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»Torheit, zu glauben, daß ein Mensch seiner Zeit vorausgeht. Von der Strömung in der Luft werden wir gezogen, wie die Atome dem Atem zufliegen. Es ist das unergründete Gesetz in der moralischen Welt, was den Riesen wie den Zwerg regiert, und die tollste Ironie ist es, der wahnsinnigste Traum unsrer trunkenen Phantasie, zu wähnen, daß wir aus eignem freien Impuls die Welt nur um eine Spanne weiterrücken!«
Zwei Genesende saßen auf einer abgelegenen Bank im Tiergarten, die laue Sommerluft einschlürfend. Der eine, den Arm in einer schwarzen Binde, schien seine Krankheit bereits abgeschüttelt zu haben, und das blasse Gesicht rötete sich, während die Glieder oft elastisch zuckten. Es war Walter. Der andere trug keine sichtliche Verwundung, aber der kräftige Geist schien mit einer physischen Mattigkeit im fortdauernden Kampf, und sein auch bleiches Gesicht blitzte von einer verräterischen Röte, während das dunkle tiefe Auge gespensterhafte Glanzblitze warf. Es war Louis Bovillard; er hatte die obigen Worte gesprochen.
»Dem Fatalismus huldigen, dahin also führte unser langer, saurer Bildungprozeß, unser Suchen, Tappen, Klimmen!« entgegnete Walter. »Du mußt bekennen, daß die Türken dies Ziel bequemer haben. – Du bist noch krank.«
Bovillard sah mit seinem glühenden Auge wehmütig auf den Freund:
»Was hilft dir deine Gesundheit?«
»Daß ich meine Kraft sparte.«
»Wofür? Was hilft der Ameise die Seherkraft der Kassandra, wenn der Stiefel eines Stallknechts sich nur aufzuheben braucht, und der Bau ihres Lebens ist zerstört!«
»Gott und Natur sind ewig, und der Mensch –«
»Bleibt ihre erhabenste Kreatur, aber ewig wie Herkules am Scheidewege. Da steht: ›Entsage!‹ und ein himmelblaues Lamm daneben, dich auf Dornenwegen zur Trübsal zu führen. Hier steht: ›Genieße!‹ und Fuchs, Wolf und Schlange stehn als deine Lehrmeister dabei.«
Walter hatte längere Zeit vor sich hingeblickt; die Lukubrationen des Freundes hatten ihn nicht gestört: »Wo ist das Allgemeinwohl? Das ist die Frage. Sitzt's in den Gipfeln? in den Wurzeln? Wo ist das Mark? Wir fühlen es, wie das Wasser den festen Boden unterspült, die Wurzeln vom Erdreich löst, wir fühlen das Annahen des Sturmes. Und noch wäre Rettung möglich, aber die phlegmatische Masse schließt noch die Augen, trunken schreien einige in die Lüfte, aber sie helfen nicht, nur dem Feinde geben sie ein Zeichen, wie es steht. Die zu Wächtern bestellt sind, zu Baumeistern und Steuerleuten, singen uns Schlaflieder zu. Sie zittern nicht vor der Gefahr draußen, nur vor der Aufregung, welche die Furcht davor im eigenen Lager verursacht. Wo nun einer mit dem besten Willen kommt, wo soll er anklopfen, wo, wenn er sein Gut und Blut hineinwerfen möchte, ist die Büchse, um es aufzunehmen? Das ist die Frage.«
»Was hilft's dir, wenn du die rechte Eingangstür in ein verrottet Haus findest, wo drinnen nichts mehr zu retten ist?«
»Es ist«, fuhr Walter auf. »Wie hätte dieser Staat so lange bestehen können und leuchten in der Geschichte. Es ist etwas Niedagewesenes, wie dies Regentengeschlecht persönlich auf das Volk eingewirkt hat. Das leugnest du dir nicht fort, vom Anbeginn bis heute. Es hat alles, was sein eigen war, Gedanken, Geist, Intelligenz, Tatkraft, Mut, Entschlossenheit, Ausdauer, ausgespritzt in die Adern der rohen, verwilderten Stämme, die es vorfand, die es später mit seinen starken Armen umklammerte, bis sie unter dem warmen, schirmenden Druck zu einem Leibe verwuchsen. Wir sollten freudig staunen über das Wunder einer Gärtnerkunst, denn das war es, wo die Fürsten von anderm Stamme, Blut, aus einem fernen, fremden Lande, so sich mit dem Boden, den Boden mit sich amalgamierten; wenn nicht eben die Impfe so wunderbar nachhaltig gewirkt hätte, daß alles, was auf dem Throne zur Geltung kam, im Volke sich widerspiegelt und reproduziert, wie die Stärke vorhin, nun die Schwächen, wie das Licht, jetzt die Schatten. Ist nun ein Volk von der Vorsehung destiniert, das frage ich mich, sein Licht ausgehn zu lassen, weil von seiner Herrschaft ihm keins mehr leuchtet, sich selbst auszulöschen aus der Reihe der lebendigen Nationen, weil der Druck der Luft von oben, das Miasma, es affiziert! Ist's destiniert, mit allen Mitteln zur Hand, sich nicht selbst kurieren zu dürfen?«
