Pläne gehen tiefer, als Sie glauben. Von wo entspringt all das Unheil, an dem die Völker leiden? Aus den Beispielen, die wir unvorsichtig aus dem Altertum holten, aus der unverständigen Anwendung der Begriffe, die damals galten, auf die Verhältnisse von heut. Schon lange geht er mit dem Projekt um, das Studium der Klassiker von den Schulen zu verbannen. Das, was uns nützlich ist, soll daraus übersetzt werden, eine Übersetzung unter dem Stempel der Autorität; mit dem andern klassischen Kram fort als Zeitvertreib oder Gift. Stimmte dies nicht mit den Ansichten meiner erlauchten Frau? Ihre Kirche gibt aus der Bibel dem Volke nur, was sie für gut hält, Napoleon will dasselbe, das Heidentum will er verbannen. Mich dünkt, da gehen wir noch Hand in Hand. Er hat die Pariser Universität zum Instrumente seiner Macht umgeschaffen. Sind wir da nicht auch einig? Er will nicht, daß, wie in Deutschland, soviel Lehrstühle sind, soviel Irrlehren der Jugend gepredigt werden. Der Staat soll eine Lehre prüfen, als gut und richtig approbieren, und diese soll dann in allen Schulen vorgetragen werden. Stimmen wir darin nicht? Er haßt die Ideologie, weil sie den Menschen vom Praktischen und Notwendigen entfernt, weil sie ewig an der Autorität rüttelt, Stolz, Überhebung, Schwärmer hervorruft. Will Ihre Kirche die? Darf der Staat des großen Zaren sie dulden? Deutschland ging daran unter. Preußen schmeichelt ihnen, weil die ganze Nation aus Ideologen besteht. Darum nennt mein Kaiser sie die Jakobiner des Nordens. Mich dünkt, eins der treffendsten Worte, die aus seinem Kopf entsprangen.«
»Und was ist der langen Rede kurzer Sinn?«
»Das nur andeuten wollen wäre Vermessenheit, wo die Weisheit eines Alexander selbst das Beste treffen und – Fürstin Gargazin das, was einschlägt, ihm anraten wird.«
»Was aber würden Sie an meiner Statt meinem Kaiser raten? Versetzen Sie sich einmal in meine Stelle.«
»Fürs erste würde ich diese Don Quixoten anlaufen lassen, wie sie's verdienen. Wer den heißen Brei angerichtet, kann ihn aufessen. Ihnen ihren Willen gelassen! – Sie lächeln, das wäre gut französisch geraten, und so arglistig dumm, daß es eigentlich eine Beleidigung sei, einer Fürstin Gargazin es ins Gesicht zu sagen. – Erlauben Sie mir die Bemerkung, es ist nicht so ganz dumm, Buxhövden hat in Riga den Befehl, zu rüsten. Vergönnen Sie mir auch, zu bemerken, der Befehl ist etwas spät an ihn ergangen, viel zu spät. Ich tadle darum Ihre Staatsmänner nicht, denn konnten sie wissen, daß es hier endlich Ernst, daß man sich nicht doch einmal wieder anders besinnen werde? Eine Mobilmachung kostet viel Geld; man tut es doch nicht immer bloß zum Vergnügen, besonders dann nicht, wenn eine ernsthafte, große Rüstung uns bevorsteht. Für die spart ein weiser Staatsmann die vollen Kräfte. Nun rüstet Buxhövden. Es ist jetzt Anfang Oktober. Bis spätestens Ende Oktober stoßen die preußischen und französischen Heere aufeinander, irgendwo im Herzen von Deutschland; geht es nach den Feuerköpfen hier, soweit wie möglich nach dem Rheine zu. Nun bitte ich Sie, wieviel Truppen kann der wackere Buxhövden bis dahin disponibel machen, bis dahin durch Kurland, Litauen, Preußen, Pommern, Brandenburg, durch unwegsam Sandsteppen, aufgewühlte Wege dem Gros der Preußen nachschicken? Ich will das Höchste annehmen, daß dreißigtausend Mann in forcierten Märschen bis zum Entscheidungstage die Preußen erreichen, daß sie dieselben noch nicht geschlagen finden; würden diese dreißigtausend abgematteten Krieger, aus Complaisance auf die Schlachtbank geführt, das Schicksal ändern? Sie würden mit den Preußen aufgerollt, vernichtet. Und gesetzt, die Preußen siegten, wieviel Brosamen Ehre würden die Bramarbasse dem russischen Sukkurs zukommen lassen? – Rußland wäre noch einmal moralisch geschlagen, ohne selbst geschlagen zu haben. – Nein, erlauchte Frau, ich versetze mich ganz in die Seele Ihrer klugen Staatsmänner und spreche zugleich im Stolze eines Franzosen, wenn ich sie sagen lasse: Rußland ist es sich selbst schuldig, nicht mehr durch Echantillons seiner Macht gegen den Giganten zu kämpfen, es darf nicht mehr das Schwert ziehen gelegentlich für andre, es ist Pflicht seiner Ehre, Gehorsam gegen seine Machtstellung, seine ganze Macht zusammenzuhalten, um sie für sich auf den furchtbaren Rivalen loszuwälzen, wenn – die Zeit kam.«
»Nachdem die preußische Armee vernichtet ist!«
»Die wird es ohnedies. In ihrem Dünkel wollen es die Herren, die den König zum Kriege zwingen, auf einen Schlag ankommen lassen. Durch einen Effektstreich soll wiedergutgemacht werden, was so lange Jahre durch versäumt ist. Schade nur, daß Preußen nicht Rußland ist. Sind sie besiegt, so ist Preußen zertrümmert, das Land liegt vor uns, eine offene Beute.«
