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14.

Von diesem Tage ab wurde im Hause des Barons Herwey der Name Désirée nicht mehr genannt. Sie war plötzlich verschwunden und ließ nichts zurück als die Erinnerungen in jenen Zimmern der Villa, die sie bewohnt hatte. Das Obergeschoß wurde abgeschlossen und nur gelegentlich noch einmal geöffnet, als Erika eines Tages einen kühl gehaltenen Brief von ihr erhielt, in dem sie um Zusendung ihrer zurückgelassenen Toiletten, ihrer Leibwäsche und einiger anderer Dinge bat, die an die Adresse eines Pariser Spediteurs gehen sollten. Erika packte mit großer Sorgfalt alles zusammen, was das persönliche Eigentum Désirées war, und stieß bei ihrer Räumarbeit auch auf einen Stapel zusammengeschnürter Schriftstücke, die sich in einem geldschrankartigen Spindchen befanden, in dem Désirée ihre Juwelen aufzuheben pflegte. Erika übergab die Papiere ihrem Vater, der sie prüfte und in einer Geheimschrift abgefaßt fand, die er nicht zu entziffern wünschte. Er wußte, von wem sie stammten.

Es war selbstverständlich, daß das Verschwinden der Baronin Herwey in der Gesellschaft Aufsehen erregte, und zwar am meisten in der Fremdenkolonie und in diplomatischen Kreisen. Sie war eine zu bekannte und ihrer Schönheit, Anmut und Liebenswürdigkeit halber zu allgemein bewunderte Persönlichkeit gewesen, als daß man sie nicht vermißt hätte. Es sickerte bald auch durch, daß sie sich nicht nur auf einer Vergnügungsreise befand und daß sie nicht freiwillig Berlin verlassen hatte. Man flüsterte von ihren politischen Beziehungen und von einem peinlichen Zwiespalt, in den ihr Gatte dieserhalb geraten sei und der ihn auch mit dem Bundeskanzler in einen Konflikt gebracht haben sollte. Das entsprach indessen nicht der Wahrheit. Herwey hatte lediglich mit dem Chef der Politischen Abteilung auf dem Polizeipräsidium eine Rücksprache gehabt, und damit hatte diese »Privatangelegenheit« ihre Erledigung gefunden. Da er der Trauer halber noch die große Geselligkeit mied, die nunmehr sowieso langsam zu versickern begann, so ergab sich von selbst, daß ihm unangenehme Augenblicke erspart blieben. In seinem geschäftlichen Verkehr mit den Behörden und Gesandtschaften aber wurde sein Scheidungsprozeß nie mit einem Worte berührt. Man hütete sich, auf das Geschehnis zurückzukommen. Man vergaß Désirée schnell und geflissentlich.

Herwey hatte in dieser Zeit schwer mit seinen Geldsorgen zu kämpfen. Allerdings konnte er seinen Haushalt einschränken, doch bei der beherrschenden Macht des äußeren Scheines durch die Gesellschaft sah er sich immerhin gezwungen, sich noch weiter ihren Daseinsformen anzupassen. Er mußte seine Verlegenheiten vor der Welt verbergen, und er tat dies mit großer Geschicklichkeit, zumal ihm durch Prim in Madrid ein Kredit eröffnet worden war, den der spanische Gesandte in Berlin bereitwillig unterstützte. Denn die Angelegenheit der Thronkandidatur schritt dank der Unermüdlichkeit Salazars rüstig weiter. Bismarck war zwar erkrankt, befand sich in Varzin, hatte aber dem ihn drängenden Minister Prim schreiben lassen, er betrachte die Kandidatur als eine treffliche Sache, die man im Auge behalten, jedoch nicht mit der preußischen Regierung, sondern mit dem Prinzen Leopold allein behandeln müsse. Das war der Weg, den Baron Herwey Salazar bereits angeraten hatte: die zünftige Diplomatie wollte man damit nicht behelligen, aber unter der Hand konnten neue Fäden geknüpft und verschlungen werden.

Im Mai weilte Baron Herwey einige Tage in Wien, um mit Robino ernstlich Rücksprache wegen des Manuskripts über das Welfenreich zu nehmen. Er wollte diese übereilte, ihn ewig beunruhigende Geschichte aus der Welt geschafft wissen. Robino war jetzt nicht mehr der verkommene Alkoholiker von ehemals. Er liebte zwar noch immer die Champagnermischung mit Kognak, aber er bewohnte nun ein behaglicheres Quartier, hielt sich einen Sekretär, ging anständig gekleidet und trug das Gehaben eines wohlhabenden Bürgers zur Schau. Über die Ausarbeitung Hans Weerths machte er Angaben, denen Herwey nicht traute. Sie sollte noch immer in Hietzing liegen, und es wurde nach wie vor darüber verhandelt. König Georg, der schon wieder in Gmunden war, sträubte sich mit aller Entschiedenheit gegen die ihm zugemutete Pression, während seine Minister willens schienen, die ekelhafte Sache endgültig zu begraben, um nicht noch mehr den Spott der Welt herauszufordern. Nur über die Abstandssumme hatte man sich noch nicht einigen können; man schacherte hin und her, und wie Robino lächelnd erklärte, würde man ja auch einen Nachlaß bewilligen können, aber keinen, der dem sprichwörtlich gewordenen Geize des Hofes von Hietzing entspräche. Also ruhig abwarten und nichts übereilen. Gefahr lag nicht vor, denn an die große Glocke konnte man die Geschichte nicht bringen, ohne sich von neuem lächerlich zu machen.

Herwey mußte sich fügen, so unlieb es ihm war. Dafür konnte er eine Neuigkeit mit nach Berlin nehmen, die indirekt auch für die spanische Frage von Wichtigkeit war und die er durch seine alte Freundin, die Baronin Boureuille, erfuhr. Napoleon hatte den vielbesprochenen Feldzugsplan des Erzherzogs Albrecht wieder aus seinen Mappen hervorgeholt, von seinem Generalstab einen Gegenvorschlag ausarbeiten lassen und den General Lebrun mit diesem nach Wien geschickt, um ihn mit dem Erzherzog zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit wurde der General auch vom Kaiser Franz Joseph empfangen, der sich indessen weigerte, auf den Feldzugsplan einzugehen und Lebrun offenherzig erklärte, daß Frankreich für einen Kriegsfall mit Preußen unbedingt nicht auf den Beistand Österreichs rechnen könne.

Da nun auch Olliviers römische Politik ein Bündnis mit Italien höchst zweifelhaft gemacht hatte, so war Frankreich so gut wie vereinsamt, und es erschien ausgeschlossen, daß Napoleon die spanische Kandidatur als Vorwand für einen Feldzug benutzen würde. Allerdings war der Herzog von Gramont, wie erwartet, von seinem Botschafterposten in Wien abberufen worden und in Paris an die Stelle Darus getreten. Sein Preußenhaß, seine Gegnerschaft zu Bismarck und seine Unbedachtsamkeit waren bekannt. Aber Herwey sah in seiner Berufung doch nur eine Konzession an die Klerikalen und zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Kaiser wie auch Ollivier der phantastischen Fehdelust des eitlen Mannes Zügel anlegen würden.

