Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6.

Die großen Herbstübungen des Gardekorps hatten sich in diesem Jahre zumeist in der Gegend um Zossen abgespielt und waren zwischen Zossen und Kummersdorf zu einem auch äußerlich sehr wirksamen Abschluß gekommen. Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, als Kommandeur des Garde-Feldartillerie-Regiments eine in Berlin wohlbekannte Persönlichkeit, hatte die Brigade erhalten und sollte nun, wie der alte Hindersin, der Generalinspektor der Artillerie, gesagt hatte, einmal zeigen, was er eigentlich könne. Vierzehn Tage lang tummelten sich seine Truppen vor den Toren Berlins und brachten den Gegner zur Verzweiflung. Als Schlußaufgabe hatte der Divisionär einen ganz verzwickten Plan ausgearbeitet, dessen Einzelheiten der als Feind geltenden kombinierten Brigade von vornherein ein gewisses Übergewicht gaben. Auch der König hatte sich für das Manöver interessiert und seine Anwesenheit zugesagt, und so herrschte denn auf dem Gelände vom Morgengrauen an ein höchst bewegtes Treiben.

Der Septembertag war heiß, der Staub wirbelte, die großen Geschütze dröhnten, das Infanteriefeuer knatterte. In der blauen Luft bildeten sich weiße Wölkchen und zerteilten sich wieder. Hinter dem Kiefernwalde tauchten die Lanzenfähnchen der Ulanen auf, durch das Grün blitzten zuweilen bunte Farben, ein einsamer Ordonnanzoffizier raste in voller Karriere über den Sand, Gendarmen und Feldjäger hatten alle Mühe, das schaulustige Volk auf gefährdeten Stellen zu zerstreuen.

Denn nicht nur aus den Kleinstädten und Dörfern der Umgebung, auch aus Berlin selbst waren ganze Scharen von Neugierigen hinausgezogen, mit Sack und Pack und Butterbroten, fanden sich gruppenweise zusammen, lagerten hier und da, wurden wieder aufgescheucht und wanderten weiter. Hausierer und Marketender mischten sich unter die Menge, in der Ecke des Kiefernforsts nach Kummersdorf zu hatte ein Budiker sogar eine Holzbaracke aufgeschlagen und verschänkte Tivolibier, dem eifrig zugesprochen wurde. Hier in der Biegung der Notte, wo das Gelände sich abflachte, sollte der Schlußkampf sich abspielen. Das hatte man gehört, auch die Zeitungen, die Voß und die Spenersche, die Tribüne und die Post, hatten davon erzählt, und daß es sich wirklich so verhielt, bewies die mähliche Ansammlung berittener höherer Offiziere an verschiedenen Stellen.

Um die Mittagszeit wurde es noch lebhafter, obwohl das Manöver auf einem toten Punkt angelangt zu sein schien, denn der Kanonendonner schwieg seit einem Viertelstündchen. Auf der kleinen Anhöhe, die sich von der Buchtung der Notte aus in die Ebene schob, waren, mit Hurra begrüßt, ein paar Hofwagen aufgefahren. Man erkannte die Königinwitwe Elisabeth neben der Prinzessin Karl, die Prinzessinnen Friedrich Karl und Alexandrine, und in ihrer Umgebung, zwischen dem Oberstallmeister Grafen Pückler und dem Ersten Oberjägermeister Grafen Asseburg auch die Kronprinzessin, in der Uniform ihrer zweiten Leibhusaren, auf einem tänzelnden Rappen mit Muschelgeschirr. Und dann füllte die Höhe sich mehr und mehr, und rechts und links in einem weiten Bogen, von berittenen Schutzleuten und Feldjägern dirigiert, baute eine zweite Wagenburg sich auf: Hof, Diplomatie und Gesellschaft, meist in offenen Landauern und Breaks, die Kutscher mit weithin sichtbaren Ausweiskarten an den Hüten.

In der Volksmenge entstand jedesmal eine Bewegung, wenn irgendeine bekannte Persönlichkeit sichtbar wurde, wie der alte Wrangel mit dem zerknitterten, lustig schmunzelnden Gesicht unter der weißen Kürassiermütze, wie der »Prinz Schnaps« von Mecklenburg, der Polizeipräsident von Wurmb oder der General von Peucker. Und dann kamen auch die Prinzen, die mehr Zuschauer als Mithandelnde waren, die Brüder Georg und Alexander und Prinz Adalbert, aber heute nicht als Admiral der preußischen Flotte, sondern in der Uniform der Garde-Feldartilleristen, bei denen er à la suite geführt wurde, und endlich nahte vom Waldrand her, gemächlich reitend, umgeben von seinen General- und Flügeladjutanten, unter denen die Riesengestalt des ihm persönlich attachierten russischen Generalmajors Grafen Golenitscheff-Kutusoff auffiel, der alte König. Ein Schwarm fremdländischer Militärattachés schloß sich ihm an, und dahinter folgten neue Wagen mit Herren und Damen vom Hofe und vom diplomatischen Korps, ein endloser Zug, der den Hügel umkränzte.

Im Augenblick, da der König zwischen die Landauer der Prinzessinnen geritten war und den Krimstecher in die Hand nahm, den General Graf Wilhelm Brandenburg ihm reichte, wurden irgendwo in der Ferne drei Kanonenschüsse gelöst, gleichsam als Beginn des letzten Aktes dieser militärischen Schaustellung. Und dann quirlte von Kummersdorf her Infanterie in einer wirbelnden Staubwolke durch den märkischen Sand, Artillerie sauste voran, fuhr auf und protzte ab, an den Flügeln wurden Gardedragoner sichtbar, dahinter wieder die Lanzenfahnen der Ulanen. Aber das Hohenlohesche Korps war auf der Hut. Es hatte den Massenangriff erwartet und eine großzügige Umfassung bereitet. Seine Batterien erschienen blitzschnell in Seitenfront zu der feindlichen Artillerie und nahmen sie unter Feuer, in das aus der rechten Flanke hervorbrechende Kavallerie, Husaren und Gardedukorps auch die gegnerische Infanterie hineindrängte. Und ehe die Brigade zu neuer Stellung kam, ließ Prinz Hohenlohe seine versteckt gehaltenen Füsiliere aus dem Walde stürmen und die sich auflösenden feindlichen Massen tambour battant von links überrennen. Eine Viertelstunde lang war die Luft dicht von kreiselndem Staub und Geschützwolken erfüllt. Die Kanonen brüllten, die Zündnadelgewehre knatterten, die Trommeln rasselten und die Trompeten bliesen, und zwischendurch erscholl zeitweilig das laute Hurra der Stürmenden, aber ganz taktgemäß, in drei Pausen – es war alles von theatermäßiger Wirkung und alles klappte vortrefflich.

Prinz Hohenlohe war Feuer und Flamme für seine Sache. Er war eben zum General befördert worden, und die neue Uniform stand seiner schlanken Geschmeidigkeit ausgezeichnet. Er hielt auf seinem hochbeinigen Braunen vor einer kleinen Wassermühle und jagte seine Adjutanten und Ordonnanzen rastlos umher. Der Blaßfuchs Ralph Herweys war mit Schaum übergossen und bebte in allen Fibern.

»Himmel und Hölle,« rief der Prinz, »warum stoppen auf einmal die ersten Gardedragoner!? Leutnant von Herwey, die Dragoner sollten sich den Gardedukorps in die rechte Flanke setzen! Die vierte und fünfte Eskadron bleibt in der Reserve, bis die feindliche Linie gebrochen ist, und nimmt dann die Verfolgung auf. Sagen Sie dem Prinzen Reuß, er möge die beiden Schwadronen an der Waldlisière zurückhalten. Aber soll scharf Obacht geben. Das Regiment Elisabeth ist schon im Weichen.«

»Befehlen, Euer Durchlaucht,« antwortete der Adjutant und sauste los, daß der Sand unter den Hufen des Fuchses spritzte.

