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13.

Als Baron Herwey in die Zelle Herberts trat, die übrigens mehr einer wohnlich eingerichteten kleinen Stube glich, saß der junge Mann am Tische und schrieb an Annemarie. Er stieß einen leichten Schrei aus, als er den Vater sah und sprang hastig auf.

Herwey umarmte ihn. »Ich komme mit guter Nachricht,« sagte er. »Deine Begnadigung ist heraus – du bist nicht mehr Herbert Haug, du kannst wieder deinen Namen führen.«

Aber Herbert jauchzte nicht. Er schaute den Vater mit brennenden Augen an. »Das war nicht der Grund meiner Verhaftung,« stieß er jäh hervor, doch Herwey fiel ihm ins Wort:

»Ich weiß, ich weiß alles –«

»Auch, daß unser Ralph –«

»Ja, mein Sohn, auch das.«

»Ehrlos,« schrie Herbert, fiel auf den Stuhl, warf die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme und schluchzte.

Der Vater setzte sich ihm gegenüber und ließ ihn sich ausweinen. Dann sagte er sanft:

»Wir wollen auf dem Grabe des Toten kein Mal der Schande errichten. Wollen nicht nach den Beweggründen forschen, die ihn in das Unheil trieben. Er hat sich selbst gerichtet, er hat gesühnt. Nun soll er ruhen. Kein Wort auch, wenn ich bitten darf, über das, was wir wissen, an Désirée und Erika. Selbst das Regiment erfährt nichts. Die Akten über den Vorfall liegen im Geheimarchiv. So ist wenigstens unser guter Name gesichert.«

Als Baron Herwey das sagte, fühlte er einen Druck im Herzen. Er dachte an etwas, was ihn gerade in den letzten Zeiten unablässig verfolgte: an das Manuskript über das Welfenreich Heinrichs des Löwen, das von Robino nicht mehr herauszubekommen war. Und als wolle er diesen Gedanken verscheuchen, fügte er rasch hinzu:

»Nun zu Rumänien, Herbert. Erika konnte mir nur Andeutungen geben. Berichte.«

Herbert hatte die Muße seiner Haft benutzt, die Schilderung seiner rumänischen Reise zu Papier zu bringen: die Anfänge feuilletonistisch in lebhafter Anschaulichkeit, von der Ankunft in Galatz ab sachlicher und persönlicher und mit grimmigem Humor. Der Staatsrat durchflog das Manuskript mit steigendem Interesse. Eine dicke Falte legte sich über seine Stirn, die nach oben gekämmten Buschlinien seiner Brauen schoben sich zusammen. Er ließ das Papier sinken.

»Du hast getan, was du tun konntest,« sagte er. »Ich will dir keinen Vorwurf machen. Aber die Sache liegt böse. Es versteht sich von selbst, daß sowohl die Angelegenheit Strousberg wie die Beschuldigung, die Waffen seien Material für die bulgarischen Grenzbanden, nur Vorwände sind, einen brutalen Diebstahl zu verschleiern. Und an diesem Raubanfall sind zweifellos auch die Behörden beteiligt, aber ebenso zweifellos ist der Hauptanstifter jener Baron Fatin-Lévêque, der dir auf dem Bahnhofe in Bukarest ein Trostwort für mich auf den Weg gab.«

»Was ist das für ein Mensch, Vater?« fragte Herbert. »Annemarie hat ihn im Hause Labrousse in Asnières kennen gelernt und auch hier gesehen und schildert ihn als einen unheimlichen Menschen. Und Erika glaubt zu wissen, daß der Name Fatin-Lévêque ein Beiname des Herrn von Lavergne sei, des ersten Gatten deiner Frau. Ist das denn möglich?«

»Es wäre möglich,« entgegnete der Staatsrat langsam und gleichwie sinnend, »daß es sich um einen Verwandten dieses Mannes handelt. Ich habe ihn nicht danach befragt.«

»Das Geschlecht soll aber mit dem Tode des Herrn von Lavergne erloschen sein,« fuhr Herbert fort.

»Woher weißt du das?«

»Désirée hat es Erika gelegentlich erzählt.«

Die Achseln Herweys hoben sich langsam. »Hat das Interesse für uns?« sagte er. »Ich habe nur mit diesem Herrn von Fatin zu tun, der in rumänischen Diensten steht und mir in der Angelegenheit des Waffentransportes hilfreich sein wollte. Natürlich gegen gute Entschädigung. Und nun taxiere ich, daß die rumänischen Schufte ihm eine Verdopplung der Entschädigungssumme zugesagt haben, um die Gewehre für ein Billiges an sich zu bringen, die sie der Regierung natürlich wieder zu dem ausbedungenen Preise anrechnen werden. Daß Fatin-Lévêque dahintersteckt, geht auch aus deiner Ausweisung hervor; er wußte, daß du auf einen falschen Paß reistest, was für die Angelegenheit selbst übrigens gar nicht in Betracht kam. Es war eine Torheit von mir, ich sehe es ein, daß ich Verbindung mit diesem Strolch suchte – aber …« Er brach ab und steckte das Manuskript in die Brusttasche … »Du erlaubst, daß ich deine Ausarbeitung behalte. Sie ist für mich ein wichtiges Zeugnis – auch famos geschrieben. Du hast Talent. Gratuliere übrigens noch nachträglich zu eurem Erfolge im Schauspielhause. Ja – und nun muß ich zusehen, was in der rumänischen Affäre zu machen ist. Das wird sich finden. Zunächst wollen wir uns beeilen, aus dem Gefängnisse herauszukommen. Darf ich klingeln, damit man uns entläßt?«

