Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Baron Herwey saß an seinem Schreibtisch und durchflog die soeben eingegangene Nachmittagspost. Der Buchhändler Ripplau schrieb ihm:

 

»Sehr geehrter Herr Baron,

gestatten Sie mir, Sie ganz ergebenst zu benachrichtigen, daß ich in diesen Tagen ein Konvolut neuer Handschriften erworben habe, die Sie interessieren dürften. Es sind einige hundert Briefe aus jüngster Zeit, von verschiedenen Höfen an einen hannöverischen Staatsbeamten gerichtet, vermutlich an den Grafen Platen oder eine ihm nahestehende Persönlichkeit. Darunter befinden sich auch zahlreiche Schriftstücke des Dr. Weerth aus dem ehemaligen kurhessischen Ministerium, des Staatsministers Rouher, des Lords Derby und Grafen Clarendon, des Fürsten Urussow, des Prinzen Peter von Oldenburg und anderer Prominenten. Die Briefe enthalten meiner Ansicht nach mancherlei wichtige Einzelheiten zu den politischen Fragen der Gegenwart, sind vielfach auch mit Randbemerkungen versehen und mit den Entwürfen der Antworten in Gabelsbergerscher Kurzschrift. Ich möchte sie nicht gern in Hände kommen lassen, die sie vielleicht auf sensationelle Weise zu verwerten versuchen, und glaube, daß sie bei Ihnen am besten aufgehoben sein würden. Jedenfalls lege ich sie Ihnen für einige Tage zurück und bitte um die Ehre Ihres Besuchs.

Mit größter Hochachtung ganz ergebenst
E. A. Ripplau.«

 

Baron Herwey schob den Brief wieder in die Hülle zurück und nickte dabei zustimmend. Ja gewiß, dieses Briefkonvolut wollte er sich ansehen. Er war kein leidenschaftlicher Autographenjäger und hatte seine Handschriftensammlung eigentlich immer nur als eine angenehme Abwechslung, als eine Füllung seiner wenigen Mußestunden betrachtet, bis ein Zufall ihm vor einigen Jahren einen alten kaiserlichen Lehnsbrief in die Finger gespielt hatte, dessen Erwerbung sich auch materiell lohnen sollte. Es handelte sich damals um die Beschlagnahme des Thurn- und Taxisschen Postwesens, die der derzeitige Referent für die Postangelegenheiten im preußischen Handelsministerium, Geheimrat Stephan, in die Wege leitete. Die alten Taxisschen Gerechtsame waren infolge der wachsenden Selbständigkeit der Einzelstaaten im Laufe der Zeit vielfach durchbrochen worden, und auf diese Tatsache stützte sich der Geheimrat in der Frage der Entschädigung. Jener erneuerte kaiserliche Lehnsbrief aber, datierte er auch über ein Jahrhundert weit zurück, faßte doch auch schon die Möglichkeit des Übergangs der Taxisschen Post an bestimmte Behörden des alten Reiches ins Auge und setzte dafür gewisse Vergütigungen fest, auf deren Grundlage der Fürst von Thurn und Taxis zu verhandeln bereit war. Geheimrat Stephan stellte sich nun freilich nicht auf dies Fundament einer längst überholten Vergangenheit, sondern auf das der praktischen Ergebnisse der Gegenwart; immerhin verschaffte das verschollene, irgendwie den Archiven entronnene und weit durch die Welt gewanderte pergamentene Dokument von 1703 dem Fürsten eine beträchtliche Erhöhung seiner Entschädigung, von der rund hunderttausend Taler für den glücklichen Entdecker abfielen.

Von dieser Zeit ab betrachtete Herr von Herwey seine Autographen weniger mit dem Auge des Sammlers als dem des Finders. Im Grunde genommen baute sein ganzes Leben sich auf die geschickte Ausnutzung von Zufälligkeiten auf. Die Macht des Augenblicklichen spielte in diesem Dasein auf schwankendem Untergrunde eine sehr erhebliche Rolle. Auch die klügsten Berechnungen versagten bisweilen, während Unvermitteltes und Plötzliches neue Aussichten auf Erfolg eröffneten und eine kaum beachtete Kleinigkeit sich zu einer entscheidenden Größe auswuchs. Ein Glücksfund wie jenes altkaiserliche Dokument war dem Baron freilich nicht wieder in den Schoß gefallen, aber der Ankauf einiger Briefe des verstorbenen Viscount Palmerston, der ihm bei einem Besuch in London gelang – Niederschriften, die recht interessante Streiflichter auf das Verhältnis des englischen Premiers zu Napoleon warfen –, hatte ihm doch auch wieder in seinen Pariser Beziehungen gute Dienste geleistet, so daß er von da ab mit besonderem Eifer nach hinterlassenen Briefschaften politischer Natur fahndete. Daß sie fast immer auf krummen Wegen zum Angebot kamen, störte ihn nicht weiter.

Seine schwere Havanna war ausgegangen. Er griff nach einem Wachshölzchen und entzündete sie von neuem und schnitt sodann mit dem Falzbein die weiteren Briefe auf. Sie kamen aus allen Reichen der Welt, aus Petersburg, Paris, London, Turin, teils von Vertrauenspersonen, teils von seinen bezahlten Zwischenhändlern, enthielten heute aber nur wenig, was näherer Erwägung wert gewesen wäre. Hier und da strich Baron Herwey eine Zeile rot an oder schrieb mit Tinte eine Bemerkung daneben, unter einen Pariser Bericht, der von den Umtrieben der konservativen Kriegspartei, der sogenannten Arkadier, erzählte, sogar eine ausführlichere Notiz, und griff dann nach dem nächsten Briefe. Auch der kam aus Paris und war wenig erfreulicher Art.

Der berühmte Damenschneider Worms ersuchte den Herrn Baron in höflichen Worten, die letzte Jahresrechnung der Frau Baronin begleichen zu wollen, da die Frau Baronin die Angewohnheit habe – » habitude« schrieb er –, auf Mahnungen überhaupt nicht zu antworten. Die Rechnung lag bei; es war nur ein kurzgefaßter Kontoauszug, aber die Schlußsumme sprach deutlich genug: sie betrug hundertsiebenunddreißigtausend Franken.