Herwey hatte sich äußerlich in der letzten Zeit wenig verändert. Nur das Haar war grauer geworden, und das Gesicht hatte seinen alten charakteristischen Ausdruck verloren. Es schien breiter geworden zu sein, gewissermaßen schwammiger, und zeigte nicht mehr die malerische Tönung von ehemals, die wie eine innere geistige Durchleuchtung gewesen war. Sonst aber hielt er sich straff und aufrecht und ließ niemand merken, daß ein unheilbarer Bruch in sein Leben gekommen war. Er wurde noch überall empfangen und genoß vor allem das Vertrauen des Auswärtigen Amtes, das er auch zu rechtfertigen sich mühte. Denn in diesen Zeiten des Leids machte eine blaß umrissene Reue sich in ihm fühlbar, die ihn nach neuen Standorten suchen ließ. In der Entfaltung einer zu sich selbst zurückgekehrten Innerlichkeit dachte er wieder an das ehrliche Handwerk früherer Tage, da ihm die Politik noch nicht eine allzu gefällige Dirne geworden war. Aber diese Wendung zu reinerem Schaffen, von der er eine Beruhigung des Gemüts erhoffte, verdankte doch nur Augenblicksaffekten ihre Entstehung, die aus der weinerlichen Stimmung eines Menschen hervorgingen, der plötzlich jeden Halt verloren hat. In der Tat ertappte sich Herwey zuweilen bei einer elegischen Träne, die einsam über die graue Wange rann, und schalt sich dann selber ein altes Weib.

Die rumänische Angelegenheit ließ er einschlafen, auch wieder mehr aus einer sentimentalen Anwandlung als aus der Überzeugung heraus, daß da doch nichts mehr zu machen sei. Der Anwalt in Bukarest hatte den Antrag gestellt, den sogenannten Baron Fatin-Lévêque wegen Betrugs und Unterschlagung steckbrieflich verfolgen zu lassen. Aber Herwey war über Nacht zu der Ansicht gekommen, daß das seiner nicht würdig sei, und zwar lag dieser Ansicht die ihm von einem Pariser Gewährsmann gewordene Mitteilung zugrunde, daß Désirée wieder mit Lavergne zusammenlebte. Und nun flüchtete Herwey von neuem in die stillste Heimlichkeit seines Herzens und ließ den Schurken laufen, um der nicht wehezutun, an die er immer noch nicht ohne schmerzliche Erschütterung zurückdenken konnte. Um den rumänischen Verlust einigermaßen auszugleichen, verkaufte er seine wertvolle Autographensammlung, die ein reicher Liebhaber gut bezahlte. Nur die Briefe des Ministers Weerth behielt er zurück und schenkte sie seinem Schwiegersohn.

Erika wohnte jetzt wieder bei ihm und führte den Haushalt. Aber man saß doch nur bei der Abendmahlzeit zusammen. Herwey hatte sich angewöhnt, in der Stadt zu frühstücken; er war bei Ewest Stammgast geworden und traf sich dort mit seinen Bekannten oder auch in dem Paragraph Elf genannten kleinen Zimmerchen hinter dem Büfett bei Hiller Unter den Linden. Unbedingt war hier oder dort immer der dicke Pernice zu finden, der nach wie vor mit unermüdlicher Ausdauer die Rechte Kurhessens vertrat, häufig aber auch Herren der Diplomatie und vom Hofe, wie der Oberstschenk Prinz Biron von Kurland, der Fürst zu Putbus und der Hofmarschall Graf Perponcher, und aus der großen Welt des Handels und der Spekulation vor allem Strousberg, der trotz des nahenden Zusammenbruchs des rumänischen Kartenhauses sich schon wieder mit weitreichenden neuen Plänen trug. Zuweilen dehnten diese Frühstücksstunden sich aus, und wenn dann Baron Herwey mit gerötetem Gesicht heimkehrte, erzählte er fröhlich allerhand Interessantes: wie man das neue Lokal von Dressel eröffnet und welche drollige Rede der Justizrat Primker dabei gehalten habe, und erzählte weiter von einem unerwarteten Besuch des alten Wrangel, den die Schauspieler vom Wallner-Theater, Lebrun und Helmerding und Hugo Müller, am liebsten auf den Schultern die Linden hinabgetragen hätten, und derlei ulkige Dinge mehr. Aber die Heiterkeit ihres Vaters gefiel Erika nicht immer. Er war freilich nie ein Verächter der Tafelfreuden gewesen, hatte eine feine Zunge und verstand sich auf die Beurteilung der Weine. Doch nun fiel ihr auf, daß er zuweilen mehr trank, als ihm zuträglich sein mochte.

Öfters waren auch Herbert, Annemarie und Hans Weerth bei ihm zu Tisch. Dann ging er selbst in den Keller und holte die Weine herauf und saß lange mit den Seinen zusammen und freute sich an ihrem Glück. Aber dabei kam es gewöhnlich so, daß er stiller und stiller wurde, je länger die Tafel sich ausdehnte, und oft sahen die Kinder auch, daß er sich plötzlich mit dem Handrücken über die Augen fuhr, als wolle er eine Erinnerung aus der Sehweite wischen.

»Vater ist nicht wiederzuerkennen,« sagte Herbert gelegentlich zu seiner Schwester. »Ich glaube, er denkt immer noch an das verfluch – denkt immer noch an die Dame im Obergeschoß zurück. Ist dir bekannt, ob er Nachrichten von ihr erhält?«

»Ich vermute es, Herbert,« erwiderte Erika, »kann es aber nicht ändern. Er erwähnte nur einmal nebenbei, daß ihm das Weib in Paris in die Quere komme. ›Das Weib‹ sagte er damals, und er meinte wohl politische Dinge. Seine Gewährsleute werden ihn auf dem laufenden halten.«

»Was machen wir mit ihm, wenn wir erst verheiratet sind?« fragte Herbert. »Allein kann er nicht bleiben. Wenn er sich doch entschließen möchte, eine Hausdame zu nehmen.«

Erika schüttelte den Kopf. »Das tut er bestimmt nicht. Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Aber er sagt, der ewige Anblick einer Fremden im eigenen Hause sei ihm ein unerträglicher Gedanke. Wenn der Sommer da ist, wird ja eine stillere Zeit für die Politik kommen. Vielleicht können wir ihn dann bewegen, ein paar Wochen an die See zu gehen …«

Die Doppelhochzeit hatte auf einige Zeit verschoben werden müssen. Sie sollte nun in den ersten Julitagen stattfinden. Dann wollten die beiden Paare eine kurze Reise antreten und hierauf das neue Heim beziehen. Sie wanderten frohgemut in die Zukunft hinein. Ein Gefühl innerer Zusammengehörigkeit beseelte sie und der Glaube an einen festen Boden für das Evangelium der Arbeit. Herbert hatte seinen Roman verkaufen können und Hans sein Versstück aus der Biedermeierzeit beendet. Es sollte diesmal an der Friedrich-Wilhelm-Stadt zur Aufführung kommen, weil es seiner ganzen Tonart nach zu keck für die geheiligten Hallen des Königlichen Schauspielhauses war.