Am Fuße des Feldherrnhügels hielt die kleine Gruppe der fremden Militärattachés. Da sprach man Französisch miteinander, nur Oberst Walker von der Großbritannischen Botschaft verstand und sprach nichts als sein heimisches Englisch.

»Ein hübsches Bild,« sagte der Baron Visconti, ein junger Italiener, »und fabelhaft malerisch.«

»Aber gestellt – zu sehr arrangiert,« warf Oberst Azis-Mehemed ein, ein in St. Cyr erzogener Türke. »Das greift alles ineinander, als ob es so sein müßte. Was soll ich meinem Kriegsminister darüber berichten? Meisterhafte Disziplin – nicht wahr, das sagt genug?«

»Es kommt darauf an,« entgegnete der Oberst de Stoffel lächelnd. »Mein lieber Kamerad, diese meisterhafte Disziplin darf nicht unterschätzt werden. Sie ist die Seele eines gewaltigen Organismus.«

Aber der Türke ließ sich nicht so leicht belehren. »Ich kann mir nicht helfen,« meinte er, »ich sah im vorigen Jahre im Zirkus Déjean in Paris eine militärische Pantomime, da ging es ganz ähnlich zu. Die Artillerie hätte, wäre es Wirklichkeit, das Fußvolk schon beim ersten Feuer niedermähen müssen, und nun setzen die Regimenter zum dritten Sturm an. Das ist doch unmöglich.«

»Natürlich ersetzt ein Manöver niemals die Feldschlacht,« gab Herr de Stoffel zurück. »Aber grade das, was Sie äußern, wäre für die Wirklichkeit ein Beweis für die Tüchtigkeit der preußischen Artillerie. Man hat hier ungeheuer zugelernt. Ich habe vor kurzem einem Belehrungsschießen nach beweglichen Scheiben beigewohnt, und da war das Resultat doch so, daß ich es als Beruhigung empfand, mitten im tiefsten Frieden zu leben. Denn an Krieg ist ja Gott sei Dank nicht zu denken.«

Dem stimmten alle zu, und jeder einzelne dachte das Gegenteil. »Baron Stoffel – Vergebung,« sagte Herr von Güldencron, ein Däne, »ich bin erst seit kurzem im Amt, und Sie kennen hier schon alle Welt. Wollen Sie mich bitte ein wenig belehren. Wer ist da die Dame in Lichtgrün?«

»Die Gräfin Oriola, eine Palastdame der Königin.«

»Nein – Verzeihung – ich meine die jüngere in dem Undinenkostüm – da drüben in dem perlgrauen Landaulet, die neben dem Herrn im Staubmantel sitzt und eben mit dem griechischen Gesandten spricht –«

»Ah – die! …« Der Oberst lachte und zwinkerte verschmitzt mit den Augen … »Sie haben einen scharfen Blick, lieber Freund, Sie haben gleich die Erlesenste unter den Schönheiten Berlins herausgefunden. Also das ist eine Baronin Herwey, übrigens geborene Französin, und ihr Gatte ist das sogenannte große Reptil. Wissen Sie, was das heißt? Sie sprechen ja Deutsch, und da will ich lieber deutsch fortfahren, denn es braucht nicht männiglich zu verstehen, was ich sage. Reptile nennt man im diplomatischen Jargon die nichtzünftigen Politiker, die aus irregulären Quellen gespeist werden – aber zumeist recht gut. Leute, die man zu allerhand geheimen und halbgeheimen Missionen braucht, zu Aufträgen, die der offiziellen Diplomatie unbequem liegen, für die man aber doch Persönlichkeiten haben muß, denen man vertrauen kann. Es sind Kostgänger der Regierung, die ihr zuweilen recht teuer zu stehen kommen, und den Ausdruck führt man auf Bismarck zurück, der in den Verhandlungen um die Vermögenseinziehung des Kurfürsten von Hessen dessen Agenten als bösartige Reptile bezeichnete. Baron Herwey ist nun, wie gesagt, das sogenannte ›große‹ Reptil, einmal seiner Körperlichkeit halber, und dann auch, weil er an Geist, Klugheit und Gewandtheit das sonstige Gezücht des politischen Aquariums bei weitem überragt.«

»Sehr interessant,« sagte Baron Güldencron, »– da hat man sich also vor ihm zu hüten.«

»Ei nein, er nicht doch,« entgegnete der lange Elsässer. »In seinem Geschäft ist er sicher ein geriebener Schlaufuchs, aber sonst ein harmloser Europäer. Und verkehrt überall in bester Gesellschaft, macht ein großes Haus, hat eine reizende Frau, einen Sohn, der bei der Garde steht, ist sehr geschätzt und immer willkommen und wäre vielleicht längst in das Auswärtige Amt übernommen worden, wenn das bureaukratisch möglich wäre und er bei seiner illegitimen Beschäftigung nicht viel mehr verdiente, als man ihm bestenfalls an Gehalt zahlen könnte.«

»Merkwürdig,« sagte Herr von Güldencron, »bei uns in Dänemark gibt es so etwas nicht.«

»Na, na – Baron! Sollten Sie da nicht unzuverlässig berichtet sein? Ich wenigstens kenne kein Land, in dem es nicht fleucht und kreucht von derlei Reptilen, ob sie nun frei herumlaufen oder in Bureaus und Redaktionen ihren Aufenthalt suchen. Und ich verrate Ihnen, um ein Beispiel anzuführen, kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß der seit kurzem erfolgte Gesinnungsumschwung der Pariser Presse gegen Preußen lediglich darauf zurückzuführen ist, daß Bismarck einen Teil unsrer Zeitungen subventionieren läßt. Er kann sich das leisten – das beschlagnahmte Vermögen von Welf und Brabant ist groß genug.«

Er schwieg, denn in diesem Augenblick überdröhnte das Geschütz- und Gewehrfeuer der allseitig aufgenommene Trompetenruf: »Das Ganze Halt.« Und jetzt war es wirklich wieder wie in einem gut in Szene gesetzten Theaterstück: die Luft klärte sich, die Staub- und Rauchwolken zerflossen – die Batterien protzten auf, die Infanterie rückte in geschlossenen Reihen ab, die Reiterei sammelte sich am Waldrand, und von der Anhöhe ritt der König mit seiner Suite langsam in die Mitte des Schlachtfeldes, indes die Trompeten das Signal »Zur Kritik« bliesen. Nun jagten von allen Seiten die Heerführer und Regimentskommandeure, Rittmeister und Hauptleute herbei und bildeten einen Kreis um den obersten Kriegsherrn.

Auch die Wagenburg löste sich allgemach auf – und fuhr nach Hause.

»Soll ich Sie der schönen Baronin vorstellen?« fragte Herr de Stoffel.

»Es könnte nichts schaden,« erwiderte der kleine Däne, und beide Herren ritten zu dem Herweyschen Landauer. Hier hatte der Diener inzwischen einen Frühstückskorb aus dem Wagenkasten geholt. Der Baron und Désirée waren ausgestiegen; im Umsehen lagen weiße Tücher auf den Polstern, Teller und Messer und Gabeln folgten, belegte Brötchen und Sandwichs schälten sich aus dem Papier, der Sekt lag in Eis und perlte bald in den silbernen Feldbechern.

