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Hans Weerth hatte sich für die Zeit, da die Proben für sein Schauspiel stattfanden, Urlaub von dem Staatsrat erbeten. Er erhielt ihn ohne weiteres. »Ja, natürlich,« hatte Baron Herwey gesagt, »bleiben Sie ruhig fort, so lange Sie durch Ihre Angelegenheiten in Anspruch genommen werden …« Er hätte Hans am liebsten ganz entlassen und ihm noch ein Jahr lang das verabredete Gehalt ausgezahlt. Durch die Ausarbeitung über das Welfenreich Heinrichs des Löwen in der charakteristischen Handschrift des verstorbenen Ministers war seine Tätigkeit bei ihm erschöpft. Er brauchte ihn nicht mehr. Es lag sogar so, daß seine Anwesenheit einen unbestimmten seelischen Druck auf Herwey ausübte. Die harmlosen Träumeraugen des jungen Dichters hatten etwas Beunruhigendes für ihn, und wenn er dabei an Erika dachte, verlor er sich in schwankende Stimmungen. Er spürte in letzter Zeit zu öfterem eigentümliche Gegenwirkungen zu der Herrschaft seines Willens und Wollens, er litt unter Anwandlungen schwarzer Melancholie. Er war längst nicht mehr der Allesüberwinder.
Es waren bewegte Tage für Hans. Herbert fehlte ihm, der seine Reise nach Rumänien angetreten hatte. Es gab da allerlei Fremdartiges, in dem der Poet sich nicht zurechtfand. Die sogenannten Stellproben erschienen ihm von fürchterlicher Nüchternheit. Die Darsteller hatten ihre Rollenhefte noch in der Hand und lasen eintönig vom Blatt ab, was sie zu sagen hatten. Zwischen ihnen stand der Regisseur und schob sie wie Marionetten hin und her. »Von links, lieber Liedtke,« sagte er, »Sie kommen von links, nicht von rechts – das steht auch in Ihrer Rolle. Herr Döring, legen Sie bitte Ihren Hut nicht gleich beim Eintritt auf den Stuhl. Sie sind noch unschlüssig und befangen, Sie nehmen eine abwartende Haltung ein. Fräulein Keßler, nicht aufspringen, wenn Sie den Geliebten sehen; eine schreckhafte Bewegung genügt, die Sie gewaltsam unterdrücken, wenn Sie der Blick der Frau Ehrhardt trifft. Das ist doch das Auge der Mutter! In die Mutterrolle müssen Sie sich noch hineinfinden, gnädige Frau – aber es wird schon gehen. Lieber Freund Robert, etwas hastiger in den Bewegungen, wenn ich bitten darf, und abgerissener im Ton; mehr stürmende Jugend, mehr überschüssiges Feuer …«
So ging es ein paar Tage lang, und Hans saß im dunkeln Zuschauerraum und sagte gar nichts. Direktor Hein hatte ihm geraten, diesen einleitenden Proben ganz fernzubleiben, aber Hans hoffte von ihnen zu lernen. Er war den Schauspielern vorgestellt worden, und jeder einzelne hatte ein freundliches Wort für ihn. Er wurde rot, wenn er mit den Berühmtheiten sprach. Es war doch eine eigene Sache. Den großen Döring hatte er noch vor einigen Tagen als Nathan gesehen; jetzt begnügte er sich mit einer Nebenrolle. Herr Haase, der Klingsberg von vorgestern, war auch auf den Proben der elegante Mann; aber der gestreifte Anzug und der Schlips des Herrn Robert waren unausstehlich, und sein gelangweilter Ton fiel dem Verfasser auf die Nerven.
Das alles änderte sich binnen kurzem. Das Szenenbild stand. Jetzt erschien auch Direktor Hein, sah sich das Ganze an und hatte mancherlei auszusetzen. Aber das Ganze formte sich allgemach zu festen Umrissen. Der schweigsame Verfasser mußte dann und wann aus seiner Stille heraustreten. Hier und da war noch ein kleiner Strich nötig oder ein Übergang mußte geändert werden. Herr Haase befragte ihn einer hübschen Nüance wegen, die ihm eingefallen war, und Frau Frieb-Blumauer, die nur im letzten Aufzug zu tun hatte, wollte einige Sätze umgestellt haben. Das alles war leicht zu machen und brachte Hans den Darstellern doch auch näher. Er saß nun nicht mehr im dunkeln Parkett, sondern hatte seinen Stuhl auf der Bühne und fühlte von einer Probe zur anderen mehr, wie sein Stück wuchs, wie das Interesse der Mitwirkenden zunahm, das Zusammenspiel sich runder gestaltete, wie die Dichtung auf dem Papier in der Wiedergabe durch berufene Kräfte zu einem Abbild des Lebens wurde.
Daheim hatte er Annemarie viel zu erzählen, die sich nach ihrem Herbert sehnte, der ihr bisher nur aus Warschau ein paar Zeilen geschrieben hatte. Natürlich wollte sie alles auf das genaueste wissen, was auf den Proben passiert sei. Aber Hans war ein schlechter Berichterstatter. Seine Stimmungen wechselten von heute zu morgen. Die ersten Anzeichen nahenden Lampenfiebers machten sich fühlbar. Er konnte nicht stillsitzen, fuhr unruhig umher, hatte fiebrig heiße Hände, keinen Appetit und viel Durst. »Es wird ein riesenmäßiger Reinfall, Annemarie,« sagte er am Tage vor der Generalprobe. »Es ist nichts. Es fehlt an Handlung und auch an innerer Schwungkraft. Es ist ein verlorenes Stück Arbeit. Der letzte Akt rettet den Plunder nicht. Herbert hat sich mit blamiert. Wir müssen umsatteln, Heringe verkaufen oder ein Buttergeschäft anfangen. Wir sind keine Dichter. Gott sei unsern armen Seelen gnädig …«
Dann kam die Generalprobe. Hans war erlaubt worden, dazu einige Bekannte zu laden. Désirée hatte Erika gebeten, sie begleiten zu dürfen, da man der Trauer wegen sonst nicht das Theater besuchte. Neben Annemarie saß der getreue Herr von Bake in der siebenten Parkettreihe. Hans war blaß und von nervöser Heiterkeit. Der hübsche Zuschauerraum erschien ihm wie eine Strafanstalt. Dabei hatte er das Gefühl, als sei irgendeine unheimliche Krankheit bei ihm im Anzuge, die Cholera oder etwas Ähnliches. Er hatte Leibschmerzen, auch der Magen tat ihm weh.
Nun ging es los. Es klappte alles. Im zweiten Akt ließ Direktor Hein eine Szene noch einmal spielen. Sie war von Wichtigkeit; die große Pause folgte, in der die Kritiker ihre Ansicht auszutauschen pflegten. Hans hatte wieder Mut geschöpft. Der Magendruck wich. Nach dem dritten Akt bewegte sich der halb vorgezogene Vorhang vor der Intendantenloge, und eine feine Männerhand winkte dem Direktor. »Exzellenz möchte Sie kennenlernen,« flüsterte Hein dem Dichter zu, und zwei Minuten später verneigte sich Hans, so schön er es konnte, vor Herrn von Hülsen.
Der reichte ihm die Hand. »Sehr interessant, verehrtester Herr Weerth,« sagte er, »wenn das Ihr dramatischer Erstling ist, gratuliere ich aufrichtig. Ich hoffe auf guten Erfolg. Notabene, ich hoffe. Gewißheit bringt uns erst der morgige Abend. Aber unser Publikum ist ja nicht bösartig.«
Hans bekam doch wieder Magendrücken. »Zufrieden mit der Aufführung?« fragte ihn Direktor Hein. »Außerordentlich,« antwortete Hans seufzend und mit bekümmertem Gesicht.
