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Baron Herwey wohnte in Paris in dem kleinen Hotel auf dem Boulevard Poissonnière, in dem er gewöhnlich abzusteigen pflegte. Man kannte ihn, er war dort gut aufgehoben, wurde nicht durch den Trubel der großen Karawansereien gestört, konnte sein eigener Herr sein und hatte für seine Besuche ein Coupé zur Verfügung, dessen Kutscher ein nach Frankreich verschlagener Hannoveraner war, der mit rührender Anhänglichkeit an ihm hing.
Der Staatsrat hatte diesmal seine Agenten nicht von seiner Ankunft unterrichtet. Er hatte die Absicht, den Angelegenheiten Désirées auf den Grund zu gehen, wollte das aber auf eigene Hand und möglichst unauffällig tun und bei dieser Gelegenheit zugleich das politische Gelände sondieren. Er übereilte sich dabei nicht. Er war am Nachmittag eingetroffen, hatte sich umgekleidet und schlenderte nun durch das geräuschvolle Leben der inneren Boulevards, um irgendwo einzukehren und zu Abend zu essen.
Der erste Bekannte, der ihm begegnete, war Herr Louis Veuillot, der fromme Chefredakteur des frommen »Univers«, eines Blattes, das jahrelang unterdrückt worden war, nun aber wieder erscheinen durfte und durch seine übertrieben klerikalen Tendenzen der Regierung mancherlei Schwierigkeiten bereitete. Mit Veuillot setzte Herr von Herwey sich auf ein Viertelstündchen in ein Kaffeehaus und ließ sich erzählen. Es war mehr ein Schimpfen auf Napoleon als eine Kritik; die kochende Wut des dicken Journalisten auf das neue liberale Ministerium tobte sich zügellos aus, und dann ging es gegen Preußen los und gegen den Hirtenbrief der deutschen Bischöfe in Sachen der Unfehlbarkeitsfrage des Papstes. Das klerikale Schäumen des behäbigen Herrn interessierte Herwey nicht sonderlich, aber als Veuillot von dem Privatleben des Kaisers zu erzählen begann, wurde er aufmerksamer. Er schilderte ihn als einen total niedergebrochenen kranken Mann, der täglich den Tod vor Augen sehe und für diesen Fall bereits seine Gattin testamentarisch als Regentin eingesetzt habe. Der schönen Kaiserin sang Veuillot natürlich ein begeistertes Loblied; war sie doch eine ergebene Dienerin der Kirche und der letzte Halt der päpstlichen Macht in der eisigen Atmosphäre der Tuilerien. Veuillot war der Ansicht, daß der Tod Napoleons eine Erlösung für die katholische Welt bedeuten würde. Dann mußte die französische Brigade aus dem Kirchenstaat zurückgezogen werden, und der heilige Mann im Vatikan konnte aufatmen.
Aus dem Geschwätz des Journalisten war nur zu ersehen, daß die inneren Verhältnisse des Kaiserreichs ziemlich morsch geworden waren. Es war das Ende eines Systems, in dem die Geisterhaftigkeit der Vergangenheit die Gegenwart umklammerte und in das Nichts herabzog. Auf den Boulevards spürte man freilich wenig von dem drohenden Untergange. Das war das alte strahlende Leben, der Gleiß Babylons und sein girrendes Locken. Herwey trat in das Restaurant Boucourt, derzeit der Sammelpunkt der jüngeren diplomatischen Welt, wurde vom Oberkellner erkannt und mit dem Bedauern begrüßt, daß man den Herrn Baron so lange aus den Augen verloren habe. Er nahm an einem Seitentischchen Platz, ließ sich ein Menü aufsetzen und schaute sich dann im Saale um, ohne zuvörderst einen neuen Bekannten zu entdecken. Aber das Lokal war noch ziemlich leer und füllte sich erst allmählich mit Herren im Frack und dem unvermeidlichen roten Bändchen im Knopfloch, das hier und da auch durch eine Tuberose oder eine Nelke ersetzt wurde. Damen sah man fast gar nicht, nur in einer Fensterecke saß ein anscheinend deutsches Hochzeitspärchen und langweilte sich. Allmählich sichtete Baron Herwey auch einzelne ihm wenigstens vom Ansehen Bekannte, wie den alten Prosper Mérimée, den Hausfreund der Tuilerien, der sich finster und bissig dicht neben dem glutausströmenden eisernen Ofen niederließ, und den Abgeordneten Gambetta, der in lebhaftester Unterhaltung mit zwei anderen Herren den Saal betrat und so ungeniert laut sprach, daß sich aller Augen ihm zuwandten. Herwey lächelte, als er einige Worte der Unterhaltung auffing. Man schimpfte auch hier auf den Kaiser, der vor kurzem Rochefort hatte verhaften lassen, weil er in seinem Blatte »Marseillaise« aus Anlaß der Erschießung des Redakteurs Viktor Noir durch den Prinzen Peter Bonaparte einen wütenden Schmähartikel gegen den »Henker im Purpur« veröffentlicht hatte.
Und dann widmete der Staatsrat sich seiner Mahlzeit und überzeugte sich, daß man bei Boucourt noch immer so gut speise wie ehemals, bis ihn der Eintritt einiger weiterer Herren abermals aufblicken ließ. Und nun zuckte er unwillkürlich ein wenig zusammen und neigte den Kopf, weil er in diesem Augenblick nicht von dem österreichischen Botschafter erkannt werden wollte. Interessanter als der Fürst Metternich war ihm freilich sein Begleiter, ein großgewachsener Herr in langem Zobelpelze, dem zwei Offiziere in Uniform folgten. Die vier schritten durch das Lokal und verschwanden in einem dahintergelegenen kleineren Zimmer. Baron Herwey schaute ihnen nach, wollte dem Oberkellner winken, um eine Frage an ihn zu richten, überlegte anders, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb mit rascher Hand:
»Ziehen Sie sorgfältige Erkundigungen darüber ein, wie lange der Erzherzog Albrecht bereits in Paris weilt und welche Zwecke er mit seinem Besuche verfolgt. Bitte um mündlichen Rapport in meinem alten Hotel.«
Dann ließ er sich ein Kuvert geben, schob den Zettel hinein und adressierte es an einen seiner Agenten, dessen Zuverlässigkeit er schon oft hatte erproben können. Ein Kommissionär brachte den Brief an sein Ziel. –
Am nächsten Morgen erwog der Staatsrat, auf welche Weise er am besten und sichersten Erkundigungen über Désirée und ihr Verhältnis zu Napoleon einziehen könne. Drei Wege standen ihm offen: der eine führte zum Grafen Roset, der zweite zu Madame Cornu, der dritte endlich zu Herrn Thélin. Diesen alten Getreuen des Kaisers kannte er noch aus den Zeiten her, da Napoleon nach seiner Flucht von Ham in London gelebt hatte. Er hatte ihn auch in späteren Tagen zuweilen aufgesucht, immer in der Hoffnung, durch ihn gelegentlich politische Neuigkeiten zu erfahren, die sich verwerten lassen konnten, denn Thélin, der inzwischen zum Verwalter der kaiserlichen Privatschatulle aufgerückt war, stand nach wie vor in hoher Gunst bei seinem Herrn. Doch gerade diese Tatsache ließ ihn schweigsam werden; er wußte viel – er und des Kaisers erster Kammerdiener Felix waren eingeweihter als mancher Minister, aber die schlichtmenschliche Moral fester Treue bewahrte sie vor einem Vertrauensbruch.