»Wenn es ein Affenvolk ist! Und wir sind alle Affen. Was willst du mehr von ihm?«
»Das mehr, was die Erziehung, grade jene seiner Könige es lehrte: selbst zu denken und zu fühlen. Diese Eigenschaften sind nicht fortgespült; sie wuchern geil und lustig fort. Es kam einmal die Sitte von oben herab, die nüchterne, strenge, hausbackene Bürgertugend von jenem Soldatenkönig, dann vom selben Throne mit den laxen Sitten und der Frivolität jene eben so nüchterne Aufklärung. Jetzt, wo Frömmigkeit und Gerechtigkeit in mildem Scheine von oben ausstrahlt, wo wir aus einem guten Sinne auf Tüchtiges gehofft, ist's die Unentschlossenheit, die sich auf das Volk ergießt und es zersetzt. Wie, wo soll da geholfen werden! Nein, wer soll helfen, wer die adstringierende Säure gießen in die in Auflösung befindliche Masse!«
»Frage lieber, wer ist der neue Prometheus? Denn die Nachkommen des alten verfolgten Revolutionärs sind im Laufe der Zeit legitime Philister geworden, gute Bürger, die des Nachtwächters Ruf gehorchen: ›Bewahrt das Feuer und das Licht.‹ Schaff dir neue Menschen. Mit den alten ist nichts anzufangen.«
Bovillard war aufgestanden und blickte in die Ferne, wo die Sonne zwischen dem Walde versank.
»Torheit«, wiederholte er, »zu rühmen, daß wir die Zeit verrücken, die, unser spottend, über uns hinrollt. Der Kriegswagen des Donnergottes, von Sturmrossen gezogen, Festungen zermalmt er und Heere, die für unüberwindlich galten, wie Kartenhäuser und bleierne Soldaten, und es ist nichts so fest auf Erden, was nicht schon knickt, wo sein schnaubendes Gespann heranbraust.« – Er legte seinen Arm auf Walters Schultern. – »Ich war da, Lieber, ich sah es ja in der Nähe. Unsern Staatsmann sah ich, heiliger Gott! Friedrich und sein großer Ahn, der Kurfürst, müßten im Sarge rot werden, wenn sie das gesehen! Ein Verräter – nein! Man kann nur verraten, was man weiß. Wenn er sich in den Wagen setzte, zur Konferenz zu fahren, wußte er noch nicht, was er raten, fordern, sprechen sollte. Napoleon fuhr ihn an. Er schwieg. Napoleon kajolierte ihm, ging ihm um den Bart. Er schwieg auch. Dies Schweigen soll wirklich den großen Mann anfänglich verwirrt haben, bis er merkte, daß man auch schweigen kann, nicht um zu verschweigen, sondern weil man nicht weiß, was man wollen soll. Solche Ratlosigkeit, solche Fassungskraft, solcher Mangel an Gedanken und Mut! Der Vertreter des Militärstaates wußte von den militärischen Operationen nicht, was ein Quartaner in Preußen wissen muß, ließ sich einschüchtern, Gott weiß womit, und was Napoleon in seiner Laune einfiel: er ließ sein Heer über Gebirge und Flüsse springen, Schlesien nehmen, Polen revoltieren, daß die Adjutanten hinter der Tür kaum das helle Auflachen zurückhielten. Das Heer, geschwächt, blutend, hätte damals nicht vier Meilen mehr gemacht. Dann, zum Trost, überschüttete er ihn mit Lobsprüchen für seinen guten Willen, seine Einsicht, und unser Mann ward rot vor Freude. – Und in solche Hände legen unsre Fürsten unser Schicksal, und solchem Feinde gegenüber!«
»Die deutschen Fürsten –
»Laß mich von ihnen schweigen: Was ich auch da sah, wenn eine Nachwelt kommt, wird sie's nicht glauben. Sauve qui peut, das ist das große Schibboleth der Zeit.«
»Und das deutsche Volk?«