Er konnte Erika nur flüchtig sprechen. Sie drückte ihm fest die Hand. »Morgen kann ich nicht kommen,« sagte sie, »aber von sieben Uhr ab halte ich Ihnen den Daumen. Geht es so gut wie heute, so sorge ich mich nicht. Meine Gedanken sind bei Ihnen …« Auch Désirée hatte einen freundlichen Zuspruch, und Herr von Bake war begeistert. Er sprach von einem »Ereignis« und einem »gewaltigen Wurf«, er hatte diesmal keine Diminutive, es loderte in ihm, er brauchte nur große Worte. Das Billett für morgen hatte er schon in der Tasche. »Ich trage waschlederne Handschuhe,« erklärte er, »sie knallen besser, wenn ich Beifall klatsche. Ich sitze im ersten Rang, Mittelloge, da hört man mich auf allen Seiten. Übrigens habe ich die ganze Lebensversicherungsgesellschaft Vita mobilgemacht. Von meiner Abteilung kommen die meisten. Drei Laufburschen, meinem Portier und meinem Bureauaufwärter habe ich Billetts geschenkt. Die sitzen auf der Galerie und fallen ein, sobald ich zu applaudieren beginne. Disziplin muß sein …«
Annemarie war zurückhaltender in ihrem Urteil. In der Darstellung behagte ihr manches nicht, von einzelnen Szenen hatte sie sich eine stärkere Wirkung versprochen. Aber das behielt sie für sich. Auf einen sogenannten durchschlagenden Erfolg rechnete sie nicht, doch auch nicht auf eine Ablehnung. Man saß sich an diesem Abend mit etwas schwermütigen Gesichtern gegenüber. Hans sprach immer nur von seinem Stück und wie das und jenes hätte ganz anders ausgeführt und gearbeitet werden müssen. Er war mit nichts zufrieden, bis Annemarie schließlich sagte: »Hans, nun hör' auf. Mir dröhnt der Kopf. Wenn du alles anders haben willst, mußt du ein neues Drama schreiben. Am alten ist nichts mehr zu ändern. Habe dich nicht und vertraue auf deinen Stern.«
»Na ja, schön,« erwiderte Hans und erhob sich. »Vielleicht wird's bloß eine Sternschnuppe. Nun wollen wir zu Bett gehen.«
Er schlief trotz seiner Aufregung ausgezeichnet, war am nächsten Tage guter Dinge und wurde gegen Abend abermals trübsinnig.
Das Theater war ausverkauft. Der dicke Herr Oberländer, der in einer kleinen Szene mit Herrn Liedtke das Schauspiel zu eröffnen hatte und als erster Darsteller schon fertig kostümiert und geschminkt auf der Bühne stand, ließ ihn durch das Loch im Vorhang in den Zuschauerraum schauen. Aber es schwirrte Hans vor den Augen. Er sah nur eine bunte Masse, keine Einzelheiten. In der dritten Parkettreihe, sagte Herr Oberländer, säße gewöhnlich die Kritik, lugte dann selbst durch das Loch hindurch und meinte, Herr Frenzel von der Nationalzeitung sei schon da und auch Herr Remy von der Vossischen, und der neben ihm sei Herr Doktor Lindau, dessen Schauspiel »Marion« vorjährig einen guten Erfolg gehabt hatte. Dann zeigten sich andere Darsteller, die im ersten Akt zu tun hatten, und Direktor Hein stürmte, immer in großer Lebendigkeit, über die Bühne und erzählte, Kronprinz und Kronprinzessin würden erwartet, und ein Redakteur des Pariser Figaro, der in Berlin sei, Herr Albert Wolff, habe um ein Billett bitten lassen. Hein hatte auch die eben erschienene Nummer des Berliner Fremden- und Anzeigenblatts in der Rocktasche, die eine kleine einführende Notiz über Hans Weerth brachte, in der er dem Publikum als geschätzter Mitarbeiter der Zeitung und als Sohn des bekannten ehemaligen kurhessischen Ministerpräsidenten vorgestellt wurde. Daraufhin wurde Hans noch etwas blasser, denn seine plötzliche Popularität bedrückte ihn heftig, und der Gedanke, daß man in diesen Minuten seinen Namen auf mehreren hundert Theaterzetteln las, wurde unwillkürlich zu einem Vergleich mit dem Steckbrief eines wegen sehr häßlicher Raubtaten verfolgten Verbrechers.
Dann begann die Vorstellung, und er stand hinter den Kulissen und kaute an einem Zipfel seines Taschentuchs. Ihm war erbärmlich zumute, seine Seele verlor sich gewissermaßen in nichts, er fühlte sich verdunkelt und erdrückt von undurchsichtigen Mächten und erschrak förmlich, als er einen Beifall auf offener Szene vernahm, der dem Zusammenspiel von Fräulein Keßler und Herrn Robert galt. Aber bei Schluß des Aktes setzte der Beifall doch von neuem ein, nicht allzu stark, immerhin freundlich, und Herr Haase raunte ihm im Vorübergehen zu: »Stimmung ist da. Es wird, junger Dichter!«
Es wurde wahrhaftig. Der zweite Aufzug schlug durch. Ein paar Stimmen riefen nach dem Verfasser. Ein Herr mit schöngepflegtem Schnurrbart in einem rosigen Apfelgesicht, der in der Mittelloge des ersten Ranges saß, nahm den Ruf auf und gab seinem stürmischen Verlangen, Hans Weerth zu sehen, mit kommandogewohntem Organe Ausdruck. Nun schleppten die Herren Robert und Liedtke Hans an die Rampe. Er stolperte flüchtig über einen Teppich, fuhr sich mit der Hand über die Stirnlocke, verneigte sich, hatte einen farbigen Wellenschlag vor den Augen und hörte etwas wie Meeresbrausen, sah den Vorhang niedergleiten und wieder in die Höhe gehen, verbeugte sich abermals und saß dann plötzlich ganz hinten im Dunkel eines fernen Prospekts unter einem Baldachin aus »Donna Diana«, indes die Arbeiter vorn eilfertig die Szene umbauten.
Im dritten Akt wechselten seine Stimmungen. Sie führten ihn in luftige Höhe und sanken unter den Gefrierpunkt. Er stand nicht mehr in der Kulisse, er marschierte hinter der Szene auf und ab, blieb gelegentlich lauschend stehen, dachte an dies und das und zuweilen an gar nichts, wendete seine ganze Aufmerksamkeit dem Helm eines diensttuenden Feuerwehrmanns zu und betrachtete dann wieder sinnend ein Requisit aus Pappe, das eine carrarische Marmorsäule darstellte. Doch der Erfolg hielt an. Beim Aktschluß wurde er von neuem hervorgeholt, stolperte diesmal nicht, verneigte sich sehr viel besser und hatte sogar ein Lächeln auf den Lippen.
»Gemacht,« sagte Herr Oberländer zu ihm, der die Livree eines herrschaftlichen Dieners trug und zwei rote Flecken auf den Backen hatte. Döring schlug ihm nur stumm auf die Schulter, Friedrich Haase nickte ihm zu, Frau Ehrhardt winkte mit den Augen herüber. Alle mußten sich umkleiden, denn der Schlußakt spielte vier Monate später als der dritte Aufzug. Aber Hans kletterte nun allgemach aus den nichts durchbohrenden Gefühlen heraus auf eine gesicherte Wirklichkeit. Eigentlich war er sehr verwundert. Warum hatte er sich denn geängstigt? Es ging ja ganz famos. So etwas wie ein warmer Glücksregen tropfte durch seine Seele. Aus matten Umrissen formte sich ein Stück Zukunft, ferne Aussichten rückten in deutliche Nähe. Und dann dachte er an Erika, und stärker hub sein Herzschlag an.