Von allen Seiten hatten sich gute Bekannte eingefunden, meist jüngere Herren von den Gesandtschaften, die Sekretäre Wyndham und Kirkpatrick von der Englischen Botschaft, Baron Ring und der Vicomte de St. Guilhem von der Französischen, auch ein Belgier und Herr von Macedo, der brasilianische Attaché. Baron Visconti und der hübsche Boulevardtürke schlängelten sich gleichfalls heran, Oberst Stoffel stellte seinen Dänen vor, man sprach Französisch, Englisch und Italienisch, man lachte und plauderte unendlich Gleichgültiges und nahm aus den Händen der schönen Frau ein Lachsbrötchen, eine Schnitte mit Rebhuhnpastete, einen Becher Ayala. Sie war, wie immer, eine reizende Wirtin. Über ihr dunkles Gesicht sprühte die Lust des fröhlichen Augenblicks, die Zunge sprang behend von einer Sprache zur anderen, nie glitt das liebenswürdige Lächeln von ihren anmutgeschwellten Lippen. Das Lichtgrün ihres Kleides umfloß sie wie Wellen der See, bei jeder Bewegung zitterten die hundert Volants, auf dem schwarzen Kopfe saß, ganz vorn, fest in die Stirn gedrückt, das winzige Hütchen.

Baron Herwey sprach, den grauen Zylinderhut tief im Nacken, halblaut mit dem Fürsten Ypsilanti, dem Vertreter Griechenlands, als er einen ungeheuer dicken Herrn in weit offenem Sommerrock, prustend und keuchend und schwer auf seinen Bambus gestützt, der Gruppe sich nähern sah. Da teilte sich sein Interesse.

»Vergebung, Durchlaucht,« sagte er zu dem Fürsten, »ich bin sofort wieder bei Ihnen …« Und er lüftete den Hut vor dem dicken Herrn und reichte ihm die Hand … »Grüß Gott, Professor – Sie auf dem Felde der Ehre?«

»Ich trinke Marienbader«, antwortete der Gewichtige lächelnd, »und dehne meine Morgenpromenaden nach Möglichkeit aus. Übrigens habe ich ein Sommerquartier in Zossen. Aber einen Schluck Sekt könnt ihr mir immerhin geben.«

Désirée hatte ihn schon gesehen und nickte ihm freundlich zu. »Guten Tag, lieber Pernice,« rief sie flüchtig zu ihm hinüber, indes Baron Herwey ihm den Becher füllen ließ.

Der Professor, der Geschäftsträger des Kurfürsten von Hessen, den man seiner Körperlichkeit halber den diplomatischen Falstaff nannte, setzte an und leerte den Becher in einem Zuge.

»Sie wissen schon?« sagte er und leckte sich über die Lippen.

»Was, lieber Freund?«

»Die Wiener Bank –«

»Und –?«

»Futsch.«

Baron Herwey bückte sich, um den Handschuh aufzuheben, der ihm entfallen war. Das Blut war ihm bei der Bewegung in das Gesicht gestiegen. Er sah Ralph kommen und winkte ihm mit übertriebener Geste zu. Auch sein Mienenspiel hatte etwas Seltsames.

»'Tag, mein Junge,« sagte er, »habt eure Sache brav gemacht, habt ordentlich geknallt und genügend Pulverdampf entwickelt.«

»Gehört alles zum Handwerk,« lachte Ralph, dessen Uniform mit Staub übergossen war und dessen Gesicht wie bepudert erschien. »Die Kritik dauert lange – da bin ich hurtig vom Pferde gesprungen, euch rasch die Hand zu drücken.«

»Hol' dir eine Erfrischung,« riet der Vater. Ralph war schon am Wagen, küßte der Stiefmutter die Rechte und streckte dann nach beiden Seiten hin die Hände aus. Er kannte die meisten. Er hatte auf allen Legationen, die nicht langweilig waren, seine Karte abgegeben. Baron Ring klopfte ihm die staubige Schulter, mit Herrn de Stoffel kreuzte sich ein Blick vertraulichen Einvernehmens.

» 'tite maman, einen Schuß Lethe,« bat er. »Meine Kehle ist ausgedörrt, die Zunge klebt mir am Gaumen …«

Baron Herwey stand so, daß er der Gruppe am Wagen den Rücken wandte. Jetzt lag es wie Asche auf seiner Miene, und seine Stimme hatte einen rauhen Klang. Er hatte den Professor Pernice an einen Knopf seines Überziehers gefaßt und sagte in einem Tone gesuchter Unbefangenheit:

»Dacht' mir's beinah', daß es so kommen würde. Bin immer gegen diese Gründung gewesen. Aber – nun ja, so recht begreife ich's doch nicht, weil ich … Noch vorgestern erhielt ich einen Dithyrambus aus Wien. Und die Morgenzeitungen schwiegen. Ganz futsch, sagen Sie? Inwiefern? Bei diesem riesigen Kursstande?«

»Die Aktien sind schon in den letzten Tagen etwas gefallen,« bemerkte der Professor.

»Ich weiß es. Um wenige Prozente. Es war nicht der Rede wert. Die Kontermine hat vermutlich eine Partie Aktien aufgegabelt und sie feilgeboten, um einen Druck auf den Kurs auszuüben. Aber das kann nicht mitsprechen.«

»Es muß doch wohl, lieber Baron Herwey. Ich kann Ihnen nur vertraulich mitteilen, daß ich gestern früh ein längeres Telegramm vom Prinzen von Hanau erhalten habe: die Wiener Bank komme auf sein Anerbieten zurück, eine Million Gulden zu zeichnen; es gelte, der Gegenmine durch Ankauf der letzten Aktien ein Paroli zu bieten, um den Ultimokurs selbständig bestimmen zu können – und es liege die Wahrscheinlichkeit vor, daß der Prinz seine Million in wenigen Wochen verdoppeln dürfte. Er fragte an, wie er sich verhalten solle – der Verdienst schien ihn zu locken. Da habe ich mich denn an Meyer Cohn gewandt, der mir in seinen Verbindungen mit Wien am sichersten ist, und der sagte mir, es stehe fest, daß die berühmte Fürstenbank nicht mehr genügend disponible Mittel besitze, um die Aktien der Gegner in vollem Umfange aufkaufen zu können, und daß sie infolgedessen nach allen Seiten hin Pumpversuche macht. Liegt's aber schon so, lieber Freund, dann ist tausend gegen eins zu wetten, daß ich recht habe, wenn ich mein Endurteil in dem gutberliner Wort Futsch zusammenfasse.«

Baron Herwey strich sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Es sind ja noch die Fürsten da,« sagte er, »der König Georg – der Kaiser Franz Joseph patronisiert die Bank, ich glaube, auch Beust gehört zu den Aktionären – es liegt schon im Interesse Österreichs, daß dies Riesenunternehmen nicht zusammenbricht.«

»Es ist immer ein Fehler,« entgegnete Professor Pernice, »die eigenen Aktien festzuhalten. Es ist ein Ersticken im eigenen Fett. Hoffentlich haben nicht auch Sie sich engagiert, Baron!«

»I Gott bewahre,« rief Herr von Herwey hastig, »das fehlte mir noch! Nicht mit einem runden Taler. Meine Papiere sind sicherer.«

Ralph streifte wieder mit einem raschen Grußwort an ihm vorüber. Er hatte es eilig, zu seinem Pferde zu kommen. Die Kritik war beendet. Der König ritt mit seiner Umgebung zu der großen Eiche am Zossener Wege, wo sein Wagen hielt.

Mit klingendem Spiel rückte die Garde in Berlin ein. Ralph verabschiedete sich noch auf dem Manöverfelde von seinem Prinzen, der zur Erholung auf einige Zeit nach Reichenhall zu reisen beabsichtigte. Hohenlohe war zu sehr Soldat, um sich nicht über den glücklichen Ausgang des Manövers und die lobende Kritik des Königs aufrichtig zu freuen, und sagte auch seinen beiden Adjutanten ein paar freundliche Worte. Dann reichte er den Herren die Hand.

