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Jülli weinte, den Kopf auf den Tisch gelegt, still vor sich hin. Vor ihr lag ein kleiner Beutel mit Geld. Am Tisch stand Louis Bovillard mit untergeschlagenen Armen, den Hut auf dem Kopf, der beinahe die Decke des engen Hofstübchens berührte. Es war nichts Freundliches in der Stube, bis auf die Resedatöpfe im Fensterbrett, auf welche grade ein durch zwei hohe Hinterhäuser sich drängender Sonnenstrahl fiel.
»Damit willst du mich abkaufen«, schluchzte sie.
Er antwortete nicht.
»Du willst verreisen, nicht wiederkommen.«
»Ich verreise nicht«, sagte er nach einer Pause.
»Aber du willst mich nicht wiedersehen. Warum gibst du mir mehr, als du geben kannst? Dein Vater gibt dir nichts, du hast Schulden, ich weiß es. – Wozu brauchte ich denn so viel Geld!«
Plötzlich war sie aufgesprungen, die Tränen brachen ihr aus den Augen, und sie stürzte mit wilder Heftigkeit ihm um den Hals. »Nein, Louis, verzeih mir, Louis, ich weiß nicht, was ich sage, du hast mich nicht abkaufen wollen. Was hättest du abzukaufen! Du bist die Großmut selbst. Nur aus Mitleid, aus purem Mitleid hast du mich aus dem Staube aufgerafft, bloß um die dumme Schmarre da am Halse. Oh, hätte der Herr seinen spitzen Degen mir doch durchs Herz gestoßen, dann wären meine Schmerzen aus, und ich machte dir nicht so viele. Du hast recht, stoße mich fort, ich bin eine Last an deinen Hacken. Du liebst mich nicht, du hast mich nie geliebt. Sag's raus, graderaus, das wirkt vielleicht wie die Degenspitze – und dann ist alles gut.«
»Mädchen, sei nicht närrisch.«
»Närrisch bin ich nicht. Ich hab's wohl überlegt, du hast unrecht getan, daß du mich hier in das Haus brachtest, wo du selbst wohnst. Das schadet deinem Ruf«
Er lachte auf: »Ich habe keinen zu verlieren.«
»Doch! Oh mein Gott, ich habe es selbst von den Herren gehört: ›Wenn er wenigstens die Schicklichkeit beobachtet hätte, das Geschöpf auswärts einzumieten. Man kann ja nicht mehr mit Anstand über seine Schwelle.‹«
»Zur Tür hinaus mit den anständigen Freunden!«
»Sage das nicht, Louis. Oh, wenn ich Freunde gehabt hätte, damals, einen nur wie dich, ich wäre jetzt nicht, was ich bin. – Mein alter Vater, der blinde Konrektor, der war so gut, er hätte sich meiner erbarmt, wenn einer ihm nur zugesprochen. Aber die Leute und die Stiefmutter! – Ach, mein Herz brannte, mehr von dem Schimpf als von der Schande! – Wie sie mich in den Korbwagen packten, und die halbe Stadt darum – die höhnischen Gesichter, die Finger und die spitzen Reden: ›Nun kann sie mit seidenen Kleidern gehen – nun kann sie Romane lesen!‹ Als es zum Tor hinausrollte, wie schnitt mir's ins Herz!«
»Kammermädchenphantasien!«
»Die gnädige Frau hätte es auch gut mit mir gemeint – aber ich war noch stolz wie du, ich wollte mich nicht ihr zu Füßen werfen. – Aus Scham stürzte ich fort und ins Elend. – Louis, glaube mir, es braucht jeder Freunde, sonst fällt er.«
»Ich nicht mehr«, murmelte er zwischen den Lippen.