Nun handelte es sich freilich in diesem Falle nicht um die Bewahrung ängstlich gehüteter Geheimnisse. Lag alles so, wie Désirée es vermutete und glaubte, so mußte Thélin auch wissen, daß sie längst die Baronin Herwey geworden war, und vielleicht hatte der alte Schatzbewahrer sich schon zuweilen staunend gefragt, warum man auf der Grundlage der Tatsachen noch nie seine Kasse in Anspruch genommen hatte. Den Versprechungen, die Graf Roset ihr für die Zukunft gegeben hatte, mißtraute der Staatsrat; Roset war eine intrigante Natur, einer von denen, die mit brutaler Handfestigkeit ihre Ziele verfolgten und die Lüge zu den unentbehrlichen Größen des Lebens zählten.
Herwey entschloß sich rasch, befahl sein Coupé und ließ sich nach den Tuilerien fahren. Es war die Stunde der Audienzen, und er hoffte, Thélin zu treffen und mit ihm die Zeit einer näheren Rücksprache verabreden zu können. Unterwegs kam er aber auf einen anderen Gedanken. Er beugte sich aus dem Wagenfenster und rief dem Kutscher zu, ihn zunächst nach der Rue Lafitte zu fahren. Dort wohnte Frau Hortense Cornu in einem schmalen Hause, das sich gleichsam verschüchtert zwischen zwei protzige Bankpaläste drängte. Sie war daheim, empfing den Staatsrat und kam ihm mit freundschaftlicher Begrüßung entgegen: eine liebenswürdige ältere Dame von bürgerlicher Behaglichkeit mit gutmütigem Ausdruck auf einem breiten, gesunden Gesicht, das sich auch gern in wichtige Falten legte.
Herwey versäumte selten, wenn er in Paris war, sie aufzusuchen. Sie war keine Spenderin politischer Weisheit, doch als gute Freundin und Milchschwester Napoleons benutzte man sie vielfach zu vertraulichen Missionen, denen sie sich mit leidenschaftlichem Eifer hingab, und die zuweilen auch verblüffende Resultate zeitigten wie bei der Neuordnung der rumänischen Thronfolge. Ihre erste Frage galt Ralph, dessen sie sich freundlich erinnerte, und sie erschrak aufrichtig, als Herwey ihr den Tod seines Jungen mitteilte. Im übrigen spürte der Staatsrat schon nach kurzer Unterhaltung, daß sie keine Ahnung hatte, wer hinter dem Decknamen Egeria steckte, und er begriff das sehr wohl: ihre Hintermänner kannten ihre Geschwätzigkeit und ließen sie im unklaren über die Verbindungen, für die man ihre immer hilfsbereiten Hände gebrauchte.
Trotzdem erfuhr Herwey in dieser Plauderstunde mancherlei, was ihn interessierte. Zunächst den Tod des Grafen Roset, der auf einer Reise nach London plötzlich gestorben war. Frau Cornu hatte keinen gefälligen Nachruf für ihn, erzählte auch unumwunden, daß sie den Kaiser häufig vor diesem unsympathischen Menschen gewarnt habe. Aber, sagte sie, der hohe Herr habe in letzter Zeit eine seltsame Vorliebe für dunkle Existenzen gezeigt; in seinem Vorzimmer wimmele es von geheimen Zwischenträgern, und zum Entsetzen Eugénies seien auch die Agenten Mazzinis wieder in reger Tätigkeit, um unter Beihilfe des Grafen Daru den noch widerstrebenden Ollivier auf die papstfeindliche Seite zu ziehen. Dann fragte sie Herwey nach seiner Frau, der sie sich in raschem Erinnern zu entsinnen schien, und wieder merkte der Staatsrat sofort, daß dies flüchtige Befragen keine Verstellung war, daß sie vielmehr tatsächlich von irgendwelchen Beziehungen Désirées persönlicher oder politischer Natur zu dem Mann in den Tuilerien nichts wußte. Endlich kam man auf schwebende Tagesfragen zu sprechen, vor allem auf die Kandidatur Hohenzollern für den spanischen Königsthron, die Frau Cornu lebhaft befürwortete. Sie fühlte sich sichtlich als weiblicher Warwick, sie hatte den Fürsten Carl nach Rumänien gebracht und wollte nun auch dem Prinzen Leopold eine Krone verschaffen. Alle übrigen Kandidaturen waren erledigt, ein Mitbewerber stand nicht mehr im Wege. Und Frau Cornu versicherte, daß bei der Verwandtschaft und Freundschaft des Sigmaringer Hauses mit den Bonapartes Napoleon keinen Widerspruch erheben würde, wenn man ihn, wie im Falle Rumäniens, einfach vor die vollendete Tatsache stellen wollte. Es sei auch nicht wahr, daß die Kaiserin sich dagegen wehre, die dem Vater Leopolds, dem Fürsten Carl Anton, immer eine besondere Verehrung entgegengebracht habe, und bei der ausgesprochenen Friedensliebe des Ollivierschen Ministeriums sei schließlich nicht zu befürchten, daß die Kriegspartei aus diesem Anlaß von neuem an Einfluß gewinnen würde. Frau Cornu sagte das alles mit solcher Bestimmtheit, daß Herwey doch nachdenklich geworden war, als er sie verließ.
Er fuhr weiter nach den Tuilerien und ließ sich zunächst beim Herzog von Bassano melden, bei dem er noch immer einen Stein im Brett hatte, weil er ihm vor Jahren einmal einen großen Dienst hatte erweisen können. Der Oberkammerherr, eine harmlose Nichtigkeit mit einem grotesken Bullenbeißergesicht, kam ihm freundlich entgegen, sagte ihm aber gleich, daß eine Audienz beim Kaiser kaum zu erreichen sein würde, wenn es sich nicht um einen wichtigen offiziellen Auftrag handele; die Majestät sei so leidend, daß sie sogar auf den angesagten Besuch des Herzogs von Coburg-Gotha hätte verzichten müssen. Baron Herwey entgegnete, er sei lediglich in Privatangelegenheiten in Paris und nur deshalb in die Tuilerien gekommen, um Herrn Thélin, einen alten Bekannten aus früheren Tagen, begrüßen zu können. Thélin war natürlich im Schlosse, und der Herzog selbst geleitete Herwey zu ihm, in jenes kleine Vorzimmer, das nur durch das sogenannte Kabinett der Suite vom Arbeitsgemach des Monarchen getrennt war.