»Auf Wiedersehn zu den Wintervorträgen,« fuhr er fort. »Da können wir in der Artillerieschule die Bänke reiten. Lieber Herwey, ich will Ihren Urlaub nicht abkürzen. Aber, wenn Sie einmal Lust und Zeit dazu haben, denken Sie an den Manöverbericht. Wir wollen ihn ein bißchen ausführlicher halten – es waren diesmal ja auch besonders interessante Aufgaben –, so daß wir ihn vielleicht in der Militärischen Gesellschaft zum Vortrag bringen können. Und nun Gott befohlen, meine Herren!« –

Zwei Stunden später lag Ralph in seinem Kasernenzimmer auf dem Sofa und versuchte zu schlafen. Aber es glückte ihm nicht. Er hatte sich nach der Heimkunft zunächst einmal gründlich vom Staub des letzten Manövertages gesäubert. Bornemann, der Bursche, mußte die große Wanne im Schlafzimmer aufstellen und ihn abgießen. Dann legte er frische Wäsche an und schlüpfte in seinen Morgenanzug. Nach anstrengendem Dienst liebte er die mit leichtem Luxus verbundene Bequemlichkeit. Seine aus zwei Zimmern bestehende Kasernenwohnung war der heitere Neid der Kameraden. Mit ihren Polstern, Teppichen und Vorhängen, dem Bilder- und Waffenschmuck an den Wänden, dem wohltuenden Geschmack in allen kleinen Einzelheiten bildete sie eine Art Sehenswürdigkeit, die viel bewundert wurde. Das Offizierkorps des Regiments galt für wohlhabend und Herwey allgemein für der Reichste. Man hatte sich nicht ohne weiteres für seine Aufnahme entschlossen, als er seinen Übertritt in das preußische Heer erklärt hatte. Im Offizierkorps herrschte der alte Landadel vor, und Ralph mit seinem großbritannischen Baronettitel von vorgestern wurde doch nicht so recht für vollgültig angesehen. Aber man söhnte sich mit ihm aus, da er ein liebenswürdiger Kamerad war und die Vorgesetzten bald seine soldatische Tüchtigkeit zu schätzen begannen. Seinen Reichtum nahm man ihm nicht weiter übel; er hatte immer eine lockere Hand und half gern aus, wenn man sich an ihn wandte – im übrigen hatte auch sein Leichtsinn einen Zug von Liebenswürdigkeit und Jugendfrische, und als er ein paar Rennpferde in seinen Stall stellte und auf dem grünen Plane die ersten Siege errang, war das ganze Regiment stolz auf ihn.

Er hatte sich aus dem Kasino ein Schnitzel und eine Flasche Portwein holen lassen, frühstückte und steckte sich hierauf eine Zigarre an. Er hatte die Absicht, gleich seine Papiere zu ordnen – dann war die Geschichte überstanden. Aber da überkam ihn eine leichte Schläfrigkeit. Er streckte sich auf dem Sofa aus und zog die Decke über die Beine. Er wollte ein Stündchen schlummern. Doch der Schlummer kam nicht, die Gedanken verscheuchten ihn. Er war ungern allein, weil dann Stimmen zu ihm sprachen, die quälerisch wurden. Es war so gewesen. Er hatte ihr Raunen anfänglich nur leise vernommen, und im ungeheuren Glück seiner Leidenschaft hatte er kaum auf sie gehört. Aber die Zeit verrann, und kühlte das törichte Herz sich auch nicht ab, so begann sich doch die Vernunft zu regen, die mit aller wirksamen Macht des Gewissens zu ihm sprach. War es nicht seltsam, daß ein Mann wie er, der in seinem Berufe von strengstem Pflichtbewußtsein erfüllt war, einer schönen Frau zuliebe das Letzte vergaß, was an sittlichem Empfinden in ihm lebte?

Nein, es war nicht seltsam. Der gebietenden Autorität des »Du sollst« stand das noch unbedingtere »Du mußt« gegenüber, das aus dem Dunkel der Leidenschaft ihm seine Befehle zurief und sich zum Antrieb eines ungeheuer heftigen Wollens steigerte.

Ralph warf die Decke fort und sprang auf. Er schenkte sich noch ein Glas Portwein ein, leerte es, strich sich über die Stirn und lächelte. Er trat vor den Spiegel und sah dies Lächeln und nickte sich zu. Es war kein Zwang dabei. Er lächelte im vollen Bewußtsein seiner großen Schuld und wäre auch heiteren Gesichts in den Tod gegangen, weil die Illusion des Unbewußten für ihn den Wert der Wahrheit hatte und sich als die stärkere Kraft seines Bewußtseins erwies. Sein Lächeln war eine Selbstverleugnung.

Er suchte nach seinem Notizbuch und holte das Zettelchen heraus, das Désirée in seine Hand gleiten ließ, als sie ihm auf dem Manöverfelde den Becher mit Sekt gereicht hatte. Sie war geübt in allen Mitteln geheimer Verständigung, und auch das, was sie schrieb, war in Geheimschrift gehalten und bestand nur aus einer Reihe von Ziffern. Aber Ralph besaß den lösenden Schlüssel und las ohne Schwierigkeit: »Heute abend um Zehn. Ich bin allein. Bringe alles mit.«

Er verbrannte das Zettelchen im Ofen, öffnete hierauf ein Gefach seines Schreibtisches und entnahm ihm eine Anzahl Papiere, die er sorgfältig zu ordnen begann. Dabei dachte er nur an die Arbeit, die er vor sich hatte, und lediglich mit dem Interesse des Taktikers, der auf eigenen Ansichten und Erfahrungen fußt.

Er ging an diesem Tage nicht mehr aus und ließ sich auch das Mittagessen aus dem Kasino holen. Am Abend legte er Zivil an, packte seine Papiere in die rote Ledermappe, die er sonst zum Kriegsspiel und in die Militärische Gesellschaft mitzunehmen pflegte, und ging fort. Der weite Havelock, den er trug, verbarg die Mappe. An der Weidendammer Brücke stieg er in eine Droschke und fuhr nach der Tiergartenstraße.

Er besaß einen Schlüssel zu der Villa Degebrod, aber Gellrich sah ihn eintreten und grüßte höflich.

»'n Abend, Gellrich,« sagte Ralph. »Der Herr Staatsrat daheim?«

»Nein, Herr Leutnant. Der Herr Staatsrat sind am Nachmittage verreist und das gnädige Fräulein ausgegangen. Aber die Frau Baronin sind oben.«

»Sehr dumm,« antwortete Ralph. »Ich hätte gern mit meinem Vater gesprochen. Wann kommt er zurück?«

»Er hat es nicht gesagt, Herr Leutnant. Herr Staatsrat wollten ursprünglich nach Braunschweig, haben dann aber wohl den Entschluß geändert, denn ich mußte ein Billett nach Wien besorgen. Für den Abendzug.«

Ralph nickte. »Schön. Da will ich wenigstens der Frau Baronin Guten Tag sagen. Melden Sie mich an.«

Ein Sprachrohr führte aus dem Portierzimmer in das obere Stockwerk. Dies Geschoß war durch einen besonderen Korridor mit breiten Glasfenstern von dem Treppenhause getrennt. Seine Tür wurde nur nach erfolgter Anmeldung geöffnet. Die Baronin liebte eine gewisse Abgeschlossenheit.

Ralph zog ihre Hand an die Lippen.

»Sind wir ungestört?« fragte er.

»Durchaus, mein lieber Junge. Dein Vater hat eine unangenehme Nachricht aus Wien erhalten und sich plötzlich zur Reise entschlossen. Und Erika ist bei einer Freundin.«

»So wollen wir erst das Geschäftliche erledigen.«

Er hatte keinen Blick für das verführerische Hauskostüm der petite maman. Er war blaß, aber von kalter Ruhe.