»Soll es für die Goldne Bulle schwärmen, für Regensburg oder Wetzlar! Schwärmer gibt es, wofür wären wir Deutsche!«
»Auch die Kreuzfahrer waren Schwärmer, und doch eroberten sie Jerusalem.«
»Warte nur, Lieber, wenn die gutgesinnten Bürger die Straßenjungen gegen sie animieren. Kot auf sie! Mit Recht, sie stören ja die Ruhe. Alle die Volkserhebungen, die man versucht hat, da und dort, um den Erzherzog zu soulagieren, kläglich fielen sie aus, und wenn man Frieden schloß, wie ließ man sie im Stich! die armen Schelme! Was heute Tugend heißt und Patriotismus, die Diplomatie stempelt's morgen zum Verbrechen und Hochverrat, wenn's ihr so bequemer ist. Was willst du da vom armen Volk erwarten? Sie äffen den Fürsten nach, und sie tun recht. Wer etwas für sich schaffen kann, zugegriffen, solange es Zeit ist! Die alten Bande sind gelöst. Es gibt kein Recht, kein Gesetz, kein Vaterland mehr. Hasche den Sonnenblick, genieße den Augenblick, du weißt nicht, was morgen kommt. Schöne Mädchen und Zyperwein, Walter, solange es schmeckt. Preußen hat recht, wir waren im Unrecht; es hat den größten Bissen erschnappt. Presse Hannover aus, du weißt nicht, ob es dir nicht schon morgen wieder entrissen ist. Schöne Mädchen und Zyperwein! nur nichts von Vaterland, Menschenglück. Phantasmagorien, nichts als Mondscheinillusionen. Im Ernst, Walter! Sieh mich nicht so an. Die alte Zeit ist abgelaufen, aller Widerstand ist Torheit – der neue Titane zerschlägt dem alten Sonnengott den Karren, die Splitter und Funken fliegen durchs Weltall. Ducke dich in eine Höhle, wenn du eine findest, und wenn du lebendig bleibst, gaffe ihm nach, wohin er seinen Feuerball peitscht. Ich weiß es nicht.«
»Und doch«, sprach Walter, ihm nachblickend, als er ohne Abschiedskuß nach der Stadt gegangen, »doch würdest du der erste sein, wenn –« Er folgte ihm.
Seltsam, als Walter in das Haus des Geheimrat Lupinus trat, sollte er eine Unterhaltung überstehen, die denselben Gegenstand hatte.
Er fand den gealterten Mann kränkelnd. Er hustete viel. Walter meinte, das Zimmer sei wohl lange nicht gelüftet, der Bücherstaub habe etwas Drückendes.
Der Geheimrat hörte ihn mit Freundlichkeit an.
»Gewöhnen wir uns doch daran, das Leben als eine Gewohnheit zu betrachten, dann fällt so vieles fort, was uns sonst quält und ängstet. Ist nicht der am glücklichsten, der nichts in seiner Lebensweise ändert? Wer immer ändert, stellt damit nur ein Testimonium aus, daß er nie zufrieden war. Ich weiß es, ich werde sterben, vielleicht bald, aber Sie werden noch lange leben; nun lassen Sie uns von Ihnen reden. Da ist Herr Niebuhr nun angekommen. Er wird bestimmt angestellt, und wahrscheinlich in einigen Wochen schon ist er Bankdirektor mit dem Titel Geheimer Seehandlungsrat. Er hat Ihre Abhandlung über Alba Longa mit Vergnügen gelesen. Er wird ein Mann von Einfluß werden. Jetzt kann ich Sie noch empfehlen, vielleicht bald nicht mehr. Sagen Sie mir Ihre Wünsche, lieber Walter.«
Auf Walters Gesicht stand die Antwort. Es war ein Thema, was sie oft besprochen. Mit einem vielsagenden Blicke faßte der Kranke die Hand des Gesunden:
»Unser Staat ist kränker, als ich bin. Die Republik liegt in den letzten Zügen, die Scipionen schlummern in ihrer Gruft, die Virtus neben ihnen, unser Aktium und Philippi steht vor den Toren, die Catonen mögen den Giftbecher leeren, es bricht zusammen, Herr van Asten, ich weiß es auch, und der Cäsar scheint auch schon da, der uns nur nicht behagt. Was bleibt da dem Freien? – Das Exempel, das ihm ein alter Freigelassener ließ.«
Der Geheimrat hatte sich mit Mühe vom Stuhl erhoben und war, auf einen Stock gestützt, an seine heiligste Bücherwand geschlichen. Einen Walter wohlbekannten dünnen Band, unscheinbar in altem Leder, nahm er heraus. Es war eine Ausgabe des Horaz, an die er keine fremde Hand ließ; er zeigte das Buch nur seinen Freunden.
