Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Vierzehntes Kapitel.
Ein Präludium.

Das Nationaltheater bot heut einen feierlichen Anblick. So gefüllt hatte man es seit lange nicht gesehen. Es war nicht Ifflands Kunst noch Flecks Genie, auch nicht die Anmut der Unzelmann, der spätern Bethmann, oder die bezaubernde Stimme der Schick, was dieses Publikum angelockt. Es war kein glänzendes im gewöhnlichen Sinne, obwohl Gold und Silber von den Uniformen flimmerte und aus den Gesichtern der Zuschauer ein eigentümlicher Glanz strahlte, der der gespannten Erwartung, aber auf ein Etwas, was die Mehrzahl voraus wußte. Daher die schlauen, lauschenden Blicke, ein vergnügtes Zublinzeln, ein Zuverstehengeben, daß man unterrichtet sei.

Kein glänzendes Publikum, was man in Berlin so nannte, sagen wir; denn weder der Hof war zugegen, noch ein hoher Gast, dessen Anwesenheit immer die Neugier anzieht. Im Gegenteil fehlten gerade die ausgezeichnetsten Männer, die man sonst im Theater zu sehen pflegte, und die, welche zu dem regierenden Kreise in näherer Beziehung standen. Man vermißte aber auch mehrere eminente Persönlichkeiten, welche zu diesen Kreisen nicht gehörten, sondern sich ihnen feindlich gegenüberstellten. Wenn sie es waren, die das Schauspiel angeordnet, hielten sie es für schicklich, wenigstens den Schein zu vermeiden, und verbargen sich in der Tiefe der damals sehr dunkeln Logen.

Nicht der Schauspieler und der Darstellung wegen schien dieses große, lebhafte Publikum versammelt, sondern seiner selbst willen. Es wollte sich eine Darstellung geben. Auf dem Zettel stand angekündigt Babos »Puls«. Um dieses feinen, psychologischen Schauspiels willen hatte nicht das Offizierskorps für die Wacht- und Quartiermeister der Regimenter Gendarmen verschiedene Logen im ersten und zweiten Range gemietet, noch sah man deshalb im Parterre und auf dem Amphitheater Gruppen von Infanteristen und Husaren, jede von zehn bis zwölf Mann um ihren Unteroffizier versammelt. Auch saßen untersprengt in den anderen Logen zwischen geputzten Damen und aristokratischen Herren gemeine Soldaten in ihrer Kommißuniform, ein damals weit grellerer Kontrast und unerhörter Anblick. Die »honetten« Leute erschraken sonst vor der Berührung mit der blauen Montur. Und so geschickt, aber doch nicht glücklich, hatte man das bürgerliche Publikum mit dem Militär im ganzen Hause vermischt, denn wer Augen hatte, sah die Absicht. Man wollte sie aber auch nicht verbergen, nur einen luftigen Schleier darüberwerfen. Volksschauspiele zu arrangieren, war die Zeit in Preußen noch nicht gekommen.

Auf dem Komödienzettel stand aber hinter dem Baboschen »Puls«: »Auf vieles Begehren ›Wallensteins Lager‹ von Friedrich Schiller.«

»Hatte man denn kein patriotischeres Stück?« schien der Sinn der Frage, die jemand im Parterre seinem Nachbarn zuflüsterte, der zu den Eingeweihten in Beziehung stehen mußte. »Es ist weder preußisch- noch deutschpatriotisch.« – »Aber militärisch«, antwortete ein Dritter. – »Es wäre doch schlimm«, meinte jener, »wenn wir den Franzosen nichts entgegenzusetzen hätten« – »als soldatesken Stolz!« ergänzte der Dritte. »Ein Schelm gibt mehr, als er hat!«

Babos »Puls« ward mit mehr Aufmerksamkeit gegeben als gehört. Die Pulsschläge im Parterre waren zu heftig, um den sanften auf den Brettern folgen zu können. Es blieb still trotz des Meisterspiels der Darstellenden. Aber doch schlugen nicht alle Pulse auf ein Ziel. Es war so viel zu sehen, viele sahen sich, die sich niemals hier getroffen. Woran sollten die Soldaten denken, die in diesen Räumen zum erstenmal standen, kerzengrad, auf Kommando und des neuen Kommando gewärtig. Das Spiel da oben war für sie ein Schattenspiel an der Wand in unverständlichen, gleichgültigen Hieroglyphen, die auf ihren glotzenden Gesichtern nicht den geringsten Eindruck machten.

