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Herbert hatte sich die Adresse des Fräuleins Annemarie Weerth notiert und war fest entschlossen, das hübsche Mädchen aufzusuchen. Er dachte sich nichts Verfängliches dabei. Sie hatte ihm auf der langen Fahrt von Paris nach Berlin gut gefallen, hatte anmutig geplaudert, und ganz harmlos Ja gesagt, als er gefragt hatte, ob er sie besuchen dürfe. Sie wohnte mit ihrem Bruder zusammen und hatte hinzugefügt, es sei schon möglich, daß bei ihnen noch ein Zimmer freistände, falls er längere Zeit in Berlin bleiben wolle; denn überflüssige Räumlichkeiten pflege man zu vermieten – gespart müsse werden.
Nun hatte Herbert sich zu Fuß auf den Weg gemacht, um sich gleichzeitig Berlin ein wenig anzuschauen. Aber die sogenannte Kommunikation, die jetzt Königgrätzer Straße hieß, bot keinen erfreulichen Anblick. Die letzten Reste der alten Stadtmauer wurden fortgeräumt und füllten mit ihrem Kalkstaub die Luft; dazu wurde gepflastert, ganze Teile der Straße waren aufgerissen, überall dröhnte es von Hacke und Stampfer.
Zwischen die schmutziggelben alten Einfassungswände des Halleschen Tores hindurch warf Herbert einen flüchtigen Blick auf die schlanke Friedenssäule des Belle-Alliance-Platzes. Die Brücke über dem Landwehrkanal war aufgezogen, er mußte einige Minuten warten, ehe die Schiffe sie passiert hatten, und schritt dann weiter über den freien Platz, auf dem ihm jenes erste mächtige Mietshaus auffiel, das die noch nicht verwöhnten Berliner in der Überraschung des Anblicks Neu-Amerika getauft hatten, um hierauf in die nach dem Tempelhofer Felde führende Belle-Alliance-Straße einzubiegen. Hinter dem Wolffschen Etablissement wurden die Gebäude kleiner und schmuckloser, nach dem Kreuzberg zu schoben auch Gärten sich in die Straßenflucht, und vor einem dieser Gartenhäuschen blieb Herbert stehen und suchte nach der Nummer.
»Es ist richtig,« sagte er sich, »hier muß es sein.«
Das Gärtchen war nur ein Rasenfleck mit zwei hochstämmigen Rosen. An einer der Rosen stand ein alter großer Mann und verschnitt sie. Er hatte ein bartloses weißes Gesicht mit lustigen dunkeln Augen und trug eine blaue Schürze.
»Entschuldigen Sie,« sagte Herbert und lüftete den Hut, »wohnen hier Herr und Fräulein Weerth?«
Der Mann ließ die Schere sinken und schaute auf.
»Wollen Sie mieten?« fragte er zurück.
»Das auch, wenn etwas frei ist. Außerdem möchte ich den Herrschaften meinen Besuch machen.«
Er zog eine Visitenkarte. Sie war schon in Paris auf den Namen Herbert Haug gedruckt worden.
Der Mann warf einen Blick auf die Karte und verbeugte sich zur Verwunderung Herberts in merkwürdig theatralischer Weise, den dicken Kopf rechtsseitlich vorgeschoben, die linke Hand auf der Brust, mit einer Wölbung des einen Knies und ruckartiger Krümmung des Rückens, denn er schnellte sich sofort wieder gerade.
»Pressel,« stellte er sich vor. »Ich bin der Intendant des Hauses. Wir haben in der Tat noch etwas frei. Salon und Schlafzimmer. Elegant eingerichtet, Zopfgeschmack. Der letzte Mieter ist uns durchgegangen. Daher Pränumerando-Zahlung Bedingung.«
»Ist mir durchaus recht, Herr Besser,« erwiderte Herbert.
»Pressel, wenn ich bitten darf. Fünfzehn Taler monatlich, zwanzig mit erstem Frühstück. Wenn Sie an der Gesamtmenage teilnehmen wollen, würde sich auch das einrichten lassen.«
»Ich wiederhole, daß ich zunächst den Herrschaften meine Aufwartung machen möchte. Ich habe die Ehre, Fräulein Weerth zu kennen. Ich bin kürzlich mit ihr von Paris hierhergefahren.«
»Ah!« sagte Herr Pressel, »ah so! Gnädiges Fräulein sind leider nicht zu Hause, aber der gnädige Herr sind da. Ich werde Sie anmelden. Bitte zu folgen.«
Er schritt voran. Das kleine, äußerlich ziemlich verfallene Haus war höchst närrisch in altrömischem Villenstil erbaut. Man trat zunächst in eine Art Atrium, das zum Erstaunen Herberts mit Büsten und Hermen und wertvollen Möbeln im Empirestil gefüllt war. Das sprach nicht für die Armut der Besitzer.