Das Glück blieb ihm treu. Der Schluß bestätigte den Erfolg. Das halbe Parkett war bereits geleert, als der Herr mit dem schönen Schnurrbart in der Mittelloge des ersten Ranges noch immer nach dem Verfasser rief. Die Wirkung des Dramas auf ihn mußte besonders stark gewesen sein. Auch auf der Galerie war man unermüdlich in Hervorrufen. Dann endlich blieb der Vorhang unten, und nun gratulierten die Darsteller, bis Direktor Hein heransauste: der Kronprinz wollte den Dichter sprechen. Er begrüßte ihn mit einigen liebenswürdigen Worten, und Hans antwortete auch, aber er wußte gleich nachher durchaus nicht mehr, was er eigentlich gesagt hatte. Er kam erst wieder zu sich und fand sich aus der überstürzenden Fülle der Eindrücke in die Unmittelbarkeit zurück, als er mit Annemarie bei Ewest saß und Austern und Cliquot bestellte, denn heute sollte geschwelgt werden. –
Am nächsten Vormittag sandte er zunächst ein Telegramm an Herbert ab, unter der Adresse des Preußischen Generalkonsulats in Bukarest, und ging hierauf in sein Zeitungslokal, die Vossische Konditorei in der Anhaltstraße, um sich an den Kritiken zu erfreuen. Aber er fand noch nichts; erst die Abendblätter brachten kurze Rezensionen, die am folgenden Morgen durch eingehendere Besprechungen ergänzt wurden. Siegeshymnen waren es nicht, nur das allgetreue Fremdenblatt schwang sich zu einer gewissen Begeisterung auf; Spenersche und Vossische waren gedämpft freundlich, warmherziger gab sich die Kreuz-Zeitung, abweisend die Post, wohlwollend die Tribüne, die sich aber über die Claque ärgerte. Ganz feindselig war der B.-Kritiker in der Norddeutschen, der die Aufführung zum Anlaß nahm, seinem Groll gegen die wachsenden realistischen Strömungen in der deutschen Literatur Luft zu machen und das Königliche Schauspielhaus als traditionellen Bewahrer des Guten, Schönen und Edeln vor der geschmackverderbenden neuen Sündflut eindringlich zu warnen.
Hans Weerth war nach dem unbestreitbar großen Erfolge des Premierenabends über die Kühle der Presse zunächst ein wenig verblüfft. Aber er ärgerte sich nicht. Er sagte sich, daß das wohl mit zur Sache gehöre. Es war die kritische Schleife am ersten Lorbeerkranze. Er ging an die nächste Litfaßsäule und sah, daß sein Stück in der Woche noch zweimal angesetzt war. Neben ihm standen zwei junge Leute, anscheinend Studenten, die sich gleichfalls in den Anschlagzettel des Schauspielhauses vertieften. »Da möcht' ich mal hin,« sagte der eine, »es soll gut sein.« Hans nickte schweigend. »Aber furchtbar unanständig,« antwortete der andere. Nun ging Hans weiter und beschloß, sich über nichts mehr zu wundern. Er trug den Kopf hoch, er fühlte sich als gemachter Mann. Alle Wetter, wenn schon so unbändige Gerüchte vor ihm herflogen, konnte er unbesorgt alles weitere abwarten! Und er lachte leise in sich hinein. –
– – Inzwischen befand sich Herbert auf der Reise nach Rumänien. Bei den Paßausweisen und den Empfehlungsschreiben der Russischen Botschaft, die er mit sich führte, ging sie gut vonstatten. Die Gewehre waren in bester Verpackung in mehreren Waggons untergebracht worden, die fest verschlossen und plombiert waren und in deutscher und russischer Sprache die Bezeichnung »Eisenbahnmaterial« trugen. Da Herbert auch mit reichlichen Trinkgeldern nicht sparte, so kam er rasch vorwärts. In der Steppenstadt Bender nahm ihn der General von Kotzebue in Empfang, ein Neffe des Legationssekretärs bei der Berliner Botschaft, der in der durch eine Ebene von der Stadt getrennten Festung residierte. Der General war ein trinkfester alter Herr, der Herbert mit einem Dutzend gleichgesinnter Offiziere, die durchweg vortrefflich Deutsch sprachen, zu einem großen Gelage einlud, auf dem der Champagner in Strömen floß. Zwei Tage später ging es weiter, zunächst noch mit der Bahn, die aber erst bis Tschadyr-Lunga fertig war. Dort fand sich auch die Schutzwache ein, die bis dahin unnötig gewesen war: ein Trupp Kosaken, von einem kleinen, über das ganze Gesicht behaarten Offizier befehligt, der immer lachte und dem die Sache ungeheuren Spaß zu machen schien. Die Wagen mit den Gewehrladungen wurden nun von Ochsengespannen gezogen, und die Kosaken umschwärmten sie wie eine Horde Avaren. Herbert, der selbst ein kleines zottiges Pferdchen ritt, fand viel Freude an den wechselnden Bildern. Im Schnee des Steppenlandes wurden die Wagen auf riesige Holzkufen geschoben, so daß sie wie Schlitten über die weiße Fläche glitten. Man nächtete in kleinen, meist von Rumänen und Juden bewohnten Städten, die Kosaken schlugen aber gewöhnlich ihr Zeltlager auf, und das gab dann malerische Ausblicke und Eindrücke in Fülle. Ein Schneesturm brachte eine unangenehme Abwechslung, und von der Bettelei der Zigeuner mußte man sich immer erst loskaufen; im übrigen ging auch auf dieser Strecke die Reise ohne erhebliche Hindernisse vor sich. In der Nähe des sogenannten Trajanswalls stieß man auf eine Ansiedlung deutscher Bauern, bei denen Herbert freundliche Aufnahme fand, dann erreichte man wieder die über Reni führende Bahnlinie nach Galatz. In Reni entlohnte Herbert seine Kosaken und nahm von dem Führer nach einem üppigen Gastmahl Abschied, wobei der kleine haarige Leutnant sich arg betrank und hierauf das heulende Elend bekam. Die letzte Erinnerung an Reni war für Herbert der Verlust seiner goldenen Taschenuhr, die ihm auf unerklärliche Weise gestohlen worden war.
Aber das wäre zu verschmerzen gewesen. Eine größere Unannehmlichkeit erwartete ihn in Galatz. Auf dem Bahnhofe hatte eine Halbkompagnie rumänischer Soldaten Aufstellung genommen, und der kommandierende Offizier erklärte ihm, daß auf Befehl des Finanzministeriums die Wagen mit Eisenbahnmaterial vorläufig mit Beschlag belegt werden sollten. Herbert verstand das nicht. Er wies seine Legitimationen vor und versuchte dem Offizier klarzumachen, daß es sich um eine geheime Waffenlieferung handele, die von der rumänischen Regierung rechtmäßig bestellt worden sei. Aber der Offizier blieb kühl und beharrte auf seinem Standpunkt: die Avise lauteten auf Bahnmaterial, und da man mit der Bahnbauverwaltung in Zwistigkeiten geraten sei, so sei die Beschlagnahme verfügt worden.
Es war eine wunderliche Sache, zweifellos ein Irrtum, der sich bald aufklären mußte. Herbert fuhr zum Hafenkommandanten, der die Ablieferung der Waffen übernehmen sollte, doch dieser Mann, ein naturalisierter Grieche, wußte von gar nichts und behauptete, der Angelegenheit gänzlich fernzustehen. Er sagte, er habe keine Ahnung, um was es sich eigentlich handele. Er schielte auf dem linken Auge und hatte einen bösartigen Zug um den Mund. Nun wurde Herbert erregt und fragte, ob er hier unter eine Räuberbande geraten sei. Da lächelte der Hafenkommandant mit seinem bösen Munde und antwortete höflich: o nein, es herrschten im Fürstentum durchaus geregelte Zustände, und wenn der Herr noch etwas wolle, möchte er sich an die zuständige Behörde wenden, das sei zweifellos das Finanzministerium in Bukarest, von dem die Verfügungen ausgegangen seien.