»Wenn's Ihnen schlimm ums Herz wird, hier ist der Trost. Zweifeln Sie, daß Horaz ein guter Patriot gewesen? Ging ihm das Schicksal des römischen Staates nicht ans Herz? Ich sage Ihnen, es schnitt ihm hinein, tiefer, als die Herren Ausleger denken; der Schnitt steht nur zwischen den Versen, und da verstehn sie nicht zu lesen. Was hätte es nun geholfen, wenn er sich ins Schwert gestürzt? Was hatte Rom davon, daß Brutus es tat! Horaz warf seinen Schild fort, machte sich auf die Behendigkeit seiner Hacken, und als er stille stand und sich den Staub abklopfte, sah er, daß der Himmel noch immer blau war und die Sonne so lau und golden auf das schöne Italien schien als vorhin. Hätte er nun krächzen sollen wie die Eule Tacitus von ihrem alten Turm, Zeter und Wehe über die Verderbnis der Zeit! Hat Tacitus die Zeit besser gemacht oder die römischen Sitten, hat er Rom nur einen bessern Kaiser verschafft? Konträr, sie wurden immer schlimmer. Die Bußprediger tun's nicht, und in das Rad der Weltgeschichte greift keiner ein; das geht über die Köpfe der Völker und Königreiche. Ein Narr, wer da glaubt, daß er in die Speiche faßt, ohne zermalmt zu werden und ausgelacht obenein. Horaz schloß Frieden. Hat er darum sein Vaterland verraten? Sein Vaterland war größer. Ubi bene ibi patria! Er sang: ›Beatus ille qui procul negotiis‹ –. Sein ›contentam ducit vitam‹ klang wie süße Musik unsern Vätern ins Ohr. Er ließ die laufen, quos curriculo pulverem olympicum collegisse juvat, und freute sich, von Rosen und Efeu umkränzt, am funkelnden Falerner. Er ließ den Augustus regieren, wie er Lust hatte, denn er stand unter dem bessern Regiment der guten Cythera. – Nicht wahr, das ist recht frivol und schlecht von ihm gehandelt! Und so was der Jugend zu predigen! Aber, aber – zweitausend Jahre beinahe vergangen, und Horaz lebt! Die Brutus spuken freilich, in allen Revolutionen, gar tugendhafte Männer, aber was hinterlassen sie? Verfolgungen, Kriminalprozesse, Steckbriefe, Ausweisungen, Schafotte, Bankrotte, ruinierte Familien, Elend – aber wen auch das Rad nach oben trägt, dem Horaz hört er immer gern zu, er hat in aller Welt das Bürgerrecht, der süße Prediger einer Lebensweisheit, die dauern wird, solange die Welt steht.«
Walter schwieg. Sie hatten auch darüber schon oft sich verständigt, daß sie sich nicht verständigen könnten. Der alte Gelehrte klopfte ihm auf die Schulter:
»Will ich Sie denn zwingen, junger Eigensinn! Erinnern Sie sich, wie Morus seine herrliche Biographie des Philologen Reiske anfängt: ›Omnis vitae Reiskianae ratio fuit, non cedere malis sed audentiorem contra ire! Der eigentliche Wahlspruch von Reiskes Leben war, der Not nicht zu erliegen, sondern mutiger ihr entgegenzutreten. ‹ Ist auch ein schöner Spruch und ein klassisches Latein. Meinethalben immer drauflos wie der große Reiske. Erinnern Sie sich aber gelegentlich, daß Horaz auch gesagt hat: ›Est modus in rebus, sunt certi denique fines.‹ Er hat keine Maxime aufgestellt wie Cicero, daß der Mensch wedeln soll vor der Macht, weil sie Macht ist. Und dann dachte auch wohl der heidnische Philosoph nicht an den Wurm, 's ist an einem anderen, der das Maß finden, die Grenze stecken soll. Und ›Integer vitae, scelerisque purus –‹, das hatte dieser selbe Horaz auch gesagt. In meinem Testament hatte ich es Ihnen vermacht – diese – ja diese Leidener Silberschrift mit verschlungenen Händen. Warum so lange warten! Rasch in die Brusttasche, zur Erinnerung an einen alten Mann, der Ihnen wohlwollte.«
Das war etwas Ungeheures – Walter erschrak:
»Dies Exemplar, Herr Geheimrat!«
Der Gelehrte drückte es ihm in die Hand: »Dieses, ich weiß keinen bessern, der es nach mir aufhebt. – Es ist freilich nur vom zweiten Abdruck. Ja, wenn es mir gelungen wäre, eines mit dem Totenkopf zu erhalten! Was habe ich nicht korrespondiert, nach England, Schweden, was habe ich geboten! Der Herr Legationsrat von Wandel, was hat der sich nicht für Mühe gegeben – er hofft noch immer; aber – es war vielleicht ein zu großer Wunsch, und kein Mensch scheidet von dieser Welt, der sagen kann, daß alles in Erfüllung ging, was er wünschte.«
Den Geheimrat befiel hier ein heftiges Hüsteln. Die Sprache versagte ihm, und der kalte Schweiß stand auf seinem blassen Gesicht. Als Walter ihn nach seinem Stuhl führen wollte, stand die Geheimrätin plötzlich da – man konnte glauben, daß sie hinter einer Bücherwand Zeuge des Gesprächs gewesen.