Der sogenannte Intendant war verschwunden, kehrte aber nach wenigen Minuten in Begleitung eines blassen, haarbuschigen Herren zurück, der Herbert lebhaft begrüßte.
»Herr Haug,« rief er und schüttelte ihm die Hand, »freue mich von Herzen. Meine Schwester hat mir schon von Ihnen erzählt. Sie haben sich ihrer auf der Reise in so gütiger Weise angenommen, daß ich Ihnen nicht dankbar genug sein kann. Aber, bitte, treten Sie näher.«
Er nötigte Herbert durch eine Art Salon, dem man an dem verdeckten Mobiliar anmerkte, daß er wenig benutzt wurde, in sein Arbeitszimmer. Auch hier war die Ausstattung von gediegener Wohlhabenheit und entsprach dem guten Geschmack eines Mannes, der seine Umgebung mit dem eigenen Empfinden in Einklang zu bringen sucht. Dazu paßte freilich nicht ein Stapel gelbfarbiger Druckhefte, der neben verstreuten Bogen dicht und anscheinend hastig beschriebenen Papiers auf dem Schreibtische lag. Ein zufällig diese Hefte streifender Blick Herberts zeigte ihm, daß es die Lieferungen eines Kolportageromans waren, der den blödsinnigen Titel trug: »Fürstensohn und Bettelprinzessin oder Amerikas Kinder der Hölle und die finsteren Geister Europas.«
»Wie hübsch haben Sie es hier,« sagte er zuvorkommend und nahm auf dem Sessel Platz, den Weerth ihm zuschob.
»Wenigstens der Einrichtung nach,« entgegnete der junge Mann unter flüchtigem Erröten. »Es sind noch die Möbel meines verewigten Vaters. Manches könnte ich ja verkaufen – aber ich trenne mich so schwer von diesen letzten Angedenken. Annemarie wird Ihnen wohl erzählt haben, daß wir nicht auf Rosen gebettet sind.«
»Das gnädige Fräulein hat mir allerdings Andeutungen gemacht,« begann Herbert etwas zurückhaltend, doch Weerth fiel ihm ins Wort:
»O – ich mache gar kein Hehl aus der Unerquicklichkeit meiner augenblicklichen Lage, verehrter Herr Haug. Mein Vater war der letzte Minister des Kurfürsten von Hessen, hat ihm auch nach der Annexion noch getreulich zur Seite gestanden, bis er vor Jahresfrist zusammenbrach. Es war wirklich ein Zusammenbruch, ein plötzliches Versagen aller Kräfte, eine rasche Auflösung. Böse Zungen behaupten, er habe Selbstmord begangen, weil seine brouillierten Verhältnisse nicht mehr zu verschleiern gewesen seien. Das ist eine gemeine Lüge – Tatsache aber, daß er sich für seinen Fürsten geopfert hat. Der gute Alte war immer von einem unglaublichen Idealismus – und das ist's, was ich in der Hauptsache von ihm geerbt habe – aber sonst nicht viel mehr.«
Er lächelte und strich das braune Haar aus der Stirn. Er war ein hübscher Mensch mit feinen Zügen und dunkeln belebten Augen. Nur war das Gesicht zu ausgesprochen in ein Empfinden weicher Nachgiebigkeit getaucht, das alle Dinge in sanfter Abwehr zurückzudrängen schien. Er war seinem Äußeren nach sozusagen der »junge Poet« der Übergangszeit, die auf eine umlockte Stirn, Schwärmeraugen und flatterndes Halstuch Wert legte.
»Sie sind Schriftsteller?« fragte Herbert und deutete auf die Papiermassen des Schreibtisches.
