Willibald Alexis
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Willibald Alexis

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Elftes Kapitel.
Sie sind die Puten von Exzellenz.

In einem öffentlichen Garten der Vorstadt war an einem schönen Oktobernachmittage eine ungewöhnlich große Zahl von Gästen versammelt. Jene Zeit, wo die Schichten der Gesellschaft sich weit schroffer gegenüberstanden, als es später der Fall war, hatte doch den Vorzug, oder, wenn man es nicht so nennen will, sie bot für das gesellige Leben den Vorteil, daß die öffentlichen Vergnügungsorte noch nicht in der Art schroff gesondert waren, daß die Anwesenheit von im Leben Niedrigergestellten die Höhergestellten abhielt, auch ihr Vergnügen zu suchen. Wo der Handwerksbursch Kegel schob, konnte auch der höhere Bürgerstand mit Ehren Weißbier trinken; beider Gegenwart schreckte sogar den königlichen Staatsbeamten und – was mehr sagen will – den Offizier nicht ab, seine Pfeife zu rauchen. Wenn auch der Respekt die Stände nicht an denselben Tischen vereinigte, wie es im glücklicheren Süden der Fall ist, so war doch Gottes freier Himmel, die bretternen Lauben und der schmucklose Saal, wenn es regnete, für alle ein gleiches Asyl, wenn sie aus dem Staub und Geräusch der Stadt sich retten wollten.

Zwar dem Staub und dem Geräusch waren diese hier nicht entflohen, denn der Garten lag an der Landstraße, und auf derselben wälzten sich vom frühen Morgen an die Züge der ausmarschierenden Truppen. Der Wind trug die Staubwirbel und Wolken bis mitten in die große Stadt, und die dicke Lyziumhecke, welche den erhöhten Garten wie eine Mauer von der Straße trennte, lag in einem braungrauen Puderkleide, welches nichts mehr von dem ursprünglichen Grün zum Vorschein kommen ließ. Auch gaben sich die Mägde und die Gäste gar nicht mehr Mühe, den dicken Staub von den Tischen abzuwischen, und empfahlen nur, die Porzellandeckel sorgsam wieder auf die Weißbiergläser zu stülpen. Gegen Staub, meinten die Herren, sei der Tabaksdampf die beste Waffe.

Man war ja zu Staub und Geräusch gekommen, und von den offenen Balkonen oder Estraden an der Hecke konnte man den braven Kriegern, die zum Tod für König und Vaterland auszogen, ein Lebewohl rufen, man konnte seinen Bekannten allenfalls die Hand reichen oder einen frischen Trunk auf den Weg – den schon von der Sonne Gebräunten; denn wie weit her waren die meisten marschiert und wie lange hatten sie auf den Sammelplätzen stehen müssen, ehe die Trommel zum Abmarsch wirbelte. Wie die Lyziumhecke, alle vom Staub gepudert, vom Blau ihres Rockes, vom schönen weißen Mehl ihrer Locken war nichts mehr zu sehen. Aber die Spontons und Bajonetten funkelten in der Sonne, die Federbüsche schüttelten in ihrer bunten Farbenpracht den Staub ab und – alle sangen. Ohne Gesang kein deutscher Soldat. Die Disziplin kann alles; das Singen wagt sie nicht zu verbieten. Lieder waren es, die kein Dichter für sie gedichtet, am wenigsten brauchten die Soldaten in Deutschland einen Tyrtäus; von den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, der Landsknechte, ja noch weiter hinauf, sie machten sich ihre Lieder selbst, oder die Luft hauchte sie ihnen zu. Einige aus alter Zeit vom Scheiden und Meiden, von frühem Tod und Morgenrot, von grüner Erde und Lindenbäumen, klangen wohl noch wie das Wehen eines Frühlingshauches durch Blütenwipfel, aber sie klangen selten. Der Soldat auf dem Marsche sehnt sich nach »kannibalischem Wohlsein«. Wenn einer die »Tabaksfreude« anstimmt, den »Krambambuli«, das von den Müllersäcken und Müllermädeln, da stimmte der ganze Chorus ein; Lieder sind es, welche der Schrift nicht angehören, aber sie leben schon viele Jahrhunderte, und wollen auch wohl noch Jahrhunderte leben.

