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Drei Tage später fand auf dem Invalidenkirchhof die Beisetzung des Leutnants Baron Ralph Herwey statt. Aber es war in der Tat, als werde nicht ein flotter, junger Leutnant zu Grabe getragen, sondern irgendein berühmter Heerführer. Hunderte von Personen bildeten das Trauergeleit, und am Eingange des Friedhofs hielt eine endlose Reihe geschlossener Equipagen. Unteroffiziere vom Garde-Feldartillerie-Regiment trugen den Sarg; an der Spitze des Offizierkorps schritten der General von Hindersin als Inspekteur der Truppe, der Brigadekommandeur Prinz Kraft zu Hohenlohe und der Führer des Regiments Oberst von Scherbening, hinterher Abordnungen fast sämtlicher Garderegimenter. In den Wagen blitzten die Uniformen; die Abendzeitungen nannten die Namen einiger der Träger, darunter den Kriegsminister von Roon und den Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartements General von Podbielski. Auch andere Minister begleiteten den Trauerzug, höhere Staatsbeamte, Mitglieder der verschiedenen Kabinette und der fremden Gesandtschaften. Es war ersichtlich, daß der junge Offizier sich nicht nur beim Regiment großer Schätzung erfreut hatte, sondern daß er auch eine beliebte Persönlichkeit in der Gesellschaft gewesen war.
Um das offene Grab drängte sich die buntfarbige Menge in dichten, hintereinander geschichteten Reihen. Am Arme ihres Gatten hing, mit der schmerzlichen Gebärde einer Niobe, die schöne Stiefmutter des Verstorbenen, ganz in schwarze Schleier gehüllt; auf der anderen Seite hatte Erika, das verweinte Gesicht geneigt, ihren Arm ergriffen. Den Staatsrat hielt eine große Würde aufrecht. An diesem Unglückstage spürte er eine neue Festigung seiner Stellung. Das war kein Sonnenblitzen im Dunkel seines Herzens, aber doch ein eigenes Gefühl der Ruhe. Er trug den Zylinderhut in der Hand. Seinen prachtvollen Kopf umspielte der Sonnenschein des heiteren Wintertags. Die riesige Figur hielt sich straff und geschlossen, im Auge lag eine müde Traurigkeit.
Es fiel nicht auf, daß sich unter den Anwesenden auch der Oberst von Stoffel und der Baron de Ring von der Französischen Botschaft befanden. Die Gesandtschaften waren vielfach vertreten, meist durch jüngere Herren: Ralph gehörte zu jenen Offizieren, die man überall mit offenen Armen aufnahm – er war auch auf den Hofbällen gern gesehen und bei der letzten Subskriptionsredoute im Opernhause Vortänzer gewesen. So kam es, daß sich unter den Kränzen auf seinem Sarge sogar zwei von Prinzessinnen des Königshauses befanden. Wie eine Mauer aus Grün und Blüten bauten die Kränze zu seiten des Grabes sich auf.
Während der Geistliche seine Weiherede schloß, zog Herbert sich langsam zurück. Er hatte den Kragen seines Pelzrocks hochgeschlagen und den Hut tief in der Stirn. Niemand kannte ihn. Er war auch in den letzten Reihen der Versammlung geblieben, um nicht aufzufallen, obwohl er keine Entdeckung fürchtete. Nur das zwinkernde Auge des Barons Ring hatte ihn in flüchtiger Neugier gestreift. Nun winkte er Hans Weerth und Annemarie, die sich schon nach ihm umgesehen hatten. Die drei schritten rasch dem Ausgang des Friedhofs zu.
»Wir wollen nach Hause fahren,« sagte Herbert. »Wir haben den armen Ralph bis zum Grabe geleitet – es hat keinen Zweck, das Ende der Feier abzuwarten.«
»Nein,« erwiderte Annemarie, »Sie müssen vorsichtig sein. Es liegen Möglichkeiten vor, die man nicht herauszufordern braucht.«
Herbert zuckte die Achseln. »Ich möchte glauben, daß man im Polizeipräsidium längst meinen Aufenthalt kennt,« gab er zurück. »Aber man läßt mich in Ruhe, um nicht Schmerzen von einst wieder aufzustören. Man ist klug geworden.«
Sie stiegen in ihre Droschke. Schweigend saß Herbert einige Minuten dem Geschwisterpaar gegenüber. Dann hub er von neuem an:
»Ich fasse es immer noch nicht,« sagte er und tupfte über die Augenwinkel. »Lag wirklich ein unglückliches Versehen vor? Es ist ja gar nicht anders möglich. Ich bin am Abend vor Ralphs Tode mit ihm noch bis ein Uhr bei Wagener zusammen gewesen. Da war er lustig und aufgeräumt wie immer und erzählte allerhand Schnack von seinen Pariser Bummelfahrten. Nur eins fiel mir auf – ja, das fiel mir auf. Er gab mir einen Kuß beim Abschied und sagte: ›Behalte mich lieb.‹ Das war nicht seine Art. Es klang auch so wehmütig. Es fiel mir auf.«
»Kann aber auf Irrtum beruhen,« entgegnete Hans. »So ein Gefühlsmoment täuscht oft. Nachträgliche Einbildung verstärkt es. Es sagt gar nichts. Haben Sie den Burschen Ralphs noch einmal verhört?«
»Ja – auch das Protokoll gelesen, das der Kommandeur aufnehmen ließ. Der Bursche fand ihn, als er ihn früh gegen Sieben wecken wollte, in seinem Wohnzimmer tot auf dem Teppich. Mit dem Gesicht vornüber. Das Gewehr lag unter ihm, der Schuß war durch das Herz gegangen. Nun ist es richtig: Ralph war an diesem Tage zur Jagd geladen – bei Herrn von Jagow auf Friedrichshöhe. Er kann das Gewehr untersucht und unvorsichtig behandelt haben. Diese Annahme ist geblieben. Dagegen spricht nur, daß Ralph mit seinen Waffen umzugehen verstand – das ist klar; man stellt auch ein noch geladenes Gewehr nicht in den Schrank. Das hätte der alte Jäger nie getan.«
»Ein unglücklicher Zufall,« sagte Annemarie.