»Ich möchte es sein – oder ich wollte es werden. Doch ich muß mich zu Kompromissen bequemen. Ich war im kurhessischen Justizdienst beschäftigt, als die Katastrophe von Sechsundsechzig kam, aber eigentlich war ich nur Sekretär meines Vaters. Er brauchte mich. Er hatte kein Vertrauen zu Fremden. Nach seinem Tode und dem Konkurs über sein Vermögen und allen den Ekelhaftigkeiten, die folgten, versuchte ich im preußischen Staatsdienst Verwendung zu finden, hatte auch gute Empfehlungen – aber man machte mir trotzdem allerlei Schwierigkeiten, verlangte noch neue Examina – kurzum, es war so, daß ich mich dankend zurückzog. Und da raffte ich denn meine kleine Hinterlassenschaft zusammen, setzte mich auf die Hosen und versuchte es mit der Schriftstellerei.«
»Und es ging?«
»Ach nein, es ging gar nicht. Ich bildete mir ein, poetische Veranlagung zu haben – vielleicht hab' ich sie auch wirklich. Aber die Praxis hat Dornen. Jeder Anfänger ist ein Dornenzieher. Ich begann mit zwei Erzählungen – die wandern nun von einer Redaktion zur andern. Der einen waren sie zu originell im Stil, der andern schien die Stoffwahl zu gewagt, eine dritte klagte darüber, daß der Abschluß nicht versöhnlich genug sei. Ja, du lieber Gott, in der Natur des Daseins gibt es doch auch schrille Dissonanzen und Verneinungen zur Genüge – nicht wahr?«
»Das weiß Gott,« entgegnete Herbert und nickte zustimmend.
»Nun machte ich mich an ein Drama,« fuhr Hans Weerth fort, sichtlich froh, einem Mitfühlenden sein Herz ausschütten zu können. »An ein modernes Drama. Aus unsrer Zeit. Ein Ehekonflikt – ich glaube, ganz kraftvoll gestaltet. Das habe ich dem Schauspielhause eingereicht. Ich habe bei Herrn von Hülsen meine Karte abgegeben, auch dem Direktor Hein meinen Besuch gemacht. Der versprach mir, das Stück sofort zu lesen. Ja Kuchen. Heute ist ein Vierteljahr darüber verflossen, und die Leute lassen nichts von sich hören. Zu mahnen wage ich gar nicht, sonst kriege ich vielleicht mein Drama ungelesen zurück.«
»Ein Martyrium,« sagte Herbert. »Aber ich glaube, es ist überall dasselbe. In Paris erzählte man mir, daß die jungen Schriftsteller mit ihren Erstlingen zu irgendeiner Berühmtheit gingen, zu Dumas oder Sardou oder Augier oder wem weiß ich, um sich mit ihnen zu assoziieren und unter dem Schutzmantel ihrer Autorität die eigenen Werke an den Mann zu bringen.«
Weerth lächelte. »Das ist ein praktischer Weg für den Anfänger, nur muß man erst mit einer hilfreichen Berühmtheit bekannt werden. Der einzige Bruder in Apoll, den ich hier kenne, ist ein etwas sonderbarer Heiliger, dem ich in gewisser Weise aber doch auch dankbar sein muß. Das ist ein ehemaliger hessischer Offizier, ein Herr von Bake, der sein entschiedenes Erzählertalent in den Dienst einer zweifelhaften Sache gestellt hat. Er schreibt nämlich für den Verlag von Werner Großmann sogenannte Volksromane, die in Groschenheften erscheinen und von den Kolporteuren auf den Hintertreppen der Häuser in die Küchen getragen werden –«
»So wie diese ›Kinder der Hölle‹,« warf Herbert ein und wies auf die gelben Hefte, die auf dem Schreibtisch lagen.
»Ja, so wie diese fürchterliche Geschichte – und er verdient viel Geld dabei. Man glaubt nicht, was der Jux abwirft – der Verleger soll ein schwerreicher Mann geworden sein, gibt jetzt auch ein billiges Volksblatt heraus, das literarisch natürlich auf dem Niveau seiner Romane steht, und hat dafür um des Glanzes willen die noch immer vielverschlungene Mühlbach eingefangen. Es ist schauderhaft. Und diese Schauderhaftigkeit mache ich augenblicklich mit – aber es wird nur eine Episode sein.«
Herbert interessierte das. »Sie schreiben auch einen Volksroman?« fragte er neugierig.