Daher mochte der Leiermann im Garten, sooft er wollte, seine Ballade anheben, die ein patriotischer Poet, um der Begeisterung aufzuhelfen, gedichtet, und die etwa anfing:

Grad fünfzig Jahre sind es her,
Da zog der große König aus
Und hinter ihm sein mutig Heer,
Den Feinden all zu Schreck und Graus.

Die Militärs hörten gar nicht, die Bürger nur halb zu, trotzdem daß jeder Vers eine Schlacht des Alten Fritz illustrierte, von Mollwitz bis Torgau. Wenn aber die Füsiliere: »Ein Schifflein sah ich fahren« anstimmten, war alles Aug und Ohr, und die Zuschauer schienen stumm die mit greller Lustigkeit gekreischten Verse mitzusingen:

Wie kommen die Soldaten in den Himmel?
Kapitän und Lieutenant, auf einem weißen Schimmel,
Da reiten die Soldaten in den Himmel.
Kapitän, Lieutenant, Fähnderich, Sergeant,
Nimm das Mädel, nimm das Mädel bei der Hand,
Soldaten, Kameraden, Soldaten, Kameraden!

Wie kommen die Offiziers in die Höllen?
Kapitän und Lieutenant, auf einem schwarzen Fohlen,
Da wird sie der Teufel schon alle holen.
Kapitän, Lieutenant, Fähnderich, Sergeant,
Nimm das Mädel usw.

Und wenn die Husaren, ihren Bart streichend, zu den Mädchen hinaufsangen:

Geh du nur hin, hab mein Teil,
Ich lieb dich nur aus langer – Langerweil,
Ohne dich kann ich schon leben,
Ohne dich kann ich schon sein,

so wollten die Mädchen sich ausschütten vor Lachen, die Zuschauer unter den Militärs strichen, in eigenen Erinnerungen schmunzelnd, ihren Bart. Es saßen viele Offiziere, darunter sehr vornehme, auf den Estraden, den Scheidegruß ihren Kameraden zu geben, den sie morgen von den nach ihnen Scheidenden empfangen wollten. Aber die ernste Wehmut, welche ernste Scheidestunden hervorrufen, hättest du auf wenigen Gesichtern gefunden. Plötzlich war der Gesang des Leiermanns verstummt, und eine grelle Beckenmusik schallte übertäubend aus dem Garten herauf – wie zur Freude aller. Der General, den wir einst in der Gesellschaft der Lupinus kennengelernt, und der jetzt auf einen der größeren Balkone trat, hatte es im Vorübergehen so angeordnet.

»Das war ja nicht mehr zum Aushalten«, sprach er zu den Offizieren, die sich respektvoll erhoben. »Was soll das Krächzen! Wenn der Soldat ins Feld zieht, muß er fidel gestimmt sein.«

»Sie leiern solche Lieder jetzt in allen Tabagien«, bemerkte ein anderer, und der Adjutant des Generals fügte hinzu:

»Es geschieht auch wohl in guter Absicht, um die Soldaten zu animieren.«

»Dummes Zeug! Ich weiß, 's ist von 'nem Gelehrten, einem der Herrn Genies, verfertigt, und er hat von einer Prinzessin sogar ein Bijou dafür erhalten. Der Soldat wird davon nicht animiert, daß man ihm die Geschichte des Siebenjährigen Krieges vorkrächzt. Hat etwa der Papa Gleim dem großen König zu seinen gewonnenen Bataillen verholfen? Laßt die Kerle sich selbst ihre Lieder singen von Schnaps und drallen Mädchen. Nur nicht sie animieren wollen, was sie nicht verstehen. Das ist auch 'ne neue Mode. Wozu braucht der Soldat animiert zu werden! Order parieren, die Fuchtelklinge und gute Verpflegung – das macht gute Soldaten.«

»Und Generale«, fiel ein Obrist ein, »in denen Friedrichs Genie fortlebt.«

Der General nahm das Kompliment hin, vielleicht wie etwas, was er von einem Subalternen erwartete, wofür zu danken ihm aber die Etikette verbot.