»Natürlich – möglich ist alles, liebe Freundin. Immerhin, auch merkwürdig ist vieles. Der unheilvolle Schuß muß schon zwischen Vier und Fünf in der Frühe gefallen sein, denn die Leiche war bereits im Erkalten. Nun war Ralph nie ein Frühaufsteher. Er stand nicht eher auf, ehe nicht der Bursche ihn weckte. Es berührt seltsam, daß er an diesem Morgen anders handelte, sich selbst die Lampe ansteckte, dann die Waffe aus dem Schrank nahm. Das wäre sonst Auftrag des Burschen gewesen. Ralph war bequem für seine Person, wenn es nicht dem Dienst galt. Und noch etwas Eigentümliches. Er trug, als man ihn fand, nicht etwa schon den Jagdrock, sondern lange Beinkleider, Stiefel, Oberhemd, darüber seine Hausjoppe. Und das Bett machte den Eindruck, als ob es in der Nacht kaum berührt worden sei. Vielleicht ist Ralph gar nicht schlafen gegangen. Das sind Rätsel, die mich aufregen. Ich kann mir nicht helfen.«
Annemarie drückte die Hand Herberts. »Sind die Rätsel lösbar, Freund?« fragte sie. »Oder hat es auch nur Zweck, wenn man sie zu lösen versucht? Weckt eine Wahrheit den armen Toten wieder auf?«
»Gewiß nicht,« erwiderte Hans. »Trotzdem verstehe ich Herbert. Es wäre gut, könnte beginnendem Klatsch vorgebeugt werden. Hatte Ralph Schulden?«
»Das wird sich erst herausstellen,« sagte Herbert. »Aber ich glaube es nicht. Am Abend vorher warf er im Laufe der Unterhaltung gelegentlich ein, wie froh er sei, nun rangiert zu sein. Er hatte auch nur noch zwei Pferde im Stall, sein eigenes und den Chargengaul. Und spielte nicht mehr – das hat er mir schon vor acht Wochen geschworen. Gab mir damals sein Ehrenwort. Aber im Ofen seines Zimmers hat der Bursche Massen verbrannten Papiers gefunden.«
»Alte Briefe vielleicht, Herbert. Was man so in die Flammen steckt. Das sind keine Indizien, denen man nachgehen kann.«
»Und wozu auch?« schloß Herbert. »Sie haben ja recht, Annemarie, wir wecken ihn doch nicht mehr auf. Das Regiment hat einen prachtvollen Nachruf für ihn erlassen. Ein ausgezeichneter Offizier war er immer – tüchtiger als ich es je war. Zuweilen frage ich mich, ob ich richtig handle, wenn ich mich wieder in das Joch spannen lasse, zumal in einer fremden Armee. Die hübsche Freiheit, die ihr mich kosten ließet, hat mich verwöhnt. Offen gestanden: ich graule mich vor Rumänien.«
»Aber wer zwingt Sie denn zu abermaliger Auswanderung?« rief Annemarie. »Wenn Windthorst Ihre Begnadigung durchsetzt, können Sie ja doch machen, was Sie wollen.«
»Versteht sich,« setzte Hans hinzu. »Ich an Ihrer Stelle, ich pfiffe auf Rumänien. Was kann Sie da locken, Bruder in Apoll? Sie dienen einer Macht, die Sie letzthin gar nichts angeht. Für Abenteurer ist das geschaffener Boden, aber nicht für eine stille Poetennatur. Beschlafen Sie sich die Sache noch reiflich.«
»Tat ich schon, leider ohne Resultat. Hinunter muß ich, um Vaters Geschäft zu besorgen. Das kommt mir freilich auch in die Quere. Während ich mich in Bessarabien durchschinde, tritt hier unser Erstling auf die Bühne.«
Hans lachte. »Vielleicht ist es ganz gut, daß Sie dem Ereignis nicht beiwohnen,« meinte er. »Dem Erstling kann es schlecht ergehen. Geburtsfehler können ihn verschandeln. Die Gratulation kann sich in eine Kondolation verwandeln. Ein Pfiff ihm den Garaus machen. Reiseunbill in Bessarabien kann minder schlimm sein als eine Berliner Première. Ich telegraphiere Ihnen nach Bukarest, wenn es ein Erfolg wird. Sonst schweige ich …«
In der Belle-Alliance-Straße wartete Herr von Bake auf die Heimkehrenden. Er saß im Überzieher im schlecht geheizten Vorraum, schnellte empor und schlug die Hacken kraftvoll zusammen.
»O, Herr von Bake,« rief Annemarie, »warum gingen Sie nicht in das warme Zimmer? Hat unser Hausminister Sie nicht eingelassen?«
»Das wohl, gnädigstes Fräulein. Aber ich dringe nicht gern in das Allerheiligste, wenn eine Wartehalle da ist. Ich füge mich Gebrauch und Sitte.«
»Komische Seele,« sagte Hans. »Legen Sie ab und treten Sie ein. Es tut mir leid, daß wir Sie hier frieren ließen. Aber wir waren bei einem Begräbnis.«
»Ich hörte es bereits von dero Generalbevollmächtigtem Exzellenz Pressel. Ich wollte auch keinen Allgemeinbesuch machen. Es ist nur ein Privatvisitchen für Fräulein Annemarie.«
Sie stutzte leicht, öffnete aber sofort die Tür zu ihrem Zimmer. »Wieder eine literarische Angelegenheit?« fragte sie.
»Ja – aber nicht so ganz,« antwortete der Rittmeister und Volksschriftsteller. »Mehr ein Bekenntnis. Ich trenne mich von Werner Großmann.«
»Sieh da,« rief Annemarie und schob ihm einen Stuhl zu. »Was soll ich darauf antworten? Ist ein Glückwunsch am Platze?«
»Ich kann es nicht leugnen – wenigstens ein niedliches Wünschchen. Es ist mir doch sehr zu Herzen gegangen, was Sie mir damals – Sie wissen, damals – über die literarische Tätigkeit meines Doppelwesens gesagt haben, wenn ich den Ausdruck literarisch überhaupt gebrauchen darf. Daraufhin habe ich mir also Mühe gegeben, in Ihrem Sinne veredelnd auf mein Kolportagegeschäft einzuwirken, und ich möchte behaupten, daß mir das wohlgelungen ist. Es wurde ein besserer Stil, es wurde eine vertieftere Motivierung, es kam Farbe in die Charakteristik. Es war alles in allem ein Aufschwung. Aber Herr Großmann war gradezu entsetzt über diese Geschmacksverfeinerung. Dieses Männchen von einem Verleger behauptete, so schriebe man allenfalls für die Gartenlaube des Herrn Keil in Leipzig, doch nimmermehr, sagte er, für die große Masse der Ungebildeten, die sein Publikum sei. Dies Publikum wolle einen derben Heringssalat, äußerte das klägliche Geschöpfchen, doch keinen Kaviar. Und kurz und gut, Herr Großmann verweigerte die Annahme des letzten Manuskripts und verlangte eine Neubearbeitung, oder lassen Sie mich sagen eine Umkochung des Fabrikats zu gewöhnlichster Hausmannskost. Das wollte ich aber nicht.«
»Bravo,« rief Annemarie.