Der Baron stieß einen kurzen Fluch aus, diesmal auf englisch. Désirée war vollständig verrückt. Es war einfach nicht mehr möglich, bei ihrer Verschwendungssucht das Budget im Gleichgewicht zu halten. Dabei war Worms nicht einmal ihr einziger Schneider; auch von Gerson und Bonwitt & Littauer liefen Rechnungen ein, und dazu kamen die Forderungen der Juweliere, der Pelzhändler, der Wäschemagazine, kam tausenderlei mehr – die Jahresausgaben dieser schönen Frau beliefen sich sicher auf eine halbe Million. Sie rechnete überhaupt nicht, sie hatte nie rechnen gelernt. Sie führte das Leben einer jener eleganten Herzoginnen unter Ludwig dem Fünfzehnten, für die es nur einen Geist der Nerven gab, doch keine Kraft der Überlegung. Sie war stets der Ausdruck vollkommensten Taktes und hatte eine kalte Verachtung für plebejische Intelligenz. Sie war sicher bezaubernd und wußte, daß das Kostüm zu einem ihrer Symbole gehörte; sie kannte sich auch aus in der Wissenschaft des guten Geschmacks, sie war das entzückendste Beispiel der verführerischen Spielart Weib. Aber zum Teufel – sie war alles in allem ein gefährlicher Luxusgegenstand.

Herrn von Herwey war die Röte der Erregung in die Stirn gestiegen. Es muß anders werden, sagte er sich, sonst geh' ich zu Grunde – und da fiel sein Blick auf den nächsten Brief. War das nicht die Handschrift des Geheimrats Elsner? –

Hastig riß er die Hülle auf, mit dem Zeigefinger, er nahm nicht einmal das Falzbein zu Hilfe, und überflog den Inhalt. Der Ausdruck auf seinem breiten, von Gedankenlinien durchzogenen, feingetönten Gesicht schlug um. Er lächelte, klemmte das Einglas fester und las den Brief nochmals langsamer durch. Gott sei Dank, das war einmal eine erfreuliche Nachricht! Ehrlich sein, Herwey, es war mehr, es war Rettung in der Not! Es war voller Sonnenglanz nach schwülster Wetterstimmung. Die neugegründete Wiener Bank, an deren Entstehen er im geheimen so regen Anteil genommen hatte, entwickelte sich zu einer gewaltigen Finanzmacht. Dr. Elsner, einer der Verwaltungsräte, sein guter Freund, meldete, daß die zu Achtzig ausgegebenen Aktien auf Hundertundsiebzig gestiegen seien und voraussichtlich noch weiter emporschnellen würden. Das Rabengekrächz der Berliner Handelsblätter war also Unsinn gewesen. Nein, Neid. Man warnte und erinnerte an den Zusammenbruch des Langrandschen Bankunternehmens. Aber wie konnte man diese Gründung mit der Wiener Fürstenbank vergleichen! Ein Kurs von Hundertundsiebzig bedeutete eine Verdreifachung der Einlage.

Baron Herwey griff nach dem Bleistift und notierte eine Zahlenreihe auf dem Papierblock. Er rechnete nur oberflächlich. Sein Verdienst betrug heute bereits über eine Million Gulden. Und dabei schrieb Elsner, daß der Kurs der Papiere infolge der riesigen Nachfrage zweifellos von Tag zu Tag höher steigen werde. Man riß sich um die Aktien, aber sie waren zumeist in festen Händen. »Und das ist unser Glück,« schrieb Elsner, »behalten, teurer Freund, und nicht auf das Unkengeschrei der Kontermine hören. Haben Sie noch Gelder flüssig, dann hinein damit!«

Nein, er hatte keine flüssigen Kapitalien mehr zur Hand, oder doch nur unbedeutende, die er als »Bewegungsgelder« brauchte. Einen Augenblick wurden seine Züge ernster. Eine tiefe Längsfalte grub sich in die Stirn. Er rückte an seinem viereckigen Einglas. Er dachte wieder an den Grafen Langrand und den kläglichen Ausgang seines Unternehmens, das die Welt einige Monate hindurch geradeso in staunende Erregung versetzt hatte wie heute die Wiener Bank. Dieser sogenannte Graf Langrand-Dumonceau war ein belgischer Abenteurer, nicht mehr und nicht weniger. Pah, sind wir nicht alle Abenteurer?! Steckt in den meisten von uns nicht ein Schuß vom Blute jener Alberoni und Ripperda, auch der Cagliostro und Saint-Germain, und wie sie alle hießen, die das achtzehnte Jahrhundert mit ihrem tumultuarischen Vorwärtsdrang erfüllten? Und ist in der Politik der Grundsatz des Abenteurertums nicht der gleiche wie im vergangenen Säkulum, wenn man auch nicht mehr so offen wie einst durch eine Orgie von Lasterhaftigkeit rast und nebenbei mit den Mumien des Mittelalters kindische Abgötterei treibt! Der Mann, der auf dem Throne Frankreichs sitzt und auf dessen Worte die Welt mit lauschenden Ohren horcht, was ist er denn anders als ein Abbild der Aventuriers von früher, die aus der Politik eine Käuflichkeit machten und aus ihrem Herzen einen Mühlstein und in einem Gemenge von Vernunft und Unvernunft, in einer zwischen tausend Kontrasten schwankenden Gesellschaft die romantische Verherrlichung des Individuums zu einem Scheinsiege führten! –

Baron Herwey hatte sich erhoben. Draußen brauste wieder ein Frühlingssturm um das Haus. Der Regen peitschte gegen die Fenster und rann dickflüssig vom Glase herab. Einen Augenblick blieb Herwey unbeweglich am Schreibtisch stehen. Das Gesicht war noch ernst. Die Gedanken kehrten immer wieder zu jenem ehemaligen Bäckerjungen und Fremdenlegionär zurück, den Pius IX. in einen Grafen Langrand verwandelt hatte, weil seine Idee der »Christianisierung des Kapitals« beim Papste auf fruchtreichen Boden gefallen war. Freilich, auch der apostolische Segen, den das Haupt der katholischen Kirche den Langrandschen Finanzunternehmungen erteilte, hatte sie nicht vor dem Zusammenbruch schützen können. Es war zu einem kläglichen Ende gekommen, weil dem Ganzen der kaufmännische Geist und die geschickte Hand fehlten. Nur die Idee war geblieben: die Zusammenraffung aller legitimistischen und konservativen Elemente auf materieller Grundlage, und daß dieser Gedanke ein großer, guter und heilbringender war, das bewiesen die überraschenden Erfolge der neuen Wiener Bank.