Jetzt raste Herbert nach dem Bankhause Philippesco. Der Chef des Hauses war abermals ein Grieche, ein alter Mann mit weißem Bürstenkopf und schlauem rotem Gesicht. Der war schon zugänglicher und von ausgesuchter Höflichkeit. Er nötigte Herbert in sein Privatkontor, setzte ihm Zigaretten und ein Glas Zypern vor, ließ sich alles erzählen und entgegnete sodann, den Kopf tief zwischen die Schultern ziehend:
»Ich zweifle um so weniger an der Richtigkeit Ihrer Angaben, Herr Haug, als mir schon im Dezember von der Nationalbank das Aviso zuging, gegen die Bestätigung des Hafenkommandanten eine bestimmte Summe in Wechseln auf Bleichröder bereit zu halten. Diese Order ist aber Anfang Januar zurückgezogen worden, und wenn nunmehr der Kommandant behauptet, er wüßte von gar nichts, so ist das entweder möglich – insofern nämlich, als er die nötigen Anweisungen überhaupt noch nicht bekommen hat – oder aber, er tut nur so, als sei ihm die Sache unbekannt, und dann hat das wieder seine bestimmten Gründe. Und da möchte ich glauben, daß die Beschlagnahme des angeblichen Eisenbahnmaterials lediglich erfolgt ist, um der türkischen Regierung zuvorzukommen. Die hat nämlich wegen der letzten Grenzkämpfe die Einfuhr von Waffen ohne türkische Genehmigung untersagt, und da wir der Pforte tributär sind, so haben wir gewisse Rücksichten zu nehmen, obschon das Verbot an sich nach der Konvention nicht aufrechtzuhalten ist. Aber was ich da anführe, sind natürlich nur Vermutungen – vielleicht spricht auch anderes mit, was ich noch nicht übersehen kann. Lieber Herr Haug, Sie sind nicht in Preußen, sondern in Rumänien …« Bei diesen letzten Worten zog Herr Philippesco die Schultern noch höher und schloß: »Auf alle Fälle würde ich an Ihrer Stelle sofort nach Bukarest weiterfahren und den Ministerpräsidenten aufsuchen.«
»Und was wird inzwischen aus meinen Gewehren?« fragte Herbert.
»Sie führen ja nur Bahnmaterial mit sich,« erwiderte Herr Philippesco freundlich. »Ist Ihnen über die Beschlagnahme kein Dokument ausgestellt worden, nicht so eine Art Quittung?«
»Das wohl. Ein gestempelter Wisch. Was habe ich davon?«
»Es ist immerhin eine Bestätigung.«
»Dahingehend, daß man unberechtigterweise Hand auf mein Eigentum gelegt hat.«
Herr Philippesco blies den Zigarettenrauch durch die Nase. »Richtig,« sagte er. »Aber ich wiederhole: Sie dürfen nicht vergessen, daß es sich offiziell oder offiziös um Bahnmaterial handelt. Das erleichtert den Behörden den Eingriff. Es ist zurzeit eine große Hetze gegen Strousberg im Gange, die von seinen Hauptkonkurrenten geleitet wird, den Herren von Ofenheim und Meorogno. Man ist mit dem Bahnbau unzufrieden: es handelt sich auch noch um die wichtige Frage, ob die Zinsen vom Staate oder von den Konzessionären gezahlt werden sollen. Verstehen Sie?«
»Nein. Das geht mich alles auch gar nichts an. Ich habe lediglich den Auftrag, mich um meine Waffenlieferung zu kümmern, die aus Rücksicht auf Rumänien als Bahnmaterial deklariert und auf dem Umwege über Rußland hierhergeführt wurde. Nimmt man sie mir unter fadenscheinigen Vorwänden ohne Bezahlung ab, so ist das einfach ein Gaunerstreich, den ich mir nicht gefallen lasse.«
Der Bankier nickte. »Recht so,« antwortete er. »Aber Aufklärung werden Sie nur in Bukarest finden. Gehen Sie da zunächst auf Ihr Konsulat. Graf Keyserling ist eine energische Natur …«
Die Bahnlinie Galatz-Bukarest war noch nicht in Ordnung. Zerstörungen durch Hochwasser und Versandung hatten teilweise die Strecken unbefahrbar gemacht. Herbert mußte also bis Giurgewo die Donau benutzen. Da er für Rußland besonders günstige Legitimationen besaß, so wählte er ein kleines russisches Dampfboot, das nach Rustschuk fuhr, sonst keine Passagiere beförderte, dessen Kapitän ihn aber gegen guten Entgelt ohne weiteres mitnahm.
Die Reize dieser Donaufahrt wären für Herbert genußreicher gewesen, hätte er sich über die unvorhergesehene Störung seines Auftrags nicht so wütend geärgert. Jedenfalls beschloß er, unter keinen Umständen Rumänien zu verlassen, ehe man ihm nicht seine Waffen bezahlt hatte; ärgsten Falles wollte er sich, gestützt auf seine Empfehlungen an den Kabinettsrat Friedländer, direkt an den Fürsten wenden.
In Rustschuk hatte er Paßscherereien, die sich indessen durch reichlich gespendetes Handgeld ausgleichen ließen. Ein rumänischer Flußdampfer brachte ihn nach Senarda, ein Wagen von dort nach Giurgewo, wo er am nächsten Nachmittag nordwärts durch die Walachei weiter nach Bukarest fuhr, das er in drei Stunden erreichte. Hier stieg er in dem vor kurzem eröffneten Hotel Bristol ab, trug sich in das Fremdenbuch ein, hinterlegte seinen Paß vorschriftsmäßig zur Kontrolle beim Portier, nahm einen Imbiß zu sich und ging müde zu Bett.
Am nächsten Morgen, als er, schon fertig zum Ausgang gerüstet, auf seinem Zimmer beim Frühstück saß, ließ sich ein Herr melden, der sich als Polizeibeamter auswies und ihn ersuchte, ihn in das Paßbureau zu begleiten.
Natürlich witterte Herbert sofort eine neue Schwierigkeit, wehrte sich aber nicht und fuhr mit dem Beamten in einer Droschke nach dem Polizeiamt. Hier wurde er in das Zimmer eines noch jüngeren, sehr eleganten Herrn geführt, der ihn höflich begrüßte und dann nach seinem Namen fragte.
»Herbert Haug,« erwiderte er, »mein Paß besagt es. Er trägt das russische und türkische Visum und auch den Stempel des diplomatischen Agenten Rumäniens in Berlin. Ist irgend etwas nicht in Ordnung, wenn ich fragen darf? Ich habe noch Empfehlungsschreiben bei mir, an den Grafen Keyserling, an den Kabinettschef Friedländer, an den Minister Bratianu.«
»Herr Bratianu ist seit acht Tagen nicht mehr Minister,« entgegnete der Verhörende, wiederum sehr höflich. »Aber das tut nichts zur Sache. Die zuständigen Behörden sind getäuscht worden. Der Paß ist falsch. Sie sind der Leutnant Baron Herwey, bisher in Diensten der welfischen Legion, und nunmehr verdächtig, die bulgarischen Aspirationen an unsern Grenzen durch Waffenlieferungen zu unterstützen. Der Befehl sofortiger Ausweisung liegt für Sie vor. Haben Sie die Güte, sich fertigzuhalten, damit Sie den Nachmittagszug benutzen können. Zwei Gendarmen in Zivil werden Sie bis zur österreichischen Grenze begleiten. Ich habe die Ehre, Herr Baron.«
Der elegante Herr verneigte sich kurz, und der Herbert begleitende Polizist öffnete die Tür. Doch Herbert ging noch nicht. Er war fahl im Gesicht und ballte unwillkürlich die Hände.