Thélin war ein zusammengeschrumpftes, weißhaariges Männchen, das frierend am Kamin saß und in einem Dumasschen Roman las. Seine ganze Beschäftigung in den Audienzstunden bestand darin, zu warten, denn oft bedurfte der Kaiser seiner und war unwillig, wenn auf das zweimalige heiser schrillende Klingelzeichen in der Wand der alte Getreue nicht sofort erschien. Thélin erkannte den Baron Herwey zunächst nicht wieder, aber ein paar Worte genügten, die Erinnerung aufzufrischen, und nun war er von großer Herzlichkeit, rückte einen zweiten Sessel an den Kamin und begann mit ihm aus den Zeiten des Londoner Exils zu plaudern, wobei natürlich auch der Herzog Karl von Braunschweig Erwähnung fand und die vergeblichen Bestrebungen, ihm den verlorenen Thron zu retten. Da festete sich denn das Gedächtnis des alten Herrn; er entsann sich noch gut aller der verschiedenen Versuche, die Herwey damals angestellt hatte und die an der jämmerlichen Persönlichkeit des Fürsten scheiterten, so daß auch der Kaiser schließlich erklärte, Deutschland könne nur froh sein, diesen kläglichen Potentaten für immer losgeworden zu sein. Und dann dämmerten die Erinnerungen weiter, und das Auge Thélins ruhte forschend und wie suchend auf dem Baron Herwey – – ja, wie war das denn – wie war das denn damals gewesen – mit jenem Privatsekretär des Herzogs Karl, der nichts als Dummheiten machte und den man dann in den Staatsdienst zu lancieren versuchte, und dessen schöne, junge Frau … und plötzlich schlug sich der alte Thélin vor die Stirn und rief:
»Wo habe ich nur meinen Kopf – Sie waren es ja, der nach dem Tode jenes Menschen seine Witwe heiratete – ah ja, die reizende Tochter einer schönen, schönen Mutter, der Teresa Fumagalli!«
»Und zugleich«, fügte Herr von Herwey mit fast feierlichem Ernst im Tone hinzu, »die Tochter jenes Prinzen Louis Napoleon, der heute Kaiser der Franzosen ist.«
Thélin schüttelte langsam den weißen Kopf.
»Nein, mein Freund,« sagte er, »das ist sie nicht – und wenn Sie hierher gekommen sein sollten, um auf diese Vermutung hin irgend etwas – ich weiß es ja nicht, ich spreche nur die Möglichkeit aus –, irgend etwas bei meinem kaiserlichen Herrn zu erreichen, so muß ich Ihnen leider erklären, daß Sie sich einer Täuschung hingeben.«
Baron Herwey atmete stark auf. »Sie irren sich, Herr Thélin,« antwortete er, »ich habe nicht die Absicht – ich würde auch nie daran gedacht haben, mir auf Grund der Annahme eines solchen Verhältnisses einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, nicht einmal den kleinsten. Aber ich gestehe unumwunden zu, daß mein Besuch bei Ihnen den Zweck hat, etwas Näheres über dies eigentümliche Gerücht zu hören, das natürlich auch meiner Frau zu Ohren gekommen ist und sie beunruhigt – in gewisser Weise beunruhigt. Darf ich mir ein offenes Wort darüber erbitten?«
»Sie haben ein Recht dazu,« erwiderte Thélin, »da die alte Geschichte nun doch einmal wieder ausgegraben worden ist. Ich kann mir auch denken, von wem – von wem wohl anders als dem Grafen Roset, dessen unheilvoller politischer Tätigkeit nun der Tod ein Ende gesetzt hat! Ein geschickter Diplomat, aber ein gewissen- und rücksichtsloser Mensch, einer, dem nichts heilig war und dessen ganzes Lebenssystem von der Intrige getragen wurde. Es liegt Jahre zurück, da war er einmal bei mir, um mich zu befragen, ob es sich nicht ermöglichen ließe, das Schlößchen Champéron der letzten Erbin des erloschenen Geschlechts zurückzuerstatten. Baron Herwey – ich muß nun die Wahrheit sagen – auch auf das mir peinliche Gefühl hin, Sie zu verletzen.«
»Ich bitte,« fiel der Staatsrat ein und legte seine Hand auf den Arm Thélins, »ich bin darüber hinaus, bin auf alles gefaßt – und glaube zudem, ich weiß schon die Wahrheit.«
»Nun wohl,« fuhr Thélin fort, »das Kind, dem Teresa Fumagalli in Ham das Leben gab, war eine Tochter des Kapitäns Bernard, unsres Kerkermeisters. Wir haben den stichhaltigsten Beweis für ihren Treubruch in ihrem eigenen Geständnis auf dem Totenbett. Da packte sie die Reue. Aber da sie eine schmerzliche Liebe unsres Prinzen gewesen war, so übergab General Montholon das Mädchen einem befreundeten Bonapartisten, eben jenem Grafen Champéron, der sie als eigenes Kind erziehen ließ und ihr meines Wissens auch ein kleines Vermächtnis hinterließ – ausdrücklich aber nicht das als Stammsitz geltende Schloß, das er testamentarisch dem Kaiser zuwies. Ich habe Roset damals übrigens auch gesagt, daß seine Bitte eine Unmöglichkeit sei, denn niemals – nie durfte vor dem Kaiser der Name Teresas genannt werden. Es war die Liebe seiner Jugend, die in seiner Mannesblüte zum schwersten Leid wurde.«
Baron Herwey neigte mitfühlend den Kopf – er tat wenigstens so, als begreife er diese Herzensregung.
