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8.

Baron Herwey blieb länger in Wien, als er vorausgesehen hatte. Schon die erste Aussprache mit seinem bisherigen Vertrauensmann, einem der Verwaltungsräte der Fürstenbank, überzeugte ihn davon, daß das jämmerliche Ende des mit so gewaltigem Pomp in Szene gesetzten Unternehmens hätte vermieden werden können, wenn es gelungen wäre, die nötige Million zum Ankauf der letzten Aktien aufzutreiben. Und daß man diese Lumperei nicht fertigbekommen hatte, versetzte ihn in rasende Wut. Für den König Georg wäre es nach seiner Überzeugung eine Kleinigkeit gewesen, die Bank zu retten, wenn nicht aus eigenem Vermögen, so doch unter Mithilfe des österreichischen und ungarischen Finanzministeriums. Aber der alte Herr war mißtrauisch geworden und nervenüberreizt. Baron Herwey machte aus seinem Groll kein Hehl; er hatte nicht nur ein paarmal hunderttausend Gulden als Einlage verloren, sondern sollte auch noch ein Defizit in ungefähr gleicher Höhe herauszahlen. Dagegen weigerte er sich aber mit aller Entschiedenheit, fuhr hinaus nach Hietzing, wo er den Minister Windthorst traf, der im Auftrage des Königs die unglückselige Angelegenheit zu entwirren versuchte, und drohte ihm, gegen die fast durchweg dem engeren Hofkreise angehörigen Mitglieder des Aufsichtsrats mit der Klage auf Betrug vorzugehen. Allerdings erreichte er damit, daß man über die Auszahlung des Defizits quittierte, zugleich löste er aber auch die letzten Verbindungen mit dem hannöverischen Organismus.

Er sah ein, daß er den Kopf verloren hatte. Er wurde wieder ruhiger und fand sich selbst zurück. Sein ganzes Leben bestand in einer Kette von erregenden Momenten, und es war auch so, daß er diese beständig neuen Anreize gar nicht mehr entbehren konnte. Sie rüttelten an seinen Nerven, hielten ihn aber in einer gewissen Spannkraft. Und zweifellos würde er auch die verlorenen Hoffnungen und die Barverluste bei dem Zusammenbruch der Wiener Bank leichter ertragen haben, hätte der Gedanke an seine Frau ihn nicht vorübergehend mutlos gemacht.

Das war es, was ihn mit Unruhe erfüllte: der Leichtsinn Désirées in seinen wirtschaftlichen Nöten. Es schien allerdings, als sei sie seit seiner letzten ernsthaften Aussprache mit ihr im Frühjahr etwas verständiger geworden. Sie hatte in Trouville und Paris leidlich vernünftig gelebt und auch die Ausgaben im Berliner Hausstand sichtlich eingeschränkt. Aber zweifellos rechnete sie mit seinen Gewinnsten an der Wiener Bank, die er ihr, geschwellt von kommenden Siegen, in rosigen Farben ausgemalt hatte, und wenn sie sich nun um diese Erwartung betrogen sah, so standen ihm bittere Stunden bevor. Das nagte an ihm. Er liebte sie noch immer mit aller Leidenschaft eines alt werdenden Mannes, der die Jugend nicht vergessen kann, und hatte zugleich das bestimmte Gefühl, daß er ihrer auch als Mitarbeiterin bei seinen weitverzweigten Geschäften gar nicht entbehren konnte. Der Politik gewann sie freilich kein wesentliches Interesse ab, aber sie war seine Einführerin in die Gesellschaft, war gewissermaßen der Stern, der über ihm leuchtete und ihm die Wege wies.

Immerhin, sie mußte notgedrungen den Verhältnissen Rechnung tragen, bis die letzte Krisis überwunden war. Er hatte ihr den Ankauf eines Landsitzes zugesagt und stand in Unterhandlungen über den Erwerb einer hübschen, kleinen Herrschaft bei Prenzlau. Das mußte rückgängig gemacht werden. Zugleich aber war es eine Notwendigkeit, sein Verhältnis zu den Kabinetten zu festigen, mit denen er in Verbindung stand. Hannover war eine aufgegebene Sache. Über die verworrene Politik, die in Hietzing getrieben wurde, hatten ihm seine Gewährsmänner erbauliche Geschichten erzählt. Dunkle Existenzen wie eine sogenannte Prinzessin Davidoff und eine Baronin Strada galten neuerdings in Paris für die Vertrauenspersonen dieses zerfallenden Hofes, und während die welfische Legion gleichfalls ihrer Auflösung entgegenging, konspirierte man unverdrossen weiter und trug sich mit abenteuerlichen Plänen für eine Zukunft, wie sie dunkler nicht sein konnte. Auch in Wien war nicht mehr allzu viel zu holen. Die Überlieferungen des alten Metternich waren längst vergessen, der Finanzminister Baron Becke war von berüchtigter Sparsamkeit und auf den Kanzler Beust überhaupt kaum noch Verlaß. Aber es gab doch auch hier noch Fühlfäden zur Genüge, die zum Teil über Ungarn, zum Teil über Italien führten, und die man nicht abreißen lassen durfte. Ergiebigere Goldquellen für den politischen Geheimdienst boten freilich nur noch Preußen, Frankreich und Großbritannien. Preußen hatte seit Enteignung des welfischen Vermögens einen ausgiebigen Reptilienfonds zur Verfügung, in Frankreich unterhielten die Minister Niel, Moustier und Fould eine weitverbreitete Spionage mit fast unbeschränkten Mitteln, und in London war seit Übernahme der Schatzkammer durch Benjamin Disraëli der Fonds für geheime Ausgaben dem Generalkontrolleur Sir Dunbar direkt unterstellt worden, der nur dem Ersten Lord des Schatzes Rechenschaft schuldig war. Von Preußen und England erhielt Baron Herwey denn auch hohe Bezüge, und wohl ebensoviel betrug das »Nebenbei«, die Belohnungen für besondere Glücksfälle und außerordentliche Aufträge. Seine Einkünfte waren bedeutend, und trotzdem war er noch nicht in die Lage gekommen, einen Sparpfennig zurückzulegen.

Die Tage in Wien benutzte er zu neuen Anknüpfungen. Subjekte in Hietzing hatten ihm jenen Menschen verraten, der seinerzeit in Gmunden dem Minister Grafen Platen eine Anzahl Schriftstücke, darunter auch die Weerthschen Briefe, entwendet hatte. Der Mann, ein ehemaliger kleiner Beamter italienischer Abstammung namens Robino, auf dessen Ehrlichkeit man Häuser bauen zu können vermeinte, in Wahrheit aber eine verschlagene, nichtsnutzige Kreatur, galt heute als ein Agent des unermüdlichen Feuerkopfs Mazzini. Man hatte ihm nicht den Prozeß gemacht und die Gmunder Angelegenheit niedergeschlagen, weil man vor der Öffentlichkeit noch unliebsameres Aufsehen fürchtete, ließ ihn indessen polizeilich beobachten und wußte, daß er dem Laster des Trunkes frönte, und zwar einer nicht alltäglichen Spielart: der elende Mensch hatte eine Leidenschaft für den stärksten Champagner, den er mit Kognak zu mischen pflegte. Er wohnte in einem jämmerlichen Vorstadtquartier, gönnte sich sonst nichts, genoß oft nur trockenes Brot, hatte aber immer die teuersten Champagner- und Kognakmarken im Hause, die er nicht einmal gekühlt, sondern halb warm in den Hals zu gießen liebte. Es war ein seltsamer Verrückter, doch in seinen nüchternen Stunden ein sehr beweglicher Geist und von einer ebenso überraschenden wie gefährlichen Kombinationsgabe.