»Mit dem Genie, meine Herren, ist's ein eigen Ding«, sagte er nach einer Pause. »Man macht zuviel Redens davon. Es sind gewisse Sätze, die feststehen, wie die Arithmetik, im übrigen kommt's auf den Mann an. Wenn er sie in der Not vergißt, dann holt ihn der Teufel. Aber zuviel gelehrte Offiziers in einer Armee, und die holt auch der Teufel. Das wimmelte ja in letzter Zeit von Genies, die uns alle Rat geben wollten. Gott sei Dank, daß wir losschlagen, ehe wir ihren Rat angenommen, das, meine Herren, ist's, was mir Assurance gibt, obschon manches davon, das muß ich Ihnen gestehen, so auf dem Papier ganz plausibel klang.«

Unartikulierte Töne und ausdrucksvolle Blicke gaben zu verstehen, daß man der Assurance nicht bedürfe. »Was kann Papier und Federkiel bessermachen!«

Der Obristwachtmeister Stier von Dohleneck stieß einen tiefen Seufzer aus, den die Kameraden zu verstehen glaubten. In Gegenwart eines höheren Offiziers müssen die Subalternen schweigen. Wenigstens ist es nicht an ihnen, ein Gespräch anzufangen, zu lenken oder andrer Meinung zu sein. So angenehm dies für die Hochgestellten ist, hat es doch auch sein Unangenehmes, weil sie nun genötigt sind, immer das Wort zu ergreifen, wenn es um sie her verstummt, und wenn der Pfingstgeist sie nicht heimgesucht hat, ereignet sich auch wohl, daß sie Alltägliches zutage bringen. Weil sie immer Zuhörer und immer Zustimmung finden und, wenn sie es wollen, immer belacht werden müssen, glauben sie endlich, daß auch das Alltäglichste geistreich sei, wenn es aus ihrem Munde kommt. So hat man davon betrübende Beispiele, daß gewisse Tiraden und Banalphrasen, in welche sie sich so verstrickt oder verliebt, daß sie dieselben bei jeder Gelegenheit vorbringen, ob sie passen oder nicht, zu einem Zopf hinter ihrem Rücken werden, mit dem die nach Herzenslust spielen, bei denen sie erstarrende Devotion voraussetzen. Es ist mit aller Autorität ein eigen Ding. Sie geht und braucht keine Füße, sie fliegt und braucht keine Flügel, sie strahlt und braucht kein Licht, solange man an sie glaubt; wenn man aber nicht mehr an sie glaubt, dann sieht man sie hinken, wo sie zu fliegen meint, und sie mag mit tausend Hohlspiegeln das Sonnenlicht auffangen, man sieht doch nur ihre Schattenflecke.

Der General hielt auf seine Autorität und duldete keinen Widerspruch von unten; nach oben erlaubte er sich aber Widerspruch, weil er auch dahin auf seine Autorität hielt. Er galt für streng, tyrannisch in seinen Launen, ja einige nannten ihn barbarisch in der Strenge gegen den gemeinen Soldaten und von brutalem Stolz gegen das Zivil. Heut erschien er milder. War es der Anblick der wohlgeordneten Kriegerscharen, war es die Assurance, mit diesem Heer zu siegen, oder der Ernst, welcher sich der Seele jedes denkenden Kriegers vor einer Schlacht bemeistert.

»Weiß vielleicht einer von den Herren«, unterbrach er das Schweigen, »was aus dem Obristwachtmeister von Eisenhauch geworden? Nach Österreich kam er voriges Jahr zu spät, die Kampagne war vorüber. Demnächst schrieb man, daß er aus Alteration gefährlich erkrankt sei. Es sollte mich doch wundern, ob er sich nicht wieder bei uns einfindet, wenn es Ernst wird.«

Auf die Frage wußte niemand Bescheid; sie wußten ebensowenig, ob der General etwas zum Lobe oder zum Tadel des genannten Offiziers hören wollte. Sie schwiegen.