Sie riß die Augen weit auf, sie faßte ihn krampfhaft an der Weste: »Allmächtiger Himmel, ist's das! – Als ich vorgestern in dein Zimmer kam – es war unrecht von mir, ich weiß es, und du tatst recht, daß du auffuhrst; du packtest mich am Arm und fragtest, so bös hab ich dich nie sprechen hören, was ich mich unterstehe, du stießest mich zur Tür hinaus und schlugst sie mit einem Schimpfwort zu – es war ein häßlich Wort, aber es hat mich nicht beleidigt; es hatte mich auch nicht beleidigt, als sie mich Geschöpf nannten, nein, ich bin stolz darauf, wenn sie mich dein Geschöpf nennen, ich wollte auf deiner Schwelle schlafen, wenn du mich mit Füßen trätest, wenn du mich totträtest und nur dabei sprächest: ›ich tue es aus Liebe‹, das wäre ein seliger Tod. Aber ich habe etwas gesehen, Louis, ehe du mich rauswarfst, und darum warfst du mich raus – du putztest Pistolen auf dem Tische.«
»Was kümmert's dich!«
»Louis! Geh nicht allein aus der Welt. Wenn du gehst, nimm mich mit.«
»Ich denke, einen mitzunehmen«, sprach er vor sich hin. »Im übrigen sei ruhig, Mädchen, die Pistolen sind nicht für mich geladen.«
»Das ist nicht wahr. Für wen denn? – Ich lasse dich nicht so fort. Willst du in den Krieg? Es ist ja kein Krieg. Sie sagen, wir behalten Frieden.«
»Krieg! Alles ist in Krieg miteinander, Tugend und Vernunft, Wahnsinn und Laster; alles betrügt sich, schlägt sich ein Bein, kuppelt, stiehlt, spielt falsch; nur die Schurken und Memmen leben in Frieden und Eintracht, und wenn sie in der Stille den Sündenbecher der Niederträchtigkeit geleert, wenn sie satt sind, predigen sie uns Honettität.«
»Sprich nicht so häßlich. Ich kann's nicht leiden. Spaße lieber. Sag's mir im Spaß, daß du mich nicht mehr magst, daß ich dir unausstehlich bin, daß du das Geld nur gibst, um mich loszuwerden, hörst du, Louis, sag's im Spaß und tu's dann im Ernst. Aber sag es mir ja nicht vorher. Lache mich aus, nenne mich ein dummes Gänschen, wie du sonst wohl tatest; so geh fort, daß ich denken kann, daß ich träumen kann, du kommst wieder. Und wenn du dann auch nicht wiederkommst, so erwarte ich dich noch immer, und wenn ich dich erwarte, bin ich glücklich – bis, bis – tu mir den einzigen Gefallen –«
Er fuhr mit der Hand in ihre Haare: »Bist du so ein verzogenes Kind, das vor dem rauhen Lüftchen Wahrheit zittert? Das solltest du den feinen Damen überlassen, die sich überglätten mit der Politur der Tugend. Eine wie du müßte vor dem Nackten nicht erschrecken, nicht vor dem nackten Laster, dem nackten Elend – auch nicht vor dem nackten Tode.«
»Wenn du mich so recht schmähst und schlechtmachst, glaube ich zuweilen, daß du mich doch liebhast. Wenn ich dir gleichgültig wäre, tätest du es nicht.«
»Hast recht! Wen man lieb hat, kann man quälen, martern, man wird ein wildes Tier. Da am letzten Abend bei der Malchen. Nicht wahr? Und ich bin seitdem nicht besser geworden. Gott bewahre! Wer dir das sagt, belügt dich.«
»Kaum daß du freikamst, erkundigtest du dich nach mir, du hast für mich gesorgt, daß ich nicht auf die Straße geriet.«
»Einbildung! Pure Einbildung! Ich wollte nur ein Geschöpf haben, an das ich mein schwarzes Blut, meine tolle Laune auslasse. Warf ich dich nicht zur Türe hinaus, schimpfte ich dich nicht, drückte ich dir nicht mal die Kehle, daß du zu ersticken glaubtest – aus purem Mutwillen? Und habe ich dich nicht auch geschlagen?«
»Nein, Louis, das hast du nicht. Du hast mich nie geschlagen.«
»Dann war's eine andere. Und eine, der ich das größte Herzeleid angetan. Wenn ich ein guter Mensch wäre, hätte ich auf meinen Knien rutschen müssen, bis ich es gutgemacht. Beleidigt hatte ich sie, daß ich ihr nicht vors Gesicht treten durfte, und ich hatte auch gute Vorsätze – aber das wilde Tier bäumte sich gegen das Gute, und ich war rasend, toll vor Scham. – Da habe ich sie gequält, daß sie auch in Tränen ausbrach – aber das waren andre Tränen –, und das war der Dämon, das Ungeheuer, das sie zerstört, die es zu lieben vorgibt. – Darum sei froh, Mädchen, ich erwürgte dich noch einmal in der Nacht –«
Er drückte ihr abgewandt die Hand und wollte hinaus.