»Ich setze nur einen fort,« erwiderte Weerth. »Herr von Bake ist krank geworden, ist aber vertraglich verpflichtet, monatlich eine bestimmte Anzahl Bogen abzuliefern, und wenn er das nicht tut, so ist der Kontrakt null und nichtig, und er hat außerdem ein Pönale zu zahlen. Da hat er mich nun gebeten, für ihn einzutreten, und so sehen Sie mich denn an der Arbeit, mit ebenso roher Gewissenlosigkeit wie erfinderischer Phantasie die tausend Fäden weiterzuspinnen, die er in neunundvierzig Kapiteln angeknüpft hat.«
»Ein Kunststück, das ich nicht fertig bekommen würde,« meinte Herbert.
»Es ist nicht so schwierig, wie es scheint, Herr Haug. Das Lähmendste war die Lektüre der schon fertigen Hefte. Das erforderte wirklich eine ungewöhnliche psychische Kraft. Jedes Kapitel spielt wo anders, und immer treten neue Personen auf. Und immer muß das Kapitel mit einem Donnerschlag enden, mit etwas Ungewöhnlichem, mit einer sensationellen Zuspitzung. Überhaupt, die Sensation ist das Sieghafte. Zum Beispiel: ein Graf hat ein Verbrechen begangen. Nur ein ehemaliger Freund von ihm weiß um die Geschichte, der ist aber in Australien. In dem Augenblick nun, da der schurkische Graf in dem frohen Bewußtsein, daß der andre so weit weg ist, eine Flasche Champagner trinken will, geht die Tür auf, und der Mann aus Australien tritt ein. Ha, ruft der Graf und erbleicht, bist du ein Geist der Vergangenheit oder ein Wesen aus Fleisch und Blut? – Ich bin ich, antwortet der Australier, und seine dunkeln Augen glühen, ich bin die unerbittliche Nemesis! – Damit schließt das Kapitel, und dem Leser steht es frei, darüber zu grübeln, was sich nun fünfzig Seiten später für neue Entsetzlichkeiten ereignen werden. Denn dazwischen schieben sich andre aufregende Geschehnisse, die auch nicht von Pappe sind.«
Herbert schüttelte den Kopf. »Aber wie machen Sie es um Gottes willen,« fragte er, »daß Sie die Gestalten und die Tatsächlichkeiten nicht wirr durcheinanderbringen? Sie können das ganze Getriebe doch unmöglich im Hirn behalten?«
»Das ist natürlich unmöglich. Ich habe mir eine Liste angelegt – da sehen Sie …,« und er zeigte Herbert einen mit Schriftzügen, wirr durcheinanderlaufenden Linien und blauen und roten Strichen bedeckten Bogen … »Das sind die Figuren und ihre Taten, und die schwarzen Linien, die wie Isothermen aussehen, sind sozusagen die Verbindungen zwischen Mensch und Handlung, und die rot durchstrichenen Namen bedeuten, daß ihre Träger zu leben aufgehört haben, während die blauen mir die Notwendigkeit vor Augen führen, daß diese Geschöpfe noch um die Ecke gebracht werden müssen! Denn natürlich hat der Verfasser auch seine ethischen Ideale: am allerletzten Schlusse muß nach einer ungeheuerlichen Häufung von Hindernissen der verwegensten Art die reine Tugend siegen und das Laster restlos in die Hölle gewandelt sein. Von dieser Sorte leben ja gottlob nicht mehr viel, aber da die wilde Geschichte sich ihrem Ende nähert, so bin ich doch einigermaßen in Verlegenheit, auf welche Weise ich die letzten meiner finstern Gesellen verschwinden lassen soll. Eine Epidemie ist ausgeschlossen, das wünscht der Verleger nicht, und die Erfindung neuer Todesarten wird mir schwer.«
Herbert konnte nicht anders: er mußte herzlich lachen.