Der Staatsrat nahm einen Briefbeschwerer, eine Kugel von Königgrätz auf marmorner Platte, und setzte ihn auf die Papiere. Sein Entschluß war gefaßt. Er wollte die Ultimoregulierung abwarten und nach ihrem Ergebnis seine Dispositionen treffen. Die Aktien konnten in der Tat immer weiter in die Höhe schnellen und mußten es, denn die Gegenpartei auf dem Wiener Markt war unfähig, die verlangten Papiere zu beschaffen und mußte sich an den Zwang des Kurses halten. Dennoch – Herwey wollte vorsichtig sein. Das alte Glück lächelte ihm wieder einmal. Aber auch das Glück war eine Dirne, und ihr Lächeln konnte Trug sein.

Er suchte unter der Briefschaft die Rechnung von Worms und steckte sie zu sich. Dann klingelte er. Der Diener erschien.

»Ist die gnädige Frau im Hause?« fragte der Staatsrat.

»Jawohl, Herr Baron – oben in ihren Zimmern.«

»Melden Sie mich bei ihr.«

Er zupfte an Rock und Weste, trat noch einmal vor den Kaminspiegel und strich über das leicht ergraute Haar. Dann stieg er die Treppe hinauf zu der Baronin.

Auch sie saß am Schreibtisch, einem zierlichen Boulemöbel, bedeckt mit Gruppen von Sèvres und Altberlin und ähnlichen Nippes. Sie war noch im Hausgewand, lächelte ihn aus ihren schönen, dunkeln Augen freundlich an und reichte ihm die Hand.

»Tag, Charlie,« sagte sie. »Ich bin eben dabei, Lord Loftus zu seinem Rout am Siebzehnten zuzuschreiben. Du bist doch einverstanden?«

Sie sprach, obwohl Südfranzösin, das Deutsche flüssig, nur mit leicht fremdländischer Betonung.

Herwey küßte ihre Hand. »Durchaus,« erwiderte er. »Liegt nicht auch eine Einladung der Französischen Botschaft vor?«

»Doch nicht, du irrst. Die Baronin Stoffel hat nur zu einem Damentee geladen. Da bist du also entschuldigt. Aber, Karl, wir müssen an eine Entgegnung denken. Der Frühling ist da, und wir haben noch eine ganze Anzahl Einladungen unerledigt gelassen. Ich meine, wir machen sie in einer großen Schlußfestlichkeit ab. Jetzt ist alles noch da – Ende Mai möchte ich nach Paris und im Juli nach Trouville oder Biarritz – wenn du nämlich gestattest,« fügte sie mit einem schelmisch spöttischen Zucken um ihre granatroten Lippen hinzu.

»Darf ich mich setzen?« fragte der Baron.

Désirée lachte. »Dahinten steht der große Klubsessel,« entgegnete sie. »Ich habe ihn für dich angeschafft, weil deine etwas teutonische Körperlichkeit sich nicht recht mit den Stileigenheiten Ludwigs des Vierzehnten verträgt. Mache es dir bequem.«

Er rollte den Sessel in die Nähe des Schreibtischs und ließ sich nieder.

»Und nun erlaube,« sagte er, »daß ich dir etwas erzähle – eine Geschichte.«

»Oho! – Ein Feenmärchen?«

Wenn sie alle Anmut zusammennahm, ging es wie ein leise girrendes Tremolo durch ihre Stimme. In diesem Augenblick erschien sie ganz Anmut, Freude, Liebreiz und Naivität.

»Also erzähle,« sagte sie, »ich lausche mit allen Sinnen.«

»Es ist kein Märchen,« entgegnete der Gatte, »es ist eine Autobiographie.«

»Olala – wird das nicht langweilig? Und kenne ich nicht schon deinen Lebenslauf?«

»Doch nicht, Désirée. Du kennst nur ein paar der letzten Kapitel. Aber ich will kurz sein – auch nach Möglichkeit kurzweilig. Am Schlusse kommt dann die Tendenz – auch die muß sein … Ich will mit einer Jahreszahl anfangen – 1830 wurde zu einem Verhängnis meiner Familie. Mein Vater war Kabinettsrat des Herzogs Karl von Braunschweig und wurde in seinen Sturz hineingezogen. Ich war damals so etwa zwölf Jahre alt und erinnere mich noch gut des Aufstands in unsrer sonst so friedlichen Stadt und sehe noch das Residenzschloß lodern. Bei diesem Brande kam mein Vater ums Leben. Aber der Bruder des geflüchteten Herzogs und sein Nachfolger auf dem Throne nahm sich meiner an. Ich brauchte nicht zu verhungern, ich wurde ein kleiner Beamter, ich wurde sogar Kalkulator und heiratete mit einem Jahresgehalt von achthundert Talern.«

»Was leichtsinnig war,« warf Désirée ein.

»Das war es. Indessen, ich hatte freundschaftliche Verbindungen in Hannover und fand dort auch unter dem Ministerium Scheele eine Anstellung, die mir Aussichten auf eine bessere Karriere eröffnete und mich vor allen Dingen auf ein Gebiet führte, das mich von der bisherigen bureaukratischen Gebundenheit loslöste und mehr meinen persönlichen Neigungen entsprach: auf die Politik. Der damalige König, durchaus ein englischer Aristokrat von hochfahrendem Wesen, der zu allem Unglück auch noch sehr schlecht Deutsch sprach, war wenig beliebt, und in seinen ewigen Kämpfen mit den Ständen gelang mir eine vermittelnde Haltung, die bei Hofe angenehm wirkte und andererseits auch wieder dem Ministerium zusagte. Ich will mich nicht bei den mannigfachen Erfolgen aufhalten, die ich damals erzielte und die mich nach und nach in eine materiell unabhängige Lage brachten: ich verstand eben mich anzupassen und – warum soll ich es nicht sagen, da es kein Unrecht ist – die eigentümliche Stellung des neuen Königreichs, das nach seiner Trennung von England ein kleiner deutscher Mittelstaat geworden war, vielfach recht günstig auszunutzen. Ende der vierziger Jahre erhielt ich meine erste geheime Mission – nach London, in einer Privatangelegenheit des Königs Ernst August, und sie war insofern wichtig für mich, als ich bei dieser Gelegenheit den depossedierten Herzog Karl von Braunschweig aufsuchen konnte, der sein Hotel in London hatte und häufig dort weilte, und durch ihn auch Napoleon vorgestellt wurde –«

»Ah,« sagte die Baronin und hob interessiert den schönen Kopf. »Also schon damals hast du den Kaiser kennengelernt?«