»Louis! Das ist wider Abrede. Du wolltest mir noch was vorlügen.«
»Was?«
»Befiehl mir, ich solle, wenn ich zu Bett geh, die Tür offenlassen, du wolltest hereinschleichen, mich im Schlaf erwürgen. Ach Louis, wenn du das tätest! Ich könnte wieder beten zum lieben Gott. Wie ruhig würde ich einschlafen.«
»Bete!« sagte er, ihr die Hand reichend. »Das andere findet sich. Wenn ich – es ist doch möglich, daß ich – vielleicht in ein Weinhaus geriete, nicht nach Hause käme, dann setz dich morgen auf die Post. Zu deinem alten Vater! Die Stiefmutter ist ja tot. Er braucht eine Pflege für seine alten Tage.«
»Weil er blind ist, sieht er meine Schande nicht, denkst du. – Ach, die Leute da –«
»Das Nest! Erzähl ihnen von den vornehmen Damen hier, auf die sie nicht mit Fingern weisen. – Dummheit, ward kein Mädchen dort verführt, lief keine mit ihrem Geliebten fort und kehrte wieder? Du hast dich mit ihm überworfen und willst solide werden. In dem Beutel ist genug, damit kannst du einen Putzladen anfangen. Putzen will sich jede, auch in einem Nest. Vielleicht machst du auch die Lehmkabache deines Vaters damit schuldenfrei, und dann ist alles gut.«
»Adieu, Louis«, sprach sie, »ich danke dir auch recht schön. – Ja, es wird alles gut werden.«
Sie hatte sich nach dem Fenster umgewandt und stopfte heftig mit dem Finger die Erde im Resedatopf. Sie durchstach die Wurzeln.
»Auf Wiedersehn!« sagte er, die Klinke in der Hand.
Er sah sich noch einmal um. Die volle Glut der Sonne fiel auf ihr Gesicht; dennoch war es totenblaß, die Zähne klapperten unmerklich unter den festgeschlossenen Lippen. Sie verließ plötzlich die Blumentöpfe und kam auf ihn zu, aber nicht stürmisch, sie zitterte nur etwas, als sie sprach:
»Ich muß dir doch noch danken, lieber Louis, daß du so gut warst, selbst zu mir zu kommen. Du hättest mir ja das Geld durch einen andern schicken können und schreiben. Das wäre dir viel leichter geworden. Du hast es dir nicht leicht gemacht, um mir noch eine Freude zu machen. Das nehme ich dafür, daß du mir doch gut bist. Gott lohn es dir.«
Sie schüttelte ihm die Hand; er drückte einen Kuß auf ihre eiskalte Stirn.
»Also – ich komme wieder«, sagte er, auch seine Stimme schien zu zittern.
»Nimm dich nur in acht auf der steilen Treppe, daß du nicht fällst.«
Sie sah ihm nach. Als sie die Tür zudrückte, vergingen ihr die Kräfte. Sie wollte nach dem kleinen alten Sofa, sie streckte die Arme danach aus, aber sie kam nur bis in die Mitte der Stube. Mit einem erstickten Schrei schlug sie besinnungslos auf die Dielen.
»Daß uns das Abschiednehmen so schwer gemacht ist! Selbst dieser!« sprach Bovillard für sich auf dem Rückwege. »Und doch, woraus besteht das Leben? Nur aus einer langen Reihe von Trennungen. Jeder Moment der Abschied von dem vorangegangenen. Und die Menschheit erfand sich keinen andern Trost, als die Illusion des Wiedersehens. Als ob je einer wiederfand, was er verließ! Den Trunk aus dem Becher, den süßen Blick; den Kuß, den sprudelnden Witz? Und wenn es stehengeblieben, kein andres geworden wäre, so wär's ein abgestandener Wein, eine ekle Wiederholung. Und des Daseins Losung bleibt doch – weiter! Bis – und da hoffentlich auch weiter.«
In seiner Stube fand er zwei versiegelte Briefe. Ein verächtliches Lächeln schwebte über seine Lippen, als er den ersten durchflog. Er zerriß ihn: »Dacht ich's doch!« Er öffnete den zweiten, ihm widerfuhr dasselbe Schicksal: »Eine Kopie! Süße Harmonie edler Seelen! Sie hätten das doppelte Schreiben sparen können.«
Seine beiden Sekundanten, die endlich zugesagt, nachdem er vergebens bei andern angefragt, mußten mit dem größten Bedauern sich wieder lossagen, der eine wegen einer unvermeidlichen Dienstreise, dem andern war eine zärtlich geliebte Schwester erkrankt.