Auch vor der Schlacht schlagen nicht alle Pulse nur der Entscheidung entgegen. Die Karte, der Würfel und ein schönes Auge machen das Blut so lebhaft pulsieren, als der erste Trommelwirbel, das erste Pfeifen der Kugeln. Es waren viele schöne Augen in den Logen, und viele junge Offiziere observierten.

»Sie schminkt sich aber nie« sagte ein Kürassier.

»Sie ist geschminkt!« rief der Kornett.

»Sie ist echauffiert. Sieh doch, wie ihre Arme zittern. Ihre Finger hämmern ja wie im Krampf auf die Brüstung.«

»Ihre gelben Locken fangen schon an, wie Bindfaden runterzuhängen. Ist das etwa auch ein Beweis, daß sie nicht geschminkt ist?«

Der andre observierte schärfer mit dem Ausruf: »Donnerwetter, sollte ich mich irren! Sie changiert nicht Farbe, und doch zuckte sie zusammen, als die Lupinus ihr was ins Ohr sagte.«

»Was gilt die Wette?« wiederholte der Kornett.

»Besser, wer entscheidet sie«, fiel der andre ein, »wer schafft den Beweis?«

»Schicken wir eine Untersuchungsdeputation an sie«, sprach ein dritter. »Wolfskehl wäre dabei, in den Schminkangelegenheiten hat er gründliche Studien bei Komteß Laura gemacht.«

»Stellt einen Posto«, rief der Kornett, »drüben hin, der sie nicht aus dem Auge läßt, und einen andern hinter ihr. Wenn die Rührung losgeht, dann Attention! Der drüben, ob's unter dem Auge weiß, der hier, ob das Tuch rot wird.«

»Ein trefflicher Operationsplan! Wolfskehls militärisch Genie entwickelt sich immer mehr.«

»Am Ende fangen die Weiber gar nicht an zu weinen?«

»Und wozu das alles«, sagte der Kürassier. »Da müßt ihr euch doch den Mund wischen. Die Person hat nun mal was, daß man nicht weiß, was es ist; zudem Beschützer an allen Ecken. Man weiß nicht, wo man anstößt, wenn man zugreift.«

»Grad das könnte mich tentieren«, rief der Kornett. »'s ist nur, sie ist nicht nach meinem Gout.«

»Wolfskehl liebt nur das Bornierte. Da oben sitzt die neuste, die er auf dem Zug hat.«

Man schaute nach der Loge im zweiten Range, nicht aber mit Diskretion, wo Walter van Asten hinter seiner Cousine stand. »Wer ist denn ihr Beschützer?«

»Das Pockengesicht! Irgendein Schulfuchs.«

»Vielleicht ihr Erkorner – oder Destinierter. Er behandelt sie mit vieler Ästimation.«

»Sieht mir grade aus wie einer, der Lust hat, sich einen sanften Rippenstoß applizieren zu lassen, wenn ich Lust bekäme, dem Mädel den Arm zu bieten. Wollt ihr parieren, er dankt mir nachher an der Treppe –«

»Wofür?«

»Die Ehre, daß ich seinen Schatz geführt. Hol mich der Geier, er soll's !«

Der zornfunkelnde Blick eines ältern Offiziers in militärischem Reitüberrock, der mit verschränkten Armen an einem Pfeiler stand, begleitete das »Pst!«, welches er den Schwätzern zurief, ohne seine Stellung zu verlassen. Sie schwiegen unwillkürlich. Nur der Kornett ließ seinen Säbel klirren:

»Wer ist denn der Bramarbas?«

Beide Begleiter zischten ihm ein bedeutungsvolles »Pst!« in die Ohren. »Mit dem ist nicht gut Kirschen essen!«

»Aus der Provinz einer! So ein Kommandant aus Krähwinkel vielleicht. Soll der sich unterstehen, einem Offizier von der Garde Räson zu lehren?« – »Der unterstände sich noch mehr«, flüsterte der Kürassier. »Um Gottes willen, sei still, Fritz, 's ist der Obrist Yorck aus Mittenwalde. Der hat selbst mit dem Alten Fritz angebunden.«

Nicht alle Pulse schlugen gleich. »So in sich versunken, Herr Geheimrat?« fragte Herr von Wandel, der in eine nebenstehende Loge trat, den Geheimrat Bovillard, welcher sein Opernglas erhob, um es wieder abzusetzen und mit dem Taschentuch zu wischen.