Herwey wurde schnell mit ihm handelseinig und erfuhr manches Nähere über das Hietzinger Intrigenspiel, auch über das Projekt jenes neuen Welfenreichs in den alten Grenzen seiner höchsten Blütezeit, das auf das sorgfältigste ausgearbeitet sein sollte und angeblich vom König selbst in seinem Arbeitszimmer unter sicherem Verschluß gehalten wurde. Vergebens versprach Baron Herwey dem geriebenen Gauner eine hohe Summe, wenn er es ermöglichen könnte, ihm eine Abschrift dieses Schriftstücks zu verschaffen. Robino hatte zwar immer noch die schmutzigen Hände in allen Domestikenzimmern und stand mit dem livrierten Gesindel hoher Herrschaften auf vertrautem Fuße, erklärte indes mit Bestimmtheit, daß es ganz ausgeschlossen sei, des Dokuments habhaft zu werden. Dafür schaffte er Herrn von Herwey ein anderes nicht minder kompromittierendes Papier: nämlich eine Banknote von jenen zwei Millionen Scheinen, die König Georg insgeheim in Wien hatte drucken lassen und die im Augenblick des Krieges auf die hannöverischen Domänen ratifiziert werden sollten, um im Fall eines glücklichen Ausgangs von den Landständen als Staatsschuld übernommen zu werden. Die sehr schön ausgearbeitete Note zeigte eine Hannover darstellende Figur, wie sie die Fesseln abstreift und zum Schwerte greift. Das war wieder etwas für die Sammlungen in der Wilhelmstraße und konnte gut honoriert werden …

Mit Lord Bloomfield, dem großbritannischen Botschafter in Wien, hatte Herr von Herwey seit Jahren die besten Beziehungen. Der Lord kam, als der Staatsrat sich zur Audienz bei ihm angesagt hatte, soeben von dem Empfang des preußischen Kronprinzen, der auf seiner Reise nach Kairo den österreichischen Hof besuchte und hier die denkbar freundlichste Aufnahme fand. Bloomfield war sehr optimistisch. Er hielt diesen Fürstenbesuch für ein Meisterstück Bismarcks; selbst der unversöhnlichste Gegner Preußens, Erzherzog Albrecht, hatte seinen Widerstand aufgegeben, und damit war die Anbahnung einer bedeutungsvollen Annäherung beider Reiche zur Tatsache geworden. Auch der Umstand, daß Kronprinz Friedrich Wilhelm bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals mit der Kaiserin Eugénie zusammentreffen würde, fiel ins Gewicht, zumal die Frage der Kandidatur für den spanischen Thron dadurch gelöst zu sein schien, daß König Viktor Emanuel lebhaft für die Wahl seines jungen Neffen, des Herzogs Thomas von Genua, eintrat. Also eine tönende Friedensschalmei, in die man aber auf der Französischen Botschaft keineswegs einstimmte. Dort war der Vertrauensmann Herweys, der Militärattaché Herr von Vassart, immer noch der Ansicht, daß eine Vergrößerung und Verstärkung Frankreichs nur eine Frage der Zeit sein könne. Aber man wollte Preußen möglichst schonen und sich dafür an Belgien schadlos halten. Einen seltsam verwegenen Plan hörte das große Reptil bei der Baronin Boureuille, der Freundin des Obersten Vassart, die wiederum in seinem Solde stand, auch für Hietzing agitierte und zu gleicher Zeit dem bisherigen russischen Botschafter Grafen Stackelberg sehr angenehm gewesen war. Danach sollte der hannöverische Kronprinz mit der Prinzessin Thyra von Dänemark vermählt und ihm Nordschleswig als Königreich Nordalbingien übergeben werden, und zwar als neutraler Staat unter der Garantie der europäischen Mächte; der Kronprinz sollte außerdem Braunschweig als Mitglied des Norddeutschen Bundes durch Personalunion erhalten und König Georg nach Auszahlung seines Hausvermögens nach England gehen. Die Baronin Boureuille wollte wissen, daß Napoleon diesen Plan begünstigen würde, wenn man ihm freie Hand in bezug auf Belgien lasse, und versuchte Herwey zu bewegen, auch in Berlin dafür zu wirken, da Preußen auf diese Weise ja, ohne sich etwas zu vergeben, eine ehrenvolle Beseitigung der dänischen Frage und der hannöverischen Schwierigkeiten erreichen und damit eine unangefochtene Konsolidierung seiner Erfolge von Sechsundsechzig erzielen würde.

Baron Herwey versprach der geschäftigen Frau natürlich das Blaue vom Himmel, nahm sich aber vor, die Mitteilungen im durchaus umgekehrten Sinne zu verwerten, zumal ihm von einem der niederländischen Gesandtschaft nahestehenden Agenten die verblüffende Nachricht zugetragen wurde, daß ein französisches Admiralsschiff bei Delfzyl am Dollart insgeheim Peilungen ausgeführt habe, um die Wassertiefe des Hafens zu messen. Natürlich konnte es sich dabei nur um den alten Plan einer Überrumpelung Hollands von der Seeseite handeln, um bei Kriegsbeginn möglichst rasch französische Truppen in das Hannöverische zu werfen. Endlich fand Baron Herwey noch etwas, was für die Wilhelmstraße von Interesse sein mußte: die Abschriften zweier Briefe Viktor Emanuels und Napoleons an den Kaiser Franz Joseph, in denen die beiden Herrscher das Versprechen abgaben, kein Bündnis mit einer fremden Macht ohne Vorwissen Österreichs zu schließen. Diese Zusicherung sollte zweifellos ein Pflaster für das Nichtzustandekommen der geplanten Allianz sein, und die Abschriften der Briefe waren Herwey von einem gewissenlosen Archivar geliefert worden, der ihm schon öfters gute Dienste geleistet hatte.

Die Verluste bei dem Bankkrach konnten freilich auch durch eine geschickte Verwendung dieser Neuigkeiten nicht ausgeglichen werden. Immerhin hatte der kurze Wiener Aufenthalt seine Früchte getragen. Man konnte dem Auswärtigen Amt in Berlin zeigen, daß man noch auf dem Platze war, und gleichzeitig dem Grafen Benedetti eine heimliche Warnung zustecken, konnte einen neuen Schlag gegen Hietzing führen und sich auch bei der Dänischen Gesandtschaft beliebt machen. Denn es stand für den Baron Herwey nun so, daß er ein ehrliches Maklertum, wie er es bisher verstanden hatte, aufgeben mußte. Ein weites Gewissen hatte er stets gehabt, moralische Bedenken schüchterten ihn nie ein. Aber er hatte im allgemeinen doch auch immer darauf gehalten, seine Auftraggeber nicht gegeneinander auszuspielen und den einen an den anderen zu verraten. Jetzt aber war es so weit, daß er überlegte, wie seine Kenntnis der politischen Unterströmungen sich noch zweckmäßiger verwerten lassen könnte. Unter Zweckmäßigkeit verstand er nur die Geldfrage. Und er brauchte in nächster Zeit bedeutende Barmittel, um ein Geschäft mit Rumänien abzuschließen, das man ihm an die Hand gegeben hatte. Sein Bankhaus, das er gelegentlich dank seiner diplomatischen Beziehungen durch geschickte Hinweise zu unterstützen verstand, die wieder an der Börse ausgenutzt werden konnten, gewährte ihm allerdings einen ziemlich großen Kredit. Aber durch den Zusammenbruch der Fürstenbank konnte auch dieser Kredit erschüttert worden sein.

Jedenfalls fuhr er ruhiger nach Berlin zurück und brachte es sogar fertig, seiner Frau mit sorgloser Miene Mitteilung von seinen Verlusten zu machen.

»Es ist gewiß ein harter Schlag für mich, Désirée,« sagte er, »aber du siehst, ich klage nicht, ich bin nicht verzweifelt, ich kann wieder lächeln. Denn ich weiß, daß auch diese Krise vorübergehender Natur sein wird – Herrgott, wie manche andre, die nicht weniger bitter war und die auch überwunden wurde! Vielleicht läßt sich der Wiener Verlust schon in nächster Zeit wettmachen – man ist mir da von seiten des Kriegsministeriums mit einem Angebot nähergetreten, um das sich Strousberg schon beworben hatte, den man aber nicht haben will – einer Gewehrlieferung für Rumänien. Es ist viel daran zu verdienen, wenn die Sache mit einer gewissen Geschicklichkeit gehandhabt wird. Ich möchte auch Herbert dafür gewinnen. Ja nun, was aber die Hauptsache ist, liebes Kind – den geplanten Ankauf der Herrschaft in der Uckermark müssen wir vorläufig aufschieben – und das tut mir deinetwegen aufrichtig leid. Es wäre mir eine große Freude gewesen, dich damit zu überraschen, und ich sah dich auch schon als Schloßherrin von Resenau – es ist ein wunderhübsches, kleines Chateau im Barockgeschmack –, aber ich kann mir nicht helfen, ich muß den Gedanken aufgeben, wenigstens zurückstellen. Sei mir nicht böse deshalb, Désirée.«

Sie reichte ihm freundlich die Hand. »Gib mir das Tatzerl, Zentaur,« entgegnete sie, »wie soll ich dir böse sein, weil dich einmal das Unglück gepackt hat! Du warst unvorsichtig – ja, das warst du – dein Vorbild Langrand hätte dir Warnung sein müssen, statt dessen verfielt ihr bei der Wiener Bank auf ähnliche Schliche, wie sie sein Unternehmen zugrundegerichtet haben. Aber schließlich ist es einmal geschehen, und wir müssen uns danach richten. Natürlich, daß aus dem Ankauf von Resenau nichts werden kann. Ich giere auch nicht danach. Ich versprach dir im Frühjahr, daß ich mich einschränken wolle. Und ich habe mein Wort gehalten. Es tut mir nichts, die Selbstkasteiung noch ein bissel länger auszudehnen – sie ist meiner Gesundheit vielleicht ganz zuträglich. Also sorge dich meinethalben nicht, Charlie – ich bin doch nicht so ganz unvernünftig, wie du zuweilen annimmst – außerdem«, fügte sie lachend hinzu, »habe ich mit Worms endgültig gebrochen, weil er mir in seinen Rechnungen zu unverschämt war. Das ist schon eine ungeheuere Ersparnis.«