»Und Rußland, das zusieht?«
»Behält die Kraft, auf einen Feind sich zu stürzen, der zwar Sieger ist, aber blutet. Denn auf einen verzweifelten Widerstand dieser zweimalhunderttausend Preußen sind wir gefaßt. Was dann weiter, steht im Rat der Götter, aber ich meine, daß Kaiser Alexander, an der Spitze seines Reiches, souteniert von seiner Grenze, ein Wort darin mitsprechen wird, das nicht verhallen kann. Wo zwei gleiche sich gegenüberstehen, ist aber Zeit zum Verhandeln.«
»Ich könnte es eine Gnade Gottes nennen, daß Preußen keine Staatsmänner hat wie Herrn von Laforest.«
»Und ich Rußland Glück wünschen, daß sein Zar eine Freundin hat, deren hellerem Blick er traut. Unter uns, Napoleon hat keine solche Freundin, er glaubt nicht an das wunderbare, den Frauen geschenkte Ahnungsvermögen. Er traut nur auf sich. Das ist – ein Unglück, denn über aller menschlichen Weisheit schwebt doch ein Etwas – was wir mit dem Verstande nicht ergründen. – Gleichviel nun, ob Sie Buxhövden die Regimenter, die er zusammentreibt, marschieren lassen, oder ihn freundlich warnen, daß er die Dinge sich vorher ansieht, daß er mehr an Rußlands Ansehen denke als an die momentane Freundschaftsaufwallung Alexanders für Friedrich Wilhelm – das, teuerste Frau, sind Bagatellen – so oder so, ein höherer Wille lenkt dennoch alles, und – ich denke, unser Abschied ist nicht auf lange, wir sehen uns bald, unter andern Verhältnissen, wieder. – Sie sehen mich zweifelhaft an, weil Sie mich kennen. Kennen Sie mich denn ganz, wo ich mich selbst nicht kenne? Die Völker müssen regiert werden; und um sie regieren zu können, darf man sie nicht zu klug werden lassen. So weit gehen unsre Wege miteinander. Nur in den Mitteln, da liegt der Unterschied. Ob Napoleons imperialistischer Wille ausreicht – wir kommen da immer wieder auf den Stock zurück. Es ist ein gutes, aber ein grobes Mittel, und wer weiß, ob der Stock nicht einmal bricht? Ihre – es ist ja natürlich auch meine – Kirche hat sanftere Mittel. Wäre der Protestantismus nicht gekommen, wir wären alle glücklicher! Stände erst wieder die eine Autorität unerschütterlich fest, dann kettet sich eine an die andre. Obgleich selbst nichts weniger als heilig, erkenne ich doch das stille Wirken der heiligen Gemüter, die der aufgewühlten Erde wieder ein Festes geben wollen. Ich ahne Ihr schönes, großes Werk, Prinzessin. Nur vorsichtig, den Schleier darüber gelassen, die Welt ist noch zu skeptisch. Aber sie wird immer empfänglicher werden, je mehr sie verblutet, ermattet. Wo alle Kraft erschöpft ist, hat die Bekehrung leichte Arbeit, und es ist gewiß eine schöne, belohnende. Haben Sie Ihren ritterlichen Kaiser erst ganz eingeweiht, dann machen sich die Allianzen von selbst, und dann – ich bin kein Träumer von einem Weltfrieden, denn die Menschen sind einmal geschaffen, um sich aufzuessen – aber es ist doch eine schöne Aussicht, wenn man einmal Kehraus machte mit diesem Kultus des Geistes, dieser Ideenherrschaft, wenn alle die Idole stürzten, eines nach dem andern, die der übermütige Menschengeist aus Erz und Marmor aufrichtete. Sie streckten ihre Arme bis in die Sterne, aber sie standen auf tönernen Füßen.«
An der Tür war der Gesandte noch einmal umgekehrt und zog ein gedrucktes Blatt aus der Brusttasche: »Apropos, Prinzessin, Sie kennen vermutlich dies noch nicht. Ein Korrekturabzug, durch Zufall mir in die Hände geraten, ein Avantcoureur des kommenden Manifestes, in die Erfurter Zeitung gestreut. Bemerken Sie den Passus!«
Die Fürstin überflog das Blatt: »Nicht bloß Preußen, die deutsche Nation sollte, ihrer Selbständigkeit beraubt, aus der Reihe unabhängiger Völker gestoßen, einer fremden Souveränität untergeordnet werden. Diesem Schlage, dem schrecklichsten, der Deutschland noch treffen könnte, zu begegnen, ehe es zu spät ist, dieses ist, nach glaubwürdigen Nachrichten, der einzige Zweck von Preußens gegenwärtiger Rüstung.«
»Qu'en dites-vous, Madame? Preußen rüstet nicht für sich, sondern für die deutsche Nation! Wenn es nicht so entsetzlich naiv wäre, könnten andre als wir vor den Konsequenzen erschrecken. Aber ich hoffe, man wird weder in der Hofburg zu Wien blaß werden noch in Sankt Petersburg rot, noch wird mein Kaiser fragen: Wer in aller Welt gab denn Preußen die Vollmacht für die deutsche Nation? Denn in Wien, Petersburg und Paris weiß man, daß Phrasen tönender Wind sind. Nicht wahr? Aber ein wenig Achtung gibt man doch, wenn die Kinder in Phrasen zu sprechen anfangen, die sie freilich gelernt haben, aber man fragt doch: Von wem?«
Der französische Gesandte, Herr von Laforest, war längst in seinem Wagen fortgerollt.