»Erlauben Sie,« sagte er. »Ich bin in Diensten Ihrer Regierung in dieses verdammte Land gekommen und kann zum mindesten erwarten, an den Stellen empfangen und vernommen zu werden, die für meine Angelegenheit maßgebend sind – das sind der Finanz- und der Kriegsminister. Außerdem erhebe ich Beschwerde beim preußischen Generalkonsulat. Schließlich würde ich mir Audienz bei Seiner Hoheit dem Fürsten erbitten.«
»Ist es richtig, daß Sie der ehemalige hannöverische Leutnant Baron Herwey sind?« fragte der Sektionschef in seinem vortrefflichen Deutsch.
»Das leugne ich keinen Augenblick, aber –«
»Vergebung,« fiel der andere ein, »dann haben wir nicht weiter zu verhandeln. Ein falscher Paß berechtigt uns zu sofortiger Ausweisung.«
»Zum Donnerwetter,« rief Herbert und wurde nun wieder dunkelrot, »bin ich denn hier unter Banditen?! Wissen Sie nicht, daß ich lediglich im Interesse Ihrer Regierung unter dem gewählten Inkognito gereist bin? Daß ich vierzigtausend Gewehre in Galatz stehen habe?«
»Das weiß ich allerdings. Die Tatsache spricht aber nur zu Ihren Ungunsten, denn Sie hofften, die Waffen unter falscher Flagge nach Bulgarien schmuggeln zu können.«
Herbert wäre dem Mann am liebsten an die Kehle gesprungen. Er rang nach Atem und vermochte sich nur mühsam zu beherrschen.
»Darf ich Ihnen meine Ausweise an die Hafenkommandantur in Galatz, an das Bankhaus Philippesco und an das Finanzministerium vorlegen?« fragte er mit heiserer Stimme. »Darf ich nicht wenigstens bitten, diese Papiere prüfen zu wollen. Ich berufe mich auch auf die Aussage des österreichischen Geschäftsträgers, Baron Offenberg, der meine Angelegenheit kennt – und endgültig, zum heiligen Schockschwerenot, auf Ihre Regierung, für die ich ja hier bin!«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Nun erblich auch der Sektionschef ein wenig. Er erhob sich, streifte mit raschem Blick das wütende Gesicht Herberts und sagte:
»Ich rate Ihnen, vernünftig zu sein, sonst würde ich Sie bis zu Ihrer Abreise in Haft behalten müssen.«
Damit verließ er das Zimmer. Herbert griff nach dem Tintenfaß auf dem Schreibtisch und wollte es ihm nachwerfen. Aber er stellte es ruhig wieder auf seinen Platz. Es zuckte über seine Miene, er lachte.
»Hat keinen Zweck,« sagte er und wandte sich an den Polizisten. »Was nun, lieber Herr? Fahren wir nach dem Hotel zurück?«
»Wenn Sie die Güte haben wollen. Sie müssen mir nur erlauben, bei Ihnen zu bleiben, bis ich Sie nach dem Bahnhof bringe. Ich darf Sie nämlich nicht verlassen.«
»Wird mir eine Ehre sein. Gestatten Sie, daß ich Sie zu einem Frühstück einlade.«
»Nehme ich gern und dankend an.«
So fuhr man wieder nach dem Hotel, und Herbert bestellte das Frühstück. Er ließ es sich etwas kosten, auch der Champagner fehlte nicht. Als er seinen Gast in Stimmung glaubte, sagte er:
»Wollen Sie sich fünfhundert Lei verdienen, Herr Constantinescu?«
»Ich habe eine ähnliche Frage erwartet,« erwiderte der Polizist. »Selbstverständlich. Ich soll Sie entwischen lassen?«
»So ist es. Und zwar auf dem Wege zum Bahnhof. Wir halten einen Augenblick vor dem Hause des Preußischen Konsulats. Ich gehe hinein und komme nicht wieder.«
Herr Constantinescu sann nach. »Ich verstehe,« sagte er, »Asylrecht.«
»Ganz richtig. Ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, daß meine Ausweisung eine Ungerechtigkeit ist. Jedenfalls wünsche ich, daß meine Angelegenheit zunächst einmal untersucht wird. Ich habe eine Forderung an die rumänische Regierung und durchaus keine Lust, mich über das Ohr hauen zu lassen.«
Der Polizist erhob sich, öffnete die Tür und schaute auf den Korridor. Er nickte zufrieden. Draußen schritten zwei Männer auf und ab.
»Die beiden Gendarmen sind schon da,« sagte Herr Constantinescu. »Es ginge so. Ich werde den Leuten mitteilen, daß Sie auf dem Konsulat erst Ihren Paß visieren lassen müssen. Aber legen Sie gütigst noch zweihundert Lei zu. Für jeden der Kerle hundert. Sie haben einen gehörigen Rüffel zu erwarten und sollen ihr Schmerzensgeld kriegen.«
»Einverstanden …« Herbert zog seine Brieftasche und zählte die Banknoten auf den Tisch. Constantinescu strich sie ein.
»Noch eine Bitte,« sagte er. »Lassen Sie sich durch den Portier Ihr Billett bis zur Grenze besorgen. Es ist kein Unglück, wenn es verfällt, und ich habe dann einen Zeugen dafür, daß ich bis zum letzten Augenblick an Ihre Abreise glauben mußte.«
Es geschah. Herbert bestellte sein Billett und bezahlte seine Rechnung. Dann beschloß man, ein Stündchen zu schlafen. Er legte sich auf das Bett und Constantinescu auf das Sofa. Der Polizist begann bald kräftig zu schnarchen, aber Herbert fand keine Ruhe. Er war sich klar darüber, daß man die Absicht hatte, ihn auf die ungeheuerlichste Weise zu begaunern. An ein Mißverständnis glaubte er nicht mehr. Und nur Graf Keyserling konnte ihm helfen. Dem mußte er sich freilich schonungslos anvertrauen. Die Tatsache, daß er auf einen falschen Namen reiste, war nicht zu umgehen, aber sie berechtigte noch nicht zur Beschlagnahme der bestellten und gelieferten Waffen. Ungemütlich war die Sachlage auf alle Fälle. Herbert war kein Preuße, und wenn er den Schutz des preußischen Konsulats anrief, so konnte es nur auf Grund dessen geschehen, daß sein Vater mit dem Grafen Keyserling persönlich bekannt war. Den Empfehlungsbrief hatte er Gott sei Dank in der Tasche.
Herr Constantinescu regte sich auf dem Sofa. Er erhob sich und sah auf die Uhr. »Es wird Zeit,« sagte er. »Ich will die Gendarmen instruieren …« Er ging auf den Korridor und kehrte nach einigen Minuten wieder zurück … »Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Baron,« fuhr er fort, »lassen wir Ihre Koffer herunterschaffen. Es wird nicht auffallen, wenn die beiden Leute im letzten Moment zu Ihnen in den Wagen steigen. Es können ja Ihre Kuriere sein.«
Er lachte. Es war ein sehr gemütlicher und umgänglicher Polizist.
Vor dem Hotelportal verabschiedete er sich in Gegenwart des Portiers laut und lebhaft von Herbert. »War mir eine große Freude, Sie wiederzusehen,« sagte er und schüttelte ihm die Hand. Das Gepäck war aufgeladen. Herbert stieg ein, die beiden Gendarmen in Zivil nahmen auf dem Rücksitz Platz; der Wagen fuhr fort, und der Portier schaute ihm mit etwas verwundertem Gesicht nach.
Herbert versuchte auf deutsch und französisch ein paar Fragen an seine Begleiter zu richten. Aber sie verstanden ihn nicht; sie sprachen nur Rumänisch. Er kannte Bukarest nicht und wurde unruhig, als die Fahrt sich ausdehnte, und als er unerwartet das Bahnhofsgebäude vor sich auftauchen sah, schnellte er auf seinem Sitz in die Höhe. In demselben Augenblick faßten ihn die beiden Gendarmen an den Armen.