»Verzeihen Sie, Herr van Asten, man muß einen so langen Umgang mit einem teuren Kranken gehabt haben, um seine Wünsche zu verstehen.«
Ihr Blick hatte ihn fortgewiesen, und er gehorcht. Fast machte er sich einen Vorwurf. Hatte ihm der Geheimrat nicht noch etwas sagen wollen? Vielleicht war es das letzte Mal, daß er ihn sah. Aber er hatte schon die Weisung der Geheimrätin überschritten, die aus Vorsorge für den Kranken den Befehl gegeben, niemand ohne ihr Vorwissen in das Zimmer zu lassen. Er zauderte im Vorzimmer. Der Kranke mußte sich wieder erholt haben, er hörte ihn die vorhin angefangene Ode ›Integer vitae, scelerisque purus‹ rezitieren.
War es sein Sterbegesang? Die Geheimrätin schien betroffen, als sie, zurückkehrend, Walter noch fand. Der Blick, den sie ihm zuwarf, hatte etwas Befremdendes, es war ihm auffällig, daß sie ein Tuch vor dem Munde hielt, welches sie im Augenblick, wo sie ihn sah, fallen ließ. Er glaubte sich zu entsinnen, daß sie schon im Krankenzimmer es an die Lippen gehalten. Doch es war nur ein Moment gegenseitiger Befangenheit. Sie setzte sich auf ein Sofa, oder ließ sich fallen, und drückte das Tuch an das Gesicht. Ein Schluchzen hörte er nicht. Er sprach einige Worte der Teilnahme, daß die Gefahr wohl nicht so groß sein werde, als man annehme, daß die Natur des Geheimrates auch schwerere Krankheiten zu überwinden imstande sei, daß er unter einer solchen Pflege genesen müsse.
Den starren, höhnischen Blick, als sie das Tuch wieder sinken ließ, konnte er nie vergessen.
»Meinen Sie, Herr Doktor? – Er wird sterben. Wenn auch nur darum, damit die Leute sagen können, ich hätte ihn schlecht gepflegt.«
»Gnädige Frau, es ist nur eine Stimme, mit welcher Aufopferung Sie für das Schicksal Ihrer Angehörigen sorgen.«
»Sind Sie wirklich noch so jung und harmlos, Herr van Asten? – Sie haben doch auch schon Erfahrungen hinter sich«, setzte sie hinzu, »und sollten wissen, was auf diese Stimme zu bauen ist. Oder hörten Sie immer nur den lächelnden Anfang und schlossen vergnügt Ihr Ohr, wenn die herzlich Teilnehmenden von ihrem Lobe sich erholten, zuerst in kühler Betrachtung, die sie unparteiische Würdigung nennen, dann in leisen Bemerkungen, daß bei dem vielen Guten doch auch Schattenseiten sind; endlich, wenn die liebreichen Seelen erkannt, daß sie unter sich sind, öffnen sich die Schleusen, und die ätzende Bitterkeit schießt heraus, bis von dem Lobe nichts bleibt als eine tötende Wunde.«
»Das Tier im Menschen zu bekämpfen, sind wir auf dieser Erde.«
»Meinen Sie, Herr Doktor! Ich meinte nur, die Klauen und die Stacheln unter einer glatten Haut zu verbergen. – Wer leben will, atmen, genießen«, rief sie mit einer heiseren Stimme, die nur aus einer zerrissenen Brust kommt, »dem rate ich nicht, die Waffen fortzuwerfen, die ihm die Natur gab.«
»Sie gab uns auch andre – einen Schild, durch welchen die Stacheln nicht dringen.«
»Der Schild, den Sie meinen, heißt Resignation. Sind Sie in der Tat noch so unschuldig, Herr van Asten, oder, ich glaube doch nicht, daß Sie zu den konzilianten Gemütern sich geschlagen haben, die jeden Riß mit einer weißen Salbe heilen möchten. Nein, ich weiß es, auch Sie stemmen den Kopf gegen eine Mauer. – Machen Sie sich doch nicht kleiner, als Sie sein wollen, vor – denen, welche Sie von einer besseren Seite kennengelernt! –« sprach sie plötzlich aufstehend. Sie war in einer Aufregung, die Walter an ihr neu war. Sie wollte das Zimmer verlassen, aber es war ein Dämon in ihr, der sie sprechen ließ, was sie nicht sprechen wollte.