Mitte Juni hatte Herwey versprochen, sich einmal das Dichterheim am Kreuzberg anzuschauen. Es war ein heiterer Tag für ihn. Der spanische Staatsrat Salazar war wieder in Berlin und war soeben aus Sigmaringen zurückgekehrt, wo er mit dem Fürsten Carl Anton und dem Fürsten Leopold eine letzte Besprechung gehabt hatte, über die er Herwey freudig berichtete. Salazar hatte die Stimmung der beiden Hohenzollern erheblich zugunsten Spaniens verändert gefunden und glaubte daher an einen zustimmenden Einfluß Bismarcks. Anfänglich, sagte er, habe der Fürst eine Aufschiebung der Königswahl um etwa drei Monate für wünschenswert gehalten, aber er habe ihn überzeugen können, daß Prim die Cortes nunmehr vor eine Entscheidung stellen müsse. Die Frage der Thronkandidatur sei also gesichert, um jedoch das Geheimnis bis zum letzten Augenblick zu wahren, wollte Prinz Leopold dem König Wilhelm erst Mitteilung von seinem Entschlusse nach amtlicher Anerkennung der Wahl durch die Cortes machen. Der König stand im Begriff, sich zu seiner gewohnten alljährlichen Brunnenkur nach Ems zu begeben.

Da Herwey infolge der bevorstehenden Ereignisse eine Hausse an der Börse erwartete, so fuhr er zunächst nach seiner Bank, um entsprechende Aufträge zu erteilen, und von dort aus zum Kreuzberg. Hier empfing ihn Pressel in großer Livree schon an der Gartentür und führte ihn in die Villa, wo die beiden Paare seiner harrten, ihm in feierlicher, durch ein Dichterwort gewürzter Kundgebung Brot und Salz reichten und ihn sodann durch das Haus geleiteten. Der Architekt hatte sein Möglichstes getan, es unter Wahrung des ursprünglichen Stils mit moderner Behaglichkeit auszustatten. Den Glanz der Freude am Eigentum auf den Gesichtern, zeigten die beiden Mädchen ihrem alten Herrn die Herrlichkeiten der neuen Wohnung, die auch in ihrer klugen Teilung des gemeinsamen Zusammenhalts nicht entbehrte. Herbert gab den Erklärer ab. Er ließ alle Türen öffnen, so daß ein leichter Zug entstand, der bei dem Sommerwetter indes nicht störte. »Siehst du, Papa,« sagte er, »hier liegen unsre Arbeitszimmer. Das meine ist etwas weniger opulent gehalten als das von Hans, der noch über das schöne Mobiliar seines Vaters verfügen konnte. Das Verbindungsglied da, wo der lange Schreibtisch steht, bildet den Raum für die Doppelfirma, für die Arbeit zu zweien. Hier wohnt der Optimismus gesteigerter Kraftentfaltung, hier werden wir die Verwicklungen der verschiedensten Probleme mit kühner Hand lösen, bis uns der Hirnkasten schmerzt. Eine ähnliche topographische Einteilung findest du bei unsern Damen. Dort das Boudoir Erikas, kenntlich an den selbstgemalten Türfüllungen und an den unfehlbaren Supraporten, drüben das Winkelglück Annemiezes mit dem Nähtisch und dem philosophischen Bücherschrank. Dazwischen abermals ein gemeinsamer Raum, der Salon, nicht nur für Gäste und keine kalte Pracht, sondern ein anmutendes Wohngemach für hervorragende Individuen beiderlei Geschlechts, die aus der Vereinzelung sich gern zu einem Gesamtleben finden. Gleicher Ganzwerdung dient das Eßzimmer, das alte Atrium, in dem du schon den Tisch gedeckt siehst, elegant wie alles, was Pressel in die Hand nimmt. Überhaupt Pressel. Und nun rechter und linker Hand die Schlafzimmer, luftig und duftig, und daran anschließend, was ich dir nur heimlich zuraune, um einem holden Erröten unsrer Bräute vorzubeugen, ein paar kleinere, zunächst noch etwas leere Gemächer: die Empfangskabinen für einen etwaigen Klapperstorch. Wir haben also an alles gedacht und können Kant widersprechen, wenn er behauptet, selbst das Erhabenste verkleinere sich unter den Händen der Menschen, weil sie die Idee des Großen zu ihrem Gebrauch verwenden. Bei uns klappen Idee und Gebrauch zusammen – quod erat demonstrandum.«

Natürlich mußte Herwey auch noch die Parkanlagen bewundern. Im kleinen Vordergarten blühten schon die Rosen, der Rasen war geschoren und glänzte dunkelgrün, während die mit Buchsbaum eingefaßten Wege mit rötlichgelbem Kies bestreut waren.

»Pressel wollte in kühnem Gedankenfluge Schlängelwege anlegen,« erklärte Herbert weiter, »aber es ging nicht. Die räumlichen Verhältnisse waren dagegen. Es ließ sich immer nur ein Doppelweg erzielen, einer in der Senkrechte und der zweite in scharfem Winkel zu dieser. So macht das Prachtstück einen etwas mathematischen Eindruck, zumal auch die Rosen in Grenadierfront stehen. Aber Herr von Bake meint doch, es sei das niedlichste Gärtchen, das er je gesehen hat, es sei ein ganz allerliebstes Jardinetchen.«

Der Hintergarten war geräumiger, diente indes hauptsächlich der Küchenkultur. Die Anlage hatte natürlich gleichfalls Pressel besorgt und dazu einen ganzen Wagen Humus aus Pankow kommen lassen, wo er die reichhaltigsten Zersetzungsstoffe enthalten sollte. In die Pflege teilten sich dagegen Erika und Annemarie. Die eine hatte das Strauch- und Baumobst unter sich, die andere das Gemüse, während Herbert sich die Erdbeerplantage vorbehielt. »Du darfst das alles noch nicht gar zu prüfend betrachten, Papa,« sagte er, »die Üppigkeit soll sich erst entwickeln, ich bin jedoch nicht im Zweifel, daß das kommen wird, wenn der Pankower Urschleim mit dem Kreuzbergsande in die rechte chemische Verbindung getreten ist. Die Laube da drüben war ein Wunsch von Hans, weil er in Zeiten, da die blaue Blume der Romantik ihm lockender erscheint als das Bilsenkraut der Realistik, im Schatten des Jasmins dichten möchte. Das wird freilich noch etwas währen, denn der Jasmin ist kaum mannshoch, aber wir haben ja nichts zu versäumen. Nun möchte ich dich noch bitten, auf den Altan zu treten, den du an der Rückfront des Hauses bemerkst. Man kann auch Balkon sagen, aber Altan klingt hübscher. Es eröffnet sich dir von dort aus ein berauschender Blick auf das ganze Kreuzgebirge mit seinen Firnen und Tälern, und wenn du genau hinsiehst, wirst du vielleicht auch etwas von dem ewigen Schnee auf seiner höchsten Höhe bemerken. Und dann wollen wir frühstücken …«