Herr von Bake verbeugte sich von seinem Stuhl aus. »Danke sehr, gnädiges Fräulein. Also ich verweigerte die Umarbeitung und erklärte, daß ich auch künftighin bei der neugewählten Schreibweise verbleiben würde, denn sie passe mir besser, und über Stil, Motivierung, Charakteristik und derlei mehr stehe nichts in meinem Kontrakt. Hierauf wurde Großmännchen grob, hierauf ich selbst noch gröber. Es ist häßlich, doch ich muß es sagen, es fielen arge Ausdrücke. Dieser Verlagsmensch gehört zu seinem Publikum, zu der Partei der Bildungslosen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, als ich ihm erklärte, ich schriebe keine Zeile mehr für ihn, und rief mir zu, dann sei ich ein Romanbandit. Ob er nun meinte, ein Bandit wie in meinen Romanen oder ein Bandit, der Romane verzapft, oder was sonst, das weiß ich nicht. Ich hielt mich an das Wörtchen, richtete mich auf und sagte kurz: ›Ich werde Ihnen meinen Kartellträger schicken.‹ Dann empfahl ich mich.«
»Oh – oh!« rief Annemarie. »Lieber Herr Rittmeister, mit einem Helfershelfer Beelzebubs duelliert man sich doch nicht!«
Herr von Bake machte wieder eine halbe Verbeugung vom Stuhle aus. »Sehr richtig. Ich hatte auch gar nicht die Absicht. Ich wollte nichts als die Lösung meines Vertrags. Und ich war gewiß, daß Großmann das nur unter dem Zwange persönlicher Verängstigung tun würde.«
»Und tat es auch wirklich?«
»Jawohl. Ich schickte einen bissigen rumänischen Offizier zu ihm, der über mir wohnt, den Baron Fatin-Lévêque.«
Der Kopf Annemaries schnellte ein wenig zurück.
»Wen?« fragte sie.
Herr von Bake lachte. »Es ist ein etwas verdrehtes Huhn,« sagte er, »dieser Rumäne mit dem französischen Namen. Ich lernte ihn kennen, als er einmal im Dunkeln die Treppe herunterfiel – da war er betrunken, und ich machte mich als Samariterchen nützlich. Er hat mich nachher auch mit seinem Besuch beehrt und mir Mordsgeschichten von seinen Abenteuern an der bulgarischen Grenze erzählt – hübsche Kapitel für einen Volksroman, so vielleicht unter dem Titel ›Die Blutbäder im Karavuzatal oder die Wölfin unter dem Schleier‹. Aber doch kein angenehmer Mensch – ich bin eigentlich froh, daß er aus dem Hause ist.«
»So wohnt er nicht mehr bei Ihnen?« fragte Annemarie von neuem.
»Nein – er ist kürzlich nach Rumänien zurückgekehrt. Das war also mein Mann. Mit seinem riesigen schwarzen Vollbart, seinen glühenden Augen und seinem gebrochenen Deutsch, das unwillkürlich jeden Ausdruck vergröbert, war er wie geschaffen, ein Jammerkerlchen wie Herrn Großmann zu Kreuze kriechen zu lassen. Gelang ihm denn auch. Er brachte mir meinen Kontrakt zurück mit der Unterschrift: ›Mit beiderseitigem Einverständnis aufgehoben‹ … Er hatte Großmann zuerst auf Floretts gefordert, und da dieser keine Ahnung hatte, was das für Dinger seien, auf Pistolen. Er zeigte ihm auch gleich eine, die er bei sich hatte, und beschrieb ihm die Formalitäten des Duells: zehn Schritt Distanz, Zählen bis drei, puff – los. Großmann wand sich wie ein getretenes Würmchen, berief sich auf Gesetz und Polizei, aber mein schwarzbärtiger Bevollmächtigter, selbst eine Figur wie ein Rinaldo Rinaldini aus besseren Kreisen der Gegenwart, lachte ihn schallend aus und wiederholte ihm immer nur den Ausdruck Romanbandit. Entweder blutige Sühne oder Klage beim Gericht oder Lösung des Vertrags.«
»Und nun sind Sie Ihren Aussauger glücklich los?«
»Ja, Gnädigste – es war ein Gewaltstreich, aber es ging nicht anders. Auch Aussauger kann ich nicht recht sagen. Er zahlte gut, und ich schrieb schlecht, und er wollte, daß es dabei bliebe. Wir näherten uns nicht mehr. Wir mußten notgedrungen auseinander, aber er hätte mich nie losgelassen ohne einen jener kräftigen Schlager, wie er sie in seinen Lieferungsgeschichten für notwendig hält. Ich bin also nun frei, und damit hat auch der Goethe des Budikerkellers aufgehört zu existieren.«
»Aber ein Phönix wird aus der Asche zur Sonne fliegen,« sagte Annemarie lächelnd.