»Das Leben ist ein fortwährender Krieg aller gegen alle. Einfaltspinsel oder Betrüger, die von der Humanität faseln. Die stillen, friedlichen Pflanzen haben kein ander Naturgesetz, als eine die andre niederzudrücken. Nur die entfernt stehen auf zwei Gipfeln, die den Saft der Erde, Tau und Licht des Himmels nicht zu teilen haben, mögen mit Liebe kokettieren. Das kann der Mensch nicht. Zwei, die auf zwei Gipfelhöhen stehen, beneiden sich auch in der Entfernung; so fein hat die Natur es gefügt. Unterbrechen Sie mich nicht, mein Herr, ich statuiere gar keine Ausnahmen. Mann und Frau sind doch wenigstens eins, wollten Sie einwenden! Ja! bei den Ehen, die im Himmel geschlossen werden. Nur schade, daß bei denen, die wir kennen, der Notar und der Geistliche das Werkzeug waren. Wir leben auf dieser Erde, mein Herr. Ihre dämonischen Säfte, ihr Atem zuckt in unserm Blute, und ihr Prinzip ist: töten, indem wir nach Luft und Leben ringen. Ihre Rechtsgelehrten sprechen ja wohl von dem Recht der Not, wonach von zwei Schiffbrüchigen auf einem Brett der schlauere und stärkere den andern hinabstoßen darf. Die Toren nennen es einen Ausnahmefall. Es ist die Regel, das Naturgesetz, danach leben Könige und Völker, es gilt allüberall, wo die heiße Sonne auf das blasse Elend scheint, und der blasse Mond spöttisch über die Seufzer lächelt, die aus der heißen Brust zu ihm aufsteigen. Oder gehören Sie zu denen, die das Brett loslassen und sich von der Welle fortspülen lassen, damit die Kreatur am andern Ende, der edle Nebenmensch, gerettet wird?«
»Ich ward noch nicht in die Versuchung geführt.«
»Wenigstens ehrlich!« lachte die Geheimrätin. »Nein, nur halb ehrlich! Die kleinen Versuchungen, wo sie unterlagen, haben Sie aus Schonung gegen sich selbst vergessen. Sie zittern nur vor den großen, die noch kommen.«
»Ich will sie abwarten.«
»Mit der Miene eines Stoikers. Aber ich sehe, wie der unterdrückte Ehrgeiz, das getäuschte Vertrauen unter den Fältchen Ihrer Stirn kocht. Sie tun recht daran, Herr van Asten, die Haut recht glatt zu spannen. Aber mich täuschen Sie nicht, so wenig als ich Sie täuschen will. Ja, ich bin im Kriege mit dieser Welt um mich her. Wenn ich nicht schon ganz gemieden, ausgestoßen bin, oh, glauben Sie nicht, daß es aus Menschenliebe, aus einem Rest von Achtung vor meinen Eigenschaften ist. Die gesellschaftlichen Rücksichten drücken ihren Stachel auf den zurück, der sie zuerst bricht. Das ist es allein. Darum kommt man noch in mein Haus, darum öffnen sich die Flügeltüren, wo ich erscheine. Darum noch Händedrücke, plötzlich süße Mienen, wie sauer es ihnen auch wird, ein Embrassement! Ich gebe ja noch zu essen, ich habe einen Namen, mein Mann hat einen, meine Väter hatten einen. Andere führen eine glänzende Tafel, haben höhere Titel, versammeln anmutigere Gesellschaft um sich, aber die Türen könnten sich doch einmal schließen, man könnte hinausgestoßen werden, und dann bin ich gut genug als pis-aller. Oh, die Menschen sind vorsichtige Rechenmeister. Auch sind einige so gütig, zu meinen, daß ich Verstand hätte, sogar einen scharfen. Ich sehe ihre Schwächen. Das ist vielen sehr unangenehm. Meine Zunge verwundet auch wohl; es ist meine Natur. Das ist vielen dieser zartgeschaffenen Seelen noch unangenehmer. Da sie mich nicht von der Welt schaffen können, was ihnen das liebste wäre, versuchen sie, mit mir zu liebäugeln. Und das ist das gescheiteste. Wen man fürchtet und nicht vernichten kann, muß man streicheln, bis die Gelegenheit kommt, eine Fallgrube, in die man ihn hinterrücks stößt. Das ist die Politik der Natur; Könige und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben sie, und es gibt solche, die meinen, daß die Welt nur durch sie besteht.«
Wer hatte diese unglückliche Frau bis zu diesem Äußersten gereizt? So hatte sie sich nie ihm gezeigt. Sie schien seine Gedanken zu lesen:
»Hat meine Aufwallung Sie erschreckt? Beruhigen Sie sich, mein Herr, ich werde auch wieder ruhig werden. Es ist zuweilen Bedürfnis, sich gegen Menschen auszusprechen, von denen wir glauben, daß sie uns verstehen.«
Sie war ans Fenster getreten, aber mit einem Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter, jetzt aufmerksamer, bemerkte. Sie hatte das Fenster geöffnet, um Luft zu schöpfen, aber sie hatte mit dem Tuche rasch die Toilette ihrer Physiognomie gebessert. Als sie sich zu unserm Bekannten umwandte, war das Gesicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung war verschwunden, die Augen stachen noch, aber glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernste Ausdruck, der in ihren Zügen fesselte und abstieß.