Baron Herwey fuhr in guter Stimmung nach Hause zurück. Er hatte ziemlich rasch getrunken und plauderte unterwegs noch viel mit der neben ihm sitzenden Erika, bis er ganz plötzlich still wurde, sich in die Ecke lehnte und die Augen schloß. Erika glaubte, er wolle ein Mittagsschläfchen halten, und störte ihn nicht. Aber da hob er wieder die schweren Lider und sagte unvermittelt mit gepreßter Stimme:

»Weißt du, Eri, ich bin der Überzeugung, auch Désirée würde sich über euer Glück gefreut haben. Eigentlich hatte sie dich herzlich lieb.«

Erika antwortete nicht sogleich, dann aber entgegnete sie in festem Ton:

»Papa, du hast uns verboten, in deiner Gegenwart von dieser Frau zu sprechen. Wir richten uns danach. Doch ich möchte nun auch dich bitten, ihrer nicht mehr zu erwähnen. Willst du sie nicht vergessen?«

Er nickte eifrig. »Ja – du hast recht, ich will,« erwiderte er hastig. »Morgen ist wieder Termin in meinem Prozeß. Vielleicht der letzte. Ich will,« wiederholte er und drückte stark Erikas Hand.

Aber er blieb schweigsam, und Erika ahnte kummervollen Herzens, wohin seine Gedanken flogen.

Daheim fand Herwey unter anderen Briefschaften auch den Tagesrapport jenes Pariser Agenten vor, dem er am meisten Vertrauen entgegenbrachte. Er las mit gespannter Aufmerksamkeit:

»Die Tatsache, daß der Norddeutsche Bund dem Vertrage zwischen der Schweiz und Italien in Sachen der St.-Gotthard-Bahn beizutreten wünscht und dafür zwanzig Millionen in Aussicht stellt, hat in der Kammer lebhafte Erregung hervorgerufen. Die Redner der Linken wiesen darauf hin, daß Preußen auf dieser Linie in einer Nacht ein Heer von Mainz nach Verona werfen könne, während Frankreich zwischen Rhein und Alpen eingeschlossen sei. Der Kriegsminister hob demgegenüber hervor, Preußen bedürfe mindestens vier Tage, um fünfundzwanzigtausend Mann nach Verona zu bringen, indes Frankreich in dieser Zeit eine ganze Armee von Lyon aus dorthin befördern könne. Auch Gramont trat auf die Seite seines ministeriellen Kollegen und erklärte, die Schweiz würde für die Gotthard-Bahn ebenso wie für ihr übriges Landgebiet die Neutralität aufrecht halten und keine fremden Truppensendungen zulassen. Ein Schlußantrag schnitt weitere Reden ab.

Im übrigen kann ich bestätigen, daß Gramont sich offiziell mit Olliviers Ansichten einverstanden erklärt hat, keinen Angriffskrieg zu führen, aber jede Verletzung energisch zurückzuweisen. Der einzige Unterschied zwischen beiden scheint mir nur darin zu liegen, daß Ollivier bei einer eintretenden Verwicklung schweren Herzens und Gramont mit großer Genugtuung zum Schwerte greifen würde. Frau Egeria verkehrt viel in seinem Hause, seit einiger Zeit aber nicht mehr bei Frau Cornu. Herr von Lavergne ist kürzlich in der Großen Oper in der Loge des Herzogs von Braunschweig gesehen worden. Der ›Figaro‹ brachte einen sicher inspirierten Artikel über ihn, in dem das Blatt unter romanhaften Andeutungen das Schicksal des Verschollenen von Flamandville schildert, der nun wieder in das Leben zurückgetreten sei.«

Baron Herwey spürte etwas wie den Flügelschlag eines müden Vogels im Herzen. Er hatte sich selbst gesagt, und Désirée hatte es ihm wiederholt, daß ein nichtig gewordener Besitz unmöglich einen Verlust bedeuten könne. Désirée hatte ihm mit einem reizenden Lächeln zynischer Offenherzigkeit zugestanden, daß sie nichts wert sei, und wenn er zergliederte, was sie ihm angetan hatte, und in langer Reihe Tat zur Tat fügte, so mußte der Abschluß mit unfehlbarer Logik zu einem schalen Empfinden tiefster Verachtung führen. Aber diese Verachtung konnte sich nicht zu ehrlichem Haß verdichten. Zuweilen überkam ihn ja das Gefühl, daß er dies Weib hassen müsse, weil ihm nur dann als Gegenstrom ein Aufquellen neuer Lebensmöglichkeiten gegeben werden könne. Doch alle künstliche Verschärfung der Affekte mit ihrem bohrenden Nein konnte nicht das Bild der Verlorenen aus seinem Herzen reißen.

Das trat wieder in voller bezaubernder Wirklichkeit vor sein Auge, als er ein paar Tage später einen Brief von ihr erhielt. Sie schrieb:

 

»Mein teurer Baron Herwey,

ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß ich gestern auf dem Generalkonsulat in unsrer lieben Angelegenheit vernommen worden bin. Baron Rothschild hatte die Güte, persönlich das Protokoll zu führen, und da er Sie wie mich kennt, so tat er das mit Geschmack, Gefälligkeit und gutem Willen. Wir werden also auf Grund unüberwindlicher gegenseitiger Abneigung geschieden werden, wozu meinerseits noch das Delikt böswilligen Verlassens tritt. Die ungelöste erste Ehe kommt gar nicht in Frage, obwohl unser Freund Anatol sich wieder mit alter Keckheit in Paris bewegt, als hätte er es nie verlassen.

Ich habe nun eine letzte Bitte an Sie. Ich war nicht immer so leichtsinnig, wie Sie glaubten, und habe aus den Gaben, die Ihre Großmut mir spendete, sogar einige kleine Ersparnisse zurücklegen können. Sie befinden sich auf meinen bisherigen Namen im Depot des Bank- und Wechselgeschäfts von E. Bamberg in der Mohrenstraße. Es sind rund dreiundvierzigtausend Taler, die der Bankier aber erst auszahlen will, wenn Sie Ihre Einwilligung dazu geben. Würden Sie die Güte haben, dies zu veranlassen; er soll mir die Summe auf mein Konto beim hiesigen Hause Rothschild überweisen. Erika sage ich meinen besten Dank für die Zusendung meiner Effekten. Es ist alles richtig in meine Hände gekommen.