Nun sah er, daß er abermals betrogen worden war. Er war wirklich in ein Räuberland gekommen. Zähneknirschend fügte er sich. Aber auf dem Perron flog sein Blick suchend umher, als müsse er doch noch Gelegenheit zu rascher Flucht finden oder einen hilfreichen Bekannten oder irgend – irgend etwas, was ihm Rettung bringen konnte. Ein Gefühl bitterer Scham beschlich ihn, wenn er daran dachte, mit leeren Händen zu seinem Vater zurückkehren zu müssen, ein lächerlich Betrogener, ein armer Narr.
Die Gendarmen hatten inzwischen mit dem Bahnhofsvorsteher verhandelt. Man öffnete ein leeres Coupé erster Klasse.
»Steigen Sie ruhig ein, Baron Herwey,« hörte Herbert eine Französisch sprechende Stimme hinter sich. Ein großer schlanker Herr mit starkem schwarzem Vollbart lüftete seinen Zylinderhut. »Ich habe Ihre Angelegenheit verfolgen können – ich bin ein guter Bekannter Ihres Herrn Vaters. Das formale Recht liegt auf Seite der Polizei. Dagegen ist augenblicklich nichts zu machen. Aber ich habe bereits dafür gesorgt, daß die irrtümliche Beschlagnahme der Waffenladung aufgehoben wird. Das weitere geht nun seinen vorschriftsmäßigen Gang. In den nächsten Wochen wird auch die Bezahlung erfolgen. Sagen Sie bitte Ihrem Herrn Vater, daß ich für Ordnung der Sache sorgen würde, und machen Sie sich selbst keine Kopfschmerzen über das unliebsame Abenteuer.«
Die Coupétür wurde geschlossen, doch das Fenster blieb offen.
»Sie nehmen mir einen Stein vom Herzen, mein Herr,« entgegnete Herbert. »Welchen Namen darf ich meinem Vater als den meines liebenswürdigen Helfers nennen?«
»Baron Fatin-Lévêque,« antwortete der Schwarzbärtige und faßte wieder an seinen Hut. »Wir sind alte Freunde. Wollen Sie ihm meine schönsten Grüße bestellen.«
Der Zug setzte sich in Bewegung, und der Baron schwang seinen Zylinder. Herbert lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Die Gendarmen saßen in kerzengerader Haltung ihm gegenüber. Also doch eine Hoffnung, sagte sich Herbert und schloß wieder die Augen. Dann begann er zu grübeln. Wo und wann hatte er den Namen Fatin-Lévêque schon gehört? Es war ja kein gewöhnlicher Name, es war einer, der sich unwillkürlich dem Gedächtnis einprägte. Hatte nicht … ja gewiß; so war es: Annemarie hatte ihm von einem Baron Fatin-Lévêque erzählt – in dem Labrousseschen Hause in Asnières, dem Balkanneste –, und das brutale Werben dieses Mannes war schließlich der Anlaß gewesen, daß sie Hals über Kopf nach Berlin zurückgekehrt war. Natürlich – nun entsann sich Herbert genauer – sie hatte ihm sogar den Mann porträtgetreu geschildert: mit seinen auffallend schönen Augen und dem langen, schwarzen Vollbart … und jetzt lief er ihm selbst in den Weg und gab sich als alter Freund seines Vaters zu erkennen. Er mußte vor einiger Zeit auch einmal in Berlin gewesen sein – Annemarie hatte ihn getroffen – und was hatte sie ihm denn gelegentlich noch von ihm erzählt? War er nicht in die kuriose Duellgeschichte des Herrn von Bake mit seinem Verleger verwickelt gewesen? …
Herbert ließ bei geschlossenen Augen die Gedanken weiterspielen, bis die Müdigkeit ihn überwältigte. Er schlief ein, und einer der beiden Gendarmen legte fürsichtig die herabgeglittene Decke wieder über die Beine des Schlummernden.
Die Bahn hatte derzeit nur Anschluß an die Lemberg – Czernowitzer Linie, und die Fahrt war lang. An der Grenze stiegen die beiden Gendarmen aus und verabschiedeten sich von Herbert mit herzlichem Händedruck, als sei man eng befreundet. Herbert fuhr in die Tasche, um ihnen noch ein Trinkgeld zu geben, überlegte es sich aber und ließ es. Er war in diesem aufblühenden Staatswesen schon gehörig gerupft worden. –
In Berlin traf er in der sechsten Nachmittagsstunde ein und fuhr nach der Belle-Alliance-Straße, wo Pressel ihm sagte, die gnädigen Herrschaften seien im Schauspielhause.
»Es ist ja heute schon die fünfte Vorstellung von unserm Stück, Herr Haug,« fuhr er fort, und dabei strahlte sein Gesicht. »Der Herr Direktor hat hergeschickt, Herr Weerth möchte ja kommen, denn Seine Majestät der König hat sich angesagt und wird der Aufführung huldvollst beiwohnen, und Herr Weerth soll ihm vorgestellt werden. Der ist nun auf einmal ein großer Mann geworden, alle Blätter sprechen von ihm, manche nicht ganz so, wie es sich geziemt, aber das Königliche Gebäude ist immer ausverkauft, und das dramatische Werk dürfte ein Zugstück werden. In Kottbus hat man es auch schon angenommen, und ebenso im Kurtheater zu Ems, wie heute im Fremdenblatt steht.«
»Eine Droschke, Pressel,« rief Herbert. »Ich kann noch zurechtkommen, wenn der Kutscher zufährt! …« Pressel raste davon und holte den Wagen von der nächsten Straßenecke. »Acht Groschen extra,« rief Herbert dem Kutscher zu, »wenn ich um Sieben am Schauspielhause bin!« –
Es wurde ein Viertelstündchen später, und Herbert bekam auch nur noch ein Billett durch einen Unterhändler, aber die Vorstellung hatte eben begonnen, und sein Platz im ersten Rang war gut. Während des Akts sah er sich gar nicht um, es machte ihm Freude, das Spiel auf der Bühne zu verfolgen, und er hatte dabei das Gefühl, als sei er selbst der Verfasser und nicht nur ein beiläufiger Mitarbeiter. Erst nach Fallen des Vorhangs suchte er nach Hans und Annemarie und entdeckte sie im Parkett. Er erhob sich und winkte, und sie sahen ihn gleichfalls, erstaunt und erfreut, und winkten zurück. Annemarie legte die Hand auf das Herz und zwinkerte ihm einen Liebesgruß mit den Augen zu – und dann ertönte wieder die Klingel, und das Stück ging weiter.
Im zweiten Zwischenakt wurde Hans in die Hofloge gerufen, in der der alte König allein mit seinem Flügeladjutanten saß. Währenddessen begrüßte Herbert Annemarie, aber zu längeren Erörterungen war keine Zeit. Annemarie sagte, daß Erika sie nach Schluß der Vorstellung am Theater abholen wollte, und dann wollte man gemeinsam nach Hause zu einer Plauderstunde am Teetisch; der Staatsrat sei in Paris und die Baronin, die sich in dieser Trauerzeit schrecklich langweilte, bei einer Freundin, der Frau von Bobies. »Also auf nachher,« sagte Herbert und küßte Annemarie die Fingerspitzen, »ich habe euch viel zu erzählen.« »Ich dir auch,« antwortete Annemarie, »aber gottlob nur Gutes.« »Ich leider nicht,« entgegnete Herbert und seufzte.
Erika wartete in der Vorhalle des Theaters und war erfreut, den Bruder so unerwartet wiederzusehen. Auf der Heimfahrt sprach Hans fast nur von seiner Premiere, von der Darstellung und den Kritiken, lachte und schimpfte abwechselnd, drückte dazwischen dem Freunde die Hand und behauptete, sein letzter Akt habe das ganze Stück gerettet, und war von fröhlicher Aufgeregtheit.