Er zog ihre Hand an die Lippen. »Lieb von dir, chérie,« sagte er, »daß du dich der Unannehmlichkeit der Tatsachen so verständig fügst. Im übrigen trage ich für meine Person die geringste Schuld an dem Wiener Krach. Das Projekt an sich war ausgezeichnet – die ersten riesigen Erfolge bewiesen das, auch die heillose Angst, die man vor der neuen Gründung in der gesamten Finanzwelt hatte. Das Unglück war nur, daß die Leute von Hietzing geschäftlich an die Spitze der Bank traten. Das konnte ich nicht verhindern, aber da König Georg selbst in starkem Maße engagiert war, so hoffte ich immerhin, daß man vernünftig wirtschaften würde. Und trotz aller Lotterei wäre noch eine Rettung möglich gewesen, wenn der König in letzter Stunde Initiative gezeigt hätte. Aber er ist senil geworden – er trägt die Hauptschuld an dem Zusammenbruch … Ich danke dir herzlich für dein Entgegenkommen, Désirée. Entbehren wirst du ja auch unter der Einschränkung nicht allzu viel – und Zeiten des Aufstiegs stehen wieder in Aussicht …«

Er war sehr glücklich über die Anteilnahme seiner Frau und die liebenswürdige Ruhe, mit der sie die Nachricht über seine Verluste aufnahm, und stürzte sich nun eilfertig in seine neuen Geschäfte. Das erste war ein merkwürdiger Auftrag, den er seinem Sekretär erteilte.

»Mein lieber Herr Weerth,« sagte er, »ich habe heute eine Bitte an Sie, deren Ausführung Ihnen vielleicht Spaß machen dürfte. Man hat mich ersucht, einen Historiker für die Abfassung einer wissenschaftlichen Arbeit ausfindig zu machen, die das Welfische Reich zur Zeit Heinrichs des Löwen rekonstruieren soll. Nun sage ich mir aber, daß Sie das ebenso gut und vielleicht besser machen können als ein profunder Gelehrter. Denn es soll sich keineswegs um ein dickleibiges grundlegendes Werk handeln, sondern lediglich um eine knapp gefaßte Ausarbeitung von wenigen Seiten, also nicht um eine Geschichte Heinrichs, vielmehr um einen Abriß seiner Besitzungen, die sich ja so ziemlich von der Ost- und Nordsee bis zum Adriatischen Meer erstreckten. Allerdings müßte das mit strenger Wissenschaftlichkeit nachgewiesen werden. Wollen Sie die Arbeit übernehmen?«

Hans verneigte sich. »Sehr gern, Herr Staatsrat,« entgegnete er, »ich muß mir nur das nötige Material besorgen, das ich ja ohne weiteres auf der Königlichen Bibliothek finde. Soll ich dazu auch eine Karte entwerfen?«

»Ah ja, das könnte nichts schaden,« antwortete Herwey eifrig, »das würde die Übersichtlichkeit erhöhen. Eine Karte der Grenzen aller Besitztümer des Löwen zur Zeit seiner höchsten Macht. Nehmen Sie für die Arbeit nötigenfalls die Nachmittage zu Hilfe – ich werde mich dankbar erzeigen …«

Er diktierte Hans noch ein paar Briefe, ließ dann das Coupé anspannen und fuhr nach dem Auswärtigen Amt, wo er lange zu tun hatte, hierauf nach dem Bleichröderschen Bankhause und endlich nach dem neuerbauten reizenden kleinen Palais des Doktor Strousberg in der Wilhelmstraße.

Als er das Haus wieder verließ, war bereits starke Dämmerung eingetreten. Der Kutscher hatte die Wagenlaternen angezündet, und in ihrem Lichte schaute Baron Herwey auf seine Uhr.

Halb Sieben, sagte er sich, da kann er zu Hause sein … Und dem Kutscher rief er zu: »Nach Altmoabit, Georg. Über die Unterbaumbrücke, dann links – über den neuen Bahnhof hinaus. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, wenn Sie halten sollen.«

Die Fahrt währte lange. Man kam in ländliche Gegend. Baron Herwey schaute aufmerksam aus dem Wagenfenster. Ein paar Mietshäuser tauchten auf, die Wellblechbaracke eines Eisenhändlers, ein Holzhof, dann wieder ein neueres Gebäude. Das mußte es sein! Der Staatsrat zog an der Schnur, die mit dem Arm des Kutschers verbunden war, und das Coupé hielt. Herwey stieg aus, sah noch einmal in sein Notizbuch, nickte und trat in das Haus.

Einen Portier gab es nicht. Der dicke Herr klomm die Treppe empor und blinzelte im trüb brennenden Gaslicht des Flurs auf die Visitenkarte, die neben die Tür des ersten Stockwerks geheftet war. »von Bake«, las er, »Rittmeister a. D.«. Er stieg höher und fand andere ihm ebenso gleichgültige Namen, nur nicht den, den er suchte. Er zog sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann kletterte er wieder die Treppe hinab und zog bei Herrn von Bake die Klingel.

Es währte einige Zeit, ehe geöffnet wurde. Ein stattlicher, schnurrbärtiger Mann in einem verschabten violettsamtenen Schlafrock stand dem Staatsrat gegenüber, klappte mit leichter Verneigung die Hacken seiner Hausschuhe zusammen und fragte sehr höflich, mit wem er die Ehre habe.

»Entschuldigen Sie gütigst,« sagte Herr von Herwey und griff an seinen Hut, »ich suche einen Ausländer, der in diesem Hause wohnen soll, einen Baron Fatin-Lévêque – vielleicht können Sie mir Bescheid geben.«

»Sehr gern,« erwiderte Herr von Bake freundlich, »ich kenne den Herrn, ich war erst gestern mit ihm zusammen. Er wohnt direkt über mir, bei einer Frau Folticineanu – das ist eine Rumänin, die immer ausländische Mieterchen hat – ein Türke wohnt auch bei ihr. Wenn Sie sich freundlichst ein kleines Treppchen höher bemühen wollen – links bitte.«

Der Staatsrat dankte und klingelte bei der Rumänin. Sie öffnete selbst, eine gutgehaltene Vierzigerin mit dunkelm Flaum auf der Oberlippe, und erschrak, als sie Herwey sah. Der aber lächelte und nickte vertraulich.

»Sieh da – Dame Anita!« sagte er. »Ein unvermutetes Wiedersehn. Warum haben Sie den Namen gewechselt?!«

»Ich habe nur meinen Mädchennamen wieder angenommen, lieber Baron,« entgegnete die Rumänin – französisch, wie sie angeredet war –, aber ohne weiteres auf den vertraulichen Ton des Staatsrats eingehend. »Als geschiedene Frau darf ich das, und es war mir bequemer, nachdem Wollheim meinen Briefwechsel mit Alexander Cusa veröffentlicht hatte.«

»Ach du lieber Gott,« sagte Herr von Herwey und lachte, »das sind doch abgestandene Geschichten! Was ist inzwischen nicht alles passiert! Stehen Sie noch immer mit Joan Bratianu in Verbindung?«

»Ah, der Schubbjack,« fiel die Dame ein und schnippte mit den Fingern. »Nein, lieber Freund, der hat abgewirtschaftet. Geben Sie acht, über Jahr und Tag kommt Ghika an das Ruder. Aber vor allem treten Sie näher. Zwischen Tür und Angel läßt sich schlecht plaudern – und ich nehme an, daß Sie irgend etwas von mir wollen.«

»Diesmal nicht, liebste Anita. Ich will nicht zu Ihnen, sondern zu einem Ihrer Mieter.«

»Tschau – zu Aziz Mehmed?«

»Nein – zu Fatin-Lévêque. Ist er zu sprechen?«

»Für Herren nie.«

»Kann ich mir denken. Führen Sie mich zu ihm, Anita. Oder fürchten Sie sich vor dem Strolch?«

»Oh – ich mich fürchten?! Kennen Sie mich so schlecht, alter Charlie? Und sagen Sie, haben Sie mich denn ganz vergessen? Sind gar keine Geschäfte mehr möglich zwischen zwei alten Freunden?«

»Doch, mein Herz. Sogar in naher Aussicht. Ich suchte schon nach Ihnen. Aber lassen Sie mich zunächst einmal zu dem, den ich notwendig sprechen muß.«

»Ich gehe voran. Er wohnt hinten heraus. Ich habe das ganze Stockwerk gemietet.«

Als man durch das halbdunkle Speisezimmer schritt, fragte Herwey: »Warum zum Teufel sind Sie in diese abgelegene Gegend gezogen, Anita?«

»Sie wird bald nicht mehr so abgelegen sein, lieber Freund. Moabit soll bebaut werden. Das Grundstück gehört Aziz Mehmed, aber er will es wieder verkaufen.«

»Der Türkenbruder macht immer solche Schiebungen. Machte er schon in Paris. Ich möchte nicht von ihm gesehen werden – ich traue dem Burschen nicht.«

»Er ist gar nicht daheim …« Sie führte Herrn von Herwey durch einen Flurgang, klopfte hier an eine Tür, öffnete sie sofort und rief in das Zimmer: »Ein Freund möchte Sie begrüßen, Herr Baron!« … und unmittelbar darauf rief Herwey: »Einer von damals, mein teurer Anatol!« – und trat ein.