Sonst dürfte es Sie noch interessieren, daß Herr Thélin Ihnen über mich absichtlich falsche Angaben gemacht hat. Bestimmte diplomatische Rücksichten veranlaßten ihn dazu. Sie werden die tatsächliche Wahrheit ja noch erfahren, wenn – um eine mir im Gedächtnis haftengebliebene Wendung von früher zu wiederholen – es an der Zeit ist. Und da in Madrid die Cortes vertagt worden sind und demzufolge kaum noch Geheimnis bleiben wird, was für Eingeweihte längst kein Geheimnis mehr ist, so liegt dieser Zeitpunkt sicher nicht mehr in allzu weiter Ferne.

Ich begrüße Sie in durchaus freundlicher Erinnerung –

Désirée.«

 

Herwey las den Brief mehrfach durch. Die Erwähnung Thélins und seiner angeblich diplomatischen Rücksichten war natürlich wieder ein Bluff, eine Lüge wie so vieles, wie fast alles im Leben dieser Frau. Aber es war nicht ausgeschlossen, daß diese Lüge auf lebendigen Füßen weiter durch die Welt laufen sollte, um Désirée mit dem Nimbus eines Schicksals zu umweben, das der Romantik der Franzosen mehr behagte als ein Problem der Vernunft, und das ihr auch politisch gute Dienste leisten konnte. Denn daß sie immer noch ihrer politischen Liebhaberei frönte, ging schon aus der Schlußbemerkung ihres Briefes hervor, die Herwey stutzig machte. Es war richtig, daß bei den Cortes die Sehnsucht der Abgeordneten nach dem heimischen Herde alle ernsthafteren Bedenken der Zeit niedergerissen und man sich bis zum ersten November vertagt hatte. Und auch darin hatte Désirée recht, daß die hohenzollernsche Kandidatur und ihre dreifache Ablehnung durch den Prinzen Leopold längst kein Geheimnis mehr war. Seine endgültige Zusage aber und die Mitteilung darüber an den König Wilhelm sowie der Entschluß Prims, den Cortes die veränderte Sachlage klarzulegen und nötigenfalls eine außerordentliche Sitzung einzuberufen, alles das war bisher streng geheimgehalten worden. Man wollte Napoleon in der Tat, wie Frau Cornu geraten hatte, vor die vollendete Tatsache stellen, und Prinz Leopold hoffte sicher, bei dem geplanten Besuche in Paris auf der Reise nach Madrid den Kaiser zu überzeugen, daß die Annahme der spanischen Krone Preußen und Frankreich keineswegs entfremden, vielleicht sogar näher an einander bringen könne, weil dadurch der englische Einfluß auf der Iberischen Halbinsel ausgeschaltet werden mußte.

Baron Herwey ließ anspannen und fuhr zu dem Bankier Bamberg, um dort seine Zustimmung zu der Auszahlung der Ersparnisse Désirées zu geben. Er dachte auch an die Abschiedsstunde zurück und an ihren Vorwurf, daß er es gewesen war, der die zur Dirne erniedrigte Politik in sein Haus eingelassen hatte. Und in der Erinnerung daran nickte er und gestand sich die Wahrheit dieser Behauptung zu und geriet in einen deklamatorischen Pessimismus, der ihn alle Schuld auf sich selbst häufen ließ.

Vom Bankier aus hatte er sich nach der Wilhelmstraße fahren lassen, aber als der Wagen vor dem Auswärtigen Amt hielt, fühlte er sich so schwach, daß er noch eine Minute sitzenbleiben mußte, um sich zu sammeln. Auf dem Amte hörte er zu seiner Verblüffung kein Wort über die spanische Frage, wohl aber die neueste Depesche aus Paris, die besagte, daß der französische Kriegsminister bei Beratung des Armeebudgets in Anerkennung des ungetrübten Friedenszustandes sich tatsächlich mit einer Aushebung von neunzigtausend Mann an Stelle von hunderttausend begnügt und daß Ollivier in seiner Schlußrede ausdrücklich betont habe, zu keiner Zeit sei die Erhaltung des Friedens gesicherter gewesen als jetzt. Kannte man also in Paris die Absichten der Cortes, so war durch die Beteuerungen der französischen Regierung auch bewiesen, daß man sie billigte, ihnen jedenfalls nicht zu widersprechen vorhatte. Baron Herwey fuhr weiter zur Börse, um dort neue Hausseaufträge zu geben. –

Die Hochzeit der beiden Brautpaare war auf den dritten Juli festgesetzt worden; dann wollte man über Dresden nach Paris. Am Abend vorher zu später Stunde erhielt Herwey noch ein Telegramm von dort:

»Erfahre soeben aus Madrid, daß Prim morgen oder übermorgen Ministerrat berufen will zu amtlicher Anerkennung letzter Kandidatur. Cortes sollen Ende Monats Königswahl bestätigen. Bidache eingeweiht, verhält sich aber noch still. Frau Egeria gestern angeblich nach Biarritz abgereist.«

Bidache war der Herzog von Gramont, der auch den Titel eines Prinzen von Bidache führte. Er »verhielt sich noch still«. Herwey lächelte. Es war ganz zweifellos so, wie er erwartete. Napoleon scheute bei seiner zunehmenden Kränklichkeit ängstlich vor jeder Kriegsursache zurück.

Und Désirée war in Biarritz. Da konnte sie Erholung und Anbeter suchen. Nur das Wort »angeblich« im Telegramm des Agenten störte ihn ein wenig. Hieß das, die Reise in das Seebad könne auch ein bloßer Vorwand sein? Biarritz lag freilich nicht weit von der spanischen Grenze, und der Herzog hatte es schon in Wien geliebt, sich für seine politischen Intrigen weiblicher Hilfskräfte zu bedienen.

Herwey wurde unruhig. Es lag noch eine letzte Möglichkeit vor. Gramont konnte in seinem albernen Preußenhaß die spanische Königswahl stillschweigend unterstützen, weil er sicher war, daß das französische Volk sich dagegen auflehnen würde, und weil er dann in ihr ein Mittel sah, die Massen aus ihrer trägen Friedensliebe emporzureißen.

Der Staatsrat schlief schlecht. Es stand viel für ihn auf dem Spiel. Er war mit aller Energie für den Vorschlag Salazars eingetreten und hatte ihn, gestützt auf seine Pariser Informationen, bei den Sigmaringer Herren wie bei dem Bundeskanzler lebhaft befürwortet. Er hatte auch seinen Kredit auf das äußerste angespannt, um sich bei der erwarteten Haussestimmung der Börse große Vorteile zu verschaffen.