»Entschuldigen Sie,« sagte er, »aber die Sache hat doch auch ihre komischen Seiten. Hoffentlich kommen Sie bei dem Rennen Ihrer Phantasie wenigstens auf die Kosten.«
»So leidlich, Herr Haug. Bake gibt mir hundert Taler monatlich – er selbst verdient übrigens das Doppelte. Annemarie war natürlich empört und entrüstet, als sie von meinem Abstecher in die groschenweise verausgabte Volksliteratur hörte. Übrigens kann sie jeden Augenblick hier sein. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen erzählt hat, daß sie nach dem Tode unsres Vaters eine Stelle als Erzieherin in einer Pariser Familie angenommen hatte. Sie wollte ihr Französisch verbessern, wollte sich auch auf eigene Füße stellen – sie ist ein tapfres Mädelchen.«
»Den Eindruck habe ich von ihr gewonnen. Ja, sie hat mir ganz offenherzig von all dem gesprochen. Aber in Asnières gefiel es ihr nicht – sie hatte wohl auch Sehnsucht nach Ihnen.«
Weerth nickte mit glücklichem Gesicht. »Das war die Hauptsache,« sagte er, »wir lieben uns sehr. Ich habe nun eine andre Stellung für sie gefunden, eine, die ihr auch Freude bereitet. Und zwar in einer großen Antiquariatsbuchhandlung – bei Ripplau in der Dorotheenstraße. Sie hat die Buchführung gelernt, aber das ist nicht das Maßgebende. Das Leben inmitten der Literatur sozusagen, das macht ihr Spaß. Vorläufig – bis zum Ersten – ist sie immer nur ein paar Stunden in dem Geschäft, um sich erst so ein bißchen einzuarbeiten. Und ich sage Ihnen, sie ist ganz glücklich. Sie hat da auch zu katalogisieren und frischt dabei ihre Kenntnisse auf und behauptet, sie lerne ungeheuer viel in diesem Umgang mit den alten Scharteken …«
Seine Hand strich wieder das Haar zurück, eine weiße, zarte, empfindsame Hand …
»Aber ich rede immer nur von uns«, fuhr er fort, »und lasse Sie überhaupt kaum zu Wort kommen, verehrter Herr Haug. Sie wollen vorläufig in Berlin bleiben?«
»Jedenfalls werde ich mich einige, vielleicht längere Zeit hier aufhalten müssen. Ihr Intendant sagte mir, Sie hätten noch ein Zimmer frei …«
»Mein Intendant,« fiel Weerth mit dem Lächeln eines Kindes ein, das sich an einem harmlosen Scherz ergötzt, »ja, diese stolze Überheblichkeit müssen Sie schon unserm Bombastus Paracelsus verzeihen …« Und sofort gab er auch, seiner Neigung zum Aussprechen folgend, eine rasche Charakteristik des alten Dieners … »Das ist ein Sonderling. Er war Koch bei Papa, aber, wie er selbst behauptet, ein Koch mit geistigem Vermögen. Die Kelle war für ihn immer nur notwendige Begleiterscheinung – er kocht mit dem Hirn. Wissen Sie, die alten Diplomaten liebten die Freuden der Tafel. Wenn mein Vater eine wichtige Besprechung hatte, lud er gewöhnlich zum Frühstück ein. Und dann kam es auf Pressel an, ob die Konferenz zum Ziele führte oder nicht – auf seine Herdkunst.«
»Verstehe,« sagte Herbert, »das ist der aufsteigende Zug in der schnöden Materie.«
»Ja – aber es war einmal. Er stand siebenunddreißig Jahre in elterlichen Diensten, und da wollte er uns nicht verlassen, als alles zusammenbrach. Nun ist er Koch, Gärtner, Diener, Mamsell, Zofe, Geheimsekretär, Hausdiener, Laufbursche – alles zusammen – Intendant nennt er sich, manchmal auch Generalintendant, wegen des Umfassenden seiner Tätigkeit. Dies Haus gehört seinem Bruder, einem reichen Bäckermeister, der es einer Hypothek halber übernehmen mußte. Das Grundstück soll verkauft werden, aber solange es nicht den Besitzer wechselt, dürfen wir es für eine Bagatelle an Miete bewohnen. Und wenn nun ein mutmaßlicher Käufer kommt, gibt sich Pressel die größte Mühe, das Kaufobjekt nach Möglichkeit schlecht zu machen. Er besitzt eine Virtuosität darin – es ist eigentlich niederträchtig, aber er meint, sein Bruder sei so mit Glücksgütern gesegnet, daß es ihm nicht schade. Der Mann verkehrt natürlich nicht mit ihm oder doch nur schriftlich – er ist Stadtverordneter und besitzt den Kronenorden vierter Klasse. Da hör' ich Annemarie kommen!«
Ein Trillern schlug aus dem Vorraum. Dann brach der Triller ab, und es wurde wieder still.
Weerth stand auf und öffnete die Tür.
»Komm, Annemarie,« rief er, »Herr Haug ist da, dein liebenswürdiger Reisegefährte!«
Annemarie trat ein, auf dem frischen Gesicht ein liebenswürdiges Lächeln, im blonden Haar noch den Sonnenglast des Tages, strahlend im Glanz ihrer Jugend. Sie nickte Herbert freundlich zu und reichte ihm die Hand.