In diesem, von Zigarettenqualm erfüllten, mit übereinandergelegten orientalischen Teppichen und Polstern aller Art vollgestopften Gemach, das eine rotverhängte Deckenlampe in ein unsicheres Haremslicht tauchte, lag ein schwarzbärtiger Mann in einem seidenen Pyjama auf einem breiten Diwan und polierte seine Fingernägel. Er sah seltsam aus. Sein dunkles Haar war über den Ohren in Papilloten gewickelt, der untere Teil seines langen assyrischen Vollbartes steckte in einer parfümierten sackähnlichen Hülle; auf einem Tischchen neben dem Diwan breitete sich eine ganze Sammlung von Scheren verschiedener Größe aus, Nagelfeilen, kleinen Zangen, Schminktöpfchen und Salbengläsern, Flakons und Duftessenzen und derlei mehr: die Verschönerungshilfen einer eitlen Frau, die mit dem Stand der Natur nicht zufrieden ist.

Beim Eintritte Herweys fuhr der Mann jäh in die Höhe und starrte ihn fast fassungslos an. Der Staatsrat aber lachte hell auf.

»Alle Achtung,« rief er, »schöner Anatol, du bereitest dich auf ein Stelldichein vor! Entschuldige, wenn ich versehentlich Einblick in die Geheimnisse deiner Toilette nehme. Aber laß uns für einen Augenblick das Fenster öffnen. Die Luft ist unerträglich – und sag' einmal, können wir denn nicht den roten Lappen von der Ampel reißen, damit man sich besser sehen kann?«

Er trat an das Fenster und stieß es auf. Dann setzte er sich, den Hut in den Händen wiegend, Anatol gegenüber auf einen Sessel und lachte von neuem.

»Du siehst toll aus,« sagte er. »Du bist noch immer der alte eitle Geck. Aber du warst hübscher ohne den babylonischen Vollbart. Ließest du ihn dir wachsen, um dich unkenntlicher zu machen? Bürschchen, es ist unvorsichtig von dir, dich hier in Berlin zu zeigen. O, ich weiß wohl, daß du für die Bojarenpartei im Trüben fischst und dabei auch den Halbmond nicht vernachlässigst – nichtsdestoweniger, du hättest dir ein anderes Feld deiner Tätigkeit suchen sollen. Désirée kommt viel umher, und trotz des Vollbarts hätte sie in dem Baron Fatin-Lévêque ohne weiteres Herrn Anatol von Lavergne wiedererkannt. Was ficht dich an, unsre Abmachungen einfach in den Wind zu schlagen?«

Anatol zog den Bartsack ab und riß sich die Papilloten aus dem Haar. Er schämte sich dieser weiblichen Albernheiten.

»Wenn ich mich Fatin-Lévêque nenne,« erwiderte er, »so bin ich dazu berechtigt. Das ist einer meiner Familiennamen. Im übrigen: was schiert es dich?«

»Sehr viel, mein Sohn, denn mit Anatol von Lavergne starb auch der Herr Baron von Fatin-Lévêque.«

»Bist du nur hierhergekommen, um mich an meinen Tod zu erinnern?« fragte Anatol. Er stand jetzt auf und zog an der von der Ampel herabhängenden Schnur. Der rotseidene Glockenschirm teilte sich, es wurde heller im Gemach. Die beiden alten Feinde konnten sich gegenseitig mustern. Lavergne sah in dem breiten, klugen Gesicht Herweys zerwühlende Linien und ein Faltengewirr unter den Augen. Ein Spottlächeln flog um seinen Mund: die Ehe war dem gewandten Seelenfischer nicht sonderlich gut bekommen. Herwey wiederum suchte im Antlitz Lavergnes Spuren der früheren Schönheit und fand sie nur in dem unvergleichlichen Samtglanz seiner Augen. Der fließende Bart konnte höchstens ein vulgäres Weiberhirn entzünden, aber er verbarg wenigstens die Lasterlinien der Lippen und das hungrige Kinn. Auch das Haar war dünner geworden und verwirrte sich an den Seiten, da wo die Papilloten gesessen hatten, und trat schärfer von der Stirn zurück – und auf der Stirn lag es wie ein dunkler Flecken oder ein Mal der Schande. Aber das sah doch nur der Baron von Herwey allein.

Er zog seinen Paletot aus und legte den Hut beiseite.

»Du gestattest,« sagte er und nahm wieder Platz. »Ja Anatol, ich kam hierher, um mit dir über deinen Tod zu sprechen. Das kann noch immer geschehen. Ich habe zuvörderst mit dem Lebendigen zu reden. Möchtest du ohne Schwierigkeiten dreißigtausend Francs verdienen?«

Lavergne nickte. »Das ist der rechte Ton,« erwiderte er. »Er mahnt mich an die Zeiten, da ich noch bei dem Braunschweiger tätig war, an die Zeit vor meinem Tode. Also ich will und ungesäumt – am liebsten das Doppelte und Dreifache. Ich lebe ja über meinen Tod hinaus, und das Leben ist teuer.«

»Wie stehst du dich mit dem Baron Offenberg?«

»Dem politischen Agenten Rußlands in Bukarest? Ausgezeichnet. In seinem Auftrage habe ich im vorigen Frühjahr die Tumulte an der bulgarischen Grenze angezettelt, die Bratianu Anlaß gaben, mit seinen Dorobanzen in Bulgarien einzufallen.«

»So höre. Rumänien hat schon vor längerer Zeit vierzigtausend Hinterlader aus preußischen Waffenfabriken erbeten. Roon aber wollte erst die eigene Armee genügend ausrüsten und verzögerte daher die Ablieferung. Jetzt könnte sie erfolgen, es ist nur noch ein Haken dabei. Bratianus dako-rumänische Phantasiepolitik, die Bulgarien, Siebenbürgen, die Bukowina und den Banat unter das Zepter seines Hospodars bringen möchte, hat Österreich wie die Türkei verschnupft. Die Waffen würden dort also nicht durchgelassen. Preußen wünscht auch keine neuen Streitigkeiten mit dem Kaiserreich. Die Lieferung wird demgemäß ein Privatgeschäft. Ich habe die Gewehre gekauft und werde sie auf dem Umwege über Rußland unter der Deklaration als Eisenbahnmaterial nach Rumänien schaffen lassen. Sie sollen in Galatz in Empfang genommen werden. Der unsicherste Teil der Reise ist der Weg durch das südliche Bessarabien, weil die Bahnlinie von Bender nach Galatz erst halb fertig ist. Da Rußland nun aus Dankbarkeit gegen die auswärtige Politik des Fürsten Carol die Waffenlieferung inoffiziell unterstützt, so möchte ich gern die Vermittlung Offenbergs für eine Schutztruppe in Anspruch nehmen, die den Transport in Bender erwarten soll. Kannst du mir das ermöglichen?«

»Warum wählst du nicht einen direkteren Weg?« fragte Lavergne mißtrauisch. »Du hast doch auch deine guten Beziehungen in Bukarest.«

»Gewiß. Aber wollte ich mich mit der Regierung oder dem Vertreter Preußens in Verbindung setzen, so würde das auffallen. Rußland dagegen protektioniert den Bahnbau Strousbergs, der ja auch über seine Grenzen führt, und hat allen Grund, das Material zu schützen. Ich würde ohne Offenbergs Mithilfe selbst in Galatz noch nicht so ganz sicher sein, denn dort sitzt Suleiman-Pascha als Chef der Donaukommission und könnte mir im letzten Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen.«

Lavergne nickte zustimmend. »Abgemacht,« sagte er. »Dreißigtausend Lei in französischem Gold nach Ablieferung der Waffen – an wen?«

»An Bratianu als Leiter der Finanzen und Kriegsminister ad interim oder seinen Vertreter in Galatz.«

»Schön. Wann schließen wir den Vertrag?«

»Ich habe ihn mitgebracht …« Herwey zog seine Brieftasche und entnahm ihr ein paar Papiere … »Der Kontrakt ist in duplo ausgestellt. Bleichröder garantiert für die Summe. Lies und unterzeichne.«

Lavergne prüfte den Vertrag sehr genau, aber es ließ sich nichts dagegen sagen. Er ging an den Schreibtisch und setzte seinen Namen auf die Papiere, diesmal als Lavergne de Fatin-Lévêque.