»Meine Herren, es ist ein Genieoffizier von admirablen Kenntnissen, hat auch manche vortreffliche Konzeption. Ich gestehe Ihnen, einige waren wirklich akzeptabel, und es tat mir leid, als er den Abschied nahm. Verdachte es ihm freilich nicht. Wollte nicht bloß Rat geben, drauflos, ins Feuer, chevaleresk und von exemplarischer Konduite. Aber, offenherzig, es ist mir heute doch lieb, daß er nicht bei uns blieb. Wir wären auf manche Vorschläge eingegangen, wir hätten vieles geändert. Vielleicht zum Guten – wer weiß es, wer hat die Probe gemacht! Heute gereicht es mir nun zur Genugtuung, daß auch nichts in unserm Armeewesen geändert ist. Wenn der große König aus den Wolken blickte, sähe er seine Armee, wie er sie verließ, kein Knopf an den Gamaschen mehr oder weniger. Und so soll und wird sie Bonaparte sehn. Meine Herren, Attention! Das ist etwas, was wir nicht zu gering anschlagen dürfen. Er muß bei dem Anblick gleichsam fühlen, daß er mit dem Genius des vorigen Jahrhunderts sich schlagen soll. Und da er ein Mann von einem gewissen Sentiment ist, muß dies einen moralischen Eindruck auf ihn machen. In seinem ›Moniteur‹ läßt er uns Don Quixoten nennen. Nun, wir wollen doch abwarten, wer Mühlenflügel und wer Geister gesehen hat!«

Man konnte aber jetzt kaum noch etwas sehen und weniger hören. Der Staub war unerträglich geworden, zu Wolken aufwirbelnd fiel er als trockener Regen nieder. Dazu war ein Toben, Peitschenknallen, ein Gewieher der Pferde und ein Gekreisch der Troßknechte, daß die Kommandoworte nicht mehr durch das Gewirr drangen. Was halfen die Flüche und Klingen der Offiziere, die auf den Rücken der Säumigen fuchtelten, wo alles stockte! Drei Batterien hatten, nachdem die Dragonerregimenter das ihre getan, die Straße in Grund und Boden aufgewühlt, und jetzt, so weit das Auge vor- und zurücksehen konnte, war sie mit Bagagewagen, Fourgons, mit Kaleschen und Küchenwagen bedeckt. So breit der Weg, hatten die Fuhrwerke sich doch verfahren, und grad am Garten war eine totale Stockung eingetreten. Auch im Fuhrwesen war die alte Ordnung, aber in jeder Ordnung gibt es Ausnahmen, und Kutscher und Fuhrknechte sind darin verstockte Aristokraten, die auf Rang und Stand im Vorfahren unerbittlich halten. Wessen Generals, Obristen oder Kapitäns eigne Wagen vorfahren wollen und dadurch die Verwirrung verursacht, war nicht mehr zu ermitteln; kurz, Räder, Deichseln, die Pferde und ihre Geschirre waren in ein wüstes Knäuel gedrängt, daß die Kampagnepferde der Offiziere dazwischen in Gefahr gerieten und nicht Reiter noch Fußgänger mehr hindurchkonnten, um zu sehen, wo die Stockung anfing und Abhilfe möglich war. Die kommandierenden Aufseher und Offiziere mußten über die Wagen wegklettern und springen, und wo sich auch das nicht tun ließ, schwangen sich einzelne über die Hecke und suchten durch den Garten den Weg zu ihrem Ziel.

Die Lyziumhecke war kein schirmender Wall mehr. Tisch, Bänke und Estraden wurden, weil alles überstieg und durchbrach, verlassen, um doch gleich wieder von Neugierigen besetzt zu werden. Eine Gefahr erschreckt nur im ersten Augenblick, im nächsten erregt sie schon den Kitzel, es mit ihr zu versuchen. Die rohe Wut, die Leidenschaften waren entfesselt. Manches Gesicht glühte auch vom Branntwein, es konnte aus der Zänkerei ein Kampf werden. Die verschiedenen Truppenteile haben immer gegeneinander Eifersucht. Da warfen sich die Feldkutscher vor, wer wider Recht den Vorrang erstreiten wollen; dort hechelten sie sich über den Inhalt und die Größe der Bagagewagen, und aus ihren versteckten Winken – wo man diese Rücksicht noch beobachtete – erfuhr das Publikum, daß mancher Offizier Dinge oder Gegenstände mitnähme, die eigentlich nicht ins Feld gehören. Wer daran zweifelte, sah wohl vorn aus den Rüstwagen ein halbverhülltes Frauengesicht scheu vorblicken, das nicht füglich zu den Marketenderinnen zählen konnte. Doch waren das nur Ausnahmen. Aber zwischen dem Schreien, Fluchen und Wiehern tönten noch andre Stimmen, die weder Pferden noch Menschen angehörten, sondern eher auf das Dasein einer Menagerie schließen ließen.