»Verstehe,« entgegnete er. »Aber, Herr Thélin, ich weiß, daß Roset meiner Frau einige Briefe Montholons an den verstorbenen Grafen Champéron übergeben hat, in denen ausdrücklich von einem Kinde des Prinzen gesprochen wird. Wie erklärt sich das?«
»Einfach dadurch, daß der General in der Tat dieser Ansicht war. Doktor Conneau und ich ließen ihn anfänglich auch dabei, denn uns lag daran, das Kind Teresas dem Vater zu entziehen, der übrigens eine anständige Abfindung erhielt. Erst später haben wir Montholon die Wahrheit gesagt, und er fuhr daraufhin nach Champéron, um auch dem alten Grafen Aufklärung zu geben. Der hatte aber längst die Kleine als Töchterchen seiner kurz vorher in Italien verstorbenen Gattin in die Standesmatrikel eintragen lassen, und dabei blieb es denn. Er hatte das Mädelchen liebgewonnen – es ging unter den obwaltenden Umständen ja auch gar nicht an, sich zu der Fälschung zu bekennen … Woher hatte übrigens Graf Roset die Briefe Montholons, die Sie erwähnten? Lieber Freund, er kann sie nur entwendet haben. Ich hatte ihm die Erlaubnis gegeben, das Archiv von Champéron für seine Nachforschungen zu benutzen, denn, mein Gott, er war damals noch Gesandter, nahm eine einflußreiche Stellung ein, und ich hielt ihn für einen anständigen Menschen. Ich verstehe auch heute noch nicht recht, welche Gründe für ihn maßgebend gewesen sein können, Ihrer Gattin diese Briefe auszuhändigen und damit falsche Vermutungen in ihr zu erwecken. Denn nun handelte es sich ja doch nicht mehr um ein bloßes Gerücht, sondern um bestimmte Unterlagen.«
»Ganz richtig, lieber Herr Thélin – und da wir uns auf dem Boden einer offenen Aussprache befinden, kann ich Ihnen auch sagen, daß Roset augenscheinlich den Plan verfolgte, meine Frau in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zu sich zu bringen. Sie sollte ihm Spionendienste leisten – nicht gegen blanken Verdienst, natürlich nicht, das war ja unmöglich, sondern aus ethischen Gründen.«
»Ah,« rief Thélin lebhaft, »sieh da, dieser Schurke! Nun ist mir alles klar. Mein lieber Baron, Roset ist tot, und ich spreche nur Bekanntes aus, wenn ich Ihnen erzähle, daß er jahrelang die Seele des politischen Geheimdienstes war, auf den die Helden des letzten Kabinetts, vor allem Niel und Moustier, sich stützten. Daru und Ollivier haben damit aufgeräumt – es weht jetzt ein frischerer Hauch durch unsre Politik, aber ganz sind wir noch immer nicht aus der ekelhaften Geheimniskrämerei heraus, die, ich muß es gestehen, auch auf den Kaiser gewisse eigentümliche Reize ausübt. Wissen Sie, es regt sich bei ihm noch etwas von dem alten Verschwörerblut aus der Carbonarizeit und auch die Lust an der Romantik. Denn er ist ein Romantiker – oh, ich kenne ihn ja lange genug und kenne ihn gut in dem vollen Getriebe seines Empfindens und Begehrens – er sucht gern nach übersinnlichen Größen und findet sie auch in der Mystik, und je älter er wird, um so fremder steht er den Realitäten gegenüber. Jetzt soll der Abrüstungsplan Darus von neuem aufgenommen werden – der Kaiser träumt von einem allgemeinen Weltfrieden, während Ihr Bismarck das Militärbudget unaufhörlich steigert und man in Wien …« Er unterbrach sich und schaute Herwey mit listigem Schmunzeln an … »Wissen Sie, wer augenblicklich beim Kaiser ist?« fragte er.
»Ich weiß nur, daß mir Bassano sagte, der Kaiser sei viel zu leidend, um Audienzen erteilen zu können,« erwiderte Herwey.
»Nun ja, das hat schon seine Richtigkeit, immerhin, es gibt ja auch Ausnahmefälle. Den Herzog von Coburg hat er nicht empfangen, weil er ihn nicht leiden kann, aber für den Erzherzog Albrecht von Österreich ist er zu sprechen. Die Generale Jarras und Lebrun sind auch dabei, und der Erzherzog trug eine dicke Mappe unter dem Arm.«
Der Staatsrat lächelte. »Was mag wohl in der Mappe sein?« fragte er. »Vielleicht der berühmte Feldzugsplan, den man schon seit Monaten in Berlin kennt, weil der Herr Erzherzog so stolz auf seine strategischen Kenntnisse ist, daß er sie jedem, der es hören will, unter dem Siegel des Geheimnisses anvertraut.«
»Ja du lieber Gott,« rief Thélin und lachte, »Ihnen kann man wahrhaftig keine Neuigkeiten erzählen! Aber nun sagen Sie mir: sind Sie denn glücklich an der Seite Ihrer schönen jungen Frau?«
»Unendlich glücklich, verehrter Freund, und es wird unser Glück auch nicht stören, wenn Désirée erfährt, daß sie kein Anrecht auf die kaiserliche Verwandtschaft hat. Übrigens – lebt ihr Vater, lebt jener Kapitän Bernard noch?«
»Nein,« sagte Thélin hart, »er wurde bald nach der Flucht des Prinzen von einem Soldaten im Streite erschlagen …« Dann erhob er sich rasch und rückte an seiner Kleidung. Ein leise klingender Ton wurde hinter der Tapete vernehmbar … »Ich muß mich verabschieden, lieber Baron. Das Zeichen des Kaisers …« Hastig drückte er Herwey die Hand. –
Der Staatsrat fuhr in sein Hotel zurück. Er hatte sich im Wagen eine seiner starken Zigarren angezündet und hüllte sich in Rauch. Ein bitteres Lächeln bog seinen Mund. Arme Désirée, Weib ohne Herz und Gewissen, es war alles umsonst! Was bleibt übrig von dem Gerüst stolzer Hoffnungen, an dem du seit Jahren gebaut hast? Ein jämmerliches Nichts. Stärker als deines Geistes Schärfe war deine Eitelkeit, die dich in ein Gewebe von Illusionen hüllte, das jeden Augenblick hätte zerreißen können, wenn deine phantastische Einbildungskraft die Fäden nicht regsam immer weiter und fester gesponnen hätte. Ein klägliches Ende, Désirée. Da kam eines Tages ein gewissenloser Macher und blies dir einen Giftstaub in das Hirn – und die Kluge, die Schlaue, die Vielgewandte war rettungslos verloren. Du ließest deinen Ehrgeiz dich etwas kosten. Was galt dir der Mann, was galt dir der Sohn! Um einer blendenden Narrheit willen schrittest du über Herzen und Gräber, und nun ist die eigene Tat dir zum Schicksal geworden …
Das Lächeln verflog, hart wurden die Züge. Die starken Zähne knirschten hörbar aufeinander. Die Abrechnung war noch nicht zu Ende. Er konnte sie nach Gefallen ausdehnen und das Fazit ziehen, wann es ihm beliebte. Das bedurfte der Überlegung. –
Im Hotel fand er den Agenten vor, dem er den Auftrag erteilt hatte, sich nach dem Besuchszweck des Erzherzogs Albrecht zu erkundigen. Der Erzherzog hatte eine Reise nach dem französischen Süden unternommen und hielt sich jetzt schon seit zehn Tagen in Paris auf. Fürst Metternich hatte ihm auf der Botschaft ein Essen gegeben, zu dem auch der Kriegsminister und eine kleine Anzahl höherer Offiziere geladen worden waren. Der Agent wußte, daß bei dieser Gelegenheit viel über militärische Fragen gesprochen worden war. Doch habe der Erzherzog ausdrücklich gebeten, alles Politische auszuschalten und die Unterhaltung lediglich auf die strategischen Operationen zu beschränken, die für den Fall eines Krieges zwischen Frankreich und Preußen notwendig werden könnten. Es sei nur eine platonische Aussprache gewesen, äußerte der Agent.
Er war ein ungemein gewandter Mann, klagte aber über die Preußische Botschaft, wo man seit dem Tode des Grafen Goltz sich völlig auf die Friedenspolitik des Ministers Daru verlasse. Die Abrüstungsfrage sollte durch Vermittlung Englands von neuem in Fluß gebracht werden, Frankreich selbst wollte sich verpflichten, die regelmäßige Rekrutierung für das neue Jahr um zehntausend Mann zu verringern.