Herr von Bake wiegte den Oberkörper hin und her. »Ach Gott, mein hochverehrtes und liebes gnädiges Fräulein,« antwortete er, »das mit dem Phönix klingt gut, hat bloß seine Schwierigkeiten, denn das Tierchen fühlt sich nicht beschwingt genug. Um von dem hübschen Vergleich auf den Boden der Wirklichkeit zurückzukehren: ich werde mir die löbliche Beschäftigung, die Phantasie in das bereitstehende Tintefäßchen zu stippen, künftighin nur noch im Nebenfache gönnen. Ich bin nämlich Beamter geworden. Die bekannte große und recht rühmenswerte Lebensversicherungsgesellschaft Vita hat mich als Abteilungsdirektor gewonnen.«
»Gratuliere,« rief Annemarie und streckte Herrn von Bake die Hand entgegen. »Das ist recht, das freut mich. Mit Ihrem Können, Ihrem Pflichtbewußtsein, Ihrer soldatischen Pünktlichkeit werden Sie die neue Stellung ohne Zweifel vortrefflich ausfüllen und dabei sicher immer noch Zeit erübrigen, gelegentlich einen kleinen Spazierritt zum kastalischen Quell zu unternehmen.«
»Ja,« sagte Herr von Bake und zog ein eigentümliches Gesicht, wurde leicht verlegen und strich sich den Schnurrbart mit dem Rücken des rechten Zeigefingers, »das ginge schon – das ließe sich machen, denn das Allerinnerste will doch auch noch ein bißchen seine Pflege haben – und da möchte ich mir nun die gehorsamste Frage erlauben, ob das gnädige Fräulein mich nicht dann und wann auf diesen Spazierritten zur Dame Kastalia begleiten wollten. Es liegt so,« fuhr er fort und stand auf und nahm eine militärische Haltung an, der nur sein weicher werdendes rosiges Apfelgesicht widersprach – »Fräulein Annemarie, wir sind ja eigentlich gute alte Freunde. Wir kennen uns schon seit längeren Jährchen, und ich habe immer außerordentlich viel für Sie übriggehabt – und dies Empfinden, ich kann nicht so sprechen, wie ich doch manchmal zu schreiben verstehe, wenn ich nicht für Werner Großmann arbeite, aber Sie werden mich schon begreifen – ich meine, dies Empfinden hat sich hier in Berlin ganz erheblich gesteigert. Das spricht nicht für Berlin und soll Kassel keineswegs in den Schatten setzen, es ist nur eine Feststellung. Ich habe Sie sehr lieb und möchte mir untertänigst die Frage erlauben, ob Sie nicht meine Frau werden wollen. Die Berechtigung zu dieser Frage geht, abgesehen von ihren Gefühlswerten, die keiner Begründung bedürfen, auch daraus hervor, daß ich mit meinem auf den Vertrieb der Hintertreppen eingestellten Doppelgänger nun nichts mehr zu tun habe, daß ich mich in einer auskömmlichen Stellung befinde und auch mit einigen Ersparnissen früherer Zeit aufwarten kann, und daß ich, mein Gott, gesund und rüstig bin und mein Leben lang an keiner Krankheit gelitten habe mit Ausnahme der Masern und eines Anfalls von Ziegenpeter. Wenn ich hinzufüge, daß der gut kattische Name derer von Bake immer ein ehrlicher gewesen ist und daß ich jedermann, ohne erröten zu müssen, meine Dienstzeugnisse vorlegen kann, so ist damit mein curriculum vitae erschöpft. Ich möchte mir ergebenst zu glauben erlauben, daß unsre liebe kleine Ehe ganz glücklich werden dürfte.«
Nach dieser merkwürdigen Erklärung atmete Herr von Bake tief und etwas erleichtert auf und sah Annemarie schüchtern an.
Annemarie aber befand sich in fast fassungsloser Verlegenheit. Wechselnde Farben huschten über ihr Gesicht, sie war so unvorbereitet auf dieses Geständnis, daß sie kaum wußte, was sie antworten sollte. Sie hatte nur das Gefühl, daß sie den Mann nicht hinhalten konnte, daß sie sehr offen sein mußte.
»Herr von Bake,« sagte sie und erhob sich, »eine gut stilisierte Entgegnung auf Ihre Frage wird mir wahrhaftig nicht leicht. Ich möchte einen Ehrenmann wie Sie nicht kränken. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Wenn man sich heiraten will, muß die Liebe gegenseitig sein. Aber ich – ich empfinde nichts für Sie als eine große Hochachtung.«
Sie schwieg plötzlich und schaute zu Boden. Sie suchte nach weiteren Wendungen und fand sie nicht. Herr von Bake brauchte auch nichts mehr zu hören. Die Absätze fuhren aneinander, er verneigte sich. Er behielt sein gesundes Gesicht, nur ein Zwinkern kam in die Augen.
»Verstehe, gnädiges Fräulein,« antwortete er. »Kein Wort zu viel, keins zu wenig. Ich bin orientiert. Gilt die Abweisung auch für Ihr Haus?«
»Nein,« rief Annemarie lebhaft, »bleiben Sie unser guter Freund – ich bitte herzlich darum! Kommen Sie, wann Sie wollen – wir freuen uns immer und freuen uns aufrichtig über Ihren Besuch!«
»Ich danke Ihnen,« sagte Herr von Bake und schluckte, als er dies sprach. Dann drückte er sehr kräftig die Hand Annemaries und ging, wandte sich aber an der Tür noch einmal um und fügte hinzu: »Wenn ich bitten darf, schönste Grüße an Ihren Herrn Bruder und meine Empfehlungen für Herrn Haug.«
Annemarie setzte sich abermals und faltete die Hände im Schoß. Sie fühlte sich plötzlich stark erschöpft. Sie lächelte und wurde wieder ernst. Seltsame Welt. Launenhaftigkeit und bunte Wirbel über der ganzen Weite des Lebens. Wenn sie den Blick nach innen wandte, sah sie diesen Baron Fatin-Lévêque in aller Deutlichkeit vor sich. Er war sozusagen Stammgast im Hause Labrousse gewesen und in diesem Nest internationaler Abenteurer sicher die interessanteste Persönlichkeit. Seine auffallende Männerschönheit hatte etwas Herausforderndes. Es war wie die Brutalität eines Sieggewohnten, die sich auch in der Frechheit seines Liebeswerbens äußerte. Wenn Annemarie in eilendem Gedankenflug sich seiner zuweilen erinnerte, überschlich sie jedesmal ein zitterndes Frösteln, weil sie sich sagte: es hätte wohl einmal der Augenblick kommen können, da sie seiner erfolgheischenden Roheit erlegen wäre. Denn auch der stürmende Mannestrotz gehörte allerzeit in der Psyche des Weibes zu den sinnlichen Zaubern und Wundern … Aber sie hatte sich losgerissen, und was ging dieser Mensch sie heute noch an? … Herr von Bake hatte von ihm gesprochen – und unwillkürlich strich wieder ein verlorenes Lächeln über ihre Züge, so etwas wie eine nahe Berührung von Mitgefühl und Heiterkeit. Ein komisches Herrchen war er doch, ein seltsamer Heiliger. Hatte sich nie um sie bemüht, und nun kam er, schlug die Absätze zusammen und wollte sie heiraten.
Jetzt lachte Annemarie, sie konnte nicht anders. Da schaute Herbert durch die Tür und sagte:
»So lustig für sich allein? Oder in der Erinnerung an Ritter Bake?«
Er trat ein, und Annemarie erwiderte:
»Ja – Sie haben es erraten. Es ist sicher auch nicht hübsch, daß ich lachte, denn Bake hat es sehr ernst gemeint.«
»Grade dann ist er unwiderstehlich.«
»Ach Gott, Herbert, wir wollen nicht über ihn spotten. Er hat mir eine Erklärung gemacht, und ich mußte ihm einen Korb geben.«
»Was?!« rief Herbert. »Er hat …« Dann begriff er alles … »Der arme Kerl,« sagte er. »Und warum wollen Sie ihn nicht, Annemarie?«
»Fragen Sie nicht so dumm,« versetzte sie ärgerlich und wandte sich ab.
Nun schlich er sich hinter sie und raunte ihr zu: »Ich will es dir sagen. Weil ich auch noch da bin …« Dann umschlang er sie von rückwärts und küßte sie.