»Wann geht der Transport los?« fragte er.

»Anfang Januar. Die Ankunft in Bender würde ein Kurier anzeigen. Die Schutztruppe müßte bewaffnet sein, aber Eisenbahnuniform tragen.«

»Versteht sich. Ich reise sowieso dieser Tage nach Bukarest zurück und bringe die Sache in Ordnung.«

Baron Herwey steckte sein Vertragsexemplar wieder ein. Jetzt brach die Neugier in ihm durch. Er betrachtete Lavergne durch sein Einglas mit ironisch prüfendem Blick.

»Was führte dich um des Teufels willen überhaupt in die Gefahrzone Berlin?« fragte er.

Lavergne bot ihm Zigaretten an. Er lachte. »Ich kenne keine Gefahr,« sagte er und warf sich wieder auf den Diwan. »Als du mein Todesurteil besiegelt hattest, ging ich nicht nach Amerika, sondern nach der Türkei. Aziz Mehmed, den ich von Paris her kannte, hatte mir gute Empfehlungen mit auf den Weg gegeben. Seit dem Krimkriege blüht in Konstantinopel die geheime Diplomatie. Da sind noch gute Geschäfte zu machen – der Bakschisch ist alles. Ich war für Frankreich tätig und noch mehr für Rußland – für Ignatieff. Der brachte mich auch nach Rumänien. Da war nun Bratianu am Ruder – du kennst ihn: ein Mensch mit blendenden Vorzügen, Erfindungskraft, Beredsamkeit, demagogischem Talent und mit einer durch heißen Ehrgeiz aufgestachelten Phantasie. Das war mein Mann, und ich der seine für seine maßlosen Ziele. Ich hatte die Gendarmerie unter mir, die Dorobanzen und die Grenzwachen, und habe von Zeit zu Zeit hübsche bulgarische Blutbäder arrangiert, größere Aufstände und niedliche kleine Putsche, wie sie grade in seine Politik paßten. Zwischendurch erhielt ich allerhand andre Aufträge – nach Wien, nach Paris, auch hierher nach Berlin. Es galt zumeist der kretischen Sache, aber auch sonstigen Wühlereien. Das war immer meine Liebhaberei.«

»Wenn Désirée dich nun entdeckt hätte, schöner Schurke?«

»Danke für das Kompliment. Ja, glaubst du denn, daß sie mich wirklich für tot hält?«

Die Schultern Herweys zuckten. »Vielleicht zweifelt sie zuweilen daran. Für sie, das steht fest, lebst du nicht mehr. Für wen sonst? Nur für dich selbst. Schaden kannst du uns nicht, wenn du es auch wolltest.«

Lavergne kniff die Augen zusammen. »Es käme darauf an,« sagte er langsam. »Man müßte den Dolus der Bigamie unter Beweis stellen.«

»Versuche es. Die Todeserklärung der französischen Gerichte erfolgte ja nicht allein auf Grund der gefundenen Kleidungsstücke an den Klippen von Flamandville, du hattest mir auch einen Brief hinterlassen, in dem du dich zu der Wechselfälschung auf den Namen Alexander Dumas' bekanntest und die Absicht des Selbstmords klipp und klar aussprachst. Das beschleunigte die gerichtliche Auffassung. Tritt auf und sage: Hier bin ich, ich lebe noch und will meine Rechte haben. Was für ein Recht? Meine Ehe bleibt gültig.«

»Bis zu dem Augenblick, da ich nachweisen kann, daß du mein Spießgeselle warst, Alterchen. Das hannöverische Recht fußt auf dem Code civil und reicht noch in die Gegenwart hinein. Deine Mitwissenschaft an meiner Lebendigkeit wäre so gut wie dein eigenes Todesurteil. Charlie, das gäbe einen interessanten Prozeß. Dann wäre es aus mit deiner ragenden Größe, und ich hätte dich auf dem Standpunkt, auf den du mich zu drängen versuchtest.«

Baron Herwey blieb ruhig. Aber in sein Auge trat ein kalter Schein, ein Ausdruck gewaltsamer Härte.

»Du vergißt,« sagte er, »daß ich dich völlig in meiner Hand habe – so wie mit umklammerndem Eisen. Der Juwelendiebstahl beim Herzog Karl ist noch nicht verjährt, und die Aussagen Shaws wurden notariell bestätigt. Du hast mehr auf dem Kerbholz, mein Bürschchen, als selbst Désirée ahnt. Glaubst du, daß sie erfreut sein würde, wenn sie davon Kenntnis erhielte, daß du immer noch lebst, noch immer?«

Lavergne antwortete nicht sogleich. Er schien zu überlegen und maß Herwey mit einem langen, gleichsam abschätzenden Blick.

»Mein teurer Charlie,« entgegnete er, »du kannst dich schon darauf verlassen, daß mir Désirées Gefühle unendlich gleichgültig sind. Ich war ein Lump, als sie mich heiratete, doch sie hat mich nicht edler gemacht. Sie hätte es gekonnt, denn wir hatten uns lieb, und Ansätze zum Guten lagen noch immer in mir. Aber ihr eigener Leichtsinn, ihre Genußsucht, ihr Hang zum Wohlleben trieben mich um so tiefer in das Elend hinein. O ja, es gab auch ein paar Sonnenblicke – die ersten Monate frohen Zigeunerlebens in unsrer Montmartrebude! Und dann kamen die Wetter, eins nach dem anderen – und dann kamst du! Meinst du, ich kann vergessen, wie ihr mich stückweis zerbracht?«

»Du warst noch jung, Anatol, begabt, wagemutig, hattest von mir genügende Mittel erhalten – du hättest in redlicher Arbeit eine Umkehrung des Lebens finden können.«

»Die Predigt klingt gut aus deinem Munde. Redliche Arbeit war ja auch für dich immer nur etwas mühsam Herbeigeholtes, das höchstens dem Hintergrund diente. Und in die große Gaunersphäre des politischen Geheimdienstes hast du mich eigentlich erst hereingezogen, Knabe Karl! O, ich entsinne mich noch, wie du mir von ihren außerordentlichen Reizen und den phänomenalen Unmittelbarkeiten ihrer Eindrücke sprachst – und ihre seltsam treibende Nervenkraft scheint ja auch auf deine liebe Gattin von starkem Einfluß zu sein. Was ich verstehe – die Lust an der Intrige lebte immer in ihr. Erbschaft des Vaters.«

Herwey schüttelte den Kopf. »Irrtum, mein Freund. Désirée ist gottlob eine ganz unpolitische Natur.«

Lavergne hob unter kurzem Auflachen die Schultern. »Charlie, wir sind ja unter uns«, rief er, »und brauchen uns nicht gegenseitig zu belügen! Du weißt doch so gut wie ich, daß Désirée die deutsche Egeria für die französische Geheimpolitik ist, und daß sie mit dem Namen der klassischen Prophetin des Numa Pompilius auch ihre Telegramme zeichnet! Verstelle dich nicht. O, man ist außerordentlich zufrieden mit ihr in Paris, zumal sie nichts nimmt für ihre Bemühungen – oder sich vielmehr auf die Zukunft vertrösten läßt! Aber dem trau' ich nicht. Du mußt sie gelegentlich warnen, alter Charlie – es ist nicht so unmöglich, daß man sie an der Nase herumführt und die kaiserliche Abstammung nur als Mittel zum Zweck benutzt …«

Der Staatsrat fühlte, wie sein Gesicht sich vom Blute entleerte. Er beugte sich vornüber und neigte den Kopf, um sein Erblassen zu verbergen. Doch vor sich selbst verbergen konnte er nicht den wütend werdenden Herzschlag und das Sausen der Pulse. Es griff wieder einmal etwas aus der Finsternis tief ein in sein Leben. Das Schicksal klopfte an in seiner grausamen Unverständlichkeit. Eine blinde Laune, oder war es vorsehende Gewalt, riß plötzlich Hüllen zurück und lüftete Schleier, an die er nie gedacht hatte. Ein banges Ahnen krampfte sich in seiner Brust und suchte doch auch nach einer Klarheit wacheren Seins. Er mußte den Schwätzer weiter hören; Nerven und Fibern lauschten. Er mußte klug sein, damit sein krasses Staunen nicht zum Verräter wurde. So zwang er denn ein überlegenes Lächeln auf sein Gesicht, lehnte sich im Sessel zurück, schlug mit einer Bewegung des Behagens die Beine übereinander und fragte leichthin:

»Sag', Anatol, woher weißt du nur das alles?«

Lavergne tat geheimnisvoll. »Du hast doch nicht allein deine guten Verbindungen, Alterchen,« antwortete er und rekelte sich auf dem Diwan. »Aber ich gestehe dir offenherzig zu: hätte ich als glücklicher Ehemann eine Ahnung davon gehabt, daß mein holdes Weib eine Tochter des Imperators ist, dann würde ich Mittel und Wege gefunden haben, die mir eine bequemere Stellung gewährleistet hätten, als ich sie heute einnehme. Und eigentlich verstehe ich dich nicht, Charlie – nein, ich verstehe dich nicht. Du bist doch ein mit allen Hunden Gehetzter, du bist doch eine geriebene Kreatur – – zum Donnerwetter, als Schwiegersohn Napoleons, wenn auch als linksseitiger, wenn auch als illegitimer, hätte ich aus der cäsarischen Nachtmütze längst ein paar Millionen herausgepreßt und mich irgendwie zur Ruhe gesetzt, statt noch länger in politicis herumzustänkern und mir Ärger und Aufregung zu holen! Aber du hast keine Initiative mehr, Karlchen, du bist ein Trottel geworden …«

Baron Herwey hielt an sich. Wieder spannten sich seine Nerven, und jeder Sinn in ihm wurde zum Horcher. Er warf seine Papyros in eine große bronzene Schale, die am Boden stand.