Die Menagerie war indes gar kein Geheimnis, und wenn die großen Hühnerkörbe, hinten oder vorn auf den Generalswagen, bis da mit Decken verhängt gewesen, so waren diese beim Zusammenstoß, dem Klettern und den Manipulationen der Helfenwollenden von den meisten abgefallen. Das geängstete Federvieh flatterte und gackerte und schien selbst wieder einen Bürgerkrieg in den Gitterkörben zu führen, als durch das Zurückstoßen eines Wagens mit Zeltstangen diese an den Fourgon eines Generals stießen. Der Wagen schwankte und fiel auf die Seite, ohne doch ganz fallen zu können, der Hühnerkorb aber brach, stürzte, und die gefiederten Innewohner, soweit sie nicht von den Zeltstangen getötet waren, krochen, flatterten und flogen heraus. Da der Korb nach der Seite der Hecke übergestürzt war, entlud sich die lebendige Bescherung in den Garten. Die Hühner, in glücklichem Rettungsinstinkt, drängten sich nicht wie die Schafe in einen Keil, sondern über Köpfe und Tische flatternd krochen sie hier unter die Hecke, dort zwischen die Beine der Gäste oder suchten in sympathetischem Zuge den Hühnerstall des Cafétiers. Der Aufruhr war damit in den Garten getragen.

Wo war die Disziplin, wenn rohe Trainknechte über die Hecke auf den Tisch springen konnten, wenn die Gläser von Stabsoffizieren unterm wuchtigen Tritt ihrer gespornten Reiterstiefel zitterten, wenn sie ohne Rücksicht auf Orden und Epauletten, nicht einmal die Honneurs machend, auf die Erde platzten, wenn entlaufenes Federvieh für diese Menschen alle Rücksichten, die der Autorität gebühren, aufwog!

Wo, wenn selbst ordnungsliebende Bürger nicht davor schauderten, sondern es in der Ordnung fanden, denn durch den Garten verbreitete sich ein geflügeltes Gerücht. »Es sind ja Obrist Köckeritzes Truthähne!« – »Nein«, riefen andre Stimmen, »es sind Exzellenz Feldmarschall Möllendorfs Puthühner!«

Verwirrung und allgemeine Verfolgung. Die Truthähne waren kein Gespenst; sie waren geflattert, geflogen, und viele hatten sie gesehen. Wohin? Links, rechts. Die Trainknechte fluchten, statt für die Weisung zu danken. Selbst die ernteten kein freundlich Wort, die es sich angelegen sein lassen, ein verirrtes Huhn aufzufangen. Hühner hin, Hühner her, aber der kalekutische Truthahn, die Bestie, wo war er, und die schöne Henne, das Prachtstück! Sie waren den Knechten doch vom Mundkoch auf die Seele gebunden.

Der Garten erstreckte sich weit in die Sandebene. Solche Gärten haben auch stille Plätzchen, wohin gefühlvolle Gemüter sich aus dem Geräusch des Kegelschiebens und dem Klirren der Gläser zurückgezogen. Auf einer Bank unter dem Lyzium, das seine ausgewachsenen und schon vertrockneten Zweige zu einer Art wilden Laube über ihre Köpfe rankte, saßen Charlotte und ihr Wachtmeister. Es war die bittere Scheidestunde. Auch wir nähern uns der von unsern Lesern und scheuen uns deshalb, ihnen eine neue Figur vorzuführen, die – sie vielleicht nicht wiedersehen. Übrigens sah ein Wachtmeister wie der andere aus.