»Grüß Gott, Herr Haug,« sagte sie. »Das ist hübsch, daß Sie Wort halten. Steht es nun fest, daß Sie vorläufig in Berlin bleiben?«
»Jedenfalls einige Wochen, es können aber auch Monate werden, gnädiges Fräulein.«
»Sie sind Kaufmann?« warf der Dichter fragend ein.
»Ja, Herr Weerth,« antwortete Herbert mit leichtem Zögern. »Möchte mir aber eine neue Stellung suchen, die meinen Neigungen mehr zusagt als die bisherige. Ich bin nicht ganz ohne Vermögen und kann mich in Ruhe umsehen.«
»Und wollen Sie zu uns ziehen?« fragte Annemarie. »Die Zimmer werden Ihnen gefallen. Sie sind nicht groß, es ist etwas puppenhaft bei uns, aber sie sind behaglich eingerichtet.«
»Darf ich sie sehen?«
»Ja natürlich. Pressel wird sie Ihnen zeigen. Das ist Sache unsres Hausministers, und er hat nicht gern, wenn man in seine Rechte eingreift.«
»Ich habe den Herrn Generalintendanten bereits kennengelernt«, entgegnete Herbert, »und werde mich ihm gegenüber bemühen, auch meinerseits die Würde zu wahren.«
Nun rief Annemarie das Faktotum. Pressel erschien, diesmal ohne Schürze und in einer Art Livree: einer blauweißgestreiften Jacke mit blanken Knöpfen. Er trug den Ernst der Erwartung auf seinem Gesicht. Er hatte immer etwas Gewichtiges.
Während er Herbert die Zimmer zeigte, blieben die Geschwister zurück. Annemarie setzte sich in den Arbeitsstuhl ihres Bruders.
»Bist du noch nicht fertig mit der Korruption der Literatur?« fragte sie.
»Noch nicht ganz, Schwesterseele. Die letzte Niederträchtigkeit fehlt mir. Aber ich kann dir schon das Resultat meiner Bindung an das Niedere zeigen und der Beugung unter seine Zwecke.«
Er zog ein Schubfach des Schreibtisches auf und wies auf eine Anzahl Hunderttalerscheine.
»Ich habe sparsam gelebt,« sagte er. »Nun langt es wieder für ein paar Monate. Und da möchte ich an das Verslustspiel gehen, das ich plane.«
Sie nickte.
»Gut, Hans, ich bin einverstanden. Ich habe mit Ripplau heute den Vertrag geschlossen. Vierzig Taler monatlich. Das ist nicht überwältigend, aber ich habe nur sechsstündige Arbeitszeit, von Neun bis Drei. Danach müssen wir uns nun den Tag einrichten. Das besprechen wir mit Pressel. Im übrigen habe ich noch etwas von Interesse für uns. Ripplau betreibt auch einen lebhaften Autographenhandel, und da hat er letzthin durch einen glücklichen Zufall, wie er sagt, eine ganze Sammlung von Briefen unsres Vaters kaufen können.«
»Was?« rief Hans. »Briefe von Vater? Woher?«
»Das darf er nicht sagen – oder will es nicht. Es gibt Geschäftsgeheimnisse, die gewahrt werden müssen. Es ist eine umfangreiche Briefschaft, die an einen ehemaligen hannöverischen Staatsbeamten gerichtet zu sein scheint. Natürlich kann sie nur durch einen Vertrauensbruch auf den Markt gekommen sein – immerhin, Ripplau ist rechtmäßiger Besitzer geworden und kann sie weiter veräußern. Er stellt uns frei, die Briefe Vaters durchzusehen – es mögen an fünfzig sein –, will sie uns auch billig überlassen. Und da wollte ich dich nun bitten, dich der Mühe zu unterziehen, die Briefe zu lesen.«
»Selbstverständlich. Du weißt nicht, aus welchen Jahren sie stammen?«
»Die meisten aus der Zeit nach Sechsundsechzig, und das macht mich eben ein wenig stutzig. Vater hat doch immer noch die Partei des Kurfürsten vertreten und viel mit Berlin und Hietzing verhandelt, und es ist nicht unmöglich, daß sich infolgedessen unter den Briefen Schriftstücke finden, die politisch ausgenutzt werden können, falls sie in unrechte Hände kommen.«
»Liebe Annemie, Vater war immer ein ehrlicher Mann,« entgegnete Hans, »deshalb hat er sich schließlich auch die Gunst seines Herrn verscherzt. Im übrigen habe ich ja bis in seine letzten Tage hinein selbst seine Korrespondenz geführt und … Ja, du lieber Gott, Schwesterchen, du kannst mich totschlagen, wenn ich dir heute noch sagen soll, um was es sich dabei alles gehandelt hat. Die Politik hat niemals eine besondere Anziehungskraft für mich gehabt. Sie geht mir zu sehr in der Richtung vom Subjekt zum Objekt, vom Menschen zur Welt. Ich habe meine Arbeit als Papas Sekretär immer nur mechanisch geleistet. Die ganze Geschichte interessierte mich herzlich wenig. Ich war nichts als Schreiber. War nur der Kopist seiner Gedanken. Aber du hast schon recht, wir müssen die Briefe durchsehen. Das wollen wir gemeinsam machen.«
»Ich habe dich für morgen bei Ripplau angesagt,« entgegnete Annemarie und brach ab, als Herbert eintrat. Hinter ihm wurde wieder der Herr Intendant sichtbar. Er blieb an der Türe stehen und setzte die Maske teilnehmender Unterwürfigkeit auf.