»Ja – aber er hatte noch nichts Kaiserliches – er war der arme Flüchtling von Ham, dem es so mordsschlecht ging, daß Herzog Karl ihm zu öfteren mit einer Fünfhundertpfundnote unter die Arme greifen mußte. Für mich war diese Bekanntschaft jedenfalls von großer Tragweite, denn sie hat mir späterhin den Weg in die Tuilerien geöffnet – die Londoner Mission entschied aber auch sonst in eingreifender Weise über meine Zukunft. Laß mich sagen: sie entdeckte mich in meiner Begabung für die Diplomatie der Zwischenspiele, die ebenso notwendig ist wie der Notenwechsel der Kabinette und für die hohe Politik geradezu eine Unentbehrlichkeit bedeutet, weil sie von unverantwortlichen Persönlichkeiten geleitet und getragen wird, die man je nach Lage der Sache desavouieren kann oder nicht. Verstehe mich recht: die geistige Arbeit der Kabinette spielt sich gewissermaßen in einer räumlichen Welt ab, die sich in allen ihren Teilen und Fugen untersuchen läßt. Die geheimen Agenten dagegen sorgen für innere Zusammenhänge, die von der Öffentlichkeit nicht nachkontrolliert werden können, erschließen Hintertüren, öffnen Seitenwege, teilen oder summieren bestimmte Einzelvorgänge, führen absichtlich Verwicklungen herbei oder lösen Spannungen auf, unterminieren oder glätten – je nach Befehl und Bedürfnis. Bedürfnis aber sind sie durchaus im politischen Leben und werden es immer sein, solange die Diplomatie zu den Geheimwissenschaften gehört, vor denen die Plebs einen ahnungsvollen Respekt haben darf, doch nicht mehr.«

»Und das Interesse für dies politische Dunkelspiel«, sagte die Baronin, »packte dich so gewaltig an Fibern und Nerven, daß du dich aus diesem Banne nicht mehr herauswinden konntest. Ist es nicht so? …« Sie hatte ihm das Gesicht zugewendet, über dessen klare Haut eine sanfte Röte floß, und stützte die Schläfe in die schlanke, weiße, beringte Hand. Die schwarzen Augen, unter dem Spiel der langen, dunkeln Wimpern ein Licht von wechselnder Zündkraft, schauten ihn fast neugierig an, mit einer eigentümlich wissenden Neugierde, hinter der sich auch ein leichtes Spötteln versteckte … »Charlie, ich begreife das,« fuhr sie fort. »Es ist sicher ein feines Vergnügen, dies ständig sich verschiebende Intrigenspiel unter der Oberfläche gegebener Möglichkeiten, der Spaß eines regen Geistes an der Schicksalsmacht –«

»Und an den Daseinsbedingungen der Völker, auch der Dynastien,« fiel Herr von Herwey kopfnickend ein. »Ja gewiß, es hat seine großen und intimen Reize, ähnliche vielleicht, wie sie der Polizist empfindet, wenn er sein Wild einkreist und es als höchsten Erfolg seines Scharfsinns schließlich zu stellen vermag. Du sprichst richtig von einem Intrigenspiel, denn ohne gewisse geschickt geschürzte Ränke, bei denen der Unschuldsstand gutbürgerlicher Moral zuweilen zum Teufel wandert, geht es gewöhnlich nicht ab. Aber das Gegengewicht bildet doch immer die Tatsache einer weltgeschichtlichen Arbeit, aus der sich Mächte von Pflichtgefühl und Gerechtigkeitssinn nicht völlig vertreiben lassen.«

Baron Herwey sah in diesem Augenblick nicht, wie um die Mundwinkel seiner Frau wieder ein Zug verhaltener Ironie lichterte, und fuhr ruhigen Tones fort: »Ich saß nun in gesicherter Stellung und hatte mein gutes Auskommen, konnte meinen Kindern eine angemessene Erziehung geben lassen und um so zufriedener sein, als ich auch unter dem neuen König vielfach zu auswärtigen Aufträgen verwendet wurde, die mir um so erwünschter kamen, weil sie mir eine noch größere Unabhängigkeit gewährleisteten und mir vor allem Gelegenheit boten, meine kleinen politischen Privatgeschäfte nicht zu vernachlässigen. Ich will da nur, lediglich als Beispiel, meine Bemühungen herausgreifen, dem Herzog Karl von Braunschweig eine Wiedereinsetzung zu ermöglichen; das wäre mit Hilfe Napoleons auch beinahe gelungen, wenn der Herzog eine andre Persönlichkeit gewesen wäre.«

Désirée lachte. »Der Diamantenherzog,« sagte sie. »Braunschweig kann noch heute Gott auf den Knien danken, daß deine Versuche, ihn von neuem auf den Thron seiner Väter zu bringen, scheitern mußten. Ich habe den Herzog in Paris ja oft genug gesehen – er spielte immer eine lächerliche Rolle, und seine skandalösen Prozesse, vor allem der gegen seine eigene Tochter, die Gräfin Civry, machten ihn nicht beliebter.«

»Auch in diesem Handel habe ich zu vermitteln versucht,« entgegnete Herwey, »aber die interessanteste Episode in meinem Verkehr mit ihm bildete doch eine merkwürdige Diebstahlsgeschichte. Du entsinnst dich gewiß des seltsamen rosenroten Palais, das sich der Herzog in den Elysäischen Feldern erbauen ließ, ein Unding aus Marmor und Backstein, mit krenelierten Mauern und festungsartigen Toren aus gewaltigen Eisenplatten. In diesem Asyl befand sich auch das Schatzgewölbe für seine berühmten Diamanten, die er auf seiner Flucht einfach mitgenommen hatte und überall zur Schau trug, wo er sich mit seinen Geliebten zeigte, obwohl sie eigentlich zum Staatsschatz seines verlassenen Landes gehörten. Nun höre. Ich war zufällig in Paris, hatte, wie immer, dem Herzog meine Aufwartung gemacht und war von ihm eines Abends in die Bouffes eingeladen worden, wo die Cora Pearl den Kupido in Offenbachs Orpheus spielen sollte, wie der Figaro berichtet hatte, mit nichts weiter bekleidet als dem Feigenblatt der Eva und sonst nur noch mit ihrer vom Kaiser konzessionierten Tugend. Der Herzog hatte, wie gewöhnlich, eine Dame seines Harems mit, die er mit den Perlen und Brillanten seiner Schatzkammer behängt hatte; ich saß hinter den beiden im Dämmer der Loge und schämte mich als Deutscher eigentlich ein wenig dieses jämmerlichen Possenspiels. Die Ouvertüre war noch nicht zu Ende, als der Schließer den Haushofmeister des Herzogs ankündigte, der mit einer schreckenerregenden Meldung kam: Diebe hatten den fürstlichen Tresor erbrochen! Nun hättest du diesen traurigen Fürsten sehen sollen. Er geriet in solche Raserei, daß das gesamte Publikum aufmerksam wurde; man johlte, pfiff und schrie in die Musik hinein, drohte mit Fäusten nach unsrer Loge hinauf, stieß Beschimpfungen aus – aber das kümmerte den Herzog nicht weiter. Er riß seiner Geliebten die Kleinodien aus dem Haar, vom Halse, von der Brust, den Armen und Fingern, steckte sie in die Taschen und jagte dann in seinem Wagen nach den Champs Elysées. Ich mußte mit. In seinem Palais fanden wir auch tatsächlich das Schatzgewölbe erbrochen und teilweise ausgeraubt, und zwar konnte der Täter niemand anderes sein als sein Kammerdiener Shaw, ein Engländer, der das volle Vertrauen seines sonst immer mißtrauischen Herren besaß. Ich fuhr nun sofort zum Polizeipräfekten Piétri, der den Draht nach allen Richtungen der Windrose spielen ließ, und da die Spuren nach Havre wiesen, so reiste ich ihnen in Begleitung zweier tüchtiger Detektivs nach. In Havre faßten wir auch Herrn Shaw in dem Augenblick, da er sich an Bord eines amerikanischen Dampfers begeben wollte. Er trug das gestohlene Gut noch bei sich, wurde später von den Assisen zu langjähriger Zwangsarbeit in Cayenne verurteilt und soll dort bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen sein.«