»Erlaube, daß ich mir eine Manila anstecke,« sagte er und zog sein Etui. »Ich kann das Papier nicht mehr rauchen …« Ein Wachshölzchen blitzte auf … »Ja – du – ehrlich gestanden, ich glaube noch immer nicht so recht an diese Vaterschaft. Ich sehe in der ganzen Geschichte nur einen romantischen Bluff seitens – gewisser Pariser Kreise, die sich damit eine Einwirkung auf Désirée versprechen. Ähnliches deutetest ja auch du an.«

»O nein – da hast du mich mißverstanden,« rief Lavergne eifrig. »Die Pariser Unverantwortlichen nutzen die Sachlage aus und ergehen sich in unerfüllbaren Versprechungen – aber das Faktum selbst ist schon richtig, ist nicht anfechtbar. Der frühere Gesandte Frankreichs bei euch – in Hannover, meine ich – hat mir die ganze Geschichte haarklein erzählt. Graf Roset ist ein weitläufiger Vetter von mir und hat mir manche Gefälligkeit erwiesen – noch im letzten Frühjahr, als ich im Auftrage Bratianus in Paris war, bin ich häufiger mit ihm zusammengewesen. Daß Désirée erst durch ihn über ihre Geburt informiert werden konnte, lag einfach daran, daß sie bis dahin selbst geglaubt hat, die Tochter des letzten Champéron und seiner Gattin zu sein – Herrgott, ich habe das doch auch nicht anders gewußt, denn alle ihre Papiere lauteten so! Es war eine schlichte Fälschung im Interesse Napoleons, nichts weiter – mit Morny hat man es ja ähnlich zu machen versucht!«

»Aber der Beweis,« sagte Herwey, »der strikte Beweis.«

Die wenigen Worte, wahllos hingeworfen, genügten, um Lavergne noch eifriger werden zu lassen. Er warf die Beine in die Luft und richtete sich auf.

»Du bist schwerfällig geworden, Alter,« rief er. »Du bist merkwürdig begriffsstutzig. Thélin, Napoleons Kammerdiener, General Montholon und Doktor Conneau, die drei, die mit ihm in Ham eingesperrt wurden, sind unverdächtige Zeugen – das siehst du wohl ein. Paß auf. Als Napoleon Anfang der dreißiger Jahre in Rom lebte und sich dort als Mitglied der Carbonari die Zeit vertrieb, hatte er ein blutjunges Mädelchen, ein kleines Modell von der Scala di Spagna, zur Geliebten. Teresa hieß sie – Teresa Fumagalli – so ähnlich. Der Vater war Gassenkehrer, die Mutter trieb sich herum – also keine feine Familie – nimm's nicht weiter übel.«

»Bah,« sagte der Staatsrat und fuhr mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß ja,« fügte er hinzu, zwischen jedem Wort einen Zug aus seiner Manila nehmend, »kenne ja die Einzelheiten – aber erzähle nur weiter – erzähle – vielleicht erfahre ich doch noch etwas Neues.«

»Neues weiß ich auch nicht,« erwiderte Lavergne, während er wieder seine Fingernägel zu polieren begann. »Tatsache ist jedenfalls, daß der brave Badinguet seine Teresa vergaß, als er Italien verließ, sich ihrer später aber wieder einmal erinnerte, als er in der Schweiz Aufnahme gefunden hatte. Dann kam der verunglückte Putsch von Boulogne – mit dem gezähmten Adler, den er als Theatercoup über seinem Haupte aufsteigen ließ, und seine Einlochung in der Festung Ham. In der Langenweile seiner Haft mag er von neuem Sehnsucht nach seiner Römerin bekommen haben, die nun ein reifes Weib von wunderbarer Schönheit geworden war – wenigstens nach der Schilderung, die Conneau dem Grafen Roset gegeben hat. Na, und da hat man es denn verstanden, Teresa in Ham einzuschmuggeln, und zwar als sogenannte Wirtschafterin des Kapitäns Bernard, des Offiziers vom Platz, der mit in dem Komplott steckte. Kurze Zeit nach der Flucht Napoleons, genau am 8. Juli 1846, gab Teresa einem Töchterchen das Leben und starb bei der Geburt. Das Kind wurde von General Montholon bei einem alten Bonapartisten, dem Grafen Champéron, untergebracht und von ihm als eigenes erzogen, was sich um so leichter bewerkstelligen ließ, als er eben von einer italienischen Reise zurückgekehrt war und in Florenz seine Frau verloren hatte. Eine Adoption hat meines Wissens überhaupt nicht stattgefunden. Ob Napoleon als Konsul oder Kaiser dem Grafen noch eine Abfindung hat zukommen lassen, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn Désirée hatte nur ein geringes Vermögen, als ich sie heiratete. Aber daß du, alter Schlaufuchs, die Situation nicht gehörig ausgenutzt hast, ist mir ganz unbegreiflich.«

Baron Herwey, auf seinem Sessel zusammengesunken, die Zigarre zwischen den Lippen, zuckte müde die Achseln. »Warum ausnutzen,« sagte er leise, »warum eine Erpressung? Ich bin kein Bandit, und Désirée ist eine achtbare Frau.«

Lavergne schlug ein helles Gelächter auf. »Entschuldige – entschuldige meine Heiterkeit, Carolus! Ja natürlich – eine achtbare Frau! Wär' sie es nicht, so würde sie sich ihre Dienste für Frankreich Zug um Zug bezahlen lassen. Ah – aber sie rechnet auf höheren Lohn, sie rechnet auf ein Pauschale! Und blaue Berge hat man ihr auch versprochen. Wenn sie sich nur nicht täuscht. Zwischen Versprechen und Halten liegen Höhen und Täler. Du bist ein Nachtwächter, Charlie. O, du bist schlimmer. Du hast eine achtbare Frau … nun ja …« Er sprang auf, die Hände in den Taschen seines Pyjama, und blieb vor Herwey stehen. In seinen schönen, schwarzen Augen glommen sprühende Funken. Die Augen glitzerten wie bei einer Tigerkatze, die zum Sprung ansetzt. Ein unbeschreiblich gemeiner Zug von Haß und Rachgier furchte sich um den Mund … »Diese achtbare Frau,« fuhr er fort und schnellte die Worte wie spitze Nadeln von seiner Zunge, »die hab' ich auch einmal geliebt – so wie du. Mich hat sie schandbar betrogen – glaubst du denn, Narr, dir wird sie die Treue halten?!«

»Verrückt,« sagte Herwey und fühlte dabei, es kroch mit Spinnenbeinen ein häßliches Etwas durch sein Herz, »– du bist verrückt, Anatol! Sie hat mich lieb – – auf ihre Art …«

Die Stimme versagte ihm jäh. Das Einglas sank ihm aus dem Auge. Die zitternde Hand suchte das Taschentuch, denn er fühlte plötzlich kalten Schweiß auf der Stirn.

Lavergne sprang an den Schreibtisch, kramte in dem Gefach, zog eine Juchtenmappe hervor und schloß sie auf. Briefe fielen heraus. Er nahm drei in die Hand, sie steckten noch in den Hüllen, und hielt sie fächerförmig dem Staatsrat unter die Augen.

»Kennst du die Schrift?« fragte er.

Der Staatsrat war auf der Hut. Es gilt eine nackte Erpressung, sagte er sich. Er blinzelte nur flüchtig über die Adressen.

»Briefe von damals,« entgegnete er in verhaltenem Gleichmut. »Aus der Zeit eurer Ehe. Was soll ich mit den Wischen?«

Lavergne verzog das Gesicht zu grinsendem Ausdruck.