Es ging rasch. Als Hans in das Zimmer trat, um an die Kaffeestunde zu erinnern, fand er die beiden so dicht Arm in Arm, daß er sofort wieder hinaus wollte.
»Hierbleiben!« rief Annemarie.
»Ich dachte, ich störe,« antwortete Hans und strich sich über die Dichterlocke.
»Das ist auch der Fall, Hans,« sagte Herbert. »Wir hatten eben eine eifrige Auseinandersetzung über den Zeitpunkt unsrer Heirat.«
»Endlich!« rief Hans. Er gab Annemarie einen herzhaften Kuß und drückte Herbert die Hand. »Wie gut, daß im Leben Leid und Freud so eng beieinander stehen. Herbert, wir haben die Trauerfeier für Ralph nicht bis zum Schluß abgewartet. Sonst hätten wir gehört, daß die Musik mit fröhlichen Märschen vom Kirchhofe gezogen ist. Kummer und Jubel, Vergehen und Aufblühen – man kann sagen, was man will: es ist doch keine schlechte Einrichtung in der Welt …« Aber er seufzte trotz dieser optimistischen Anschauung leise auf … »Wenn ich nur auch erst so weit wäre,« fügte er hinzu. »Wenn sie und ich und ich und sie uns nur erst ausgesprochen hätten. Es hat bloß keiner den Mut dazu.«
»Warte noch,« riet Herbert. »Warte, bis ich aus Rumänien zurück bin. Falls ich das Geschäft für Vater zu gutem Abschluß gebracht habe, wird er weich gestimmt sein: vorbereitet auf diesen Einfall in die Familie habe ich ihn ja schon.«
»Selbstverständlich warte ich,« entgegnete Hans. »Wenn unser Stück einen großen Erfolg hat, kann ich mit ordentlichem Aplomb vor deinen Vater treten –«
»Und wenn es durchrasselt?« warf Annemarie fragend ein.
»Dann hat er vielleicht Mitleid mit mir,« versetzte der Bruder.
– – – Am Spätnachmittage hatte der Baron Herwey sich bei seiner Frau anmelden lassen. Désirée wartete darauf; sie wartete in fiebernder Erregung auf diese Aussprache, die ja kommen mußte, und hatte vom Schwerpunkt des Geschehens aus sich schon Wege vorgezeichnet, die sie einhalten wollte. Sie empfing ihn sofort.
Er begrüßte sie, ohne ihr die Hand zu reichen.
»Wir müssen uns auseinandersetzen,« begann er und nahm ihr gegenüber Platz, »und wenn das noch am Tage des Begräbnisses meines Ralph geschieht, so ersiehst du daraus, wie sehr es mir eilt. Ich möchte dich zunächst fragen, ob du Willens bist, der Ungültigkeitserklärung unsrer Ehe eine Form zu geben, die uns unnützen Skandal ersparen würde.«
Ihre Augenlider senkten sich. Sie begriff sofort, was diese Frage bedeutete, und sah ihre Zusammenhänge.
»Ich bin überhaupt nicht dafür,« antwortete sie, »diese Erklärung herbeizuführen.«
»Weil dir der Zeitpunkt noch nicht geeignet erscheint.«
»Ganz recht.«
»Und wann wird er da sein?«
Sie nahm allen Scharfsinn zusammen, um in dem klug Umfühlenden ihrer Antwort, die nur eine Gegenfrage sein konnte, sich keine Blöße zu geben.
»Solltest du das nicht wissen?« sagte sie.
Über sein graues, verfallenes Gesicht flog ein Zucken des Unmuts.
»Wir wollen uns nicht in Spitzfindigkeiten erschöpfen,« entgegnete er, »wollen keine Klingen kreuzen. Ich habe Anatol sprechen können.«
Sie neigte den Kopf sehr tief und warf ihn wieder zurück. Um die Lippen spielte verächtlicher Hohn.
»Gut. Und nun?«
»Nun weiß ich alles.«
»Und ich wiederum«, erwiderte sie, »kenne nun auch die Umwege, die dich zu der Entdeckung meiner politischen Tätigkeit führten.«
»Das ist keine schwierige Kombination. Aber es tritt ein Moment hinzu, das du nicht vorhersehen konntest. Als ich neulich Abend von den Berichten der Egeria sprach, die an Frau Cornu gehen, konnte ich das Gesicht Ralphs beobachten. Es hat mir die Gewißheit gegeben, daß du, Désirée, die Schuld trägst am Tode meines Jungen.«
Sie atmete sehr schwer, die Brauen berührten sich, die Augen begannen zu flimmern.
»Ich könnte dir diesen fürchterlichen Vorwurf zurückgeben, Charles,« rief sie. »O, ich verstehe dich schon! Du glaubst, Ralph sei einer meiner Helfer gewesen. Weißt du das so genau?«
»Ich ahne und fühle es.«
»Dann trügt dich dein Ahnen und Fühlen. Ralph war mein Vertrauter, nie mein Helfer. Wie konnte er das auch sein! Er stand den politischen Verhältnissen ja ganz fern. Dein Verdacht ist rege geworden, weil er in Paris die Frau Cornu besucht hat. Mein Gott, ich selbst empfahl ihm dies interessante Haus – wie schließlich auch du es hättest tun können –, und irgend jemand von der Botschaft hat ihn da eingeführt.«
Herwey schüttelte den Kopf. »Das ist es ja nicht – nicht darum handelt es sich,« sagte er. »Ich sah das jähe Erblassen Ralphs, als ich den Namen Egeria aussprach. Es war ein tiefes Erschrecken und mehr: es war eine namenlose Angst. Und mir war es eine Enthüllung.«
Die großen dunkeln Augen Désirées ruhten fragend auf ihrem Mann. Sie war auch im Spiel der Augen geübt, und es galt ihr keine mühsame Arbeit. Sie beherrschte den Ausdruck wie ein Gesetz zur Sache und ließ nun im Blick helles Erstaunen walten.