»Ich bin nicht disponiert.«

»Das werden Sie doch nicht zeigen wollen!«

»Ich zeige mich. Was kann man in meiner Lage Besseres tun.«

»Sie hatten in letzter Zeit vielen Verdruß? Herr von Fuchsius hat Sie verlassen, sich angeschlängelt an die neu aufgehende Sonne –«

»Wohl bekomm es ihm. Wenn die Sonne ein Stein ist, hört sie auf zu glänzen.«

»Haben Sie Nachricht von Ihrem Herrn Sohn?«

»Haugwitz hat ihn aus Wien mit einer Depesche um Verhaltungsbefehle hierhergeschickt; das wissen wir aus anderer Quelle. Er scheint unterwegs aufgehalten oder aufgefangen zu sein.«

»Was den Vater allerdings nicht gut disponiert; indes wird der Sohn des Geheimrat Bovillard vor Napoleons Auge immer Gnade finden.«

»Auch, wenn er von dieser Komödie hört!« sagte Bovillard noch leiser. – »In welchem Winkel mag sich Laforest versteckt haben?«

»Sie wollen doch nicht das Theater verlassen? – Ich bitte Sie, Geheimrat. Was ist's! Ein bißchen Trommeln, Singen und Geschrei werden Sie ertragen können –«

»Wenn nur nicht drüben die Lupinus säße! Ich kann das Gesicht nun einmal nicht ausstehn. Ist denn das 'ne Larve oder ein Gesicht?«

»Sie hat, glaube ich, Verdruß gehabt mit ihren Dienstleuten oder ihrem Pflegekinde. Sie ist allerdings etwas blaß.«

»Diese kleinen, feinen, stechenden Korallenaugen! Wandel, ich versichre Sie, wenn ich ihrem Blick begegne, ist mir's, als wenn ein gläserner Dolch mir ins Herz bohrt.«

»Leiden Sie oft an solchen Visionen?«

»Begreif es einer, warum ich an einen Kirchhof denken mußte.«

»Hier?«

»Und sie wie das weiße Bild des Todes. Wen sie ansieht und küßt, der müßte sterben.«

»Ihre Lektüre echauffiert Sie, teuerster Freund. Dieses junge Genie, der Chateaubriand, reizt die Phantasie auf. Unwillkürlich beschwört er Geister, die für unsre Atmosphäre nicht passen. Ich möchte Ihnen dagegen als kalmierende Lektüre ein treffliches Buch empfehlen, welches eben erschienen ist – Wagners ›Gespenster‹. Lesen Sie darin vorm Einschlafen einige Geschichten, Sie werden davon eine vortreffliche Wirkung empfinden. Es konnte kein besseres Gegengift gegen die romantischen Schwärmereien gerade jetzt auftreten, wo selbst bei den Franzosen –«

Er konnte nicht ausreden. Der Geheimrat war über die hintern Stühle geklettert und zur Loge hinaus. Wandel, der rasch gefolgt, ließ ihm in der Konditorei ein Glas Zuckerwasser bereiten, in das er Hoffmannstropfen goß.

»Nichts als ein Schwindel, teuerster Geheimrat, begreiflich, wenn Sie an die Eventualitäten des Krieges dachten. Da sieht man wohl Leichen und Kirchhöfe. Wie mancher dieser exaltierten Militärs wird kalt und stumm auf dem Schlachtfeld liegen, wenn ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Auch vielleicht um Ihren Sohn waren sie besorgt. Das kombiniert sich alles so natürlich bei einer nervösen Komplexion. Wenn Sie sich erholt, lassen Sie uns zurückkehren.«

»Das Mädchen ist hübsch, aber die Augen wie gläsern. Wenn das Wachsbild nun unter ihren Armen schmilzt!«