»Und doch betrügt er mich nur!« war das Ende eines langen Selbstgespräches, aus dem die Fürstin bei diesen Worten zu erwachen schien. »Aber man läßt sich zuweilen gern betrügen.«
Sie setzte sich an ihren Sekretär und schrieb hastig. Das Billett auf Rosenpapier mit der Aufschrift: »An den Legationsrat, Herrn von Wandel«, ward einem Diener übergeben mit dem Befehl, auf der Stelle dahin zu fliegen und Antwort zu bringen.
Die Antwort ließ doch eine Stunde auf sich warten, welche für die Prinzessin in sichtlicher Spannung verging. Mehrmals hatte sie sich wieder zum Schreiben niedergesetzt, aber alles, was sie angefangen, gefiel ihr nicht, sie zerriß es wieder. »Es geht nicht schriftlich«, sprach sie. »Solche Botschaft kann nur mündlich an Buxhövden gebracht werden.«
Endlich kam Wandels Antwort. Sie lautete:
»Die ehrenvolle Mission, welche Fürstin Gargazin mir zugedacht, wie sie auch laute, ist mir der sicherste Beweis für das, was mein Herz mir sagt, daß es eine Selbsttäuschung war, als ich einen Moment glaubte, daß sie im Zorn von mir scheiden wolle. Eine Heilige kann nicht zürnen.
Um so schmerzlicher trifft es mein Herz, daß ich dem Rufe nicht folgen kann. Meine Verhältnisse, meine Ehre gebieten mir, hierzubleiben. Die Dame, um deren Hand ich mich bewerbe, wird eine Aufwallung, zu der ich mich hinreißen ließ, vergessen, und die Gerüchte, die man über eine Entzweiung aussprengt, selbst widerlegen. Wenn die geringen Gaben, welche die Natur mir schenkte, die Kenntnisse, welche ich mir erwarb, in mancher Augen mir vielleicht eine höhere Sphäre anweisen, so fühle ich doch nur zu sehr, daß der Mensch, der immer in weiteren Peripherien sein Glück sucht, so oft das übersieht, was ihm zunächst liegt und worauf Natur oder Geburt ihn gleichsam hinstieß. Meine physikalischen und chemischen Kenntnisse berechtigen mich zum Glauben, daß ich in der Tuchfabrikation Verbesserungen einführen werde, welche dem Lande, dem ich fortan gehören will, von, wenn auch nur geringem, doch von Nutzen sein werden. Lächelt Fürstin Gargazin darüber, so denkt sie doch vielleicht milder, wenn sie den Spruch sich zuruft von dem, der sich selbst erniedrigt.
Und doch würde ich Ihrem Rufe folgen, wenn nicht die heilige Pflicht mich fesselte. Jene Aussichten beiseite gesetzt, in diesem Augenblick kenne ich nur eine Pflicht, eine unschuldig verfolgte Frau, die mir einst teuer war, gegen die Barbarei der Gesetze zu schützen. Ja, ihr gehört mein Leben.
Urteilen Sie über mich, verdammen Sie mich, ich werde nie vergessen, was seiner Wohltäterin, der edelsten Frau des Jahrhunderts, der Fürstin Gargazin verdankt
Ihr untertänigster –« |
Die Fürstin zerriß mit einem verächtlichen Lächeln den Brief in kleine Stücke: »Nun muß ich selbst –.« In ihrem Hause war helle Unruhe. Um Mittag fuhr ihr Reisewagen, mit vier Kurierpferden vorgespannt, aus dem Tore von Berlin. Eine Relaisbestellung bis Riga flog ihr voraus. Von der Höhe draußen wandte sie sich noch einmal um: »Lebe wohl, Babel! Du und dein Reich sollen vergehen!«