Baron Herwey blieb noch einige Zeit in Paris, um sein Material zu vervollständigen. Er zeigte sich auch auf der Botschaft, wo man in optimistischer Stimmung war und dem Besuch des Erzherzogs Albrecht gar keine Bedeutung beilegte. Aber die Stimmung schlug schon in den nächsten Tagen um, als aus Berlin die Nachricht eintraf, Bismarck habe den Antrag des kleinen Lasker, Baden in den Norddeutschen Bund aufzunehmen, zwar für den Augenblick abgelehnt, aber bei dieser Angelegenheit von neuem betont, daß er in der Vollendung der deutschen Einheit das Ideal der Zukunft sehe. Um diese Zeit wollte der Staatsrat nach Berlin zurück, doch die Aufregung der Kriegspartei und die mit einem Schlage einsetzende abermalige Preußenhetze der Boulevardpresse veranlaßte ihn zu noch längerem Bleiben. Es war wieder einmal ein gefährlicher Augenblick im Völkerleben. Herwey jagte Depeschen nach Berlin. Überall in Paris, am Hofe, im Heere, in den Zeitungen drängte man, den »Fehdehandschuh« Bismarcks aufzunehmen, denn es sei klar, daß der Kanzler sich bei der ersten besten Gelegenheit über die Bestimmungen des Prager Friedens hinwegsetzen werde, der die Aufnahme Badens in den Bund verbiete. Eine offiziöse Notiz in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, der Eintritt Badens habe gar nichts mit den Bestimmungen des Prager Friedens zu tun, schürte die allgemeine Wut nur noch mehr. Durch Granier de Cassagnac, den Chefredakteur des »Pays«, der sich in diesen Sturmtagen Ollivier genähert hatte, gelang Herwey eine Audienz bei dem Ministerpräsidenten, der ihn beauftragte, ein seine Ansichten wiedergebendes Interview in deutsche Blätter zu bringen. Ollivier betonte, wieviel ihm an einer sich stetig festigenden Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland liege, er sei auch keineswegs ein Gegner der Vereinigung der deutschen Nord- und Südstaaten, immerhin sehe das französische Volk in einer weiteren Vergrößerung Preußens eine wachsende Gefahr, die möglicherweise auch den Kaiser zwingen könne, durch eine kriegerische Einmischung dazu Stellung zu nehmen. Das war also eine regelrechte Drohung, die Herwey vorläufig noch nicht in den Blättern veröffentlichte, sondern mit nach Berlin nahm, um darüber zunächst mit dem Kanzler zu sprechen. Bismarck war dankbar für die Mitteilung, bat Herwey, das Interview der ›Kölnischen Zeitung‹ zu übergeben, hielt jedoch eine öffentliche Erörterung für unnötig.
Der Staatsrat fand in Berlin neue wichtige Nachrichten aus Spanien vor, hatte aber zunächst genügend mit seinen persönlichen Angelegenheiten zu tun. Erika hatte ihn auf dem Bahnhof erwartet, um ihm schon auf der Nachhausefahrt von dem Doppelunglück zu erzählen, das Herbert betroffen hatte: von seiner mißlungenen Mission in Rumänien und seiner Verhaftung. Herwey war eine zu widerstandsfähige Natur, um sich durch den neuen unerwarteten Schlag niederwerfen zu lassen, aber es kam doch ein Frösteln über ihn und eine ängstliche Unsicherheit, wenn er daran dachte, wie der Lauf des Geschehens ihn in der letzten Zeit immer nur abwärts geführt hatte.
Natürlich war Désirée begierig, von ihm zu erfahren, was man ihm in Paris über sie, ihre Zukunft und ihre politische Tätigkeit anvertraut haben könne, und bat ihn noch am Abend seiner Ankunft zu sich. Sie schützte eine leichte Migräne vor, um nicht mit ihm und Erika gemeinsam zu speisen, hatte aber ihrer Gewohnheit nach eine Flasche Wein, diesmal einen alten Tokayer, aus ihrem sogenannten Privatkeller für den Gatten bereitgestellt.
»Ich nippe nur, Désirée,« sagte Herwey nach der ersten Begrüßung, – »nur ein halbes Glas, wenn ich bitten darf. Ich bin doch ein wenig in Erregung über die Verhaftung Herberts, verstehe auch gar nicht, wie das möglich gewesen ist. Natürlich gehört schon ein gewisser Wagemut dazu, sich unter dem Zwange der Verurteilung dreiviertel Jahr hindurch frei in Berlin zu bewegen. Aber ich glaube, annehmen zu können, daß die Polizei Auftrag hat, den verfolgten Hannoveranern gegenüber ein Auge zuzudrücken, außerdem hat Windthorst die Begnadigung Herberts bereits in die Wege geleitet, die also nur noch eine Frage der Zeit ist.«
»Ich war bereits beim Polizeipräsidenten«, entgegnete Désirée, »und habe versucht, für Herbert zu vermitteln. Herr von Wurmb sagte mir aber, es handle sich um eine rein politische Angelegenheit, die noch der Aufklärung bedürfe. Herbert befindet sich übrigens nicht in Untersuchungshaft, sondern in sogenannter Polizeihaft, genießt eine bedingte Freiheit, wird gut gehalten und darf sich selbst verpflegen. Jedenfalls läßt dich Herr von Wurmb bitten, ihn zu näherer Rücksprache zu besuchen.«
»Was schon morgen geschehen soll. Ich hoffe, Wurmb wird mir eine Unterredung mit Herbert gestatten. Ich muß in der rumänischen Intrige klar sehen.«
»Auch eine verlorene Sache, armer Freund.«
»Vermutlich nur eine Perfidie, der man mit gleichen Waffen begegnen muß. Und nun zu deiner Angelegenheit, Désirée …« Der Staatsrat strich sich über Stirn und Augen, als wolle er die Gedanken sammeln, vermied es aber, dem Blick seiner Frau zu begegnen … »Zunächst die Hauptsache: Roset ist tot.«
»Ah,« rief Désirée, und ein leichtes Zucken ging durch ihren Körper. »Seit wann?«
»Ich weiß es nicht,« entgegnete Herwey müde, »ich weiß nur die Tatsache: aber sein Tod kann dich gleichgültig lassen. Ich habe Informationen eingezogen, die deine Annahme bestätigen. Du bist in der Tat die Tochter des Kaisers und der Teresa Fumagalli, und die Versprechungen, die man dir gemacht hat, fußen auf zuverlässigen Grundlagen. Nur dem Kaiser darf man in deiner Sache nicht kommen, sein Gesundheitszustand macht es unmöglich. Die Ärzte Nelaton und Corvisart halten ihm jede Aufregung fern. Neben seinem alten körperlichen Leiden spricht eine tiefe seelische Depression mit: er zittert für seinen Sohn. Denn tatsächlich ist die Lage gespannter denn je und die endgültige Lösung bleibt immer ein siegreicher Feldzug. In diesem Falle würde man ihm über dich Bericht erstatten, und man setzt wohl mit Recht voraus, daß er dann das ganze Füllhorn seiner Gnade über die Tochter ausschütten wird. Er ist zugänglich für gewisse Sentiments, und es wird einen rührenden Beiklang für ihn haben, wenn er hört, daß du jahrelang das Geheimnis gewahrt hast und dabei ununterbrochen tätig für seine Regierung gewesen bist.«
Baron Herwey schwieg, den Kopf neigend und das Kinn in die rechte Hand vergrabend. Désirée aber wanderte, während sie ihm lauschte, mit ihren Gedanken über die Zeitlichkeit hinaus in ein Glück der Zukunft. Keinen Augenblick zweifelte sie an der Wahrheit dessen, was der Gatte ihr sagte. Es stimmte ja durchaus überein mit den Mitteilungen Rosets, und es lag auch nicht der leiseste Grund dafür vor, sie zu belügen. Ihre Psyche trank aus einer Flut seligen Hoffens und schuf in ihren Augen ein Traumbild voll leuchtendem Glanz.