Mit Begierde griff er am nächsten Morgen nach der Frühpost. Aber sie brachte über die spanische Angelegenheit nur das kurze Telegramm eines Agenten in Barcelona, Minister Prim habe mit dem Baron Mercier de Lostande, dem französischen Vertreter in Madrid, eine Aussprache gehabt. Worüber? Kein Wort war über das Thema dieser zweifellos höchst wichtigen Unterhaltung gesagt. Natürlich konnte es sich nur um die Königsfrage handeln.

Am Mittag fand die Trauung der beiden Brautpaare in der Heiligenkreuz-Kirche statt. Man hatte abermals die Trauer vorgeschoben, um keine Gäste hinzuziehen zu brauchen. Herwey fürchtete noch immer die Gesellschaft. Nur Herr von Bake war anwesend; er hatte selbst darum gebeten und sah mit seinem schnurrbärtigen Apfelgesicht und in seinem Frack mit weißer Weste und verschiedenen Orden sehr stattlich aus. Er konnte ganz gut ein Dutzend Brautführer ersetzen.

Erika und Annemarie, beide in Weiß mit der Myrtenkrone auf dem Schleier, saßen andächtig und mit tränennassen Gesichtern vor dem Altar. Auch Hans war bewegt, es störte ihn nur, daß seine Lackstiefel zu eng waren und schmerzhaft drückten. Herbert sah fröhlich aus und tastete zuweilen verstohlen nach der Hand seiner Braut, als wollte er damit sagen: weine nicht, da uns doch das Leben entgegenlacht. Der Staatsrat hielt während der Rede des Geistlichen den Kopf gesenkt. Sicher waren seine Gedanken nicht bei der Sache. Sie fuhren unermüdlich nach Paris und Biarritz und durch Spanien und wieder zurück.

Natürlich war der Geistliche aufgefordert worden, an dem Hochzeitsessen teilzunehmen, er hatte indes einer Familienfeier halber absagen müssen. So war auch bei der Mahlzeit Herr von Bake der einzige Gast und hatte sich darauf vorbereitet. Den Entwurf seiner Rede trug er in der Brusttasche des Fracks.

Das Essen war bei Borchardt bestellt worden, fand aber in der Tiergartenstraße statt. Pressel bediente. Die Weihe des Tages verlieh seinem natürlichen Ich eine positive Bedeutung. Der kleine Tisch und die geringe Personenzahl störten ihn nicht; er gab sich wie bei Hofe, raunte den Tafelnden die Weinmarken wie süße Geheimnisse zu und betrachtete seinen Dienst sichtlich als eine geistige Arbeit, die zu innerer Läuterung führen mußte.

Das junge Volk war sehr vergnügt. Daß man so ganz unter sich war, erhöhte die Freude.

»Denkt euch,« sagte Hans, »wie gräßlich es sein würde, wenn wir heute zu dreißig am Tische sitzen müßten. Da wir so ziemlich verwandtenlos sind, würden es nur sogenannte Gäste sein, also Leute aus dem Bekanntenkreise Papas, vor denen ich natürlich allerhand Respekt habe, die uns persönlich aber höchst gleichgültig sein können. Ich bekenne sogar, daß mich das Fehlen des Pastors nicht weiter stört. Er hat seine Pflicht in dem Augenblick vollendet, da er uns die Ringe ansteckte. Säße er hier, so würde er das unabweisbare Bedürfnis empfinden, eine Rede zu schwingen, und die würde doch nur ein schwächerer Aufguß der Ansprache sein, die er uns am Altare hielt.«

»Das ist nicht gesagt,« wandte Herbert ein, »er könnte sie mit klassischen Zitaten spicken und mit schöner Weltlichkeit durchleuchten. Er brauchte sich nicht mehr auf die Bibel festzulegen, er könnte sogar mit Balzacs Physiologie der Ehe beginnen. Aber mir ist der ganz kleine Kreis auch schon lieber, denn sonst wäre es für dich kaum möglich gewesen, die drückenden Lackstiefel mit dem bequemen Schuhwerk des Alltags zu vertauschen, eine Tatsache, in der ich ein hübsches Symbol der Häuslichkeit sehe, das auf den Augenblick paßt.«

»So ist es,« sagte der Staatsrat zustimmend und schlug mit dem Messer leicht an sein Sektglas, »und, liebe Kinder, das ist's, was ich euch zu dieser Stunde aus wärmstem Vaterherzen wünschen möchte: daß euch die Häuslichkeit ein Asyl biete, in dem ihr Ruhe, Frieden und Sammlung findet nach dem Dienst des Daseins und den Erregungen des Geistes. Das klingt beinahe ein bissel philiströs, ich weiß es, aber glaubt mir nur, in der ungeheuren Schwungkraft der Nerven, die diese hastige Zeit von uns verlangt, wird zuweilen auch die Enge und die Beschränkung zu einer Wohltat und einem Mittel der Gesundung. Wir können nicht immer dem Empfinden der Welt leben, wir müssen auch Einkehr halten in die Welt des Allereigensten, die den Kult der Stille pflegt unter den sanften Händen einer geliebten Frau. Wenn uns das Draußen unablässig in Atem hält, soll euch das Drinnen eine Atempause gönnen. Auch am Schreibtische arbeitet ihr ja für das große Draußen, denn das, was ihr schafft, ist es auch erfüllt von eures Geistes Hauch, gehört nicht mehr euch allein, sondern den Hunderttausenden, an die ihr euch wendet und die auf euch lauschen, die euch ihr Bravo zurufen und ihr Crucifige. Dieser Kampf hat gewiß seine Köstlichkeit, wenn er mit Kraft und Gesinnung geführt wird, aber er will zuweilen seine Waffenruhe haben, damit der Streiter nicht müde wird vor der Zeit. Mir hat sie das Schicksal nicht vergönnt. In dem aufreibenden Beruf, den ich mir erwählte, fehlte mir oft nicht das große Glück, aber immer das kleine. Und ich bitte euch: vergeßt über dem Großen das Kleine nicht und nicht über dem Kampf im Freien die Ruhe im häuslichen Winkel. Ihr habt euch ein hübsches Heim geschaffen, in dem die Arbeitsstätte neben dem Herde liegt, oder vielleicht sage ich besser: euer Turnierplatz neben der Kemenate. An diesem Nebeneinander des Lebens haltet fest. Ich trinke auf euer Wohl, liebe Kinder.«

Alle vier standen auf, traten an den Vater heran und küßten ihn. Sie verstanden ihn und den schmerzlichen Herzschlag seiner Worte.

Es war etwas stiller geworden am Tische, aber dann setzte die Stimmung wieder ein. Borchardt hatte gut geliefert, man freute sich auch an den Genüssen der Tafel, und der Weinkeller im Hause stand noch immer auf der Höhe. Pressel schenkte den Cliquot ein, doch der Staatsrat hielt sich an den alten Larose. In sein Gesicht stieg eine warme Röte und füllte die tieferliegenden Züge aus, das Auge belebte sich im Widerspiel der geistigen Bewegung und fand den Glanz gesunder Tage zurück, das Wort flog ihm wieder von den Lippen, er streute Scherze aus und konnte herzlich lachen – es war, als siege für kurze Zeit die Grundkraft seines Wesens über die Ermattung des Gemüts.