Zu Hause hatte Pressel bereits das Abendbrot vorbereitet und den Teetisch gedeckt. Von einer Kündigung der Wohnung durch seinen Bruder, den ehemaligen Bäckermeister, war keine Rede mehr. Nur ein Verkauf des Grundstücks konnte die Dichterschule am Fuße des Kreuzbergs sprengen. Aber es hatte sich lange kein Kauflustiger sehen lassen. Der Bäckermeister ließ das Haus verfallen. Pressel wurde zum Maurer, Zimmermeister und Dachdecker, um die schwersten Schäden eigenhändig auszubessern, doch er tat es mit Heldenmut, denn er liebte das närrische Häuschen. Es war für ihn eine Art Heiligtum, es war die Wiege der Berühmtheit des Namens Weerth, und in kühnen Träumen dachte er daran, selbst das Grundstück zu erwerben, um hier einen Musenhof zu errichten, der vor dem Durchregnen geschützt war wie vor klappernden Fenstern und bröckelndem Wandputz.
Bei Tische berichtete Herbert von seiner rumänischen Unglücksfahrt. Er schilderte ausführlich seine Reiseabenteuer und fand dabei auch seinen Humor wieder. »Ich habe die Überzeugung nach Hause gebracht,« sagte er, »daß ich für derlei kaufmännische Expeditionen eine völlig ungeeignete Persönlichkeit bin. Alles ging gut bis zu dem Augenblick, da das Merkantile zum Ausgangspunkt der Betrachtung wurde. Da versagte mein Intellekt. Nachträglich ist mir eingefallen, daß ich den Hafenkommandanten in Galatz hätte bestechen sollen. Auch Philippesco wäre klingenden Versprechungen gegenüber vielleicht zugänglicher gewesen, und ich weiß nicht, ob der Chef der Paßkontrolle in Bukarest nicht beide Augen zugedrückt haben würde, wenn ich ihm ein Kuvert mit einigen hundert Lei überreicht hätte. Am meisten ärgert es mich aber, daß ich mich zu guter Letzt noch so töricht betrügen ließ. Also alles in allem: ich bin gründlich hereingefallen und weiß nicht, wie ich vor meinem Vater bestehen soll. Denn, ich kann mir nicht helfen, auch der Trost, den mir der Baron Fatin-Lévêque mit auf den Weg gegeben hat, scheint mir nur schwach zu sein. Das, was du, Annemarie, mir gelegentlich über den Menschen erzählt hast, spricht nicht grade für ihn. Die Möglichkeit einer Rettung aus allen diesen verdammten Verwicklungen sehe ich höchstens darin, daß er ein alter Bekannter meines Vaters ist, auch die Sachlage zu kennen schien und ihn nicht im Stiche lassen wird.«
Bei den letzten Worten Herberts war Erika aufmerksam geworden. »Fatin-Lévêque,« wiederholte sie den Namen. »Bert, das ist merkwürdig. Ich war kürzlich einmal des Abends oben bei Désirée, um ihr die Langeweile vertreiben zu helfen – sie läßt mich jetzt öfters zu sich bitten, sie hat Verlangen nach mir. Und da fand ich sie in melancholischer Stimmung; sie ist in letzter Zeit überhaupt anders geworden, weicher und nachgiebiger, und sehnt sich nach Aussprache. Und plötzlich begann sie mir von ihrer ersten kurzen unglücklichen Ehe zu erzählen –«
»Mit diesem Herrn von Lavergne,« warf Herbert ein.
»Ja – einem genial veranlagten Menschen, aber einer haltlosen Natur –, er verunglückte schließlich irgendwo, ich glaube an der bretonischen Küste. Sie sagte, daß er einem guten, alten Adelshause angehört habe, dem Geschlechte der Lavergne de Fatin-Lévêque – und dieser zweite Name fiel mir wieder ein, als du vorhin von deinem Erlebnis in Bukarest sprachst.«
»Vielleicht ist der Mann ein Verwandter des ersten Gatten Désirées, den ich übrigens immer nur Herrn von Lavergne nennen hörte. Aber unter den französischen Adelsfamilien gibt es ja viele mit Doppelnamen – ebenso wie in Deutschland.«
»Gewiß. Es berührte mich nur eigentümlich, daß der Herr ein guter Bekannter Papas sein will.«
»Warum nicht? Warum soll Papa nicht mit einem Namensverwandten dieses Herrn von Lavergne befreundet sein?«
»Weil Désirée mir sagte, mit ihrem ersten Gatten sei das Geschlecht Lavergne im Mannesstamm ausgestorben.«
Herbert schüttelte den Kopf. »Das kann nur ein Mißverständnis sein, Erika,« meinte er. »Oder mein Fatin-Lévêque gehört einem ganz andern Hause an. Aber wir können Désirée befragen.«
»Erlaubt,« sagte Annemarie. »Ich will mich nicht in eure Angelegenheiten mischen, möchte mir indessen doch einen Rat gestatten. Ich halte es für richtig, wenn Herbert sich in seinem Falle lediglich an seinen Vater hält – als seinen Auftraggeber. Ihr wißt ja nicht einmal, ob es ihm angenehm ist, wenn ihr auch eure Stiefmutter ins Vertrauen zieht. Mich leiten dabei unbestimmte Empfindungen. Nach deiner Schilderung, Herbert, ist dieser Baron Fatin-Lévêque derselbe, der fast täglicher Gast im Hause Labrousse in Asnières war, als ich bei den Leuten lebte. Er hat sich auch hier in Berlin aufgehalten; ich habe ihn getroffen, als wir im Sommer, du entsinnst dich wohl noch, einmal gemeinsam im Hofjäger waren –«
»Jawohl,« fiel Hans lebhaft ein, »er grüßte dich, und ich fragte noch nach der auffallenden Erscheinung.«
»Richtig, Hans. Und hier wohnte er mit Herrn von Bake im gleichen Hause. Das ist ein Zusammentreffen von Umständen, wie es in der Kleinheit der Welt tausendmal vorkommt. Ich bin auch nicht abergläubisch und sehe keine geheimen Schicksalsfäden im Walten der Gleichgültigkeit. Aber ich sagte schon, ich komme dennoch von unklaren Empfindungen nicht los, weil Herr von Fatin-Lévêque mir in höchst unangenehmer Erinnerung steht. Es gibt sicher unheilbringende Menschen – Leute, die einen Mißklang in das Leben tragen, wo man sie trifft. Herbert, du glaubst, daß Fatin um deine Mission gewußt hat –?«
»Ja natürlich,« rief Herbert, »denn er kannte die Einzelheiten – wollte die Geschichte auch wieder in Ordnung bringen.«
»Hat dir dein Vater von ihm gesprochen?«
»Nein. Das wäre mir aufgefallen, da ich den Namen aus deinen Pariser Erzählungen kannte.«
Annemarie stützte den Kopf in die Hand. »Weißt du, was auch wieder seltsam ist? Daß man in Bukarest deinen wahren Namen wußte. Wer hat dich da verraten? Und geschah der Verrat nur, um deine Ware mit Beschlag zu belegen?«
»Schlage mich tot – Annemarie – ich ahne es nicht. In Galatz sprach man nur von meinem Eisenbahnmaterial und in Bukarest von meinen Waffen. Nun ist es richtig, daß die rumänische Regierung mit dem Bahnbau Strousbergs unzufrieden ist. Ich habe darüber unterwegs einen langen Artikel in der Neuen Freien Presse gelesen. Aber bei mir handelte es sich ja gar nicht um Strousbergs Angelegenheiten, die nur vorgeschoben worden waren, um nicht die Aufmerksamkeit Österreichs und der Türkei auf die Waffenlieferung zu lenken! Es bleibt mir gar nichts andres übrig, als die Rückkunft Vaters abzuwarten, der natürlich sofort ganz energisch eingreifen wird. Ich selbst habe ja keine blasse Ahnung, an wen ich mich wenden soll! Ich bin in diesen Dingen harmlos wie ein kleines Kind! Es ist zum Verzweifeln.«
»Um Gottes willen – nur nicht verzweifeln,« rief Hans. »Ich bin im Grunde genommen sehr froh, daß man dich aus Rumänien herausgegrault hat, ehe du in die Lage kamst, dich da um ein Offizierspatent zu bewerben. Denn nun wirst du hoffentlich einsehen, daß es verdammter Unsinn gewesen wäre, dich für diese oberfaule Gesellschaft totschlagen zu lassen. Du hast deinen Sabul längst an den Nagel gehängt – jetzt bleibe gefälligst am Schreibtisch. Wir haben schon einmal zusammen gesiegt, und wenn wir künftighin auch einzeln marschieren wollen, wir können noch immer vereint schlagen. Aber ich habe auch nichts gegen eine neue gemeinsame Arbeit, bin sogar sehr dafür, wenn sie uns liegt. Vorläufig heirate erst mal –«
»Aber, Hans,« rief Annemarie.