»Bitte, gib acht,« sagte er, seine Mappe öffnend und die Papiere hervorziehend. »Es ist alles in unsrer Geheimschrift gehalten. Du mußt sie dechiffrieren. Die technischen Ausdrücke werden dir keine Schwierigkeiten machen. Dies hier sind Einzelheiten über die Reorganisation der Schießschule und die erzielten Erfolge, dies Referate über das neue Reglement und seine Erprobung auf dem Übungsplatz. Wichtiger ist das: ein Resümee über die artilleristischen Erfahrungen im letzten Kriege, ihre Übelstände und Abänderungen mit Vorschlägen taktischer und organisatorischer Natur, die zum größten Teil bereits ausgeführt wurden. Der Anhang bringt dasselbe in Form einer Instruktion, die der Prinz ausgearbeitet hat. Endlich noch eine Anzahl verschiedener Änderungen für die Schießübungen und den Dienst der Festungsartillerie, die Roon begutachtet und akzeptiert hat. Das ist alles.«

»Ich danke dir,« entgegnete Désirée und reichte ihm die Hand. Diesmal küßte er sie nicht. Er war noch bleicher geworden, fuhr mit dem Taschentuch über das ganze Gesicht und sagte in gleichgültig klingendem Tone:

»Ich will morgen auf Urlaub gehen.«

Sie kniete vor einem geöffneten kleinen Schrank, in den sie die Papiere legte, und wandte sich nun, noch in kniender Stellung, zu ihm zurück.

»Sieh da – es ließ sich denken: der übliche Manöverurlaub. Hoffentlich erholst du dich – du siehst blaß aus, lieber Junge. Wo geht es hin?«

»In die Gegend von Metz, Nancy, Belfort und Verdun,« antwortete er.

»Ah – also nach Frankreich?«

»Wie ich dir sagte.«

»Aus eigenem Antrieb?«

»Nein, auf besonderen Wunsch.«

Sie schloß das Schränkchen ab und erhob sich.

»Laß mich nicht unnötig fragen, Lieb,« sagte sie und strich in flüchtiger Zärtlichkeit über seine Wangen. »Es handelt sich um einen militärischen Auftrag?«

Er neigte den Kopf. »Nicht einmal Hohenlohe weiß darum,« erwiderte er. »Ich war vor einigen Tagen bei Podbielski. Das Kriegsministerium hat mich gewaltig ins Herz geschlossen. Ich muß doch ein ausgezeichneter Offizier sein. Sonst werden nur Herren des Generalstabs mit derlei geheimen Aufträgen betraut.«

Sie setzte sich auf das Sofa und zog ihn an ihre Seite. Ein ironisches Lächeln ging um ihren Mund.

»Wenn der Staat selbst die Spionage unterstützt,« sagte sie, »ist sie da nicht auch für den Privatgebrauch entschuldbar?«

»Es gibt nur eins, was sie sanktioniert: die Liebe zum Vaterland.«

»Du hast recht. Aber Preußen ist nicht dein Vaterland. Das seufzt noch in der Knechtschaft.«

Er schwieg. Sie sah ihn von der Seite an und spielte dabei mit ihren Ringen.

»Es gibt freilich empfindsamere Naturen,« fuhr sie fort, und ihre Stimme klang wie aus tiefem Sinnen heraus, »die in ihrem seelischen Fürsichsein die höheren Ziele vergessen. Ist das Schwäche oder edlere Art? Und was heißt edel? Ist es nicht ein bestreitbarer Wert im Menschenleben, das nur auf der Notwendigkeit der Dinge sich aufbauen kann, wenn es nicht Schiffbruch erleiden will? – Weißt du, was Herbert nach Berlin geführt hat? Man verlangte die gleichen Gefälligkeiten von ihm, die du mir nun erweist – aber er wollte nicht zum Verräter an seinem Bruder werden.«

Da fuhr Ralph auf. »Weshalb erzählst du mir das?« rief er. »Macht es dir Freude, mich vor mir selbst zu demütigen? Die Scham gab ich auf, Désirée, seit du meinen Willen in Beschlag nahmst. Ich arbeite für dich, und du bezahlst mich dafür.«

Sie zuckte ein wenig zusammen und entgegnete mit sanfter Stimme: »Warum so roh, Ralph? Und auch so unwahr. Du weißt doch ganz genau, wie arm ich bin – weißt, daß ich mich freiwillig in den Dienst einer großen Idee gestellt habe – weißt, daß ich in bezug auf meine Geldmittel völlig von deinem Vater abhängig bin. Und wenn ich gelegentlich bei der Aufstellung meiner eigenen Ausgaben übertreibe, so geschieht es auch immer nur zu deinen Gunsten …« Sie erhob sich wieder, schloß ihren Schreibtisch auf, entnahm ihm ein Päckchen in weißer Papierhülle und legte es auf den Tisch … »Nimm,« fuhr sie fort, »es sind die zehntausend Taler, die du für deine Schulden brauchst. Dein Vater hat sie mir gegeben. Es war der angenehme Abschluß einer nicht in allen Teilen erfreulichen Unterredung …« Und als Ralph sich nicht rührte, griff sie nach dem Paket Banknoten und steckte es ihm in die Brusttasche seines Rockes.

Er starrte sie an und wollte anscheinend etwas entgegnen. Aber das Wort formte sich nicht auf seinen Lippen. In seinem Gesicht verschoben sich die Züge. Er warf die Arme auf den Tisch, ließ den Kopf fallen und brach in ein wildes Schluchzen aus.

Sie blieb ruhig und legte nur ihre Hand auf seine Schulter. »Weine dich aus, Lieb,« sagte sie, »und sei wieder verständig. Meine Ehe ist ungültig, ist auch kinderlos, und der Mann im Dunkeln wartet nur auf mein Stichwort, um mir volle Freiheit zu geben. Dann ist auch der Zeitpunkt unsrer Vereinigung nicht mehr fern, und dann werden wir ein besseres Leben beginnen können.«

Er richtete sich auf und wischte die Tränen fort. »Sei nicht böse, Daisy,« antwortete er, »die Nerven versagen zuweilen. Ich habe mich sehr in der Gewalt, aber … Es ist viel, was auf mich einstürmt. Ich betrüge den Mann, der mir immer ein gütiger Vater war, und ich betrüge den Staat, der mich als Bürger aufgenommen hat, ich betrüge die Armee, der ich angehöre, und die Vorgesetzten, die mir restloses Vertrauen schenken. Kommt einer und nennt mich Schuft, muß ich nicht den Kopf senken und es mir ruhig gefallen lassen?«

»Liegt nicht die Triebkraft alles Lebens in der Gewalt unsres natürlichen Ich?« erwiderte sie. »Was andre Größe nennen, wie Gesinnung, Überzeugung und Moral, kann unter Umständen nichts sein als ein Haftenbleiben am Kleinmenschlichen. Die Idee des Guten liegt doch nicht allein im Bloßmoralischen. Mit ganzer Kraft begehren können wir immer nur, was unser Selbst angeht und fördert, und die Befreiung vom Anerzogenen und Angewöhnten hat auch ihr Recht, sonst würde unser Leben zum Zerrbild werden und zu einem erbärmlichen Schattenspiel. Was willst du, Ralph? Als meine erste Ehe gelöst war – nein, noch war sie es nicht einmal –, da kam dein Vater und wollte mich zu seiner Geliebten machen. Und nahm er mich zur Frau, so siegte doch auch nur das brutal Triebhafte in ihm und nicht das Unverwerfliche einer sittlichen Anschauung.«

»Ist es anders bei mir?« fragte Ralph.