»Das wäre unnütz!«

»Was reden Sie?«

»Ich weiß es selbst nicht, wahrhaftig, Bovillard. Ihr Unfall hat mich konsterniert. Es ist nicht Besorgnis um Sie – aber Sie sollten Hufeland befragen, wenn diese Anfälle sich wiederholen. Indes – erlauben Sie mir Ihren Puls. – Da intoniert das Orchester schon das Reiterlied. Ja, ja, Sie leiden an den Nerven. Sie glauben nicht, was die Beschäftigung des Geistes da hilft. Man muß sich zuweilen peinigen und sich in Zerstreuungen stürzen. Sie arbeiten zuviel. Sie lebten auch vielleicht in letzter Zeit zu solide! Überwinden Sie sich und kehren zurück. Täuschte ich Mich, im Mantel dort, das war Laforest. Er ist es.«

»Ein interessantes Stück, der ›Puls‹!« sagte der Gesandte im Vorübergehen. »Nicht wahr, meine Herren? – Wenn doch die Staatskunst auch solche Ärzte zur Hand hätte, die am Pulsschlag ihrer Kranken die geheimen Intentionen der Völker erkennten!«

»Welchen Auslegungen Sie sich aussetzen, wenn Sie fortgehen, wo ein Laforest zu bleiben wagt«, sprach Wandel dringend zu Bovillard. »Bedenken Sie die Stimmung im Publikum, teuerster Freund! Lombard selbst hat einen Beitrag für die Militärmusik geschickt!«

Der Geheimrat Bovillard wollte bleiben, dies deutete wenigstens der stumme Händedruck an, als er aufstand: »Wenn nur das Weib fortginge!«

Aber als er die Tür des Konditorsaales öffnete, kam ihm gerade dieses Weib, welches er vermeiden wollte, entgegen. Die Lupinus führte ihre Pflegetochter am Arm. Ein scharfer Kennerblick mußte unter der Röte von Adelheids Wangen die tiefe Blässe entdecken. Sie wankte am Arm ihrer Führerin, deren Anstrengungen, es zu verbergen, vergebens waren.

Als Bovillard zurückprallte, kaum von den Eintretenden gesehen, eilte eine neue Zeugin herbei. »Mein Gott, was ist ihr!« rief die Fürstin Gargazin.

»Nichts als übergroße Hitze! Ein Glas Limonade, Herr Reibedanz! Das wird dem Übel abhelfen.«

»Sie ist krank, das sind konvulsivische Bewegungen!« rief die Fürstin.

»Adelheid wird Ihnen das Gegenteil beteuern, wenn sie sich erfrischt hat«, sagte die Geheimrätin, indem sie mit einiger Heftigkeit das Glas dem jungen Mädchen an die Lippen hielt.

Adelheid nippte, aber das Glas fiel auf die Erde, sie selbst knickte zusammen und wäre selbst gefallen, wenn die Fürstin sie nicht aufgefangen und mit dem hinzuspringenden Bovillard auf ein Kanapee gebracht hätte. Die Lupinus hatte sich diesen Augenblick entgehen lassen, indem sie mit dem Legationsrat ein rasches Gespräch in stummen Blicken gewechselt. Wandels ernster Blick schien tief eindringend, die Geheimrätin hielt ihn nicht aus, und als sie ihn gesenkt, hörte sie die Worte ins Ohr geflüstert: »Was soll diese Komödie! Ich hoffe, hier ist nichts vorgefallen, was Sie bereuen müßten!« Sie wollte die Lippen öffnen, als Adelheids unterdrückter, unartikulierter Schrei die Aufmerksamkeit der Hilfeleistenden auf den Gegenstand der Teilnahme wieder zog.

»Es muß doch etwas mehr als die Hitze im Hause sein«, bemerkte die Fürstin mit einem eignen Ton.

Bovillard fragte: »War sie vielleicht zum erstenmal im Theater?« Er setzte hinzu, die Blicke der jungen Offiziere, die eben nicht mit Schonung sie fixierten, möchten sie affiziert haben.

»Ein Flakon!« rief die Geheimrätin. Die Fürstin, neben Adelheid kniend, hielt es ihr bereits an das Gesicht.