»Also – ich bin bezaubert,« sagte Herbert und verneigte sich vor Annemarie. »Die beiden Zimmer sind reizend. Nicht nur die Einrichtung, die in ihrer naiven Nachahmung der Antike famos zu diesem wunderlichen Häuschen paßt – ich liebe übrigens den Zopfstil wie jede Reaktion, die sich gegen ein Zuviel im Geschmacke wehrt –, nein, auch der Ausblick aus den Fenstern. In der Ferne sehe ich den Kreuzberg, das ist die höchste Erhebung des Höhenrandes um Berlin. Der Vesuv hat sicher seine Reize, der Himalaya auch. Aber der Kreuzberg ist das, was ich am Zopfstil schätze – es ist der Gipfel der Einfachheit. Nun freue ich mich nur noch auf die Hasenheide. Ich höre, das Wesentliche dieses Urwalds liegt darin, daß er gar keine Hasen kennt. Das ist eine Eigenart des Berliners. Er hat auch einen Tiergarten, in dem es außer den Piepmätzen in den Bäumen und dem Gewürm am Boden keine richtiggehenden Tiere gibt.«
Man lachte. Nur der Intendant verzog keine Miene.
»Sie nehmen die Zimmer?« fragte Annemarie.
»Ja natürlich – mit Begeisterung,« rief Herbert. »Ich habe mir erlaubt, mit dem Herrn Haushofmeister bereits alles Nötige abzumachen, habe auch gebeten, die Gastlichkeit auf meine Verpflegung auszudehnen –«
»Volle Pension,« sagte Pressel in einem Tonfall, als verkünde er ein Ereignis voll innerster Beseelung, und fügte hinzu: »Ich habe die Sache erledigt, gnädiges Fräulein.«
»Schön, guter Pressel,« erwiderte Annemarie, »– aber wir müssen notgedrungen die Tageseinteilung ändern. Wir müssen den Mittagstisch auf halb Vier verlegen.«
Pressel neigte den Diplomatenkopf. »Es ist dies auch eine vornehmere Stunde,« sagte er.
»Es fragt sich nur, ob sie in Ihre Geschäftstätigkeit paßt, Herr Haug. Sie haben mit zahnärztlichen Artikeln zu tun und werden viel unterwegs sein müssen.«
»Das ist es eben,« erwiderte Herbert. »Deshalb habe ich den Krempel aufgegeben. Die zahnärztliche Richtung paßte mir sowieso nicht mehr. Augenblicklich bin ich Freiherr, und deshalb kann ich mit Ihnen essen, wann Sie befehlen, und werde mich auch sonst Ihrer Hausordnung auf das allerbeste anzupassen suchen. Nun möchte ich mich empfehlen, um meine Koffer zu holen. Wann darf ich Einzug halten?«
»Die Gemächer stehen bereit,« sagte Herr Pressel.