Sie erhob sich und schritt auf und ab. »Wenn ich es bejahe,« sagte sie, »so ist es nur eine Zustimmung zu der Tatsache, daß es Blödsinn ist, uns einen Verzicht auf unser Glück zuzumuten und darin womöglich den Höhepunkt edler Gesinnung zu sehen. Es liegt aber doch auch noch anders, Ralph. Deinem Vater gehöre ich, weil ich vor der Welt seine Frau bin, und dir, weil wir uns lieben. Und alle Weisheit wird nicht darüber hinauskommen, daß solche freigewählte Liebe die höchste Wahrheit ist, die diesem elenden Leben überhaupt erst Wert und Sinn gibt.«

»Und alle Weisheit«, fügte Ralph hinzu, und seine Oberlippe hob sich zu spottendem Ausdruck, »wird darin übereinstimmen, daß eine bequeme Philosophie jedweden Gegensatz im Handumdrehen zu überwinden versteht. Sag', hast du Herbert gegenüber dermaleinst ähnlich gesprochen wie heute zu mir?«

Sie blieb stehen. »Du bist schlecht, Ralph,« sagte sie ernst. »Oder gibst du dich nur so, um deine herangeholte Skepsis auf sinnfälligere Grundlage zu stellen? Herbert war so verliebt in mich, wie du es bist, aber frage ihn selbst, ob ich ihm Aufmunterung schenkte oder nicht. Ich leugne nicht, daß ich zunächst ihn für meine Ideen zu gewinnen suchte. Das ergab sich von selbst und aus der Lage des Augenblicks. Ich hatte grade damals das Wesentliche über meine Geburt erfahren: Graf Roset hatte mir die nötigen Unterlagen gebracht und mir zugesagt, sich für mich bei dem Kaiser zu verwenden, hatte aber auch seine Bedingungen gestellt – und da Herbert im Begriffe stand, sich der Legion anzuschließen, so war es nur natürlich, daß ich seine Hilfe erhoffte. Herrgott, es handelte sich ja auch um das, was er selbst erstrebte, um eine Wiedergutmachung geschehenen Unrechts, um eine Neuaufrichtung Hannovers! Aber ich sah sofort, daß an seinem verschwommenen Idealismus und seiner weichen Knabennatur jedes energische Wirken scheitern würde. Und so ist es auch in der Folge geblieben.«

»Er weiß nichts über deine Abstammung?«

»Nein – ebensowenig wie dein Vater. Ich habe eine Zeitlang geschwankt, ob ich mich nicht deinem Vater anvertrauen sollte, weil er ein Wesen besitzt, das von der Tätigkeit ausgeht und nach den Tatsachen mißt. In gewissem Sinne habe ich Respekt vor ihm. Alles bei ihm ist Antrieb und Flüssigwerden, und seine Denkarbeit hat volle Kraft. Hätte man ihn an eine maßgebende Stelle gesetzt, er hätte unendlich viel Nützliches schaffen können. So ist er ein Makler der Politik geblieben, für den die Behandlung der geschichtlichen Lage von bindenden Aufträgen abhängt, oft auch von glücklichen ›Zufälligkeiten‹ und dem geschickten Erfassen des Augenblicks. Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, so würde ich mich von ihm abhängig gemacht haben. Begreifst du? Dann hätte er mein Schicksal in die Hand genommen, und ich wäre ein Spielball seiner Pläne geworden. Ich fürchte übrigens, daß er in schweren Sorgen steckt. Ich sagte dir schon, daß er ganz plötzlich nach Wien gereist ist. Die Abendzeitung hat mir verraten, warum …« Sie nahm das Blatt vom Schreibtisch, entfaltete es und deutete auf eine Stelle im Börsenteil … »Lies das – das Telegramm aus Wien.«

Und Ralph las: »Der Zusammenbruch der mit großen Mitteln unter den Auspizien des Königs von Hannover, unter Beteiligungen von Mitgliedern des österreichischen Kaiserhauses und verschiedener anderer Fürstlichkeiten begründeten Wiener Bank ist unausbleiblich geworden und erregt in hiesigen Finanzkreisen um so lebhaftere Sensation, als sie infolge ihres anfänglichen glänzenden Aufschwunges eine der ersten Geldmächte der europäischen Börse zu werden schien. Nun stellt sich heraus, daß diese ungewöhnlichen Erfolge auf Operationen beruhen, wie sie bei schwindelhaften Unternehmungen öfters versucht worden sind, in diesem Falle aber kaum vorauszusehen waren. Die Bank hat aus ihren, durch zahlreiche Depots verstärkten Barmitteln die eigenen Aktien in Massen aufgekauft, wodurch naturgemäß ihr Kurs zu fabelhafter Höhe stieg. Die Folge davon war, daß in den Kassen der Bank sich wohl Papiere befanden, daß aber das Geld aus ihnen verschwunden ist. Immerhin wäre die Bank als triumphierende Siegerin aus der Krisis hervorgegangen, wenn man bei der Planlosigkeit der Buchführung imstande gewesen wäre, die Aktien bis auf die letzte an sich zu bringen. Das geschah aber nicht, auch die Bagatelle von einer Million, die zum Ankauf der Restbestände genügt hätte, ließ sich im letzten Augenblick nicht auftreiben, so daß nunmehr die Gegenpartei mit ihren Aktien hervortreten und den Kurs beeinflussen konnte. Er sank so rapide, daß alle Zahlungen stockten, die Depots eilfertig gekündigt wurden und an eine Sanierung gar nicht mehr zu denken ist. Hochgestellte Persönlichkeiten vom Hietzinger wie vom Wiener Hofe sind arg kompromittiert; Graf W., einer der Verwaltungsräte, soll sich das Leben genommen haben.«

»Donnerwetter,« sagte Ralph und legte die Zeitung fort, »das wird dem alten Herrn gehörig an die Nieren gehen. Er ist ja immer sehr sparsam in seinen geschäftlichen Andeutungen, aber er hat mir doch verraten, daß er von diesem Bankunternehmen viel erwartete. Wenn das sein Ruin ist, Désirée – was wird dann aus uns? Und was wird aus dem armen Alten selbst?«

Ein weicherer Ton klang aus diesen letzten Worten des leichtsinnigen Egoisten, aber die Züge der jungen Frau veränderten sich nicht.

»Wäre er an Ort und Stelle gewesen,« erwiderte sie, »so schwöre ich, daß er Mittel und Wege gefunden hätte, den Niederbruch zu verhindern. Die Bank war, wenn auch nur indirekt, seine ureigene Gründung und ist durch seine Mittelsleute ins Leben gerufen worden. Aber er ist schon längst nicht mehr persona grata in Hietzing und hat jeden persönlichen Verkehr mit dem König Georg aufgegeben. So mußte er sich auf die Angaben seiner Vertrauensmänner verlassen und ist sichtlich von ihnen getäuscht worden. Im übrigen fürchte ich für deinen Vater nicht. Er hat schwerere Stunden überwunden und ist immer wieder auf die Glücksseite gefallen. Das Auswärtige Amt kann ihn so wenig entbehren, daß es ihm neuerdings ein festes Gehalt von zwanzigtausend Talern angetragen hat. Natürlich nicht aus den regulären Staatsmitteln, die dazu kaum reichen würden, sondern aus den gestohlenen Fonds.«

»Was ist das für uns – für dich und mich – und für den Zuschnitt des Hauswesens!«

»Wir werden uns einschränken müssen, lieber Freund.«

»Du, Daisy?« sagte er und lächelte.