Charlotte mußte das auch denken. Sie hatte geweint und hielt das Tuch noch an die Augen. Der Wachtmeister hatte wohl nicht grade geweint, aber sein Gesicht war rot, als er die rechte Locke unter dem Hute ajustierte. »Es geht nun mal nicht anders in der Welt; aber mit Courage geht alles.«

»Halten Sie sich nur recht warm«, schluchzte sie, »daß Sie sich nicht verkälten.«

»Halten Sie nur Ihren Geheimrat warm«, sagte er. »Darauf kommt alles an. Denn die Zivilversorgungen, das ist die Schwerenot, die sind verflucht mager.«

»Und trinken Sie nicht soviel Schnaps. Und wenn eine Kugel kommt –«

»Dann schreib ich's Ihnen.«

»Und wenn Sie mir nicht schreiben?«

Da hub das Schluchzen von neuem an; aber es war nur Charlotte. Der Wachtmeister hatte seine Handschuh angezogen, den Pallasch in die rechte Lage gebracht und sich grad aufgerichtet:

»Demoiselle Charlotte, wozu hilft das Greinen! Sie müssen bedenken, der Soldat ist Soldat. Ist's nicht so, so ist's so. Sterben müssen wir alle, und wenn's uns noch so gefällt in einem Quartier, einmal ziehen wir raus. Drum sagt unser Obristwachtmeister: ›Kerle, Ihr müßt denken, daß andre nach euch kommen, die wollen auch was finden. Und warum nicht! Sie sind ja auch Menschen. Und so ist das ganze Leben‹, sagt er, ›wir ziehn aus einem Quartier ins andre. Und wem's sein letztes war, das weiß keiner nicht, denn 's kommt auf einmal, auf den Plutz. Da steht der Tod vor ihm rot und blaß auf der Mauer und kräht ihn an, und eh' es ausgekräht –‹«

Charlotte schrie auf. Es krähte ihn ja an. Auf der Hecke stand der Kalekuter, seine roten Lappen von der Sonne beschienen, seine Augen funkelnd vor Angst und Zorn. Und eine Pute, das Prachtstück, flog auch über die Hecke und ihr gar in die Arme. Aber auch die Trainknechte flogen den Gang herauf, schreiend, fluchend, die bösen Trainknechte, mit so zornfunkelnden Augen als der Hahn. Charlotte hatte sich wirklich die Pute nicht aneignen wollen, die sie unwillkürlich an ihr liebebedürftiges Herz gedrückt. Charlotte war selten um eine Antwort verlegen, aber kaum, daß sie über die Lippen war, mußte sie es mit eignen Ohren hören, daß der Knecht sie anschrie: »Selbst Pute, Sie!« Und mit eignen Augen mußte sie es sehen, daß der Wachtmeister, statt ihr beizuspringen, mit nach dem Kalekuter haschte. »Es sind ja Exzellenz Möllendorfs eigene Truthühner!« rief ein andrer, um sie zu Respekt und Räson zu bringen.

Der Puter und die Pute waren längst fort, denn als Charlotte die Arme öffnete, hatte die letztere es vorgezogen, einen Satz in die Luft zu machen, als in die Arme des Knechtes zu fliegen. »Bestien ihr, wartet!« war das letzte Wort, das sie hörte, und leider war ihr die Stimme sehr bekannt. Das Wilde Heer war verschwunden, und das war der letzte Abschied von ihrem Wachtmeister.

Die Frau Hoflackier, die herbeikam, fand Charlotten in Tränen. Der Herr Hoflackier, der seiner Gemahlin die beiden jüngsten Kinder auf den Armen nachtrug, derweil das älteste an seinem Rockschoß ging, fragte, warum die Cousine weine. – »Das frägt er noch!« sagte die Frau Hoflackier. – »Es frägt sich vieles«, sprach Charlotte mit einem Blick gen Himmel. »Ach, lieber Cousin, die Militärs in Ehren, aber ihnen geht doch das ab, was ein empfindungsvolles Gemüt bedarf, wenn es sich über das Gemeine des irdischen Daseins erheben soll. Die Montur und die Uniform sind etwas sehr Schönes für König und Vaterland, aber mehr Gefühle für Frauenwürde findet man doch beim Zivil – selbst bei meinem lieben Geheimrat.«

Und daß Puter und Pute, dieselben, noch ein zärtliches Paar aufschrecken, noch einen Abschied stören mußten! Den Obristwachtmeister Stier von Dohleneck und die Baronin Eitelbach, die in der einsamen Allee am Rande des Gartens promenierten. Es war die süße Verständigung nach so langen, langen Zweifeln.