»Oh, diese zärtlichen und pflichteifrigen Menschen! Könnten sie nicht auch aus Diensteifer für das Gemeinwohl, aus Zärtlichkeit für unsern zartpulsierenden Staat, Hilfe leisten wollen, wo ein verrufener Raufbold aus dieser harmonischen Gesellschaft ausgestoßen werden soll! Zittern sie vor Angst, daß man sie für meine Freunde hält! – Jülli hat recht, es gibt Momente, wo man noch Freunde braucht – zum Sterben. Sonst –« er wog seine Pistolen in der Hand – »sind das die zuverlässigsten Freunde, und einen von uns beiden, wenn nicht beide, liefern sie ins Jenseits ohne viele Umstände. Aber auch dazu fordert man Umstände!«
Er ging aus, sich einen Sekundanten zu suchen! Wen? – Er sann umsonst nach. Den ersten besten, der ihm auf der Straße nicht ausweichen würde, mit einem Gesicht, auf dem geschrieben stände: Tritt mir nicht in den Weg! Der Zufall führte ihn vor das Haus, wo Walter van Asten wohnte. Er blieb zaudernd stehen. Schon wollte er, kopfschüttelnd, weiter, als er den Torweg geöffnet hatte: »Er war in Halle ein guter Schläger, und als Senior der Marchia stand ich ihm oft zur Seite. Er ist mir noch Revanche schuldig und solche Auffrischung unter seinem Bücherstaub wird ihm ganz zuträglich sein.«
Die Freunde hatten sich lange nicht gesehen. Walter sah jünger, frischer aus. Sein Händedruck war elastisch, ein kräftiges »Willkommen!« tönte Louis entgegen.
»Du siehst ja wie das Morgenrot aus! Und doch unter Büchern verpackt. – Und da eine neue literarische Arbeit!«
»Dazu ist nicht Zeit jetzt!«
»Nu, wozu denn?«
Louis warf sich auf den Stuhl am Arbeitstisch und ergriff das Konzept. Er las – las weiter und warf plötzlich den Hut vom Kopf, daß er auf die Erde rollte: »Plagt dich der –! Lasten der Bauern, Vorspann, Naturalverpflegung der Kavallerie! ›Und alles das noch auf das verkümmerte Dasein einer Menschenklasse geworfen, welche unter dem Joch der Leibeigenschaft seufzt, die, wie milde sie auch immerhin gehandhabt werde, das Gefühl der Menschenwürde niederdrückt. Unter Hand- und Spanndiensten für den Edelmann, gemessenen und ungemessenen Fronen, ohne Selbstgefühl, Freiheitsgefühl, ohne Eigentum, ohne Liebe zur Scholle, an die er gefesselt, ohne Sicherheit für die Vorteile, welche sein Fleiß erringt, wie soll da das heiligste Gefühl, die aufopfernde Liebe fürs große Vaterland erstarken!‹ – Was hast du denn mit den Gefühlen der Bauern zu tun?«
»Unsre Gefühle werden darin dieselben sein!«
»Wir machten uns wenigstens beide über Ifflands tugendhafte Bauern lustig.«
»Ich rede von unserm realen Bauernstande.«
»Wahrhaftig!« rief Louis weiterblätternd. »Willst du ein Thomas Münzer oder ein Gracche werden?«
»Wir brauchen nicht so weit zurückzublättern. Was gab Frankreich die Elastizität! Was schaffte ihm gegen diese Masse Alliierter eine solche Allianz von Jugendkraft, von Mut, Begeisterung, Material als die Freigebung aller Arbeitskräfte. Nur dadurch, daß es alle Bann-Stapel-Zunftfesseln sprengte, daß es dem Landmann den Boden zurückgab, den der Fleiß seiner Arme durch Jahrhunderte erworben, daß es ihm Rechte gab, wo er nur Pflichten gekannt, ward ein solches kampffreudiges Heer aus der Erde gezaubert, nur dadurch ward es möglich, daß das junge Frankreich einer Welt von Feinden siegreich widerstand. Und was hat uns in der Rheinkampagne, was Österreich in so vielen Kriegen, was sie alle unterliegen lassen? Daß wir nur geworbene, gepreßte Söldnerheere ihm entgegenführten, daß unsere Taktik, Kriegskunst, daß unser ganzes Sein, unser Denken und Atmen, veraltet und verrottet war. Es ist nicht Napoleons Adlerblick, nicht Tollkühnheit, Genie und Talent seiner jugendlichen Feldherrn, auch Österreich und Rußland stellten große Talente und eiserne Generale vor ihre tapfern Heere, aber die Welt ward eine andere, und weder mit Kondottieribanden und Wallensteins Schwärmen noch mit Friedrichs Phalangen läßt sich mehr ein bewaffnetes großes Volk überwinden. Ein Volk wird nur noch durch ein Volk, Ideen werden nur durch Ideen überwunden.«
Bovillard hatte, ohne genau aufzuhören, in dem Papier weitergeblättert.