»Sie wird sich wieder erholen.«

Die Lupinus wandte sich zum Legationsrat: »Mein Gott, was zaudern Sie! Eines Ihrer Hausmittel, die Sie stets bei sich führen.«

»Meine einfachen Mittel wende ich nur an, wo mir der eigentliche Grund der Krankheit nicht unbekannt blieb.«

Die Geheimrätin hatte sich wiedergefunden. »Der eigentliche Grund der Krankheit kann denen nicht unbekannt sein, die von dem überschwenglichen Gemüt des jungen Mädchens unterrichtet sind. Patriotin bis in die äußersten Fibern ihrer Seele, hat sie seit vierzehn Tagen an einer Fahne für unsere Garnison gestickt und mich und sich um ihre Nächte betrogen. Erst heute morgen entdeckte ich es, und es hatte leider eine lebhafte Szene zur Folge, die ich jetzt bereue und zu der mich doch die Pflicht für die Gesundheit des Mädchens trieb. – Man hat etwas mehr zu sorgen für fremde als für eigene Kinder«, setzte sie mit einem feierlichen Tone der Resignation oder des gekränkten Bewußtseins hinzu.

»Um dem Gerede der Leute zu entgehen«, sagte die Fürstin.

»Auf Dank rechne niemand, der Pflichten übernimmt, die über seine Pflicht gehen«, bemerkte der Legationsrat.

»Aber wir alle sind Ihnen dankbar«, fiel die Fürstin besänftigend ein, »für die geschickte Weise, wie Sie das Kind, und noch zu rechter Zeit, aus der Loge führten. Ich bewundere Madame Lupinus wirklich, und, Gott sei gelobt, es hat gar kein Aufsehen erregt. – Sie atmet.«

»Aber noch geschlossene Augen.«

»Mein Hotel ist so nahe, liebe Geheimrätin, ich würde mir ein Vergnügen machen, selbst sie dahin zu schaffen. Eine Portechaise steht im Flur. Mein Kammerdiener fliegt dahin – wenn –«

»Wenn Madame Lupinus«, fiel der Legationsrat rasch ein, »nicht die Hoffnung hegte, daß die junge Dame sich noch erholte, um an ihrer Seite zur Vorstellung zurückkehren zu können. Und die Hoffnung scheint mir begründet.«

»Ich würde es mir nie vergeben, dem Kinde ein Vergnügen zu rauben, nach dem ihr Herz sich sehnt.«

Der Legationsrat hatte rasch aus seinem Etui ein Fläschchen geholt, welches er der Fürstin überreichte: »Drei Tropfen in den Händen gerieben und damit in Intervallen über die Schläfe gefahren. Nur der Luftdruck, nicht Berührung!«

Er war ehrerbietig zurückgetreten, ohne auf die Frage: »Warum nicht Sie selbst?« zu antworten.

Die Ouvertüre begann schon.

»Ich begreife Sie nicht«, sagte leise die Lupinus, an deren Seite er sich gestellt, während der Geheimrat Bovillard der Fürstin beistand.

»Noch weniger ich den Zusammenhang hier«, entgegnete er im selben Tone. »Was ging hier vor?«

»Sie sah eben ihren Liebhaber. Sie hatte ihn vor dem Theater erwartet, so glaube ich wenigstens aus ihren Reden in der Ekstase schließen zu dürfen. Sie hatte ihm geschrieben, ihn zu sich geladen. Und statt zu kommen –«

»Sah sie ihn an der Seite eines hübschen Mädchens, dem er viele Aufmerksamkeit erwies.«

»Ist das nicht Grund genug, Herr Legationsrat?«

Wandel zuckte die Achseln: »Unter andern Verhältnissen. Erlauben Sie mir indes, zu glauben, daß es hier kein Grund ist. Doch ich bin beruhigt, und verzeihen Sie, wenn ich es vorhin nicht schien. Das erste Gesetz der Wissenden, mein Freundin, ist, sich zu hüten vor dem Unnötigen, wo das Notwendige schon unsere ganze Geisteskraft beansprucht. Wir dürfen nicht spielen mit den Dämonen, wie diese hier tun; sie vertragen es nicht. Sie gehorchen uns nur, wenn wir das eiserne Auge nie von ihnen lassen und mit einem Stahlarm sie pressen – auf das Notwendige hin. Von Phantasten und Jongleurs reißen sie sich los und schlagen sie mit den zerrissenen Fesseln nieder.«

Im Theater ward es laut. Ein Teil des Publikums schien durch Summen und Singen die kriegerischen Töne der Ouvertüre zu akkompagnieren.