»Laß mich aussprechen. Er muß Bescheid wissen. Herbert, es ist jetzt so weit. Professor Pernice hat mir im Auftrage des Kurfürsten fünfzigtausend Taler Entschädigung für die Verauslagungen meines Vaters im Jahre Sechsundsechzig anbieten lassen. Ich habe achtzigtausend beansprucht, bin aber zu einer Einigung bereit. Mithin bin ich ein wohlhabender Mann und kann meiner Schwester eine gutbürgerliche Ausstattung nebst einer kleinen Mitgift zukommen lassen. Für den Anfang ist also genügend da, selbst wenn dein Vater Schwierigkeiten machen sollte. Mobiliar ist reichlich vorhanden, und auch recht brauchbares – es würde sich höchstens noch um die nötige Wäsche handeln, Leibwäsche, Bettwäsche, Tischtücher, Servietten, Handtücher.«
»Halt, Hans,« rief Annemarie abermals, und über das errötende Gesicht huschte ein glückliches Lächeln. »Verlier' dich nicht in Einzelheiten. Aber da du doch einmal dein Herz geöffnet hast, will ich auch nicht schweigen. Herbert, was sagst du zu dem Glücksfall?«
Er saß neben ihr und hatte es bequem, sie zu küssen. »Ich gratuliere,« antwortete er, »und natürlich juble ich gleichfalls. Ich würde sogar dem Kurfürsten ein Hosianna singen, aber er verdient es nicht, weil er doch wieder ein bißchen gemogelt hat. Nun ist die Sache bloß noch die, daß ich mir meinen Vater zu ernsthafter Rücksprache vornehmen muß; und das hat im Augenblick insofern seinen Haken, als ich seinen rumänischen Auftrag mit ausgesuchter Dämlichkeit ausgeführt habe. Es handelt sich immerhin um ein Objekt von Hunderttausenden, und wenn ich auch davon überzeugt bin, daß Vater die Karre wieder auf den rechten Weg schieben wird, so bleibe ich unter allen Umständen doch der Blamierte.«
»Das eine hat nichts mit dem andern zu tun,« warf Erika ein. »Auch ein gründlich Blamierter hat die Berechtigung verliebt zu sein. Im übrigen helfe ich dir bei unserm Vater. Wir werden gemeinsam die Festung stürmen. Wir wollen eine phalangische Einheit bilden.«
»So ist es,« rief Herbert. »Ausgezeichnet! Gemeinsam. Du machst deine Geschichte auch gleich mit ab.«
»Welche Geschichte?« fragte Erika, leisen Ahnens voll.
»Ach so,« sagte Herbert, »da habe ich mich verschnappt.«
Er schwieg und sah Erika an, über deren Gesicht langsam ein Glühen zog, und schaute dann auf Hans, der die Augen niederschlug und mit wachsender Verlegenheit kämpfte, und endlich auf Annemarie, die leise in ihre Serviette kicherte.
»Das ist zu albern,« fuhr er fort, »das geht so nicht weiter. Ihr sitzt euch wie ein paar Pagoden gegenüber.«
»Stumm brütend,« fügte Annemarie hinzu, »aber Hochgesang im Herzen.«
Und Herbert sagte wieder: »Vielleicht habt ihr die Güte, euch einmal in die schönen Augen zu sehen.«
Das taten denn auch die beiden, und damit war alles erledigt. Als sie sich in den Armen lagen, traten Herbert und Annemarie als die älteren Glückskinder hinter sie und gaben ihnen ihren Segen.
»Es fehlt nur noch die bengalische Beleuchtung,« rief Herbert, »sonst ist die Gruppe von klassischer Schönheit. Und auch die Phalanx ist da, der kein Vater widerstehen kann. Jetzt handelt es sich bloß noch darum, den rechten Zeitpunkt zum Sturm zu finden, und da möchte ich vorschlagen, daß Erika, da sie ja das Terrain beherrscht, die Aufklärung übernimmt.«
Die Pärchen saßen sich nunmehr gegenüber und hielten sich umschlungen.
»Gut,« sagte Erika, »das will ich tun. Das erste ist, den Vater auf den Mißerfolg der rumänischen Reise vorzubereiten. Die Wirkung muß abgewartet werden. Geldfragen spielen da eine Rolle. Ich glaube, daß sie auch die einzigen Bedenken sein werden, die er gegen unsre Heirat hat. Aber wiegen sie denn so schwer? Ich bin im glücklichen Besitz von zwanzigtausend Talern. Wenn ich das Kapital hinzurechne, das Hans im Kopfe hat, dünkt mich das ein unermeßliches Vermögen.«
»So rechne auch ich,« meinte Annemarie und nickte.
»Also sind wir uns wieder einmal einig,« sagte Hans. »Ich sehe rosenrot in die Zukunft. Warum sollen wir nicht zusammenbleiben? Vielleicht können wir uns hier in der Umgebung eine Villa, ein kleines Landhaus mieten – in freundlicher Lage, mit einem Gärtchen, in dem Flieder und Rosen blühen und jenseits der Poesie sogar die Prosa zu Wort kommt in Gestalt von Salat, Radieschen und Würzkräutern. Wir werden Rittergutsbesitzer in Miniaturformat, es muß auch eine Laube dabei sein aus Jasmin oder Jelängerjelieber, etwas Altmodisches, und ich hoffe, eine Nachtigall wird nicht auf sich warten lassen, und den Fink hör' ich schon schlagen.«
»Ich werde mich in meinen Mußestunden auf die Erdbeerzucht legen,« erklärte Herbert. »Des Aromas wegen und um der Bowlen halber. Die Bowle wird natürlich in der Laube getrunken, und zwar möglichst bei Mondenlicht, das den Wein goldblond durchleuchten muß. Das denke ich mir sehr fein.«
»Das Haus brauchte nicht groß zu sein,« sagte Erika sinnend, »es genügt, wenn jeder von uns sein Stübchen hat, und im Eßzimmer tafeln wir gemeinsam. Leere Flächen bemale ich ohne Entgelt.«
»Was bleibt da mir?« fragte Annemarie heiter. »Ich werde unentwegt die Ideale hochhalten, das ist eine Beschäftigung, die nicht anstrengt und doch notwendig ist.«
»Im Ernst,« sprach Herbert, »der Gedanke dieses zweiteiligen Dichterheims geht mir im Kopfe herum. Wenn wir uns ein Häuschen nach unserm persönlichen Geschmack bauen lassen können, es wäre schon das hübscheste. Ich werde euch den Grundriß aufzeichnen.«
Er nahm ein Stück Papier und entwarf seinen Plan, und die verliebten Idealisten rückten enger aneinander und träumten sich in die Zukunft hinein.
Aber als der Morgen kam, waren alle schönen Träume zerronnen. Da erschien ein Kriminalbeamter in Begleitung von zwei Schutzleuten und verhaftete Herbert auf Anordnung des Geheimrats Stieber von der Politischen Polizei. Man brachte ihn in einer Droschke nach der Hausvogtei.