»Ja, gewiß, wenn es notwendig werden sollte. Du kennst mich noch nicht. Ich kann Verschwenderin sein, aber es ist mir nicht Lebensbedürfnis. Ich habe auch unter dem Mansardendach im Montmartreviertel glückliche Tage verlebt. Und wenn das Heute aus ist und der Morgen kommt – auf einen fürstlichen Train werden wir nicht rechnen können. Zähle nach, wieviel Zinsen die zwei Millionen Francs betragen, die mir für den Fall eines glücklichen Kriegsausgangs zugesagt wurden. Wir werden anständig damit leben können, aber nicht mehr. Was tut es!«

»Ja, was tut es,« wiederholte Ralph und sah in einen dunkeln Winkel des Zimmers hinein. »Daisy, ich lebe nur noch in der Sehnsucht, Schluß zu machen mit dieser unleidlich gewordenen Lebenslage. Das Letzte, was mich wertvoll dünkt in meiner zerquälten Seele, ist meine Liebe zu dir. Sie kann kein Frevel sein, weil sie da ist. Ich will Ruhe haben an deiner Seite, ganz gleich unter welchen äußerlichen Verhältnissen. Ich will alle Schiffe hinter mir verbrennen und in einem Neuland Fuß fassen, in dem ich nur dir gehöre. Wann wird das sein? In militärischen Kreisen spricht man heute von drohender Kriegsgefahr und übermorgen von glücklich überstandener – und rüstet inzwischen weiter. Auch die geplante Allianz zwischen Frankreich, Österreich und Italien scheint in die Brüche gegangen zu sein. Wie lange sollen wir noch warten?«

Sie riß wieder das Geheimfach ihres Schreibtisches auf und durchkramte ihre Briefschaften. Dann zog sie ein Zettelchen hervor, das mit krausen Buchstaben bedeckt war.

»Höre den letzten Bericht, den ich von zuverlässiger Seite erhielt,« sagte sie. »Gramonts Anwesenheit in Paris hat die Verstimmung gegen Österreich verstärkt. Der Kaiser beurteilt die Verhältnisse in Deutschland nur noch vom französischen Standpunkt. Er weiß und fühlt, daß es einer – einer réparation, sagt der Bericht, für das französische Prestige bedarf, um die Dynastie zu festigen. Die beste, wenn nicht die einzige, ist ein siegreicher Feldzug. Der kann sich nur gegen Preußen wenden, wenn man zum mindesten der Neutralität Österreichs und der deutschen Südstaaten sicher ist und auf die Erhebung Hannovers zählen kann. Daran ist nicht zu zweifeln. Was Frankreich beim Friedensschlusse fordern wird, sind die Grenzen von 1814, ferner Luxemburg sowie Belgien als das natürliche Bassin für den französischen Einfluß. Holland wird durch Abtretung der flämischen Teile entschädigt, Antwerpen zum Freihafen erklärt. Selbstverständlich ist die Wiederherstellung Hannovers in erweiterten Grenzen.«

»Ist dies so selbstverständlich?«

»So ganz, daß König Georg in Wien bereits für einige Millionen Banknoten hat drucken lassen, um für seine Rückkehr über die nötigen Geldmittel verfügen zu können.«

»Hast du etwas zu trinken?« fragte Ralph.

»Ja – entschuldige, ich vergaß es. Da drüben …« Im Schatten des Schreibtisches stand ein silberner Eiskübel mit einer schon geöffneten Flasche Champagner. Ralph holte sie, während Désirée in ihrem kleinen Frühstückszimmer nebenan verschwand und mit zwei Kelchen zurückkehrte.

Er füllte die Kristalle. »Auf dein Wohl,« sagte er und leerte hastig den Kelch. »Also alles ist vorbereitet. Nun fragt sich nur noch, ob Frankreich den Krieg gewinnen wird.«

»Zweifelst du daran?«

»Ich kenne die militärischen Maßnahmen Preußens.«

»Auch die auf der Gegenseite? Marschall Niel ist mit seinem Reorganisationswerk fertig und hält den Augenblick zu einem kriegerischen Auftreten für besonders günstig …« Désirée hatte sich wieder an den Tisch gesetzt, nicht an die Seite Ralphs, sondern auf einen Stuhl ihm gegenüber. Die Züge ihres reizenden Gesichts verschärften sich unter dem Ausdruck geistiger Spannung. Sie war in diesem Augenblick nicht die große Dame und auch nicht das hingebende Weib, sondern die kluge Agentin, deren rastlose Unermüdlichkeit man in Paris recht wohl kannte und deren Leistungen ihrem Wert entsprachen … »Die geplanten Bündnisse haben sich freilich zerschlagen,« fuhr sie fort, »aber daß Bismarck Österreich noch immer nicht traut, geht schon daraus hervor, daß er den Kronprinzen auf seiner Reise zur Eröffnung des Suezkanals einen Besuch in Wien machen läßt. In der Tat verhält Österreich sich lediglich abwartend. Es wird in den Krieg eingreifen, sobald ihm der geeignete Augenblick gekommen scheint, und ich weiß aus guter Quelle, daß Erzherzog Albrecht für diesen Fall schon einen ausführlichen Feldzugsplan ausgearbeitet hat.«

»Davon hörte ich auch. Er basiert auf der Mitwirkung Italiens und setzt andrerseits voraus, daß die süddeutschen Staaten Preußen zu Hilfe springen werden. Das französische Hauptheer soll in schnellem Zuge von Straßburg nach Stuttgart rücken, ein italienisches Heer von hunderttausend Mann auf München vorgehen, eine österreichische Armee aus Böhmen in Bayern eindringen. Damit würde Süddeutschland vom Norden abgeschnitten, während zugleich der Rest des französischen Heeres, die Saar hinabgehend, sich in den Rheinlanden ausbreitet und eine französische Flotte unter dänischer Besatzung eine Landung an der Ostseeküste ausführt. Alles gut – wann aber kommt der sogenannte geeignete Augenblick, von dem du sprichst?«

»Lieber Freund, die Luft ist so gewaltig mit Elektrizität geladen, daß ein einziger Funke zur Explosion genügt. Und der Funke kann nahe sein …« Sie stützte den Kopf in beide Hände und schaute Ralph mit ihren glänzenden Augen aufmerksam an … »Im Februar ist die Denkschrift des Staatsrats Salazar über die zur Königswahl in Spanien in Frage kommenden Kandidaten erschienen. Man sagt, Bismarck stecke dahinter. Jedenfalls wird in ihr zum ersten Male der Name eines preußischen Prinzen genannt – Leopolds von Hohenzollern-Sigmaringen. Der alte Fürst hat für ihn abgelehnt, ebenso König Wilhelm, auch der Kanzler. Doch die Sache spielt weiter, und Benedetti ist argwöhnisch geworden. Salazar war im Juni – und bei diesem Besuch scheint auch dein Vater tätig gewesen zu sein – persönlich bei dem Prinzen und hat sich die Antwort geholt, daß die Zustimmung König Wilhelms und Napoleons erstes Erfordernis seien, der Angelegenheit näherzutreten. Der König hat wiederum abgeraten, die endgültige Entscheidung indes diesmal seinem Neffen selbst überlassen. Und das Merkwürdige ist, daß auch Bismarck seine Ansichten geändert zu haben scheint – vielleicht schwebt ihm die Herstellung des Weltreichs Karls des Fünften vor Augen, und seine anfängliche Ablehnung war nur Komödie. Napoleon persönlich aber hat nichts gegen den Prinzen –«

»Weil die Großmutter Leopolds eine Murat war«, schaltete Ralph ein, »und seine Mutter eine Beauharnais ist, des großen Kaisers Adoptivtochter.«

Désirée nickte. »Gewiß, daß das verwandtschaftliche Verhältnis die Sympathien Napoleons für Leopold verstärkt hat. Trotzdem hat er schon im März Benedetti angewiesen, die Wahl zu verhüten. Warum? Weil die Kaiserin energisch dagegen ist und das französische Volk sie einfach nicht ertragen würde. Das ist klar. Nun verhandelt Prim inzwischen mit zwei andern Kandidaten, dem kleinen Herzog von Genua und dem jammervollen Montpensier. Zugleich aber hat Salazar einen neuen Aufruf zugunsten des Prinzen Leopold erscheinen lassen. Ist Salazar wirklich ein Werkzeug Bismarcks? Wahrscheinlich – aber es liegt noch die Möglichkeit vor, daß er doppeltes Spiel treibt und auch im Auftrage des Herzogs von Gramont arbeitet, der mit aller Gewalt den Kaiser zum Kriege zwingen will.«