»Und nun grade uns trennen müssen!«

Seltsam! war es doch hier das Widerspiel der andern Abschiedsszene. Er schien der Geknickte und strich über die Augenwimpern. Tränen waren es nicht, aber ein Jucken und Drängen an den Augen, als fürchte er sich vor ihnen.

»Wissen Sie, mir ist's manchmal, als wären wir alle nur da, um uns zu trennen«, sprach die Baronin und sah in den blauen Himmel. »Und wir lebten nur, damit wir uns darauf vorbereiteten.«

Er blickte sie verwundert an.

»Die zueinander gehörten, müßten sich ihr Leben lang suchen, und wenn sie sich gefunden haben, wäre es nur, um voneinander Abschied zu nehmen. Da geht Mamsell Alltag mit ihrem Vater in den Salon. Das ist doch ein kreuzbraves, schönes und gescheites Mädchen. Was hat die ausstehen und sich versuchen müssen, darüber ist doch nun alle Welt im klaren, und nun's ihr endlich gut geht, und die schlechten Zungen schweigen müssen und die Königin sich ihrer angenommen hat und sie den nun endlich heiraten soll, den sie von ganzem Herzen lieb hat, da – da muß er den Tag vor der Hochzeit spornstreichs auf und davon.«

»Nur auf einer dringenden Mission vom Könige. Er wird wiederkommen.«

»Wenn sie ihn nun als Spion hängen!«

Der Obristwachtmeister sah sie noch verwunderter an. Welche Lichter zuckten plötzlich durch diese Seele!

»Alles kommt anders, als wir's uns gedacht«, fuhr die Baronin fort, »und es ist überall so. Die arme, unglückliche, schreckliche Geheimrätin! Ich mag's noch immer nicht glauben, daß sie so schlimm ist, aber wenn sie ihn liebte und heiraten wollte und es darum getan hat, nun ist sie auch auf immer von ihm getrennt.«

»Wem?«

»Dem Legationsrat. Apropos, der ist Ihr aufrichtiger Freund, Dohleneck, Sie mögen es nun glauben oder nicht. Ein Freund in der Not ist er, das kann ich Ihnen sagen. Sie packen ihm alles auf, wer was zu tragen hat und wen was ängstet, und dafür verreden sie ihn noch. Aber er trägt es und lächelt. Er weiß auch, Dohleneck, daß er Ihnen unausstehlich ist, und doch sorgt er um Sie wie ein Vater, nein, wie ein Freund, der alles tun möchte, um mir meinen liebsten Freund zu erhalten. Was gibt er mir nicht für Ratschläge, daß Sie in der Kampagne zu Ihrer Gesundheit tun und mitnehmen sollen, und bittet mich, daß ich Sie beschwören soll, Sie möchten sich nicht zu sehr exponieren.«

»Wenn er mir den Rat ins Gesicht gäbe, würde ich wissen, wie ich ihm ins Gesicht antworte; ein Soldat tut nur seine Schuldigkeit.«

Sie lächelte ihn ruhig an: »Ich weiß es schon. Grade so würden und mußten Sie sprechen, hat er zu mir gesagt. Darum hat er mir auch verboten, Ihnen von den Salben und Pulvern zu geben; Sie würden lachen und den Plunder in den Graben werfen. Der Beste und der Klügste ändert's nicht, was kommen soll, und das ist das Wunderbare in unsrer Bestimmung, sagt er, daß man das weiß, und sich immer wieder gedrungen fühlt, den Rat zu geben, der nicht befolgt wird. So hat er's auch mit der Lupinus gemacht. Wie er es ihr auch zu verstehen gegeben, daß es nur Achtung und Verehrung von ihm sei, sie hat's für Liebe gehalten. Und wie er jetzt auch sich Mühe gibt, daß ihre Unschuld an den Tag kommen soll, er weiß doch, sie werden nicht auf ihn hören, denn die Menschen rennen alle in ihr Verhängnis, und er preist die am glücklichsten, die nicht klug sind und nicht alles sehen wollen, denn ihnen werden viele Qualen gespart. Darum, sagt er, hat er uns so lieb, ob er schon weiß, daß ich ihm nicht gut bin und Sie ihn gar nicht mögen. Da ist auch alle Mühe umsonst, setzte er hinzu, alle Beweise helfen nichts, und der Mißtrauische weiß sogar in der guten Tat, die man ihm erzeigt, eine heimliche böse Absicht herauszulesen.«