Einen Augenblick schwieg Baron Herwey, um sich mit seinem Taschentuch die Stirn zu wischen, auf der eine Reihe glänzender Pünktchen sichtbar wurde, ein Zeichen dafür, daß es ihm im Zimmer seiner Frau zu heiß geworden war, oder daß ihn irgendwelche Erinnerungen bewegten. Doch fuhr er ohne größere Pause in seiner Erzählung fort:

»Ja – also – so war es – und bei jener Gelegenheit erneuerte ich auch meine Bekanntschaft mit dem damaligen Sekretär des Herzogs, Herrn von Lavergne.«

Bei Nennung dieses Namens durchzuckte es die Baronin. Sie fuhr zusammen wie unter der Einwirkung einer starken Erschütterung, warf den Kopf in den Nacken und starrte ihren Gatten fast fassungslos an.

»Das ist mir neu,« stieß sie hervor. »Jedenfalls weiß ich nichts davon. Anatol hat mir nie erzählt –«

Sie brach ab.

Der Baron winkte ihr gleichsam wehrend mit der Hand. »Du hast ihn erst zwei Jahre später geheiratet,« sagte er sanft, »er hatte auch Grund, nicht unnötig von diesem Dienstverhältnis zu sprechen. Aber ich muß doch noch einmal darauf zurückkommen – möchte vorher nur kurz erwähnen, daß das Glück mich auch weiterhin nicht im Stich ließ, zumal ich mit dem wichtigsten der ausländischen Gesandten in Hannover, dem englischen, Sir Wyke, in vertrauten Beziehungen stand und auch mit den verschiedenen Ministerien auf gutem Fuße lebte, mit Bacmeister und Borries, sogar mit der Opposition, mit Miquel und Genossen. Ich war inzwischen Staatsrat geworden und eine gesuchte Persönlichkeit, wurde mit Vorliebe zu heiklen Aufträgen herangezogen, vor allem bei den ständigen kleinen Zwistigkeiten mit der preußischen Regierung, die mich häufig nach Berlin führten und mit der hiesigen Diplomatie in nächste Berührung brachten. Meine Frau war gestorben, aber die Kinder wuchsen frisch heran; Erika hatte ich in einer Pension in Lausanne untergebracht, die Söhne traten in die Armee. Auf Wunsch Großbritanniens errichtete ich für Reuter ein Kontinentalbureau in Hannover, konnte die Kabellegung in Emden durchsetzen und dem Grafen Clarendon wie dem Lord Stanley mehrfach gefällig sein, so daß ich schließlich mit dem englischen Baronettitel geehrt wurde – unter dem Namen Herwey, dessen Weiterführung man mir auch im Inlande gestattete. Ich stand also in gewisser Beziehung auf der Höhe meines Schaffens, war überall willkommen, geschätzt und angenehm – kurzum, ich hatte nicht zu klagen. So kam das Jahr Vierundsechzig heran. Auf Wunsch des Grafen Roset, des französischen Gesandten an unserm Hofe, ging ich damals nach Paris, wo die ersten Verhandlungen für eine geheime Konvention zwischen Frankreich und Österreich stattfanden – und während der Dauer meines Aufenthalts hatte ich das Glück, dich kennenzulernen, liebe Désirée.«

Sie hatte sich wieder völlig gefaßt, neigte mit gefälligem Lächeln den Kopf und fragte in lustigem Tone:

»Willst du mir das auch noch erzählen?«

»Ja, Désirée, in drei Worten. Mir liegt an dieser Aussprache. Es war in der Großen Oper, und dein Mann stellte mich vor. Daß wir uns kannten, fiel dir nicht auf. Leute wie wir kannten von dreien, die uns begegneten, sicherlich einen. Heute kann ich dir sagen, daß diese Bekanntschaft schon Jahre zurückreichte. Anatol war mein Agent in allen Angelegenheiten des Herzogs, und daß er sich von ihm trennte, geschah auf meinen Wunsch. Ich wußte nämlich aus dem Munde des Kammerdieners Shaw, daß Anatol ihm die Wachsabdrücke zu den Schlössern am Tresor des Herzogs geliefert hatte – – o bitte, erschrick nicht! Anatol ist tot und hat gesühnt. Ein Zufall spielte ihm gelegentlich für zwei Stunden den Schlüssel zu der Geheimkammer in die Finger, in der sich der Tresor befindet – und da konnte er nicht widerstehen. Die Beute sollte geteilt werden, aber Shaw zog es vor, allein zu verduften. Er wurde auch nicht zum Verräter an dem Genossen – und ich schwieg. Es lag gar nicht in meiner Absicht, einen Menschen unglücklich zu machen, den ich noch brauchen konnte. Daß sich die Verbindung trotzdem langsam löste, ergab sich aus der wachsenden Einflußlosigkeit Anatols. Er war nicht nur immer ein Nichtsnutz, er vergeudete auch seine Begabung zum Schlechten. Er war ein Mensch ohne Willen –«

»Und das war das Schlimmste an ihm,« setzte die Baronin hinzu und seufzte leise.