»Schau' sie dir etwas näher an, diese Wische,« antwortete er. »Da den ersten, mit dem Berliner Poststempel vom vorigen Dezember – und wenn du dann weitersiehst, wirst du sehen, daß deine holde Frau mir noch vor einigen Tagen ihren letzten Erguß zugehen ließ.«

Da rückte Herwey sich im Sessel zurecht. Er war wachsbleich, aber fest. Er sah einen holden Schein verschwinden, er schaute in eine schwarze Täuschung mitten hinein. Doch nun kam auch eine Kühle der Ferne über ihn, die Überlegenheit des Richters. Er wollte die Wahrheit wissen.

»Du stehst mit Désirée in schriftlicher Verbindung,« sagte er kaltblütig, »sie ist noch meine Frau, und ich habe das Recht, dich zu fragen, wie dieser Verkehr möglich wurde.«

Einen Augenblick stutzte Lavergne: nicht vor der eisigen Gelassenheit des anderen, sondern vor dem eigenen Übereifer. In seiner Wut auf das Weib stand er im Begriff, ein Spiel aus der Hand zu geben, das noch Trümpfe zählte.

»Das Recht,« wiederholte er und steckte die Briefe wieder ein, »meinetwegen, obwohl sich darüber streiten läßt. Aber ich habe ein Gegenrecht, ein sehr einfaches: deine Frage unbeantwortet zu lassen. Bah, mein Freund, du kannst mich nicht zwingen, dir Rede zu stehen. Du kannst auch nicht die Gerichte anrufen. Du kannst Désirée stellen, aber die würde dir sagen: Zeig' mir die Briefe – und du hast sie nicht.«

»Ich will sie kaufen,« antwortete Herwey ruhig.

Lavergne lachte. »So ist's richtig,« rief er. »Du bleibst auf der alten Linie. Du hast mir das Leben abgekauft, du hast Désirée gekauft, du bist ein vorzüglicher Handelsmann. Dir ist alles kaufbar.«

»Nenne mir deinen Preis,« sagte der Staatsrat.

Lavergne wurde bedächtig. Er wiegte sich von einem Fuß auf den anderen.

»Hunderttausend Francs,« antwortete er. »Aber erschrick nicht: fünfzigtausend sind schon darauf bezahlt. Für den Rest hast du sie.«

»Gib mir Feder und Tinte,« sagte Herwey und erhob sich in nervöser Hast. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Papier aus seiner Brieftasche und füllte eine Tratte auf Bleichröder aus. Er behielt sie in der Hand.

»Erst die Briefe, Schuft,« rief er drohend.

»Danke. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, Charlie. Sei nicht so aufgeregt. Wir schließen ein glattes Geschäft ab. Da sind die drei Liebesbriefe. Einen vierten bekommst du als Zugabe. Halt – eh du sie liest, will ich sie ordnen. Chronologisch – du wirst sonst nicht klug daraus. Eins, zwei, drei, vier – so stimmt es.«

Er nahm den Wechsel und der Staatsrat die Briefe. Nun zitterte seine Hand nicht mehr. Er stand jetzt ganz unter dem Einfluß einer sachlichen Notwendigkeit. Die Logik der Dinge führte das Wort.

Er zog den ersten Brief aus dem Kuvert, datiert vom Dezember vorigen Jahres, und las ihn:

 

»Ich habe auf Umwegen, die Dir gleich sein können, Deine Pariser Adresse erfahren. Schreibe mir, ob und wohin ich Dir eine wichtige Nachricht zugehen lassen kann. Den Brief an mich kuvertiere doppelt und richte ihn an den Baron de Ring, Französische Botschaft, Pariser Platz, Berlin –

Désirée.«

 

Der zweite Brief von Anfang Februar des Jahres lautete:

 

»Mir liegt an einer Ungültigkeitserklärung meiner Ehe, die aber erst an einem noch näher zu bestimmenden Zeitpunkte eintreffen soll, also nicht früher, ehe ich nicht Auftrag dazu gebe. Die Nichtigkeit würde auf Deiner gerichtlichen Bekundung fußen, daß Baron Herwey Kenntnis von deinem Überleben der Todeserklärung hatte. Zu gleicher Zeit würde ich Scheidung unserer früheren Ehe wegen Desertion Deinerseits beantragen. Teile mir mit, ob Du einverstanden bist und welche Entschädigung Du forderst.

D.«

 

Herr von Herwey las, ohne daß ein Nerv in seinem weißen Gesicht zuckte, den Brief zweimal durch und griff dann nach dem dritten. Er war noch kürzer.

Désirée schrieb:

»Der Schneider Worms dort wird Dir die verlangten fünfzigtausend Francs gegen Legitimierung und Quittung auszahlen. Warte weiteres ab.

D.«

 

Endlich der vierte und letzte:

»Ich bedaure, Deinen Wunsch zurzeit nicht erfüllen zu können. Meine Mittel sind augenblicklich beschränkt. Gedulde Dich und versuche keinesfalls eine persönliche Annäherung. Hüte Dich auch vor Baron H. Er wird sicher erfahren, daß Du in Berlin bist.

D.«

 

Dieser letzte, erst vor wenigen Tagen geschriebene Brief war unter der Adresse der Türkischen Gesandtschaft an den Baron de Fatin-Lévêque gerichtet und wohl durch einen Dienstmann abgegeben worden, denn er trug keinen postalischen Stempel.

Der Staatsrat legte die Briefe in sein Portefeuille und erhob sich.

»Was gedenkst du nun zu tun?« fragte er.

»Nichts,« antwortete Lavergne. »Ich werde meine Abreise beschleunigen, um dein Waffengeschäft in Rumänien in die Wege zu leiten. Mit Dame Désirée bin ich fertig. Oder doch noch nicht ganz. Ich weiß nicht, was du mit ihr vorhast. Vielleicht wirfst du sie gleich aus dem Hause. Dann würde sie ihrerseits den Prozeß wegen Ungültigkeit deiner Ehe anstrengen. Aber ich wäre immer noch da, und meine Ehe ist noch nicht geschieden. Wenn ich den Beweis antrete, daß der Grund der Desertion nicht stichhaltig ist, weil ich nur übermächtigem Zwange folgte, und wenn ich mich bereit erkläre, die Ehe wieder aufzunehmen, so könnte die Scheidung zum mindesten auf Jahre hinausgeschoben werden. Und das dürfte ihr sehr unangenehm sein, denn es ist klar, daß bereits ein Jemand darauf wartet, mit ihr eine dritte Ehe zu schließen.«

»Aber wer?« stöhnte der Staatsrat. Er schüttelte sich, als wünschte er das blöde Schicksal zu verjagen, das sein Wollen bannte und mit seinen Hoffnungen Spiel trieb. Dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Ich stoße sie nicht aus dem Hause, ich knete mein Herz und werde wie immer zu ihr sein. Ich will erst wissen, wer die Kanaille ist, die …« Er brach ab und strich sich mit der Hand über seine Stirn … »Ich ahne noch nichts, ich bin wie mit Blindheit geschlagen, ich bin wahrlich ein Narr. Aber die Blindheit wird weichen, wenn der Narr klug ist. Ich finde den, den ich suche – ich finde ihn ganz bestimmt – und dann …« Es kam wie ein rasches Zusammenbrechen über ihn. Er liest sich in den Sessel fallen und stierte vor sich hin … »Ja, was dann?« sagte er leise. »Du bist glücklicher als ich, Anatol, denn dein Haß zeigt dir die Wege. Ich aber liebe die Frau immer noch, die mir in allen Sorgen des Lebens etwas Unverlierbares war – und glaube mir – glaube mir, der Gedanke, sie aufgeben zu müssen, könnte mich wahnsinnig machen …«

Die nervöse Spannung löste sich. Heiße Tränen stürzten dem Mann über das Gesicht.

Lavergne kam in unbehagliche Stimmung. Bei aller Schulung im Laster empfand er ein gewisses Mitgefühl. Baron Herwey hatte ihm das Weib genommen. Das war sein Beuterecht gewesen. Auch im Glücksrittertum ist die Tat eine wesenbildende Macht. Dem alten Genossen grollte er weit weniger als ihr, die sich willig rauben ließ. Und nun er sich gerächt sah, tat ihm der weinende Mann beinahe leid.

»Charlie, flenne nicht,« sagte er gutmütig. »Weib bleibt Weib. Mir lief sie davon, dir will sie davonlaufen, der dritte wird es nicht besser haben. Noch liebst du sie – mir ging es damals ebenso. Aber der Haß kam nach. Zur rechten Zeit wird er sich auch bei dir einstellen, und dann weißt du, wie du zu handeln hast.«

Herwey fuhr mit dem Taschentuch über sein Gesicht. Er erhob sich wieder, erhob sich damit auch gleichsam über die Schwankungen des Augenblicks. Es war zwecklos, weich zu werden, und in seinem Leben hatte immer nur der Zweck Bestand und Wert gehabt.