»Ich gab mich Ihnen eben ganz, wie ich bin. Sie konnten das geheimste Fältchen in meiner Seele lesen. Ich überlasse Ihnen, davon Gebrauch zu machen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht so albern, zu glauben, daß ein Rest von Dankbarkeit und Pietät Sie bestimmen sollte, mich zu schonen. Nein, beurteilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der Welt, wie Sie mich kennengelernt. Mein unglücklicher Mann wird sterben – den täuschenden Trost der Ärzte weiß ich zu würdigen –, er wird sterben, und mich wird man anklagen. Man wird sagen, ja, als es zum Ärgsten kam, da schlug ihr das Gewissen, da pflegte sie ihn, da verließ sie ihn nicht bei Tag und Nacht, da härmte sie sich ab. Warum nicht früher? Und die klugen Leute haben recht, denn der Schein ist wider mich. Wer sieht denn hinein in das geheime, zwanzigjährige Wehe eines zerrissenen Herzens! Ich verbarg es der Welt; es hat niemand ein Recht, meine zerrissenen Schuldbücher nachzuschlagen. Das Glück meines Lebens kostete mich der Schein, die Rolle einer Befriedigten zu spielen. Wenn ich nun aufschrie: Er war nie mein Gatte! Nein, mein Herr, ich ward ruhig, ich ward sehr ruhig. Sie mögen mich eine Frau schelten, die um ihren Mann sich erst kümmerte, als der Anstand forderte, auf seinem Totenbett das Haar vor Schmerz zu raufen. Ich will ihnen auch den Gefallen nicht tun; ich will ihnen auch den Schein lassen, mich kalt, gefühl- und herzlos zu schelten. Meine Trauer will ich in mich verschließen und eine stumme Bildsäule an seinem Sarge stehen, damit sie ein Rätsel mehr zu lösen finden. Jeder mag es nach seiner Art. Sie, Herr van Asten, kennen mich nun, in einer unbewachten Stunde schloß ich mein ganzes zerrüttetes Sein vor Ihnen auf – Nun suchen Sie sich Kompanie, die Ihnen gefällt, unter Hohen und Niedern, über mich herzufallen, mich zu zergliedern, verurteilen. Ich bin auf alles gefaßt.«
»Ich aber nicht darauf, daß Frau Geheimrätin Lupinus mich dazu fähig hält.«
»Fähig, das weiß ich nicht, ich kenne Sie nicht genug. Aber aus Klugheit dürfen Sie vielleicht nicht Kompanieschaft halten. Die gemeinen Seelen müssen, es ist ihre Natur, Krieg führen gegen alles, was sich über ihr Niveau erhebt. Und Sie sind in diesem Kriege. Bleiben Sie in der Defensive, so sind Sie verloren. – Ich weiß es nicht«, setzte sie nach einer Weile hinzu, »ich kümmere mich nicht darum, ob Sie den Mut haben, Ihren Feinden ins Lager zu dringen.«
Unwillkürlich war Walters Blick auf seinen Arm in der Binde gefallen.