»Eine Enthüllung,« wiederholte sie. »Inwiefern?« Es war wieder ein Ahnen und Fühlen. »Ich kann mir ja denken, wie du nach Schlüsseln suchst, Türen zu öffnen, die deine Phantasie dir schuf. Aber es sind keine da. Du verstehst dich auf das Kombinieren. Doch auch der Scharfsinn kann irreleiten. O, ich begreife alles. Lavergne war monatelang in Berlin. Der Tote war wieder auferstanden. Daß er noch lebte, wußte ich, als ich von der Posse von Flamandville hörte.«
»Und wurdest doch meine Frau?«
»Ja. Du umgingst ein blödes Gesetz, um ein Menschenleben zu retten. Ein verlorenes, jämmerliches, immerhin ein Leben. Und Zeit und Raum lag ja zur Genüge vor Anatol, sich auf besseres Land zu flüchten. Ich schwieg damals, was konnte ich anderes tun, aber im Grunde meines Herzens war ich dir dankbar für den Kompromiß. Nur verkannte ich Anatol. Er blieb der, der er immer war.«
»Ein Schurke, den du wieder suchtest, als es dir grade so paßte.«
»Tatst du das nicht, Karl? Wir wurden immer zwischen zwei Lebensführungen hin und her geschleudert, weil es dem Aufbau an Festigkeit fehlte. Über unsre Schuld wollen wir nicht streiten. Teil an ihr haben wir beide. Aber das sind zurückliegende Dinge, bleiben wir bei der Gegenwart. Anatol wurde zum Verräter an mir – gleich, wie das kam. Dein Geld mag gewirkt haben. Nun wußtest du, daß ich eine Lösung unsrer Ehe erstrebte, und spannst dich in Vermutungen ein. Anatol hat noch überall seine Fühler, und am meisten da, wo es am dunkelsten ist. Ich vermute, er wird aus irgendeiner unsauberen Quelle –«
Baron Herwey winkte mit der Hand, und Désirée brach ab. »Du irrst dich,« sagte er. »Deine Verbindungen mit Paris waren mir längst bekannt. Auch ihre Entstehungsgeschichte: die Fäden, die in die Tuilerien führten. Das weiß ich seit Jahren. Sprachst du mir nicht davon, so hielt ich dies Schweigen für wohlerwogene Diskretion, der ich Verständnis entgegenbringen konnte. Es gibt Dinge, die man besser im Hintergrunde läßt. Vergib, wenn ich ausspreche, daß der Name Champéron für mich einen größeren Zauber hat als der Name deiner Mutter. Und du wirst auch verstehen, warum ich auf deine politischen Heimlichkeiten kein Gewicht legte, wenn ich dir sage, daß ich sie immer nur für harmlose Spielereien hielt. Meine Pariser Agenten bestätigten mich in dieser Auffassung. Sie ließen mir zuweilen auch Warnungen zukommen: man nutze deine Leichtgläubigkeit aus – man treibe frechen Schwindel mit dir – – aber davon war ich von vornherein überzeugt, und störte ich die Komödie nicht, so geschah es nur deshalb, weil ich der Ansicht bin, daß du deiner ganzen Natur, deiner Veranlagung, deinem Temperament nach eine solche Komödie brauchst. Frauen wie du, Désirée, sind geborene Schauspielerinnen. Das ist keine Anklage und kein Vorwurf. Du gehörst zu jenen ›großen Damen‹, für die die Welt die Bühne ist, das Szenenbild für den Glanz ihrer Erscheinung, der natürlich auch nach Anerkennung ruft. Und ich habe dir nie verhehlt, daß ich dir für diese strahlende Beweglichkeit außerordentlich dankbar war, weil sie der nötigen Wechselwirkung zwischen mir und der Gesellschaft immer neue Antriebe verlieh. Mein Gott, und da ließ ich dir denn in dem Schmelzfeuer deines Lebens unbesorgt auch das kleine Nebenspiel, das dir innere Beschäftigung gab – unbesorgt, weil ich ja doch alles erfuhr, was meine Egeria an erlauschter Weisheit weiterreichte, und jeden Augenblick imstande war, den Faden abzuschneiden, wenn mir ein gefährlicher Moment einzutreten schien. Und siehst du –«
Wie in jäher Ermattung schwieg er, raffte sich aber sofort wieder zusammen und sprach weiter: »Der Moment kam. Gut, auch die Cornu war ein Wegweiser. Aber andre Beobachtungen gingen voran. Ich wollte mir Klarheit erzwingen. Das geschah am Donnerstag Abend – hier auf diesem selben Platze, dem Spiegel gegenüber.«
Wieder schwieg er. Er empfand in jedem Nerv das Fluidum der Spannung, das zwischen ihnen lag. Er fühlte auch, daß die letzte innere Gemeinschaft mit seiner Frau die der Lüge war. Er log, um sie auszuforschen. Das gehörte zu den Übungen seines Berufs, aber nun wartete er auf den Gegenruf, der pariert werden mußte. Es lag System in der Gegenseitigkeit des Belauerns.
Sie hatte schweigend zugehört, äußerlich ganz ruhig, doch mit wirbelndem Hirn. Sie folgte dem Zuge seiner Worte nicht mit Unglauben. Alles das, was er da sagte, lag im Bereich der Möglichkeiten. Das große Netz seiner Spionage umwickelte auch sie. Nur über ein Letztes war sie sich noch nicht klar. Wußte er von den Vergehungen Ralphs? Es war nicht anzunehmen, sonst wäre er früher eingeschritten. Es war wirklich nur ein »Fühlen und Ahnen« in der banalen Formgebung des Auf-den-Busch-klopfens.
»Du hast mich vorhin nicht aussprechen lassen,« erwiderte sie kühl. »Ralph war mir ein lieber Freund. Ja, das war er, und es würde dem eigenen Vater schlecht anstehen, das Andenken des braven Jungen beschimpfen zu wollen. Er kannte meine politische Liebhaberei und betrachtete sie als ein Spiel – grade wie du. Und wie mir erhöhte es auch ihm den Reiz des Geheimnisvollen, daß du nichts davon wußtest – anscheinend wenigstens – und wenn er heftig erschrak, als du neulich von der Berliner Egeria sprachst, so war das ganz gewiß nur die natürliche Wirkung des Unerwarteten und Plötzlichen … Karl, du sagtest vorhin etwas, was mich tief erschütterte. Ich – ich sollte Schuld tragen am Tode Ralphs! Mein Gott, wie kommst du auf diese wahnsinnige Idee?! Du kannst doch unmöglich glauben, daß Ralph Selbstmord begangen hat? Und wenn du dich in deiner Verstörung in diesen Glauben hineinspinnst, daß zwischen der Tat und mir irgendein Zusammenhang bestehe? …« Sie stand jetzt in zürnender Abwehr vor ihm. Sie sah auf ihn herab, und ihre Überlegenheit wuchs. Er war nicht mehr Ankläger noch Richter. Er schien völlig zusammengebrochen, zusammengesunken, zusammengesackt wie eine leblose Masse. Sein Kopf lag auf der Brust, schlaff hingen die Arme nieder. Es war einer, der nicht weiterkonnte, weil die Last zu groß geworden war. Und sie hätte wohl Mitleid mit ihm empfunden, wenn nicht die rasende Notwendigkeit der Verteidigung wie eine Gabe des Schicksals herrschend in ihr geworden wäre. So reckte sie den geschmeidigen Oberkörper noch höher und fuhr erbarmungslos fort: »Wo ist deine Logik, Charles? Ich traure mit dir, denn ich hatte Ralph sehr lieb. Vielleicht war er mein einziger Freund. Und grade deshalb wehre ich mich gegen Ungeheuerlichkeiten, denen jede Begründung fehlt. Gib mir doch einen Anhalt für deine Vermutungen – ich bitte dich, sprich! Sage mir, wie du auf alle diese tollen Gedanken kommst – du kannst sie doch nicht aus der Luft greifen! …«
Baron Herwey richtete sich müde und langsam auf. Ein Blick voller Rätsel traf seine Frau, ein Blick, der das Sphinxhafte ihres Wesens mit Verständnis zu umfassen und doch die letzte Lösung zu scheuen schien. Er nickte.