Und dann schlug Ritter Bake an das Glas und schoß auch mit seiner Rede los. Sie war natürlich musischer Feinheiten voll und in einigen Teilen sogar von wirksamer Dunkelheit, aber war etwas zu lang und wurde leider auch von dem Diener unterbrochen, der Herwey einen Brief brachte. Die Adresse war gedruckt und trug den Vermerk »Durch Expreßboten«, und dies schien dem Staatsrat wichtig genug, den Brief zu erbrechen und den Inhalt zu überfliegen, indes Herr von Bake weitersprach, um schließlich das Weib im allgemeinen als das »Herz der Welt« zu feiern und hierauf mit der alten ungebrochenen kattischen Kommandostimme ein Hoch auf die beiden jungen Frauen auszubringen.

In das Hoch stimmte auch Herwey ein, dann sagte er, den Blick auf das dünne, mit blauen Schriftzügen bedeckte Seidenpapier geheftet, das er der Hülle entnommen hatte:

»Kinder, ich sorge mich. Oder nein, ich will sagen: ich könnte mich sorgen, wenn ich nicht die Überzeugung hätte, daß die Vernunft auch bei den Diplomaten noch immer der beste Teil des Menschen ist. Ich erhalte eben die Nachricht, daß der Herzog von Gramont seinen hiesigen Geschäftsträger Le Sourd – Benedetti ist verreist – telegraphisch beauftragt hat, die preußische Regierung in der Frage der spanischen Thronkandidatur, ihr wißt Bescheid, zu interpellieren. Daran wäre ja nun nichts Besonderes, es könnte sich um eine einfache Anfrage handeln, um ein aufklärendes Wort, wenn mein Gewährsmann, der die fragliche Depesche gelesen zu haben scheint, nicht etwas hinzugefügt hätte, das mich doch stutzig macht. Er schreibt nämlich, Gramont habe Le Sourd die Losung gegeben, Bismarck mitzuteilen, daß die französische Regierung unangenehm überrascht von dem Streben eines preußischen Prinzen nach der spanischen Krone sei, und daß sie hoffe, das Berliner Kabinett werde dieser Intrige fernstehen. In diesem Sinne, schließt mein Korrespondent, hat Le Sourd Auftrag, zu sprechen, was inzwischen zweifellos schon geschehen ist. Bismarck ist zwar noch in Varzin, aber Le Sourd ist nach dem Auswärtigen Amt gefahren, wo Herr von Thile ihn empfangen haben wird.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, als der Kopf Pressels sich zu ihm neigte.

»Vergebung, Herr Baron,« sagte Pressel halblaut, »der Herr wartet noch. Was darf ich ihm bestellen?«

»Welcher Herr?« fragte Herwey, und nun sah er, daß er eine Visitenkarte hatte unter den Tisch gleiten lassen, die ihm der Diener vorhin zugleich mit dem Briefe seines Agenten überreicht hatte. Pressel hob sie auf.

»Von Gebert,« las Herwey und schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht. Was will der Mann?«

»Er möchte den Herrn Baron in einer äußerst wichtigen und dringenden Angelegenheit sprechen.«

»Haben Sie ihm nicht gesagt, wir säßen am Hochzeitstische?«

»Jawohl, aber er meinte, er würde den Herrn Baron nur wenige Minuten in Anspruch nehmen.«

»Geh' zu ihm, Papa,« rief Erika über den Tisch, »es ist ja nicht unmöglich, daß auch der Herr eine politische Nachricht bringt – und vielleicht eine günstige.«

»Von Gebert,« wiederholte Herwey und erhob sich. »Habe den Namen nie gehört. Aber sei es. Laßt euch nicht stören, ich bin gleich wieder bei euch …«

Ein schlanker, noch jüngerer Herr schritt, eine Mappe unter dem Arm, auf dem Treppenpodest auf und ab. Er nahm militärische Haltung an, als er Herwey sah, stellte sich vor und fügte hinzu:

»Ich höre, daß Sie eine Familienfeier begehen, Herr Staatsrat, und bedaure daher doppelt, daß ich Sie stören muß. Aber es handelt sich nur um kurze Beantwortung einiger Fragen, die für die Aufklärung einer etwas verwickelten Sache nötig sind. Ich denke, das Ganze wird schnell erledigt sein.«

»Torheit, daß man Sie hier draußen stehen ließ, Herr von Gebert,« antwortete Herwey. »Verzeihen Sie und treten Sie freundlichst in mein Arbeitszimmer. Wir sind da ganz ungestört.«

Er öffnete die Tür, ließ den Fremden ein und folgte ihm. Dann fiel sein Blick auf die schwarze Ledermappe des Herrn, und in einer unwillkürlichen Gedankenverbindung fragte er:

»Sie kommen aus dem Auswärtigen Amt?«

»Doch nicht, Herr Staatsrat,« erwiderte der andere, »aus dem Polizeipräsidium.«

»Aus dem – hallo, was will denn die Polizei von mir? …« Herwey lachte. Das Lachen hub lustig an und klang heiser aus. Eine fahle Überschüttung strich durch das blühende Leben seines Gesichts. Aus Tiefen der Seele stieg wieder jenes »Fühlen und Ahnen«, das in den Verwicklungen seines Geschicks sich häufig zur Oberfläche drängte und wie eine Handreichung aus dem Dunkel war. »Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte er. Doch er selbst blieb stehen.

Herr von Gebert hatte aus seiner Mappe ein Aktenstück genommen und entfaltete es.

»Also, Herr Staatsrat,« begann er von neuem, »da hat man in Wien einen Menschen festgesetzt, einen gewissen –,« das Auge suchte den Namen in den Akten – »einen gewissen Eduard Karl Friedrich Robino, der eines kühnen Erpressungsversuchs gegen den König von Hannover beschuldigt wird. Zwei seiner Mitarbeiter am Werk in Hietzing sind gleichfalls inhaftiert worden, ein Archivrat und ein Lakai. Der genannte Robino scheint nun die Sache verwirren zu wollen, er ist sicher ein geriebener Kunde und behauptet, das Dokument, auf das er sich bei seiner Erpressung stützt, stamme aus einer umfangreichen Autographensammlung, die sich in Ihrem Besitz befinden soll. Daher meine erste ergebenste Frage: Wissen Sie etwas von einer handschriftlichen Ausarbeitung des verstorbenen kurhessischen Ministers Weerth über das Welfenreich Heinrichs des Löwen? Notabene, ich sagte Ausarbeitung, es kann sich aber auch um eine Abschrift handeln – Hauptsache Ihrer Erklärung würde sein, ob ein solches Manuskript Ihnen überhaupt je durch die Hände gegangen ist oder nicht?«