Ralph erhob sich und füllte die Gläser von neuem. »Tatsache ist jedenfalls,« sagte er, »daß die Intrigen von allen Seiten gesponnen werden, um wieder einmal einige hunderttausend Menschen zu opfern. Und das nennt man dann hohe Politik. Ist es nicht eigentlich erbärmlich, Daisy?«

»Nein,« erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Sieh, Ralph, dein Vater hätte in irgendeinem Ministerialbureau ohne weiteres eine auskömmliche und behagliche Stellung finden können. Aber tausendmal mehr als diese ruhige Beamtenarbeit reizte ihn das Selbstschöpferische einer politischen Tätigkeit, die nicht nur das Fortspinnen eines überkommenen Fadens ist, sondern neue Bewegungen und Spannungen erfordert. Und das begreife ich, seit ich, wenn auch in bescheidenem Maße, diese Reize an mir selbst erproben konnte. Das Lockende ist viel weniger das Geheimnisvolle als das beständige Spiel mit unbekannten Gefahren und auch das Getriebenwerden durch Kräfte, die sich im Dunkeln halten. Und Lockendes liegt gewiß ebenso in dem Mitschaffen der Geschichte, in der Bildung neuer Wirklichkeiten, zuweilen sogar in der Beugung des Menschlichen unter ein Übermenschliches. Denn an sich hast du ja recht: jeder Krieg ist ein Molochsopfer. Aber ist diesem Moloch nicht zu ewigen Zeiten geopfert worden? Und wäre ohne ihn eine weltgeschichtliche Entwicklung überhaupt möglich gewesen? Immer hat die Politik mit Kriegen und Eroberungen rechnen müssen, und erst im Messen der Kräfte, ich behaupte sogar, im Zusammenstoß von Vernunft und Unvernunft ist eine geschichtliche Bewegung entstanden. Es ist der uralte Kampf gegen die Gebundenheit und den Durchschnitt und die kleinbürgerliche Weltanschauung.«

Ralph griff nach den Zigaretten, die auf dem Tische standen.

»Du gestattest,« sagte er und zündete sich eine Papyros an. »Ach, Daisy, das sind doch alles nur Redensarten! Natürlich hat der Krieg immer seine Verteidiger gefunden, von Tacitus bis auf Moltke, und auch ich bin der Überzeugung, daß er im Leben der Völker gar nicht zu vermeiden ist und die Schaffung des Weltfriedens ewig Utopie sein wird. Aber es fragt sich doch, ob die Kriege nicht verringert werden können durch eine klug und sachlich geführte Politik. Wenn ich sehe, verzeihe mir die Bemerkung, wie viele unberufene Hände sich in unsern Tagen in die diplomatischen Angelegenheiten mischen, dann kann ich mich nicht der Ansicht verschließen, daß eigentlich in recht unverantwortlicher Weise mit dem Wohlergehen der Nationen gespielt wird.«

»Ah, Ralph,« entgegnete Désirée lebhaft, »ich verstehe dich – die Wendung geht mehr auf mich als auf deinen Vater, der ja auch nicht Zünftiger ist, aber als Handlanger sich immerhin einer gewissen Schätzung erfreut. Ja natürlich, wie kommt ein Weib dazu, das anderes und Besseres zu tun hätte, die zarten Fingerchen in das Getriebe der Weltpolitik zu stecken? Oder frage lieber: wie komme ich dazu? Das müßtest du wissen. Die Anregung kam zu einer Stunde, da ich überhaupt erst erfuhr, wer ich war, und kam mir von einer Seite, die nicht zum erstenmal die Mithilfe eines klugen Frauenkopfes in Anspruch nahm. Ich könnte dir ein Dutzend Beispiele erbringen, wie grade in Frankreich oft genug Frauen zu diplomatischer Vermittlung herangezogen wurden, erst noch in jüngster Zeit Frau Cornu, die Schöpferin der rumänischen Dynastie – und dann eine Geliebte Rocheforts – und dann eine italienische Contessa, eine Freundin Menabreas – und wie war's denn hier im sittsamen Preußen, als vorjährig Jérôme Napoleon nach Berlin kam, um die Schönheiten der Mark Brandenburg kennenzulernen? Man schickte ihm eine reizende junge Baltin so ganz von ungefähr in den Weg, in die er sich natürlich sterblich verliebte und die auf das genaueste Tagebuch führte über Schritt und Tritt ihres Gönners. Ich meine also, in der Geheimdiplomatie sind wir Frauen oft zuverlässigere Elemente als die Männer, zuweilen sogar geeignetere, weil die Natur uns Machtbefugnisse verliehen hat, die leichter zum Siege führen als alle Rechte des Geistes. Aber«, schloß sie und griff selbst nach einer Papierzigarre, »lassen wir diese theoretischen Auseinandersetzungen. Du sagtest, dein Urlaub führe dich auch nach Metz?«

»Ja,« erwiderte er kurzsilbig.

Sie setzte sich wieder zu ihm, die Zigarette zwischen den roten Lippen, mit sinnendem Auge die Rauchwölkchen verfolgend.

»Das ist das Standquartier der fünften Division – General Martimprey. Willst du einen Brief an ihn mitnehmen?«

»Die Post befördert ihn ebenso sicher.«

»Darum handelt es sich nicht. Martimprey ist die rechte Hand des Generals Susane, der im Kriegsministerium das Artilleriewesen unter sich hat –«

»Du bist gut orientiert.«

»Ich muß es sein. Ich habe gottlob auch ein glänzendes Gedächtnis. Mein Kopf ersetzt mir ein umfangreicheres Archiv als das deines Vaters da unten. Höre, Ralph. Du gibst Martimprey meinen Brief. Der Brief, mein Wort darauf, ist nichts als eine Legitimation für dich. Der General wird eine Anzahl Fragen an dich richten und dir vermutlich auch eine Relation über deine militärischen Erfahrungen auf der Reise übergeben.«

Ralph stieß ein kurzes Lachen aus. Es klang trocken und heiser. »Vortreffliche Idee! O, du bist ein Genie, Désirée! Und wie bequem machst du mir alles. Den Bericht über meine Vergnügungsreise bekomme ich gleich fix und fertig geliefert – aber von der Gegenseite. Ich brauche ihn nur abzuschreiben und meiner höchsten Behörde gehorsamst einzureichen. Ein großartiger Gedanke!«

Désirée warf die Zigarette fort. Sie schlang einen Arm um die Schulter Ralphs und lehnte sich zu ihm hinüber. Der Duft ihres Haares umwehte ihn, er spürte ihren Atem.

»Denk' an die Zukunft, Ralph,« sagte sie, und ihre Stimme wurde zu weichem Flüstern. »Ich kenne ein Schlößchen an der Oise, es gehörte einmal den Champérons, und ihr Wappen schmückt noch das Portal. Dann wurde es Krongut und steht nun unter der Verwaltung des kaiserlichen Schatzes. Wenn wieder die ersten Rosen blühen, dann kann es schon mein Eigentum sein, denn auch die Möglichkeit eines Winterfeldzugs liegt vor. Denkst du nie an die Zukunft, mein Ralph?«

Er nickte wie in müder Trunkenheit. »Doch,« gab er zurück, »aber dabei fällt mein ganzes inneres Besitztum in Trümmer.«

Sie bettete sich fester an seine Brust. »Meine Hände bauen es wieder auf, mein Herz gibt den Kitt, meine Seele soll in die deine fließen. Wir bauen auf aus neuem Schaffen und Schauen. Wir gehören ja zusammen, und war es ein Recht oder eine Sünde, was uns aneinandergekettet hat, wir sind nicht mehr zwei, wir sind eins.«

Sie küßte ihn, und da empfand er wieder das Unbegreifliche, weil nie mit klarem Bewußtsein zu Fassende, daß er sein Alles an sie verloren hatte, auch das, was noch Manneswert an ihm gewesen war.


 << zurück weiter >>