»Doch,« sagte er, »ich glaube, ich greife in die Luft – aber längst nicht mehr in die Sterne, o nein – in eine grausame Leere, Désirée! Herbert war es, der mich auf die Wunderlichkeiten beim Tode Ralphs aufmerksam machte – aber es können auch Täuschungen sein, Zufälligkeiten, die in ihrer Aneinanderreihung falsche Zusammenhänge ergeben – alles ist möglich. Forschen wir nicht mehr – nein, behüten wir seinen Schlaf …«
Er strich mit flacher rechter Hand über sein ganzes Gesicht, als wolle er die Maske ordnen, und sagte dann in ruhigem Tone:
»Kehren wir zu uns beiden zurück, Désirée. Wovon sprachst du? – Ja, ich weiß: der Zeitpunkt unsrer Trennung schien dir noch nicht gekommen zu sein. War es nicht so?«
Sie ließ sich nieder. Ihre Züge schärften sich wieder im Nachdenken, im raschen Suchen nach einer dem Streit überlegenen Synthese.
»Gewiß,« sagte sie. »Ich muß dir da Aufklärung geben. Ich stehe unter dem Zwange bestimmter Bedingungen. Sie fingen an, als ich die Wahrheit über meine Geburt erfuhr, und werden erst enden, wenn der Krieg zwischen Frankreich und Preußen siegreich für den Kaiser verlaufen ist.«
Im Auge Herweys blitzte ein Licht auf. Das Interesse für die Sache an sich begann sich wieder zu regen.
»Der Krieg wird kommen,« sagte er. »Vielleicht gegen den Willen Napoleons, aber er wird kommen. Niel ist tot, Gramont noch da, und der Chauvinismus wächst in ganz Frankreich. Nur wer Sieger bleibt, steht dahin. Weiter, Désirée. Was hat der Sieg mit deiner Person zu tun?«
»Er soll mir die Prämie für meine Bemühungen bringen.«
»Und das heißt?«
»Schenke mir die Einzelheiten. Dann wird man den Kaiser daran erinnern, daß ein Kind der Geliebten seiner Jugend am Leben ist. Man hat mir gesicherte Zusagen gegeben. Aber man wird auch unsre Trennung fordern, weil man – Größeres mit mir vorhat. Da hast du den Grund meiner Bitte an Anatol. Gewiß kannst du mir Vorwürfe machen. Ich dachte an meine Zukunft, nicht an dich. Doch du weißt auch sehr wohl noch, wie offenherzig ich zu dir sprach, als du um meine Hand anhieltest.«
Der Staatsrat schien den letzten Satz überhört zu haben. Die Gedanken kamen wieder in Wechselwirkung. Er lächelte.
»Zusagen,« wiederholte er, »und welcher Art, wenn ich fragen darf?«
»Ich kann mich darüber nicht äußern.«
»Verständlich. Verzeih' meine Indiskretion. Aber die Beweise – nicht wahr, die Beweise, daß du eine Tochter Napoleons bist, die hast du fest in der Hand?«
»Ich brauche es nicht mehr zu bestreiten. Graf Roset hat mir die Briefe gegeben, die General Montholon nach meiner Mutter Tode an meinen Stiefvater richtete und die im Archiv von Champéron beschlagnahmt wurden, als das Schlößchen in Kronbesitz überging. Aber nun –«, und sie neigte sich ein wenig vornüber, um den Blick ihres Gatten aufzufangen – »eine Gegenfrage, Charles. Du sprachst vorhin von Warnungen deiner Agenten – von gewissen Warnungen –, man betrüge mich, man nutze mich aus – was ist daran? Willst du mir nicht näheren Aufschluß geben?«
»Ja,« entgegnete er langsam und suchte im Sprechen die Erinnerungen an die Mitteilungen Lavergnes zusammen, »ich würde ohne weiteres dazu bereit sein, wenn ich mehr wüßte als flüchtige Andeutungen. Mir lag nichts an Nachforschungen – mir lag ja gar nichts daran, dein harmloses Spiel zu stören, solange ich es als eine Unterhaltung, eine Laune deinerseits betrachten konnte, ein Füllsel für müßige Stunden, angeregt durch die Romantik deiner Geburt. Aber – ja, Désirée, wenn du es wünschest, hole ich absichtlich Versäumtes nach – nicht durch die Agenten, nein, selbst der Zuverlässigste wäre mir in diesem Falle nicht sicher genug … das müßte persönlich geschehen –, und da ich sowieso die Absicht hatte, im Januar auf einige Tage nach Paris zu reisen, so ließe sich das schon machen …«
Sie sann nach. Sie zog wieder das Ganze ihres Lebens in den Kreis des Augenblicks. Es galt ihr ja nur noch ein letztes Ziel: ein Recht der Anerkennung, nach dem sie dürstete, und das sie mit allen Mitteln verfolgte. Sie war klug und herzlos: seit Jahren arbeitete sie darauf hin. Aber in dem rastlosen Eifer, aller Schwierigkeiten Herrin zu werden, verlor sie an Weitblick. Der Geist wurde zu einem mechanischen Getriebe, das im Räderwerk der Gedanken nach dem Nächsten griff. Nun sollte der Gegner zu einem Bundesgenossen werden.