Er schaute auf. Doch Herwey antwortete nicht. Er sah aus dem Fenster in den grünen Sommer hinein. Und dachte dabei in quirlendem Gedankenflug an die unsichtbaren Mächte, die ihn an einem Tage gemessenen Glücks von hinten packten, und dachte daran, wie das Unheil sich fortspinnen würde auch über die fröhliche Jugend oben am Hochzeitstische – über Hans Weerth und seine Erika – und da floß eine ungeheure Bitternis in sein Herz. Doch er hielt sich. Er stützte sich mit den Händen fest auf das Eichenholz seines Schreibtischstuhls, vor dem er stand, und antwortete mit einer Stimme, die er zu scharfem Lautieren zwang:

»Ich habe meine Autographensammlung verkauft, Herr von Gebert.«

»Ah – verkauft,« sagte der Kommissar, »das ist schade, hat aber nichts auf sich. Sie entsinnen sich doch sicher noch, ob die bewußte Handschrift darunter gewesen ist und ob sie – einen Moment« – er schaute wieder in das Aktenstück – »ob sie Robino durch Sie erhalten hat oder ob sie Ihnen vielleicht gestohlen worden ist. Diese Annahme liegt nämlich vor, weil der bewußte Robino früher einmal einen ähnlichen Diebstahl – halt, nein –,« der Blick flog von neuem über die Akten – »dieser Mann soll eine ganze Anzahl von Briefschaften aus hannöverschem Besitz gestohlen haben und darunter auch zahlreiche Papiere des ehemaligen Ministers Weerth.«

»Ich weiß davon nichts,« entgegnete der Staatsrat. »Aber allerdings habe ich vor etwa Jahresfrist, vor anderthalb Jahren, eine große Anzahl Weerthscher Briefe mit andern Autographen von dem Buchhändler Ripplau in der Dorotheenstraße gekauft. Auch diese Briefe sind jedoch nicht mehr in meinem Besitz – ich habe sie meinem Schwiegersohn geschenkt, dem Sohn des Ministers, dem Schriftsteller Hans Weerth.«

»Ah,« rief der Kommissar abermals, »das ist Ihr Herr Schwiegersohn?« … Und freundlich lächelnd fügte er hinzu: »Ich habe sein Drama mit großer Bewunderung gesehen …« Dann wurde er wieder sachlich ernst und fragte: »War das Dokument über das Welfenreich auch in der gekauften Sammlung? –«

Jetzt dachte Herwey an Désirée. Wo mochte sie sein? War sie in Madrid, um dort für ihre Auftraggeber zu schüren, oder schon wieder in Paris, um aus erregter Phantasie die Massen in den Krieg zu hetzen, den sie erhoffte und ersehnte, sei es auch nur, um ihn, der sie aus dem Hause gejagt, »in freundlicher Erinnerung« zu treffen? Und plötzlich befiel Herwey eine tödliche Angst. Wenn Gramont, dieser bösartige Dummkopf, sein gefährliches Spiel weiterverfolgte und vielleicht Garantien forderte, die der eiserne Starrsinn Bismarcks nie bewilligen würde, so war bei der leichten Erregbarkeit der Franzosen allerdings das Schlimmste zu befürchten. Dann war an den Börsen auch eine Baisse unvermeidlich und der Zusammenbruch da. Die Miene Herweys verzerrte sich seltsam. Die rechte Seite des Mundes senkte sich, die linke Backe schob sich in ihren fleischigen Teilen nach oben, das eine Auge schien plötzlich kleiner als das andere, er reckte den Hals, als beenge ihn der Kragen, der Blick wurde stier. Ihm war, als vernehme er ein knisterndes Geräusch, so sinnfällig prägte sich ihm auf einmal der Begriff des Zusammenbruchs ein. Begann er nicht schon? Der junge Mann da vor ihm hatte sein Schicksal in der Aktenmappe. Über den Ruin breitete die Schande ihr zerfetztes Schmutzgewand. Es knisterte wieder. Es krachte irgendwo im Rücken Herweys.

Herr von Gebert schaute erstaunt auf den Staatsrat. Der spreizte die Lippen auseinander, als wolle er eine Antwort geben, doch die Lippen zitterten, und nur ein seltsames Gurgeln kam aus seiner Kehle.

»Herr Baron …«

Der Blick Herweys richtete sich aus dem Fenster. Aber das Sommergrün draußen wurde zu fahlem Violett. Bunte Schleier fielen unaufhörlich durch die Luft, zuerst hellfarbige, dann dunklere, dann wurde es Nacht und durch die Schwärze stäubten rote Funken. Herwey wollte sichtlich sprechen, es wurden nur lallende Laute. Ein Eisenring legte sich um seine Brust. Die Pulsadern am Halse schwollen zu dicken Strängen an, der Atem rasselte.

Der Kommissar hatte die Mappe fallen lassen. Erschreckt und entsetzt fuhr er vom Stuhl in die Höhe.

»Herr Baron …«

Da sah er, daß die Pupillen Herweys sich unmäßig erweiterten und nach der Nase zu verschoben und daß die Augenlider sich senkten. Aus dem zitternden Munde sickerte ein leichter Schaum. Das ganze Gesicht verlarvte sich und wurde bräunlich in der Färbung. Herwey griff mit beiden Händen an seinen Hals und zerriß den Kragen. Dann fiel er wuchtig um. – –

… Oben an der kleinen Hochzeitstafel hatte Pressel noch einmal die Sektgläser gefüllt.

»Herrschaften,« sagte Herr von Bake, »wenn die Geschichte sengrig werden sollte, rate ich doch, Paris schießen zu lassen und lieber in Dresden zu bleiben.«

»Ich hatte mich so auf Paris gefreut,« rief Erika, »ich glaube auch noch nicht an den Krieg!«

»Kein Gedanke,« bemerkte Hans kopfschüttelnd, »es müßte doch ein Grund vorliegen zu einer neuen Menschenschlächterei.«

»Gründe sind wohlfeil, wenn das Machtfieber anhebt,« sagte Herbert. »Da kann man von den Lebensinteressen des Volkes sprechen und von nationaler Würde und Ehre und von Genugtuungen und allerlei mehr. Gründe finden sich immer, wenn einige wenige wollen, die nur die Hand zu rühren brauchen, um den Kanonendonner rollen zu lassen. Gründe sind allzeit da, solange die Kabinette allein den Ausschlag geben und über das Wohl der Völker am grünen Tische beraten …« Er schwieg und horchte auf. Ihm war, als habe er unter sich einen dumpfen Fall vernommen.

Es ging auch etwas Huschendes durch das Haus, treppauf oder treppab, wie der leichte, triumphierende Schritt einer Dirne.

 

*

 


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