»Ein ganzes, neues Rekrutierungssystem!«
»Nenne es ein Regenerationssystem. Wenn wir nicht von Grund und Boden anfangen, wenn wir nicht den Stand frei machen, auf den die ganze Last des Staates zurückdrückt, wenn wir nicht dem Bauern die Halseisen und Fußschellen lösen, wenn wir nicht in dem einzig noch gesunden Teil unsers Körpers, aus dem der andere, verwitterte und blasierte sich frisches Blut holen kann, wenn wir in ihm nicht den natürlichen Blutumlauf herstellen, so sind alle Veranstaltungen und Besserungen von oben herab umsonst. Dahin zu wirken ist unsre Aufgabe.«
»Aufgabe!« rief Bovillard, das Papier hinwerfend. »Unsre Aufgabe ist, uns vom Strom treiben zu lassen. Einige wirft er ans Ufer aus, andere spült er bis ins Meer – und das ist die Vergessenheit.«
»Und noch andre –«
»Stemmen in kindischem Übermute den Fuß gegen ihn und hoffen seinen Lauf hemmen zu können. Solche stierhautstirnmauerbrechende Toren zerdrückt er zu Atomen, oder er hebt sie federleicht auf seinem spritzenden Schaum zum Gespött des Pöbels.«
»Hast du auch den Glauben an Missionen abgeschworen?«
»Dazu gehört andre Luft, andrer Boden, ein ander Volk. Vulkane, Gebirge, deren Gipfel die Wolken küssen, Steppen vielleicht, wo der Samum haust, wo der Odem der Allmacht in dem ungeheuren Nichts die Seele ergreift. Wir hier sind nicht Nichts und nicht Etwas. Friedrich, ja, er hatte eine Mission. Willst du noch einen Friedrich auf Friedrich impfen? Klopf nicht zu stark den Staub aus den Purpurmänteln; sie werden selbst Zunderlappen und Staub unter der Purifikation.«
»Drüben ist eine Mission«, fiel Walter ein, »ein Attila, eine Geißel Gottes, ein Hunnenschwarm, voran eine Feuersäule mit drei wunderbar leuchtenden Farben. Warum nicht hier? Sollen wir's ruhig abwarten, was über uns kommt? Der germanischen Nation alle Fähigkeit, Kraft absprechen? Eintreten im alten Schlendrian, in Reih und Glied, gewärtig, wie der Feind eins um das andre wirft und zertritt.«
»Wir!« Bovillard lachte, aber nicht höhnisch. »Nu laß uns mal ohne Poesie sprechen, denn ich kam zu einem sehr prosaischen Geschäfte. Was willst du eigentlich?«
»Es interessiert dich heut wohl nicht. Ein andermal.«
»Das könnte dann zu spät werden.«
»Weil alle zu spät handeln, ist's jedes Rechtlichen Pflicht, zu sprechen, solange es noch Zeit ist.«
»Ja! Du schreibst eine Dissertation, willst wohl promovieren, ein Kameralistikum in Halle lesen. Steck's nur den Jungen in die Köpfe, dann schießt's wild auf als Unkraut, und reif wird's grade, wenn's nicht mehr Zeit ist. Das ist der deutsche Entwicklungsgang.«
»Ich will nicht dozieren. Ich will's deutsch sagen, was ich denke. Und ich denke nicht an die Zuhörer, an die Sache. Und die Sache ist nicht mein, sie ist unser aller. Diese Gedanken fluktuieren in tausend Geistern. Sie stöhnten und ächzten schon längst selbst in der trägen Masse. Nach einer Besserung, Erlösung sehnten sich alle. Weil die Greuel in Frankreich seitdem auch die Besten in bleichen Schreck versetzt, ist darum das Licht nicht Licht, weil es einmal geblendet hat? Sollen wir das Feuer nicht mehr nutzen zum Wärmen, Sieden, Schmelzen, weil es einmal zur Feuersbrunst aufloderte? Diese Ideen leben noch in unserer Nation, und wo kein anderer ihm zuvorkommen will, ist der Schwächste stark genug, er hat die Pflicht, mit ihnen hervorzutreten. Mag dann draus werden, mag aus ihm werden, was da will!«
»Wenn sie's nur läsen! – Hast du noch nicht die Hoffnung auf diese Zöpfe und Perücken aufgegeben? Das beste noch, wenn ein Minister ausruft: ›Da ist auch wieder einer, der's besser verstehen will als wir!‹«
»Es sind nicht alle wie –«