»Er hatte im Staatsdienst Vorgesetzte, die ihm wohlwollten. Die stieß er durch seine Faulheit vor den Kopf. Immer wieder nahmen sich gefällige Freunde aus Rücksicht auf seinen guten Namen seiner an, aber in jeder neuen Stellung hielt er es kaum wochenlang aus, dann wurde ihm die Sache langweilig. Beim Herzog Karl streifte er schon das Verbrechen, und als Sekretär des alten Dumas setzte er diese Tätigkeit fort.«

»Eine Frage, Charlie,« warf Désirée ein. Die Züge ihres Gesichts spannten sich. Über die gewölbte Stirn flog es wie Abenddämmer. »Darf ich sprechen?«

»Aber bitte, Kind.«

»Du sagtest mir damals, Anatol habe ein paar Wechsel auf den Namen Dumas' gefälscht. Hast du die Papiere gesehen?«

Der Baron senkte den Kopf. Dann schaute er seine Frau ernst, fast traurig an.

»Ich liebte dich, Désirée,« antwortete er. »Es war die Leidenschaft eines gereiften Mannes. Ich konnte nicht mehr ohne dich leben. Aber ein anderes Leben stand zwischen dir und mir. Ich wußte, wie unglücklich du dich an seiner Seite fühltest –«

»Durch mich?«

»Ja, durch dich.«

Sie biß die Zähne in die Lippen und schwieg, und er sprach weiter:

»Da kaufte ich denn seine Akzepte an und hatte ihn nun doppelt in der Hand. Das Beweismaterial hatte kriminelle Kraft – und sein Schicksal wurde mir Mittel zum Zweck. Er flüchtete, aber du weißt, daß man am Strande von Flamandville seinen Hut und Rock mit Legitimationspapieren und Erkennungszeichen fand, daß man Selbstmord annahm und nach den üblichen Formalitäten die Todeserklärung erließ.«

»Vielleicht lebt er trotzdem noch,« warf Désirée ein und sprach dies ohne Schwere, leichthin wie eine beiläufige Bemerkung.

Er zog die Schultern hoch. »Wäre es der Fall,« sagte er, »so wird er sich vermutlich nach Amerika gerettet haben, und ich kann nur wünschen, daß er sich da ein neues Leben aufgebaut hat. Störend in unser Dasein wird er nie wieder eingreifen können. Unsre Ehe ist unanfechtbar.«

»Sie würde es nur in dem Falle nicht sein,« fügte Désirée hinzu, »wenn einer von uns beiden beim Eheschluß noch Kenntnis vom Leben Anatols gehabt hätte.«

»Hattest du sie?« fragte er ruhig.

»Nein,« erwiderte sie kurz, »sonst hätte ich dich nicht geheiratet. Aber nun gestatte mir die Frage: Weshalb gräbst du diese alten Geschichten aus? Irgendein stichhaltiger Grund muß doch vorliegen.«

»Gewiß,« sagte er. »Darauf komme ich auch. Wir blieben nur kurze Zeit in Hannover – es war die Glanzzeit meines Glückes. Deine Schönheit, dein liebenswürdiges Wesen, der ganze Zauber deiner Persönlichkeit nahm alle Welt gefangen. Es war sicher auch nur klug, daß ich deinem Rate folgte und nach der Katastrophe von Sechsundsechzig als freier Mann hierherzog – sozusagen unter dem Schutze der Englischen Gesandtschaft, immerhin in voller Unabhängigkeit. Und daß ich auch hier bald festen Boden fand, war zum großen Teile gleichfalls deinem unvergleichlichen Charme zu danken –«

»O Charlie, jetzt schmeichelst du!« rief sie lächelnd.

»Nein, ich sage die Wahrheit. Ich stand ja bei der Berliner Diplomatie in gutem Ansehen, hatte selbst Bismarck verschiedenfach nützlich sein können und ausgezeichnete Beziehungen zu den Ministerien und Botschaften, aber alldem gabst du doch erst eine gewisse gesellschaftliche Verkettung, den Reiz des Persönlichen, etwas äußerlich Wertvolles, das gar nicht zu unterschätzen ist und das ich durchaus anerkenne. Wenn ich zu klagen hatte, so geschah es immer nur, weil deine allzu lockere kleine Hand mir häufig recht ärgerliche Schwierigkeiten bereitet hat – und siehst du, Désirée, – das ist auch der Grund meiner heutigen Aussprache mit dir.«

»Jetzt kommt die Tendenz, die du vorhin andeutetest,« sagte sie heiter. »Jetzt kommt wieder eine Strafpredigt.«

»Doch nicht, Désirée. Mehr ein Bekenntnis. Ich bin hier nicht in fester Stellung – ich figuriere in den Steuer- und Polizeilisten als Staatsrat a. D. und Rentner. Aber meine Renten würden bei weitem nicht genügen, dir die Lebensführung in großem Stil zu ermöglichen, die du liebst. Ich muß mich also immer nach – sozusagen Nebeneinnahmen umtun, wie sie mir als diplomatischem Agenten ja auch Gott sei Dank verhältnismäßig reichlich zufließen. Denn – ich glaube, ich sagte es vorhin schon – wir leben in Zeitläuften, in denen die großen Makler der Politik uns Zwischenhändler gar nicht entbehren können. Wie in allen Weltstädten, so wimmelt es natürlich auch hier von geheimen Agenten, die gewöhnlich ohne eine bestimmte Mission Höfe, Regierungen, Fürstlichkeiten, einzelne Minister draußen und drinnen vertreten – ehrenwerte Leute darunter und Abenteurer jeglicher Färbung, die überall ihre Hände hineinstecken, im Dunkeln wühlen, zuweilen nützlich sein können, oft in die eigene Tasche arbeiten, gelegentlich ausgewiesen werden, sich meist aber nur – aus Gründen der Klugheit, denen auch der Polizeipräsident von Wurmb sich nicht verschließt – eine leichte Beobachtung gefallen lassen müssen. Nun ja, Désirée, ich leugne nicht, daß diese Stellung zwischen den verantwortlichen Behörden und einer gescheit gewollten Verantwortlichkeit auch mich zuweilen, wollte ich ein vorgestecktes Ziel erfassen, in die Lage versetzte, die landläufige Moral über Bord zu werfen. Praktische Philosophie war da oft mehr am Platze als alle Ethik – in den politischen Verwicklungen kann man nicht allzeit nur die Größe des Weltgedankens im Auge behalten. Aber ich muß doch auch sagen, daß ich immer auf Reinlichkeit gehalten und ein Spiel à deux mains nach Möglichkeit vermieden habe – und das weiß man hier, und das hat meine Stellung gefestigt.«

»Weiter,« sagte Désirée, als sie spürte, daß ihr Gatte zögerte.