»Mein Gott – wenn sie doch jetzt – wir versäumen etwas!« rief die Lupinus, es war aber nicht das Verlangen, nach dem Theater zurückzukehren.

»Wie sanft sie atmet!« sagte die Fürstin.

»Debarrassieren Sie sich vor ihr. Es ist am Ende doch das Gescheiteste!« flüsterte Wandel der Geheimrätin zu. Sie blickte ihn fragend an. »Sie bezweifeln, daß ich als Ihr Freund spreche. Mein Rat sollte Ihnen beweisen, daß ich es bin. Ich sage nicht, daß Sie eine Natter sich am Busen erzogen haben, aber in dem Mädchen ist etwas Dämonisches. Bildete sie sich nach Ihnen? Schlug nur einer Ihrer Ratschläge an? Sie müssen sich gestehen, daß das Mädchen unberührt blieb, gleichviel ob im guten oder bösen. Aber Sie sind nicht mehr Herrin Ihrer selbst, seit dieses Gewicht an Ihnen hängt, Ihr kluges Auge, Ihr scharfes Ohr, Ihre Schritte und Tritte, ich möchte sagen, Ihre Gedanken belauscht. Fast erkenne ich meine stolze, sichere Freundin nicht wieder, wenn ich die Rücksichten sehe, die sie auf ein in jeder Beziehung untergeordnetes Wesen nimmt. Aber sie ist nicht, sie kann nicht untergeordnet sein ihrer Natur nach, das ist eben das Dämonische, was ein frei denkendes Wesen nicht neben sich dulden dürfte. Bringt sie nicht Unglück in jedes Haus, in das sie tritt! Dort – hier. Überrechnen Sie die Verlegenheiten, in die Ihre Güte gegen Adelheid Sie gestürzt, und ziehen Sie den Schluß, welches von beiden Übeln größer ist, daß die Welt wieder einmal acht Tage über Sie lästert, oder – daß Sie frei, Sie selbst wieder sind. Wählen Sie das kleinere und ergreifen die erste Gelegenheit.«

Die Ouvertüre schloß mit Anklängen aus dem Dessauer Marsch.

»Sie richtet sie auf«, sagte Bovillard. »Oh, eine wahre Patriotin.«

Herr Reibedanz rief zur Tür herein: »Machen Sie schnell, meine Herrschaften, der Vorhang geht auf«

»Sie muß mit«, sprach die Geheimrätin. »Sie hat die Kraft, sich selbst zu genügen.«

»Ich glaube es auch«, sagte die Fürstin. »Herr von Bovillard, unterstützen Sie ihren Arm, sie will aufstehen.«

»Bovillard!« wiederholte Adelheid mit der süßen Stimme einer Träumenden, die aus einem lieblichen Traum erwacht, und erhob sich.

»Geliebtes Kind!« sprach die Geheimrätin, ihr entgegentretend.

Aber derselbe Traum mußte auch bittere Erscheinungen ihr vorgegaukelt haben, denn als ihr Auge auf die Pflegemutter fiel, welche die Arme gegen sie ausbreitete, stieß sie dieselben mit einer krampfhaften Bewegung zurück. Das träumerische Auge veränderte seinen Ausdruck, ein Entsetzen wie mit Zorn gemischt schien aus der tiefsten Seele aufzusteigen und lieh dem Augapfel einen Glanz, vor dem man erschrak. Wie kam dieser Blick in das Auge einer Jungfrau! Die Fürstin hatte ebenso rasch es bemerkt, als sie mit der huldvollsten Freundlichkeit Adelheid unterfaßte: »Bovillard, geben Sie ihr den Arm, wir führen unsre Patientin.«

»Sie träumte noch den Dessauer Marsch und sah die Franzosen vor sich«, sagte der Geheimrat.

»So ist sie! Voller Laune und Phantasie!« bemerkte die Lupinus an Wandels Arm.

»Wie unsre Zeit und diese Menschen«, entgegnete er.

»Nichts, wohin wir sehen, als Phantasie und kein Entschluß.«


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