»Du hast recht, Charles,« sagte sie. »Laß die Agenten aus dem Spiel – sie können nur stören. Du bist in Paris zu Hause wie hier – da wirst du dir auf eigene Hand Klarheit schaffen können. Großes steht mir in Aussicht, und du sollst deinen Teil daran haben. Unsre Trennung wird eine Notwendigkeit sein, aber sie ist keine Trennung der Freundschaft. Wir haben zu lange mit- und nebeneinander gelebt, um in unfruchtbarem Haß zu scheiden. Es liegt auch kein Grund dafür vor, gar keiner. Ich werde dir nützlicher sein können, als du vielleicht ahnst. Gib mir die Hand – im Andenken an Ralph, den wir beide liebhatten.«
Sie errötete nicht bei diesen Worten, sie zitterte auch nicht. Aber in des Mannes Herz fuhr es wie Stahl – und doch zog er ihre Hand zu flüchtigem Kuß an seine Lippen. Er war weitsichtiger als sie und sah in diesem neuen Bündnis Ausblicke, die sich nicht gefühlsmäßig bewerten ließen. Der Wirklichkeitssinn, der ganz brutale, der keine Innentöne kannte, drängte wieder zur Oberhand; Maß klugen Erkennens wurde zum Maße des Lebens.
»Also eine Vereinbarung,« sagte er. »Ein Bündnis zu Schutz und Trutz. Ich helfe dir, um dir die Trennung von mir zu erleichtern. Kurios, wie der Extrazug dieser sogenannten Ehe von Station zu Station auf immer falscherem Gleise gefahren ist. Stoff für einen Satiriker. Aber dazu habe ich kein Talent. Nun wohl, ich packe ein, was gewesen ist, auch was von Liebe, Glauben und Hoffen noch da war und seinen Kurs verloren hat – alles, was über diese infame Endlichkeit mich ein bißchen hinaustrug –, und werde wieder der kühle Geschäftsmann. Du sagst, man habe Großes mit dir vor. Warum nicht? Du hast das Zeug dazu, und vielleicht steht der Herr Herzog schon in der zweiten Kulisse rechts, mit dem Napoleon dich vermählen will, wenn du dir deine Prämie verdient hast. Aber um die handelt es sich noch. Es kommt nun eine Zeit gemeinsamen Wirkens für uns, Désirée. Wenn ich mich deiner Angelegenheit annehme, so muß auch ich Bedingungen stellen. Die wichtigste ist, daß du mir politisch nicht entgegenarbeitest. Ich will natürlich nicht, daß du deine Pariser Verbindungen aufgibst – im Gegenteil, man soll da deine Tätigkeit womöglich noch lebhafter spüren –, aber ich möchte über sie auf dem laufenden erhalten werden, und zwar durch dich selbst, damit ich auf die nicht ungefährliche Berichterstattung meiner Agenten verzichten kann. Verstehst du, wie ich das meine?«
»Vollauf,« erwiderte Désirée. »Es liegt ja jetzt alles anders als vordem. Wir einigen uns auf einer gemeinsamen Grundlage. Es soll auch ein freundschaftliches Zusammenwirken sein. Wir haben nunmehr das gleiche Ziel. Du sagst selbst, daß der Krieg nicht aufzuhalten ist.«
»Ganz gewiß nicht. Er steht seit drei Jahren in sichtbarer Nähe, und alle Friedensbeteuerungen werden seine Notwendigkeit nicht aus dem Wege schaffen. Aber das Ziel ist nicht nur der Krieg, sondern der Sieg Frankreichs.«
Es flackerte wieder mißtrauisch in ihrem Auge.
»Glaubst du daran?« fragte sie.
Der Staatsrat erhob sich. »Was nützte es,« antwortete er, »wollte ich ja oder nein sagen. Für dich und mich kommt es nur darauf an, das Ziel im Auge zu behalten. Désirée, ich bin abgespannt. Gestatte, daß ich mich zurückziehe. Die Grundlagen für unser künftiges Leben haben wir festgelegt. Und vielleicht ist es gut, daß wir dabei die Gefühlswerte ausgeschaltet und uns auf Nützlichkeitszwecke beschränkt haben. Wir werden besser auf die Kosten kommen, wenn wir das Konto unsrer Illusionen abschließen. Alles Nähere besprechen wir noch …«
In seinem Zimmer setzte er sich sofort wieder an den Schreibtisch und griff nach der inzwischen eingetroffenen Briefschaft. Einen Augenblick freilich zögerte er: er mußte erst den tiefen Ekel überwinden, der seine Seele füllte. Es war auch immer noch ein Rest an Gesinnung da, ein allerletzter, wie eine Erinnerung an vergangene Tage, und zugleich eine schmerzliche Erfahrung des größten Irrtums in seinem Leben.
Der Staatsrat war kein Mann, der dem Tode aus dem Wege ging, da er ihn vor sich sah. Die Frage des Seins oder Nichtseins hatte keine Schrecken für ihn. Hemmungen und Leiden waren zu überwinden, aber nicht die Leere des Glücks und die vollkommene Nichtigkeit des Daseins. Und doch kam angesichts der eintragslosen Verluste, denen er gegenüberstand, etwas wie eine neue Stimmung über ihn, eine Wendung zum Pessimismus, die ihn mit seltener Ruhe durchströmte. Es gab für ihn kein künstliches Wegdeuten mehr: er übersah mit voller Klarheit die Tragik des Verhängnisses, die in dem Tode Ralphs noch keinen Abschluß gefunden hatte. Und das war es, was ihn aufrecht hielt in dem Kampf der eigenen Seele: das Verlangen, die Linie bis zu dem entscheidenden Punkte zu verfolgen, die mit innerster Notwendigkeit zu dem zweifellosen Selbstmorde seines Sohnes geführt hatte.
Daß er Désirée für immer verloren hatte, sah er ein. Aber was ihn noch vor kurzem in alle Tiefen zu stürzen vermocht hatte, war nun für ihn ein Ding philosophischer Entsagung geworden. Schmerz um einen Besitz, dessen Wertlosigkeit man erkannt hat, ist Unvernunft. Da durfte das Gefühl nicht sieghaft bleiben. Über allem Leid stand nur noch der Durst nach letzter Kenntnis der Ursachen, die zu dem großen Einsturz geführt hatten. Vielleicht regte sich auch im Allertiefsten ein deutbares Empfinden nach rächender Vergeltung. Doch es stieg nicht an die Oberfläche. Was Herwey erstrebte, war mehr ein Appell an die höchste Instanz – an die Gerechtigkeit. Es lohnte sich der Mühe, die Indizien zu sammeln, die ihn wehrlos einer feindseligen Macht ausgeliefert hatten, denn wenn ein unabwendbares Schicksal ihn vor die letzte Entscheidung stellte, sollte auch die nicht auf Glückes Höhen steigen, deren Tun und Handeln sein Schicksal geformt hatten. Nein, das sollte sie nicht! –
In seine Züge trat der Ausdruck unumstößlichen Willens. Er klemmte sein Einglas in die Augenhöhle, griff nach einer seiner großen und schweren Zigarren und zündete sie vorsichtig an. Dann schloß er die Postmappe auf.