»Ich möchte die alten Verbindungen mit dir wieder aufnehmen, Anatol,« sagte er. »Wir können uns gegenseitig helfen. Ich habe große Pläne, ich habe viel vor: die Arbeit ist meine Rettung. Was geschieht, wenn Désirée dir von neuem schreibt?«

»Ich werde nicht antworten und ihre Briefe zu deiner Verfügung halten.«

»Einverstanden. Du kommst öfters nach Paris. Bist du da nicht in Gefahr, entdeckt zu werden?«

»So wenig wie hier. Wer kennt mich noch? Der lange Bart hat mich völlig verändert. Außerdem bin ich vorsichtig. Gewöhnlich wohne ich in einem Vorort – meist in Asnières. Nur Roset kennt meine Geschichte und hat gar kein Interesse, darüber ein Wort zu verlieren. Eher im Gegenteil. Er hat allen Grund, die Berliner Egeria seines Ministeriums mit äußerster Schonung zu behandeln.«

»Ja,« sagte der Staatsrat, »da magst du recht haben …« Er zog seinen Paletot an, nahm den Hut in die Hand und blieb anscheinend gedankenlos stehen … »Was ich noch fragen wollte, Anatol – richtig –, wer mag denn seinerzeit den Grafen Roset über die Geburtsverhältnisse Désirées unterrichtet haben? Ich habe mich nie darum bekümmert – wollte es gar nicht – bin keineswegs stolz auf diese heimliche Genealogie und habe mir auch jede Andeutung darüber erspart, wenn mich der Zufall einmal mit Roset zusammenführte, was übrigens selten geschehen ist. Seit Hannover habe ich ihn so ziemlich aus den Augen verloren.«

Er sagte das alles in schlaffem, gleichgültig klingendem Tone und stülpte auch schon den Hut auf den Kopf, zum Gehen bereit und kaum die Antwort erwartend.

»Gott,« sagte Lavergne lebhaft, »das war eine sehr einfache Geschichte. Roset stand sich ja ungemein freundschaftlich mit Désirée, als ihr noch in Hannover lebtet – er gehörte zu ihrem intimeren Kreise – und da hat sie ihm gelegentlich den Wunsch ausgesprochen, er möge sich doch einmal nach einem alten Champéronschen Schlößchen da unten irgendwo an der Oise erkundigen, das sie gern gekauft hätte, weil sie es sozusagen als Stammsitz ihres Geschlechts betrachtete. Das tat Roset denn auch, erfuhr, daß das Schlößchen heute Kronbesitz ist, erkundigte sich weiter und kriegte schließlich die ganze Historie heraus. Endgültig hat ihm wohl Conneau klaren Wein eingeschenkt, in dessen Hause er viel verkehrt – aber es sollte Geheimnis bleiben – der Kaiserin wegen, die in solchen Dingen keinen Spaß versteht …« Er lachte und strich sich den Bart … »Weißt du, was man sich in Paris erzählt? Es habe sich ein Klub ehemaliger Geliebten Napoleons gebildet, ein Verein der Verlassenen, Cäsar hat es in dieser Beziehung ziemlich weit gebracht –, es ist auch ein niederträchtiges Pamphlet über seine Freundschaften erschienen, das man unter der Hand bei jedem Bouquinisten kaufen kann … Ja – nun hat aber Roset doch nicht reinen Mund gehalten und sich Désirée anvertraut – weil er sie brauchte, lieber Freund – und sie ist ihm und seinen Hintermännern auch wirklich ein gefügiges Werkzeug geworden. Ich sagte dir ja schon, man füttert sie mit schönen Versprechungen, die man nicht halten wird, wenn es so weit kommt, vielleicht auch gar nicht halten kann. Roset hat es faustdick hinter den Ohren. Also, Vorsicht, trauernder Meergreis! …«

Der Staatsrat hörte nicht mehr. Er nickte und berührte flüchtig die Hand Lavergnes.

»Wiedersehn,« sagte er, »– ich laß noch von mir hören.«

Im Speisezimmer trat ihm die Rumänin entgegen und führte ihn weiter.

»Alles abgemacht?« fragte sie.

Herwey nickte. »Ja – es war nichts Aufregendes. Eine Besprechung. Anita, ich kann Sie demnächst brauchen. Lassen Sie die Verbindung mit Ghika nicht fallen.«

»Kein Gedanke. Und sonst immer zu Ihren Diensten.«

Nun saß der Staatsrat wieder in seinem Coupé und fuhr zurück nach der Tiergartenstraße. Sein Kopf brannte, aber er versuchte die Gedanken zu gliedern und forschte nach einem Gewinn von Möglichkeiten.

Es war alles so unfaßlich. Nein, doch nicht. Es war nur eine Zuspitzung von Wirklichkeiten. Désirée eine Tochter des Kaisers. Bah – sie war nicht die einzige. Die Napoleoniden hatten von jeher für illegitimen Aufwuchs gesorgt, und der kranke Mann auf Frankreichs Thron war dermaleinst ein wilder Bursche gewesen. Herwey entsann sich: er hatte selbst in London die rotblonde Lady Warren kennengelernt, die dort dem verbannten Prinzen das Leben verschönte. Was mochte aus ihr geworden sein? Und er entsann sich von seinen Pariser Besuchen her der Bellanger und der Pearl und der süßen, kleinen Deligny – warum sollte nicht auch die Geschichte der schönen Teresa Fumagalli auf Wahrheit beruhen? –

Désirée hatte ihm dies verschwiegen. Vielleicht auf Rosets Wunsch. Sie war sein Werkzeug geworden. Sie arbeitete gut und selbstlos – sie arbeitete ja für den Herrn Papa. Wie Herwey so grübelte, schien ihm manches klarer zu werden. Er hatte zuweilen in seinen Verbindungen mit Paris gewisse Gegenströmungen zu spüren geglaubt, und auf der Französischen Botschaft sagte man ihm Dinge, deren Kenntnis ihn in Staunen setzte. Nun wußte er, von wem diese Informationen herrührten, und wer ihm auch gelegentlich bei seinen Pariser Auftraggebern zuvorkam.

Aber immer wieder stieß er auf Dunkles und Ungeklärtes. Der Geheimdienst Désirées war für sie doch nicht nur ein gefälliges Rankenwerk ihres Lebens, kein Aufputz der Langenweile, sondern ein Mittel zu irgendeinem bestimmten Zweck. Die Hand Herweys fühlte nach seiner Brusttasche. Da steckten die vier Briefe an Lavergne. Gaben sie den Schlüssel zu dem Tun und Handeln dieser rätselhaften Frau?

Nein, nur eine unbarmherzige Klarheit gaben sie. Sie wollte eine Ehe lösen, die nach Recht und Gesetz keine war. Und sie wußte, daß es keine war – sie hatte nie an den Tod Lavergnes geglaubt, und ihrem Nachspüren war es gelungen, ihn aufzufinden, damit er zu geeigneter Stunde sein Zeugnis ablegen könne. Welcher »näher zu bestimmende Zeitpunkt« war dies, und worauf wartete sie noch? –

Bigamie ist strafbar, das wußte auch Désirée. Aber sie rechnete darauf, daß es zu einem Prozeß gar nicht kommen würde – ihre Beziehungen reichten sicher bis in das Ministerium der Justiz hinein. Der arme Mann in dem blaulackierten Coupé malte sich aus, wie sich alles gestalten konnte. Sie verschwand eines Tages – allein oder mit dem dritten. Die Klage wurde von Paris aus angestrengt. War Lavergne nicht zur Stelle, so konnte er durch ein Konsulat vernommen werden. Es ging alles. Und in Paris lebten liebenswürdige Richter. Der Code civil sah für derlei Fälle die Entschuldigung des »Irrtums« vor; das war die offene Tür, die auch das alte hannöverische Recht kannte und selbst das preußische. Man entschlüpfte der Strafe, man sprach einfach die Ungültigkeit der Ehe aus, dann konnte im Umsehen auch die Scheidung der ersten erfolgen. Das war wieder Sache der Gefälligkeit Lavergnes, und sein Gefälligsein hing von der Anzahl der Tausendfrancsscheine ab, die man ihm in die Hand drückte. Und war er störrisch und unfügsam – o, es gibt sehr liebenswürdige französische Richter, und vielleicht dehnte Désirée ihre Beziehungen bis in die Tuilerien aus. Da lebte ihr ja ein Beschützer …

Letzte Frage: Wer war der Mann, der den Stein ins Rollen brachte? Hinter der Spannung aller Kräfte, die Désirée in Bewegung setzte, stand er. Es war nicht nur ein Antrieb des Ich: es war eine Verdoppelung ihres Lebens, die ihr Einzelwesen mit unerhörter Energie erfüllte. Aber wer war der Mann?

Baron Herwey senkte stöhnend den brennenden Kopf. Er wußte es nicht – er wußte es nicht.


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