»Ich danke, Herr Intendant,« entgegnete Herbert. »Gnädiges Fräulein, ich habe noch eine gehorsamste Bitte. Seien Sie nicht böse, wenn ich sie ausspreche. Ich ging vorhin an einem Delikatessengeschäft vorbei. Da lagen Hummern im Schaufenster. Diese Schaltiere esse ich für mein Leben gern. Darf ich Sie und Ihren Herrn Bruder dazu einladen? Ich meine so: ich bringe die Krustazeen mit, und Herr Pressel hat die Güte, sie in wohlschmeckende Form zu bringen –«
» A la Malmaison oder à l'américaine,« warf Pressel ein, und sein weißes Gesicht belebte sich interessiert. » A la Malmaison gestattet ein freieres Schaffen und Gestalten – es gibt gewisse Feinheiten dabei – der Herr Graf von Münster behaupteten immer, wie ich sie bereite, das könne die Nachwelt bewundern. Aber ich müßte dazu noch einige notwendige Kleinigkeiten besorgen.«
»Tun Sie das, Herr Intendant,« rief Herbert, »und sorgen Sie auch weiterhin für die übrige Speisenfolge, für Braten und Nachtisch. Den Wein schicke ich, dazu Maikräuter, wir brauen eine heimische Bowle. Liebes, gnädiges Fräulein, ich bitte, widersprechen Sie nicht. Es ist mein Einzugsfest. Wir wollen einmal leichtsinnig sein. Heute Abend bin ich Hausherr, und Sie sind meine Gäste. Abgemacht – ja?«
Er reichte Annemarie die Hand. Sie nahm sie freundlich entgegen. »Ich will nachgiebig sein,« erwiderte sie, »weil ich Sie nicht kränken möchte. Aber von morgen ab werden Sie sich an Einfachheit gewöhnen müssen, verehrter Herr Haug.«
»Selbstverständlich,« rief Herbert, »Zopfzeit, Kreuzberg, Hasenheide! An einem festlichen Sonntag gehen wir auch einmal in die Hasenheide und kochen mit Familien Kaffee. Ich muß Berlin in seinen letzten Schönheiten ausschlürfen. Nun stürme ich davon. Herr Intendant, machen Sie den Vortritt. Draußen im Park habe ich noch einiges mit Ihnen zu bereden.«
Er drückte nochmals die Hände der Geschwister und folgte Herrn Pressel.
»Der bringt Leben in die Bude,« sagte der Dichter. »Temperament hat er. Scheint mir auch ein wohlhabender Bürger zu sein – da brauchen wir nicht für die Miete zu fürchten, wie bei dem letzten unsichern Kantonisten. Ich weiß aber trotzdem nicht, ob wir recht tun, ihn so ohne weiteres und ohne nähere Erkundigung ins Haus zu nehmen. Der erste Eindruck kann zuweilen täuschen.«
Annemarie schüttelte den Kopf.
»Doch nicht, Hans – bei ihm nicht. Er hat gute Augen. Das ist besser als jede Auskunft.«
»Und mit seinen guten Augen schaut er dich zuweilen an, als wolle er einen Roman auf den unbeschriebenen Seiten deines Herzens lesen.«
Ein sanftes Rot ging über ihre Wangen, und ihre Achseln zuckten.
»Ich glaube, das ist Einbildung, Hansemann,« sagte sie. »Du hast zuweilen eifersüchtige Anwandlungen. Apropos Roman. Ich habe gestern und vorgestern drei Kapitel der Sklaverei herunterreißen können und bin jetzt so ziemlich im Zuge. Ich möchte dir weiterhelfen und wieder ein paar Leute ums Leben bringen, damit wir das Ganze baldigst einsargen und begraben können. Denn ich sage dir offen: mir liegt daran, diesen Greuel der Verwüstung so bald wie möglich aus unserm reinlichen Hause zu schaffen.«
»Mir auch – und ich danke dir für deine Mithilfe. Es sind noch sieben Hefte zu erledigen. Wenn du die Kapitel von gestern und vorgestern weiterführen willst, sind wir in einigen Tagen fertig. Neue Schächte brauchst du dabei nicht zu eröffnen und keine Felsmassen von Gedanken auf das Papier zu schleudern.«
»Ich weiß,« sagte Annemarie und wühlte unter den Papieren auf dem Schreibtisch. »Frondienst. Gib die Ketten her. Sie werden ja bald gelöst sein.«
Nun trat Pressel ein und meldete:
»Es ist alles in Ordnung, gnädige Herrschaft. Ich glaube, daß wir mit diesem Herrn Haug eine ausgezeichnete Erwerbung gemacht haben. Er hat das Wesen eines Edelmanns.«