Er nickte. »Das Weitere ergibt sich von selbst, Chérie …« Nun suchte er ihre Augen … »Brutal ausgedrückt: ich kann nicht länger ein ehrlicher Mann bleiben, wenn du nicht versuchst, dich einzuschränken …«

Sie rückte ihren Sessel so, daß ihre Blicke sich treffen konnten. Sie sah ihn nicht lieblos an. Aber es lag doch eine kühle Ruhe in ihren Augen, die ihm zu sagen schien, daß ihre Betrachtungsweise eine andere sei als die seine.

»Ich will dir keinen Roman erzählen, Charlie,« antwortete sie, »nur einige Erinnerungen in dir wecken. Ich war sehr jung, als ich Anatol heiratete, ich kam eben aus dem Kloster – und dieser Dummheit halber sagten auch die letzten Verwandten sich von mir los. Jawohl, es war eine grenzenlose Dummheit: ich wurde das Opfer einer Leidenschaft. Die Schönheit dieses jungen Mannes berückte und verstrickte mich, und da wurde ich willenlos. Es ist doch auch nur bedingt richtig, wenn du sagst, ich sei unglücklich gewesen. Ich wäre als Anatols Gattin vielleicht die glücklichste Frau Frankreichs geworden, wenn er mir das Feuerwerk eines großen Lebens hätte bieten können. Ich stamme aus dem Süden, aber ich habe doch nicht genügend das Temperament der Frauen von Louisiana, um in der Leidenschaft allein die Welt um mich her zu vergessen. Diese Welt ist zu schön, um sie nur aus der Ferne wie eine letzte Bühnendekoration zu betrachten – mich dürstete danach, in ihr leben und sie genießen zu können. Zuweilen hatte ja auch das Dasein im Genre von Murgers Bohème, wie Anatol es führte, seine aparten Reize, aber man wird der Mansarde und des Montmartre nur allzu leicht überdrüssig. Nun kamst du, mein Freund, und botest mir zunächst in der Toga deiner Tugend an, deine Geliebte zu werden, und versprachst mir den Himmel auf Erden. Dafür dankte ich höflich aber fest, denn als deine Mätresse hättest du mich vielleicht auch mit Goldketten und Edelsteinen behängt, wie Herzog Karl seine feilen Dirnen, – doch die Welt hätte ich in diesem Falle immer nur im Aufblick aus meinem Gassenwinkel kennen gelernt. Und dann, weißt du, trafen wir so eine Art Abkommen. Meine Leidenschaft hatte ich vergeben, dafür gabst du mir die deine. Es war ein Tauschgeschäft. Charlie, das sage ich nicht, um dir eine Kränkung zuzufügen, mon Dieu, das liegt mir fern – aber da du Klarheit zwischen uns schaffen willst, muß auch ich bei der Wahrheit bleiben. Ein junges Ding von Achtzehn verliebt sich nicht so leicht in einen Mann in deinen Jahren. Es war auch nicht nötig. Ich gab mich dir, und du nahmst mich. Aber du schriebst ein Versprechen an die Tür unsrer Hochzeitskammer. Du wolltest mich entschädigen für den Druck der Armut, unter dem ich so lange gelitten hatte. Ich sollte eine gefeierte Frau werden.«

»Und wurdest du das nicht?« fragte der Baron in einem Tone, der schon halb um Vergebung bat.

»Das leugne ich keinen Augenblick. Ich wurde es aber doch auch in deinem Interesse, Freund, denn ich weiß nicht, ob sich dir so ohne weiteres die Türen der großen Gesellschaft geöffnet haben würden, wenn nicht meine Hand nachgeholfen hätte. Die geborene Gräfin Champéron war dabei wohl weniger maßgebend als die erfreuliche Tatsache, daß eine milde und gütige Natur mich mit allen Gaben ausgerüstet hat, die notwendig sind, um der Schlange Gesellschaft den Giftzahn auszubrechen …« Sie lächelte wieder freundlich … »Aber natürlich,« fügte sie hinzu, »diese Gaben verlangen auch einen Altar und wollen ihre Pflege haben, die du nicht von den Schwankungen des Kurszettels abhängig machen darfst. Du verstehst mich.«

»Vollauf, Désirée. Geiz liegt auch wahrlich nicht in meiner Natur, und grade dir gegenüber bin ich gern freigebig, denn es ist richtig: die Sonne, die auf mich fällt, vertausendfachst du durch das Prisma deiner Schönheit und deines glücklichen Wesens. Immerhin –« – jetzt zog er vorsichtig, zögernd und tastend, ein Papier aus der Brusttasche – »es gibt Grenzen, liebes Kind – – sieh, da hat mir Worms in Paris deine letzte Jahresrechnung geschickt –«

»Diese Schneiderseele! Wieviel gleich? Hunderttausend – zweimalhunderttausend. Ich erinnere mich dunkel, sie war ein wenig hoch. Wobei mir einfällt, Charlie: ich muß zehntausend Taler haben, um ein paar Kleinigkeiten zu ordnen.«

Der Baron erhob sich. Röte flutete über seine Stirn. »Kleinigkeiten,« wiederholte er ärgerlich. »Deine Kleinigkeiten machen mich bankrott, Désirée. Habe doch Einsehen. Es ist absolute Notwendigkeit, daß du dich in nächster Zeit ein wenig – ein wenig einschränkst. Ich habe große Einnahmen in Sicht. Du weißt, daß ich in meinen Verbindungen mit dem hannöverischen Hofe in Hietzing eine gewisse Vorsicht walten lassen muß. Man kennt sie hier und hat nichts dawider – ich möchte sagen, im Gegenteil, weil – aber das gehört nicht hierher. Ich habe nun in Hietzing die Anregungen zu einem neuen Bankprojekt gegeben, das die großen Vermögen der depossedierten Fürsten nutzbringend sammeln und das von der österreichischen Regierung protegiert werden soll, um sie im geeigneten Augenblick zu befähigen, sich für den unausbleiblichen neuen Krieg eine Anleihe ohne parlamentarische Bereitwilligkeit zu schaffen. König Georg steht sozusagen an der Spitze des Unternehmens, das für die Rückeroberung Hannovers eine Art finanzieller Unterlage bietet.«

»Ich hörte von dieser Gründung,« erwiderte Désirée, »und man weiß hier, daß du ihr Erfinder bist?«