»Mein Vater. Kennst du die andern? Der Beste wird dir zurufen: Das ist alles recht schön, aber nicht an der Zeit. Im Augenblick, wo die Renner zum Wettlauf gesattelt werden, ist nicht Zeit, eine Vorlesung anzuhören über die Veredelung der Pferderassen.«
»Und du auch meinst, wie die Tausende und aber Tausende, daß wir nur berufen sind, über Schiller und Goethe zu streiten, nur in die Tiefen der Mystik und der Metaphysik uns zu versenken! Andere für uns handeln lassen, das wäre unsre Destination. Louis, wir hatten einen Wartburgkrieg von Minnesängern, aber von derselben Wartburg leuchtete Luthers Fackel über Europa! –«
»Das war ein Mirakelmann aus der Zeit der Wunder. Wir leben unter Wichtelmännern; in einem verschütteten Bergwerk suchen sie mit der Laterne nach Glimmer und Spießglas. Die edlen Erze sind längst gefördert und kursieren als Scheidemünze.«
»Wir hier haben noch Kräfte, nur ungeordnete, sie sind überlastet, man hat sie aus dem Auge verloren. Nur drauf hinzuweisen braucht es, daß sie gären, kochen, zum hellen Kristall aufschießen. Dazu ist kein Mirakelmann, nur ein guter Schürmeister nötig. Wir haben einen jungen Fürsten, der das Rechte will und bange ahnt, wo das Schlechte liegt, aber eine dicke Atmosphäre, nenn's eine elastische Mauer, hat sich um ihn gesetzt. Oh Gott, daß die frischen Lüfte, die Lichtblitze endlich zu ihm drängen! Da ist's jedes Pflicht, da ist niemand zu gering, zu schwach, der eine Stimme hat, zu sprechen; wer malen kann, der male, wer meißeln, meißle in Stein, daß er das Auge aufreißt vor der Gefahr. Und rasch, denn sie rückt mit Riesenschritten näher, sie ist nicht zu ermessen, wir stehen an einem Abgrunde, der alle verschlingt. Und aus diesem Grunde heraus könnten wir eine Festung bauen, unnehmbar! Jetzt das Volk aus seiner Erstarrung, seiner Gleichgültigkeit, seiner Entfremdung gegen das Höchste und Heiligste auf Erden, jedes Glied zum mitfühlenden Glied der großen Kette zu erheben, Volk und Fürst in eins zu verschmelzen, das wäre die Aufgabe des Gesendeten. Ich sehe ihn nicht, du siehst ihn nicht, keiner sieht ihn, aber ist er darum nicht da? Hat nicht jeder, dem ein Funken durch die Adern zuckt, die Aufgabe, Steine dem künftigen David zuzutragen? Wenn er die Steine sieht, wird er nach der Schleuder greifen.«
Louis Bovillard hatte ihm mit verschränkten Armen zugehört. Die Wimpern der schönen Augen zuckten zuweilen auf und warfen ihm einen teilnehmenden Blick zu. Aber die Saiten seiner Seele waren nicht gestimmt für die Töne, die Walters Bogen strich. – Er schwieg einen Augenblick, dann entstieg ein gähnender Seufzer der Brust, der Kobold saß auf der Lippe und griff das letzte Wort auf: »Zum Steinewerfen haben sie allenfalls noch Mut, wenn's auch nicht Schädel trifft, doch Fensterscheiben. Wenn nicht die des französischen Gesandten, doch der Schauspielerin ihre, die er unterhält.«
Walter sah ihn wehmütig an: »Haften, schweben, kräuseln denn Louis Bovillards sämtliche Gedanken heut nur noch bei den Gendarmerieoffizieren? Der Louis Bovillard, der einmal, auf der Windsbraut reitend, nach den Strahlen der Sonne griff! Und heut noch an Persönliches sich klammern, in einer Zeit, wo der einzelne nur Luft zum Atmen findet, wenn er sich versenkt ins Allgemeine.«
»Das ist Lüge, glaub's mir, pure Lüge. Wir kriechen nicht aus unserer Haut. Es ist alles persönlich, unser Appetit und unsre Begeisterung, unser Haß und unsre Liebe. – Auch dir ist was Angenehmes im Traum begegnet, darum träumst du jetzt für die Menschheit und für den Staat Seiner Majestät des Königs von Preußen.«
Der frohe Zug um Walters Lippen, sein heller Blick sprach für Louis' Behauptung. Ein deutliches Ja beantwortete sie: »Ich träume einen schönen Traum, und darum gehe ich mit Mut an mein Werk.«
»Laß es aber nicht drucken«, sagte Bovillard.