Dem Herrn von Dohleneck ging es dumpf durch den Kopf: »Wenn man sich doch getäuscht hätte!«

»Das sagt er ja auch. Wenn in der letzten Stunde nur die Enttäuschung käme! Wenn er daliegt auf dem Felde der Ehre, und die Lüfte trügen mir wenigstens mit Äolsharfenklang sein Geständnis zu: ›Ich habe mich in dir geirrt!‹ Das wäre wenigstens ein Trost!«

»Donner und – Himmeldonner! Er macht mich doch nicht bei lebendigem Leibe tot!«

Der Obristwachtmeister Stier von Dohleneck hatte nicht die Veränderung gesehen, die auf dem Gesicht der Baronin vorgegangen. Die Tränen stürzten aus ihren großen, schönen Augen; sie zitterte:

»Ja, mein inniger, einziger Freund, er hat eine Ahnung – er wollte schweigen – ich erpreßte ihm das Geständnis – Ihr zügelloser Mut – er sah Ihr Blut fließen – wir ändern's nicht – ja, es ist nur zu wahr, es findet sich alles nur, um sich zu trennen, die Herzen, um voneinander gerissen zu werden, die Seelen und Geister, um sich schätzen zu lernen, wenn sie sich verloren haben, und das Glück ist nur da auf der Welt, daß es zerbricht! – Es ging ja auch nicht anders«, sagte sie, sich zurückbeugend, und blickte ihn mit freudiger Wehmut an. »Wir konnten uns ja nur finden, um uns wieder zu trennen! – Freiwillig, nicht wahr, hatten wir es getan? Und nun trennt uns eine höhere Hand.«

»Aber warum denn auf immer!« sagte der Offizier, ihre Hand an die Brust drückend. »Ohne Hoffnung –«

»Darf der Mensch nicht leben und nicht sterben«, fiel sie ein. »Das hat er auch gesagt. Und sah dabei in den Himmel, und das war ein Blick! – Nein, nicht auf immer! sagte er, wer unvergänglich liebt, der liebt auch in die Ewigkeit. Ist denn das Blut ein Strom, der uns vom Jenseits trennt? Da liegt er auf der Heide, purpurn strömt es aus der Brust des Redlichen. Sein letzter Hauch ist seine Freundin, sein letzter Blick für Sie. Wenn er Sie im Tode sah, warum sollen Sie ihn denn nicht im Tode sehen! Sie werden sich wiedersehen!«

»Nun, um Gottes Barmherzigkeit willen, ja, wir werden uns auch wiedersehen!« rief Dohleneck in ungewöhnlicher Aufregung. »Kein Krieg ohne Blut, aber warum gleich maustot! Wozu gibt's denn Scharpie und Pflasterkasten? Das Blut mag zwischen uns fließen, ja, ein tiefer Fluß, aber warum soll ich denn nicht rüberspringen und –«

»Wir werden uns wiedersehen!«, und die Baronin öffnete die Arme und der Obristwachtmeister auch – da mußte es um sie sausen, krächzen, und die Wilde Jagd kam hinterher. »Fangt sie! – Da sind sie! – Die Brut!«

Als die Unholde heranstürmten, war die Baronin schon durch die Öffnung der Hecke geschlüpft. Der Obristwachtmeister warf einen Zornblick auf die Störenfriede, ja, seine Linke ruhte auf dem Degengriff. Ob Herr von Dohleneck ihn gezogen hätte, wir wissen es nicht; aber es war ja sein Wachtmeister, der, in Respekt erstarrend, vor ihm schulterte und aus den Lippen des vorgestreckten Kopfes die Worte flüsterte: »Halten zu Gnaden, Herr Obristwachtmeister, sie sind die Puten von Exzellenz Feldmarschall Möllendorf!«


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