»Ich danke dir, Charlie,« sagte sie, »und bitte um Verzeihung, wenn ich dich noch mit einigen Fragen belästige. Du bist müde und abgespannt – ich will dich nicht mehr lange aufhalten. Nur noch ein Weniges zu meiner Information. Die Warnungen deiner Agenten, daß man mich zu täuschen versuche, waren also unberechtigt?«
»Ja gewiß, denn auch die Agenten kannten das Tatsächliche nicht. Wer kennt es denn noch? Eine kleine Gruppe Vertrauter und in ihrem Mittelpunkte Thélin, der alte Schatzmeister des Kaisers, der Mitgefangene von Ham. Mit ihm habe ich denn auch eingehend verhandeln können und alle Notwendigkeiten für deine Zukunft kaltblütig besprochen – kaltblütig, sage ich, denn jeder Vorteil, den dir die Zukunft bringt, ist für mich ein Verlust, der nie mehr einzuholen ist.«
»Nein, Charles,« rief Désirée, »so soll es nicht sein – das will ich nicht und das wollte ich nie! Ich gebe zu, daß ich unrecht und sicher auch unklug gehandelt habe, mit Anatol in Verbindung zu treten. Ich tat es – weil ich dich fürchtete. Ja, ich fürchtete, du würdest mir mein Schicksal aus der Hand nehmen und nach eigenem Gefallen kneten, und dachte dabei nicht an die größere Gefahr, die mir von seiten eines Schurken drohen konnte. Nun ist geschehen, was nicht mehr ungeschehen zu machen ist. Unsre Ehe war – von beiden Seiten – nichts als ein leichtfertig geschlossener Handel. Aber ihre Lösung soll, wenn erst die Stunde gekommen ist, ohne Erbitterung erfolgen, aus Einsicht und Klugheit, als letzte Folge einer unumgänglichen Notwendigkeit. Eins kann ich dir nicht ersetzen: den Verlust meiner Person – und ich bin doch nicht eitel genug, um nicht achselzuckend hinzuzufügen, daß es kaum ein Verlust für dich sein kann, jedenfalls keiner, über den du nicht hinauskommen wirst. Dafür werde ich dir an äußerlichen Vorteilen zur Genüge bieten können, und dann hoffe ich dir auch zu zeigen, daß zu meinen wenigen Tugenden immerhin die Dankbarkeit gehört. Schwierigkeiten könnte uns nur noch Anatol bereiten.«
»Nein,« erwiderte Herwey kühl – seine Stimme klang merkwürdig einförmig. »Über alle diese Fragen konnte ich in Paris verhandeln. Eine kaiserliche Order würde im gegebenen Augenblick die Entscheidung bringen. Es liegt alles völlig klar – bis auf das letzte: den Krieg und den Sieg.«
»Und der Krieg ist uns in diesen Tagen wieder einmal nahegerückt?«
»Zweifellos. Die Gefahr wird verstärkt durch die Zwietracht der Minister Daru und Ollivier in der römischen Frage. Ein neues Ministerium könnte Gramont an das Ruder bringen, der von Wien aus seit einem halben Jahre alle Räder in Bewegung setzt, um Einfluß auf die Regierung zu gewinnen. Napoleon will diesen eitlen Schwätzer und tollwütigen Preußenhasser nicht, aber es gibt stärkere Kräfte als den Kaiser. Und es liegt heute doch so, daß der Krieg auch den Sieg bedeuten könnte. In Österreich arbeiten die Erzherzöge reger als je für den Anschluß an Frankreich, und dann …,« Herwey hob den Kopf, und sein verschleierter Blick traf Désirée … »dann treten auch noch andre gewichtige Momente hinzu, die es wahrscheinlich machen, daß die Franzosen den Rhein überschritten haben werden, ehe die preußische Mobilisation beendet ist. Dann wird Baden überrannt und Württemberg besetzt, und das ist der Augenblick, in dem auch Italien eingreifen könnte, um gegen Bayern vorzugehen – falls der Süden nicht vorzieht, neutral zu bleiben. Jedenfalls«, und nun richtete der Staatsrat sich straffer im Sessel auf – »habe ich beschlossen, der Zeitlage Rechnung zu tragen. Man hat mir in Paris Avancen gemacht, die sich in gewisser Weise mit deinen Zukunftsplänen berühren.«
Désirée horchte auf.
»Und inwiefern?« fragte sie.
Herwey lächelte. »Man sprach diplomatisch von Kompensationen – von gewissen Entschädigungen. Ich bin nicht gebunden – ich könnte in französische Dienste treten – – und, du lieber Gott, wenn du Herzogin von Champéron wirst, warum soll ich da nicht irgendeinen Gesandtenposten erhalten?«
»Ja gewiß,« rief Désirée eifrig, »dann kommst du endlich auf ein Gebiet, das deinen Talenten entspricht, und auf der Höhe des Lebens auch auf die Höhe deiner Aufgaben! Charlie, ich würde sehr glücklich sein, wenn ich dir dabei behilflich sein könnte.«
»Du wirst es können, Désirée, denn du wirst die Macht dazu haben. Aber ein Zusammengehen ist nötig. Salazar ist in Berlin – ich werde ihn morgen sprechen. Die im Herbst abgebrochenen Verhandlungen mit den Hohenzollern sollen von neuem aufgenommen werden. Damit spitzt die Weltlage sich abermals zu. Ich bitte dich, von nun ab die Ergebnisse meiner Erkundigungen abzuwarten und sie unter deinem Decknamen nach Paris weiterzugeben. Denn die Berichte der Egeria sollen natürlich bleiben, nur geht es nicht an, daß sie die meinen durchkreuzen. Du verstehst mich.«
»Vollauf. Ich werde dir eine fügsame Mitarbeiterin sein.«
Herwey erhob sich.