»O nein – um Gottes willen,« erwiderte der Baron hastig, »das ahnt man natürlich nicht. Aber warum soll man nicht mehrere Eisen im Feuer haben?«

»Sehr verständig, Charlie. Es ist die praktische Philosophie, über die du dich vorhin in so hübsch gewählten Worten äußertest. Und die Bank reüssiert?«

»Gottlob glänzend. Ich sah das voraus. Ich war nicht umsonst in der Lehre des Grafen Langrand, dessen ›Christliche Bank‹ zwar vor der Praxis nicht standhielt, dessen Idee aber zweifellos ausgezeichnet war – man zieht seinen Prozeß deshalb auch nach Möglichkeit hin und wird den Mann nicht fallen lassen. Es steht nun so, daß ich schon heute einen großen Verdienst einkassieren könnte. Aber ich will nicht verkaufen, weil ich der Überzeugung bin, daß die Aktien noch gewaltig höher steigen werden. Ich habe auch umfangreiche Differenzkäufe abgeschlossen und bin sicher, daß man bei den Lieferungsterminen den Kurs nach eigenem Gefallen feststellen kann – es sind noch ungeheuere Summen zu verdienen. Dann aber, Chérie, bin ich aus allen Sorgen. Und nur bis dahin – bis dahin möchte ich dich herzlich bitten, deine lieben, kleinen Hände etwas fester auf die Taschen zu legen, denn grade im Augenblick bedarf ich mehr denn je meiner flüssigen Mittel.«

Er beugte jetzt das Knie und ließ seine große, schwere Gestalt vor Désirée nieder. Das sah nicht komisch aus, es hatte fast etwas Rührendes. Er küßte ihre Hände, die das Leitseil seiner Zukunft hielten, und als sie sich mit ihrem lächelnden Gesicht zu ihm herabbeugte, wurde er stürmisch, schlang seine Arme um ihren Hals und küßte sie auch auf Wangen und Mund.

»Ho,« rief sie in koketter Gegenwehr. »Du verliebter Zyklop, du zerreißt mir die Spitze am Kleide, und dann grollst du mir wieder, wenn ich mir neue bestelle! Wuchte dich auf, Charlie, und sei verständig. Ich freue mich über deine guten Aussichten und bin natürlich gern bereit, deine Mahnung zu beherzigen. Ach Gott, Charlie, es wird doch nötig sein, daß ich noch die doppelte Buchführung erlerne und alles, was damit zusammenhängt! Ich bin ein Waisenkind auf dem Gebiete der Regeldetri und habe ein Vogelhirnchen, wenn ich rechnen soll. Aber ich habe auch gute Vorsätze – ja, die habe ich. Ich werde von nun ab jede neue Ausgabe gewichtig in Überlegung ziehen und die Summe erst öfters auf ein Papier schreiben, um zu sehen, ob sie nicht gar zu erschreckend wirkt. Finalement, du dicker Teutone, ich werde mich bessern.«

Baron Herwey hatte sich wieder aufgerichtet, etwas schwerfälliger, als er sich niedergelassen hatte, und mit dem Ausdruck einer leichten Verlegenheit auf den Zügen, die fast etwas Schämiges in sich trug.

»Ein in die Breite gegangener Romeo,« sagte er, sich selbst karikierend, »du mußt schon entschuldigen, Désirée – Marienbad wird wieder seine Pflicht tun. Ich bin dir dankbar, liebes Herz, daß du mich verstehst und auf meine Anregungen eingehst. Wenn sich alles so fügt, wie ich es erhoffe, möchte ich auch gern deinen Wunsch erfüllen und einen hübschen Landbesitz kaufen, auf dem du dann als Schloßherrin deines Amtes walten kannst. Mit Worms werde ich abrechnen, und die zehntausend Taler weise ich dir an. Nun Schluß mit dem Unangenehmen. Herbert hat dir Guten Tag gesagt. Wie findest du ihn?«

»O – lieb und frisch wie früher. Daß man ihn entdecken könnte, fürchte ich nicht. Vielleicht hat er auch mit seiner Ehrauffassung recht. Ich bin nicht kompetent in derlei Fragen. Die ganze welfische Legion scheint sich nach und nach aufzulösen.«

»Man will sie, wie ich höre, in Algier ansiedeln, jedenfalls aus Frankreich schaffen. Die Verhandlungen schweben noch. Das Unternehmen war von Grund aus verfehlt. Ich möchte Herbert die Begnadigung verschaffen. Aber dagegen sträubt er sich. Auch die Sache mit Rumänien läßt sich nicht so rasch erledigen. Ralph hat das bessere Los gezogen. Er ist ein außerordentlich tüchtiger Offizier – ich wollte nur, er wäre weniger leichtsinnig. Das Talent zum Geldausgeben hat er von seiner schönen Stiefmutter.«

»Charlie, ich habe ihm erst kürzlich wieder ganz energisch die Wahrheit gesagt. Und er hat mir auch in die Hand versprochen, keine Schulden mehr zu machen.«

»Hoffentlich hält er sein Wort. Hohenlohe, den ich neulich beim Baron Nothomb sprach, ist sehr zufrieden mit ihm. Aber ich will mich verabschieden, Désirée. Ich will noch in die Stadt – mir hat da ein Antiquar wegen einer Autographensammlung geschrieben, die mich interessiert.«

»Es gießt in Strömen, Charlie.«

»Ich nehme das Coupé. Bleibst du daheim?«

»Jedenfalls. Ich hatte Besuche vor, aber das Wetter ist mir nicht einladend genug.«

»So seh' ich dich am Abend wieder. Speisen wir zusammen, oder läßt du dir hier oben servieren?«

»Wir sind so selten au sein de la famille, daß es mir ein Vergnügen machen wird, mit dir und Erika zu essen.«

»Einverstanden. Also au revoir, chérie.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen und ging. Sie hörte vom Vorplatz her noch seinen schweren Schritt und erhob sich. Sie holte tief Atem und schloß die Augen. Regungslos blieb sie stehen. Dann war es, als bebe ein Schauer durch ihren Leib. Und nun geriet sie in Hast. Sie raffte ihren Rock und ging in ihr Schlafzimmer. Der Regen troff auch hier von den Fenstern, die Dämmerschatten huschten umher, über den Seidenglanz des großen Himmelbettes, das Silber der Toilette, die Buketts in dem lichtgrauen Teppich. Désirée zog den Tüllschal von den Schultern und wusch sich das Gesicht, das ihr Gatte geküßt hatte.


 << zurück weiter >>