»Warum?«
»Es sind verteufelt gute Gedanken darin; gedruckt sind sie Allgemeingut. Irgendeiner schmeißt sie etwas um, gießt seine Soße drauf. So laufen sie durchs Publikum, und du gehst deinen Profit quitt.«
»Sie sollen wirken. Auf diesem Wege gelangen sie an ihr Ziel. Wenn auch verrückt, verfälscht, es haftet etwas. Will ich etwas für mich?«
Bovillard sah ihn scharf an und sagte: »Ja!«
Walter errötete.
»Du willst wirken, das heißt selbst eine Wirksamkeit haben. Zünden deine Gedanken, so wärst du ein Narr, wenn du am Feuer nicht deinen Topf wärmen wolltest. Du hoffst noch und hast ein versöhnlich Gemüt. – Purpurroter Freund der Wahrheit, wenn du im Amte bist, lerne dich etwas verstellen, nur zum Besten des Allgemeinen, in das der einzelne sich versenken muß. Wer dem realen Staat dienen will, muß lügen können.«
Walter hatte nicht gesehen, wohin Bovillard sah. Indem er ihn zu fixieren schien, hatte er über seinen Kopf weg auf der Wand einen Kranz vertrockneter Kornblumen entdeckt, die künstlerisch mit einem blauseidnen Bande verschlungen waren.
»Und außerdem bist du verliebt und wünschest eine anständige Versorgung, um heiraten zu können.«
Die Purpurröte auf Walters Gesicht wich einer Blässe, doch nicht auf lange. In seinem Auge sammelte sich wieder der milde Glanz der Zuversicht von vorhin.
»Weshalb vor dem Freunde ein Geheimnis. Ich liebe und ich hoffe. – Nun schütte deine Philippika aus gegen meinen Egoismus, ich will versuchen, ob ich dem Hagelschauer widerstehe und doch noch etwas von mir rette –«
»Wenn wir auch ein verschieden Fazit zögen, die letzte Rechnung schließt jeder doch nur mit sich ab. Du tust recht. Dir steht's an der Stirn geschrieben, daß du zum guten Bürger geboren bist, an meiner stand etwas von Kains Zeichen. – Hast du dich mit deinem Vater ausgesöhnt?«
»Unsere Trennung ist wohl keine fürs Leben.«
»Fandst du die Cousine, Mamsell Schlarbaum, jetzt liebenswürdiger?«
»Ein gutes Mädchen, aber noch weniger, als der Dichter in ihrer Brust einen Widerhall gefunden hätte, würden es die Töne, die jetzt in meiner klingen.«
»Eine politische Schwärmerin hast du doch nicht zur Hausfrau gewählt?«
»Sie ist ein deutsches Mädchen
»Und liebt dich?«
Walter schwieg, dann reichte er dem Freunde die Hand: »Ich hoffe es. – Nun von dir. Du kamst in Geschäften. Womit kann ich dir zu Dienst sein?«
»Mit nichts.«
»Du wolltest von mir?«
»Was ich jetzt nicht mehr will.«
»Und warum nicht?«
»Weil du verliebt bist.«
»Die Liebe tötet nicht die Freundschaft.«
»Weil du glücklich bist.«
»Liebende und Glückliche sind freigebig. Sie möchten die ganze Menschheit ans Herz drücken.«
»Und ich – ihr den Hals brechen.«
Mit einem raschen Händedruck ging er aus der Tür.