»Abgemacht. Im Frühjahr werden wir den Krieg haben. Das ist die erste Etappe auf deinem neuen Wege. Inzwischen gilt es, die Bruchstellen in der Allianz zwischen Frankreich, Österreich und Italien säuberlich zu kitten. Dann ist deine zweite Etappe gegeben. Gute Nacht, Désirée.«
Draußen blieb er einen Augenblick stehen. Er atmete schwer. Seine Lider senkten sich. Er lehnte sich gegen die Wand des Vorraumes. Ein krasses Schwächegefühl schlich durch seine Glieder. Er fürchtete einen Schlaganfall und wünschte ihn herbei. Dann wäre alles aus gewesen. Aber es war nur ein großes Ekelempfinden, das ihm die Kehle umschnürte – vielleicht auch das Bewußtsein, daß sein Leben nie mehr die Gegensätze völlig umspannen und die Widersprüche überwinden werde können, die sich um ihn häuften. –
Das blaulackierte Kupee hielt am nächsten Vormittag pünktlich wie immer vor der Villa. Baron Herwey fuhr zunächst zum Polizeipräsidenten, der ihn aber gar nicht empfing, sondern ihm sagen ließ, die Angelegenheit liege in den Händen des Chefs der Politischen Abteilung, er möge sich gütigst zu dem Herrn Geheimrat bemühen. Der hatte sein Bureau eine Treppe tiefer und war ein alter Freund Herweys.
»Guten Tag, mein lieber Baron,« rief er ihm entgegen, »legen Sie ab und nehmen Sie Platz. Sie haben Glück – gestern ist die Begnadigung Ihres Sohnes eingetroffen – er ist frei.«
»Gott sei Dank. Ist er noch im Hause und kann ich ihn sprechen?«
»Ja natürlich – aber zunächst erlauben Sie mir, mich ein paar Minuten mit Ihnen zu unterhalten. Ich möchte Ihnen auch einige Aufschlüsse geben, die Sie interessieren werden. Der Aufenthalt Ihres Sohnes in Berlin ist uns schon seit dem vorigen Sommer bekannt. Man hat uns von Paris aus darauf aufmerksam gemacht. Nun ließ ich ihn beobachten und fand keinerlei Ursache, gegen ihn einzuschreiten. Wir sind den hannöverschen Herren gegenüber sehr nachgiebig geworden, vor allem den Idealisten und den armen Teufeln, die man jetzt nach Algier deportieren will – deportieren ist wohl der richtige Ausdruck.«
»Ich widerspreche nicht, lieber Geheimrat.«
»Nun also – ich sagte Ihnen schon, daß das von Windthorst eingereichte und von Bismarck unterstützte Begnadigungsgesuch vom König vollzogen worden ist. Es handelt sich dabei aber nur um Erlaß der Zuchthausstrafe wegen Landesverrat. Ihr Sohn wurde indessen einer andern Angelegenheit halber in Haft genommen.«
Herwey wurde unruhig. »Ich verstehe nicht recht,« sagte er.
»Es ist rasch erklärt. Seit längerer Zeit wissen wir, daß die Französische Botschaft ausgezeichnete Informationen über unsre militärischen Verhältnisse erhält, auch über solche, die als geheime Instruktionen bezeichnet wurden. Der Berichterstatter weiß vor allem über die Neuerungen in unserm Artilleriewesen in allen Einzelheiten gut Bescheid …,« und nun unterbrach sich der Geheimrat und fügte hinzu: »Ich bitte Sie, Herr Baron, behalten Sie die Fassung. Eine rückhaltlose Aussprache zwischen uns ist unbedingt nötig.«
Herwey tupfte mit seinem Taschentuch über die ganz weiß gewordene Stirn. »Ich sehe es ein,« sagte er tonlos, »fahren Sie fort, wenn ich bitten darf.«
»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser geben – oder einen Schluck Wein anbieten?«
»Nein, ich danke. Sprechen Sie nur weiter, Herr Geheimrat.«
»Ich will kurz sein. Ein Vertrauensmann in Paris hat uns den ursprünglichen Zweck des Besuchs Ihres Sohnes in Berlin mitteilen können. Er betraf eine militärische Spionage, die von einem bestimmten Zentrum ausgeht, das ehemals Herrn Eriau unterstellt war – aber ich will mich nicht in Nebendinge verlieren. Daraufhin ließ ich Ihren Sohn in Polizeihaft nehmen und habe ihn einem Verhör unterworfen, das mir ohne weiteres seine völlige Unschuld klargelegt hat. Sie hatten indes noch einen zweiten Sohn.«
»Ja,« antwortete Herwey fest und in großer Ruhe, »– und nun gestatten Sie, Herr Geheimrat, daß ich selbst die Fortsetzung Ihrer Ausführungen übernehme. Meine Frau ist eine geborene Französin, und ein seltsamer Zusammenfluß von Umständen, der ihr Denken verwirrte, veranlaßte sie, sich hinter meinem Rücken in die Dienste ihres Heimatlandes zu stellen. Sie wissen, daß mein ältester Sohn Ralph tot ist. Man hat an einen Unglücksfall gedacht, an die Entladung eines Jagdgewehrs. Ich stand diesem Glauben immer etwas mißtrauisch gegenüber – und heute weiß ich nun, daß er Selbstmord begangen hat, weil er die Schande fürchtete.«
Die Stimme des Staatsrats zitterte, doch er hob die rechte Hand, um einer Unterbrechung vorzubeugen, und sprach weiter:
»Es steht Ihnen frei, Herr Geheimrat, auf dieses Bekenntnis hin meine Frau verhaften zu lassen. Aber das würde nur einen ungeheueren Skandal verursachen, meine Stellung ruinieren und dabei sehr wenig an praktischen Erfolgen zeitigen, denn am schon Geschehenen läßt sich nichts ändern. Ich komme soeben aus Paris, wo ich den merkwürdigen Zusammenhängen nachspüren konnte, die meine Frau in die Irre trieben, und kann Ihnen nunmehr die Versicherung geben, daß ich sie völlig in der Hand halte – ja, noch mehr: daß ich jederzeit in der Lage bin, ihren Einfluß auf bestimmte Pariser Kreise zugunsten der preußischen Regierung zu nützen. Sie ist nicht mehr Herrin über sich selbst, sondern ein Geschöpf meines Willens geworden.«
Baron Herwey stand auf und trat näher an den Schreibtisch heran, an dem der Geheimrat saß. Es zuckte über sein blasses Gesicht, in dem die Augen sehr tief lagen und die Mundwinkel sich nervös senkten, doch er hielt sich straff, und seine Stimme klang wieder hell.