»Sie haben den Chevaleresken gespielt, Ihren Gegner am Leben gelassen. Verspielt, Herr van Asten! Wer seinen Gegner nicht vernichtet, hat ihn gestärkt. Hätten Sie Rache genommen, wie die Beleidigung es heischte, ja dann – aber glauben Sie nicht, daß man Sie darum für einen Kavalier hält, weil Sie nach der Mondscheinschrift in dem schwarzen Buch der Kavalierehre gehandelt. Obsolete Dinge! Man zuckt die Achseln, ein Gelächter rieselt, wenn die Junkeroffiziere von der Affäre erzählen. Der andre wird jetzt beklagt, Sie – Sie, Walter, werden nicht gefürchtet. Und Sie könnten gefürchtet werden, es war in Ihre Hand gegeben. Es war die einzige Waffe für den Bürgerlichen, glauben Sie mir, ich kenne sie ja, sich Respekt zu verschaffen. Die warfen Sie aus der Hand. Was wollen Sie nun tun? Alles, was Ihre feine, scharfe Feder schreibt, kitzelt ja keinem die Haut. Sie antichambrieren umsonst, Ihre Ideen bleiben Mondscheinsgedanken, denn die Welt bleibt dieselbe, Herr van Asten. Nach jedem Erdbeben, wo etwa die Lohe des Geistes, aus der verschlossenen Tiefe berstend, über die Täler und Berge wirbelte und die Wolken erleuchtete, wo die Geknebelten Freiheit schrien und Recht, nach jedem solchen Rausch kommen sie wieder zur Besinnung, es zieht sich wieder die Rhinozeroshaut der Gewohnheit um das Pseudotitanengeschlecht, das den Himmel stürmen wollte, und die Menschheitsbeglücker hat man noch immer nachher gekreuzigt und verbrannt, wenn man es nicht für bequemer hielt, sie nur einzusperren und auf dem Stroh verfaulen zu lassen. Die Welt wird nicht anders.«
»Noch würde ich sie geändert haben, wenn ich den Kornett in die jenseitige geschickt. Die Rache baut nicht Häuser, sie zerstört nur. Wehe, wo es gilt, unser zerrüttetes Gemeinwesen wieder zu heben, wenn die bisher Gedrückten nur daran denken, sich an ihren Unterdrückern zu rächen, wenn nicht alles Persönliche als wesenlos beiseite bleibt, wenn die Retter nicht mit ernstem, heiligem Willen an die Tat gehen.«
Man hätte ein chamäleontisches Mienenspiel auf dem Gesicht der Geheimrätin bemerken können, das sich endlich in ein feines ironisches Lächeln um ihre Lippen auflöste:
»Sie haben die Prüfung gut bestanden, Herr van Asten; ganz wie ich sie erwartete. Hoffen wir alle auf dem Wege der Geduld und Entsagung zu unserm Recht zu kommen. Ich habe Geduld. Nicht wahr! Und ich habe entsagt – sogar dem Glück, verstanden zu werden. Kann man mehr? Leben Sie wohl –«
Sie war gegangen, um an der Tür wieder stehenzubleiben: »Sahen Sie Adelheid seit Ihrem Ehrenhandel?«
»Sie hatte einen Rückfall, als ich nach meiner Genesung ansprach.«
»Sie werden auch in dieser Entsagung sich einen Lorbeer erwerben können.«
»Wenn ich um den Sinn der Worte bitten darf?«
»Daß Adelheids Sinn, seit sie bei der Fürstin ist, sich geändert hat, brauche ich Ihnen doch nicht erst zu sagen.«
»Die Fürstin hat so wenig Macht, als irgendeine Frau auf Erden, Adelheids Sinn zu beugen.«
»Freilich, da ein andrer ihn schon gebeugt hatte.«
»Ich werde mich selbst zu beugen wissen vor dem Unabänderlichen, wenn es entschieden ist.«
»Eine seltsame Bezeichnung für den jungen Bovillard.«
»Bovillard!«
»Liebt, das heißt, er rast für sie. Nun, das weiß jedes Kind – Sie gewiß auch.«
»Bovillard!«
»Er ist ja auch wohl Ihr Freund! Was tut das? Daß die Fürstin sie deshalb zu sich genommen, daß es eine große Komödie in der Komödie war, ist Stadtgespräch. Daß Adelheid seine Neigung erwidert und nur krank ist, weil sie es zu gestehen sich scheut, sind öffentliche Geheimnisse.«
Walter hatte an seinen wunden Arm gefaßt, nur um mit der Hand irgend etwas zu fassen. Der furchtbare Schmerz erpreßte einen unterdrückten Schrei, er lehnte sich erblassend an ein Möbel.
»Nun, Sie werden heroisch sein. Wer wird Rache nehmen, wenn er beleidigt ist! Und an einem Freund! Übrigens glaube ich wirklich nicht, daß die Fürstin Gargazin an Herrn von Bovillard ernstlich denkt. Sie hat wohl andre Pläne. – Haben Sie nicht gehört, wann Kaiser Alexander Berlin wieder besucht?«
Walter hatte nur die Hälfte gehört.
Er hatte, respektvoll vor ihr sich neigend, für die gütigen Mitteilungen gedankt; der Kaiser, wie er gehört, werde ein Bad in Asien besuchen. Es sei bei der geschwächten Gesundheit des erhabenen Monarchen wohl recht zu wünschen. Unten an der Treppe faßte er wieder seinen Arm. »Dies Weib! Dies Weib! Gießt sie Gift oder Feuer in meine Adern!«
Die Lupinus lachte, als sie allein war, häßlich auf: »Der Wurm sticht doch, wenn er getreten wird, und der verwundete Elefant und Löwe erhebt ein Gebrüll, wovon der Wald erzittert, nur der Mensch prätendiert, edel zu sein, wenn er mit einem stummen Seufzer sich zertreten läßt.«