»Es könnte Sie wundernehmen,« sagte er, »daß ich mit dieser Frau noch länger unter dem gleichen Dache lebe. Aber die Politik, an die ich mein Leben geschmiedet habe, spielt auch in die Familie hinein und ist mir zu einer Umsetzung des Daseins geworden. Was ich gestern mit aller Stärke empfand, ist heute eine verlorene Illusion, was heute mir noch als ein Mitbauen am Werke erscheint, ist morgen vielleicht eine leere Formel. Die Familie hat aufgehört, mir ein Heiligtum zu sein, das für die übrige Welt unzugänglich ist. Sie ist im Zerbröckeln. Sie wurde politisiert nach der Lehre der besten Mittel zum Zwecke des absolut Selbstischen. Und sehen Sie, diese Einsicht zwingt mich, mich noch nicht von meiner Frau zu trennen. Das kann erst geschehen, wenn der Zeitpunkt da ist, der ihr mit Blitzesschnelle die Leere ihres Selbst zeigen wird. Er wird kommen, ich glaube fast, er liegt nahe. Bis dahin bitte ich Sie, mir zu vertrauen. Ich bürge für sie. Ich übernehme jede Verantwortung, daß von ihrer Seite aus nichts mehr geschehen wird, was gegen die Interessen der Regierung verstößt.«
Der Geheimrat hatte sich erhoben und reichte Herrn von Herwey die Hand. Er war auf dem Gebiete der Kriminalpsychologie eine berühmte Persönlichkeit und war ein feiner Menschenkenner. Er übersah im Augenblick das ganze Lebensdrama Herweys, in seinen dunklen Umrissen und verwickelten Zusammenhängen, und wußte, daß er dem unglücklichen Mann unbedingt Glauben schenken konnte.
»Mein lieber Freund,« sagte er, »wir kennen uns nun länger als zwei Jahrzehnte, und selbst in der Zeit meiner unfreiwilligen Muße, da man für gut befand, mich zur Disposition zu stellen, haben Sie mir Ihre Anhänglichkeit bewahrt. Ich werde auch nicht vergessen, daß Sie es waren, der mich dank Ihrer unermüdlichen Nachforschungen auf die Spur des Polen Bereczewski leitete – Sie wissen, als ich damals den Kronprinzen zur Weltausstellung nach Paris begleitete –«
»Es war Siebenundsechzig,« warf Herwey ein, »aber es war doch lediglich ein glücklicher Zufall, daß sich unter meinen Agenten ein ehemaliger Kampfgenosse Mieroslawskis befand, der mir die Wege wies – das Attentat auf Kaiser Alexander sollte ja nur das Vorspiel größerer Ereignisse sein – Sie entsinnen sich, daß wir ein ganzes Nest polnischer Verschwörer aufheben konnten –«
»Gewiß entsinne ich mich,« sagte der Geheimrat lebhaft, »ich könnte noch das Haus bezeichnen, wo wir die Bande packten – ich bekam dafür die Ehrenlegion und den Annen- und Kronenorden, und Sie gingen leer aus –«
»Doch nicht – ich wurde Ihr Freund, und das war mir wertvoller als ein Bändchen mehr im Knopfloch.«
»Nun gut, lieber Baron – auch ich habe an dieser Freundschaft festgehalten. Ich konnte Ihnen öfters Hinweise zukommen lassen, die für Sie von Nutzen waren – und ich glaube, ich habe auch in diesem Falle das Richtige getroffen. Ich mußte Ihren Jungen festnehmen lassen – um den Beweis seiner Unschuld zu liefern. Gegen einen Toten führen wir keine Prozesse. Und was Sie mir da von Ihrer Frau sagten, es war nur eine psychologische Aufklärung, keine Neuigkeit für mich. Die Spitzel unsrer Botschaft in Paris sind unsichere Kunden, weil sie nicht genügend bezahlt werden; da rächt sich die preußische Sparsamkeit. Aber ich habe bessere Verbindungen, und so erfuhr ich denn manches, was mich anfänglich naturgemäß gewaltig stutzig machte, so daß ich mich zu Beobachtungen entschließen mußte, die mir wenig lieb waren. Nun ist das Problem gelöst, und ich kann nur wünschen, daß Sie die Lösung so zu Ende zu führen vermögen, wie Sie vorhaben. Es wird schwer sein, denn es wirken nun zwei Welten in Ihrem Leben –«
»Nein, lieber Freund,« fiel der Staatsrat ein, »ich bin über den Wendepunkt hinaus. Die unerläßliche Scheidung ist mir keine unerträgliche Spaltung mehr. Ich bin zielsicher und weiß, was ich zu tun habe.«
Die beiden schauten sich in die Augen. Dann nickte der Geheimrat.
»Gut,« sagte er. »Nun noch eine Bemerkung. Ihr Sohn Herbert ist stark erschüttert. Das ist begreiflich. Er schaute noch einmal in seines toten Bruders Leben hinein. Aber wie sich das Drama vertieft hat, wie sich die Fäden in den Händen seiner Stiefmutter verschlangen, das ahnt er nicht. Ich wollte Ihnen das nur sagen, damit Sie vorsichtig sind, wenn Sie ihn wiedersehen. Er scheint eine sehr sensible Natur zu sein. Und was ist das für eine Geschichte mit dem rumänischen Abenteuer, von dem er mir erzählte?«
»Ein korrektes Geschäft, das mir ein Schurkenstreich vereiteln will …« Er schilderte in kurzen Worten die Sachlage, und der Geheimrat hörte aufmerksam zu.
»Man geht dem armen Strousberg gehörig zu Leibe,« sagte er, »die süddeutschen Zeitungen wüten gegen ihn – ich fürchte beinahe, dies Bahnunternehmen wird seine ganze Herrlichkeit untergraben. Aber was hat das schließlich mit Ihrer Waffenlieferung zu tun?«
»Im letzten Grunde gar nichts. Man verwirrt in Rumänien das Gewebe, um die Gaunerei zu verschleiern. Ich will erst Herbert hören, um klar zu sehen, und will mich dann an Stege wenden, den Agenten der rumänischen Regierung, der meines Wissens in Berlin ist. Nötigenfalls muß ich die Gerichte in Anspruch nehmen, und das ist eine üble Sache in einem Balkanlande.«
»Weiß Gott,« rief der Geheimrat, »dieser verdammte Balkan! Vor kurzem habe ich eine rumänische Dame, eine Frau Folticineanu, vielleicht kennen Sie ihren Namen, ausweisen lassen müssen, weil ihre Verbindungen mit dem Fürsten Cusa in Döbling der Türkischen Gesandtschaft lästig wurden. Es gibt viel unliebsames Gelichter in der sogenannten Geheimdiplomatie. Da sollte man doch einmal aufräumen. Aber nun halte ich Sie nicht länger auf, Baron Herwey. Hier haben Sie den Entlassungsschein für Ihren Sohn – der Schutzmann im Vorzimmer wird Sie zu ihm führen. Alles Gute für die Zukunft. Und mißverstehen Sie mich nicht, wenn ich Ihnen in Rückblick auf unsre Unterredung sage: weniger Herz in der Umbildung der Erfahrungen und mehr kühles Abwägen der Wirklichkeit. Ganz so wie in der Politik.«
Sie drückten sich die Hände. Dann ging der Staatsrat zu seinem Sohn, um ihm die Freiheit zu bringen.