»Ja, Vater – halt, nein – noch einen Augenblick! …« Er trat dicht vor den Vater und faßte seine Hände. Ein Glanzlicht rann über sein Gesicht … »Ich bin ja nun wieder Herbert Herwey, bin ein freier Mann geworden und habe die Polizei nicht mehr zu fürchten. Und da möchte ich noch einmal auf das zurückkommen, was ich dir schon vor einiger Zeit gestand – auf meine Liebe zu Annemarie Weerth. Dürfen wir uns heiraten?«

Der Staatsrat lächelte. Wärme stieg in sein Herz. »Habt Ihr es denn so eilig?« fragte er.

»Was sollen wir noch zögern und warten, Papa? Und warten worauf? Komm mir bitte nicht wieder mit der Geldfrage. Wir richten uns ein, wir sind nicht verwöhnt, wir halten Haus und sind fleißige Leute. Und laß mich auch gleich Freiwerber für Erika sein! Es geht ihr und ihrem Hans genau so wie uns. Wir feiern Doppelhochzeit – und dann hast du vier glückliche Kinder.«

»Berti, nicht so stürmisch. Ich bin machtlos eurem Willen gegenüber. Aber wenn ihr euch euer Haus bauen wollt, müssen die Fundamente fest liegen.«

»Das ist der Fall, Vater. Hans ist vom Kurfürsten abgefunden worden. Ein kleines Vermögen ist da. Es genügt für den Anfang.«

»Erikas Ausstattung muß besorgt werden, lieber Junge – ich will mit ihr sprechen.«

»Tue es – sie wird in Seligkeit plätschern. Und natürlich: die Hochzeit braucht nicht für morgen oder übermorgen festgesetzt zu werden. Wir wollen sie aber auch nicht auf die lange Bank schieben. Bis Mai oder Juni kann alles erledigt sein. Laß dich noch einmal umarmen, Vater – ich danke dir! Und nun will ich dem Wärter klingeln …«

– – Baron Herwey hatte in diesen Tagen viel zu tun. Er suchte zunächst Herrn Stege auf, derzeit den diplomatischen Agenten Rumäniens, der ihm versprach, sich der Angelegenheit annehmen zu wollen und ihm zugleich die Adresse eines gewiegten Rechtsanwalts in Bukarest gab, der die Sache auf dem Zivilwege weiter verfolgen sollte. Herwey war sicher, daß die unglaubliche Gaunerei ein Streich Lavergnes war, und hatte beschlossen, rücksichtslos gegen ihn vorzugehen. Er unterließ es auch nicht, an ihm bekannte Persönlichkeiten der rumänischen Regierung zu schreiben, und setzte eine Eingabe an den Fürsten Carl auf, die er an dessen Kabinettschef Friedländer richtete, auf dessen Wohlwollen er rechnen konnte. Strousberg war in Rußland, während sein Bahnunternehmen auf dem Balkan langsam zerbröckelte; die preußische Regierung wollte von der Waffenlieferung nichts wissen und lehnte jede Vermittlung ab. Trotzdem verzweifelte Herwey nicht, noch zu seinem Recht zu kommen, zumal ihn seine Bank tatkräftig unterstützte – aber bei den verworrenen Verhältnissen in Rumänien konnte es lange dauern, ehe Klarheit geschaffen wurde, und auch die Gegenminen spielten bereits. In österreichischen, türkischen und rumänischen Blättern erschienen geschickt abgefaßte Artikel mit feindlichen Andeutungen gegen Preußen, das die bulgarischen Ausdehnungsbestrebungen begünstige und auf geheimen Wegen Waffen in die Grenzgebiete schaffe, und so ließ denn der Bundeskanzler eines Tages Herwey zu sich bitten, um sich mit ihm über diese Machenschaften auszusprechen.

Herwey kam die Audienz um so gelegener, als sie es ihm ermöglichte, nochmals die Frage der spanischen Thronkandidatur zu berühren. Staatsrat Salazar, der unermüdliche Vorkämpfer für ein Regiment der Hohenzollern in seiner Heimat, war wieder in Berlin und hatte sich sofort mit ihm in Verbindung gesetzt. Er brachte ein Privatschreiben des Ministers Prim an König Wilhelm und ein zweites an Bismarck mit. Aber der König hatte abgelehnt, ihn zu empfangen; den Brief für den Kanzler konnte Baron Herwey überreichen.

Bismarck erklärte ihm sofort, daß er auf Wunsch der spanischen Herren gern bereit sei, die neuen Verhandlungen als Geheimnis zu führen, daß er aber auch seine eigenen Eröffnungen durchaus als außeramtliche zu betrachten bitte. Und dann gab er Herwey eine Skizze der Sachlage. Preußen hatte nie die Anregung zu einer Kandidatur Hohenzollern gegeben, sie ging von Spanien aus. Prinz Leopold hatte auch nie den Besitz der spanischen Krone erstrebt und bereits zweimal abgelehnt. Er war nach dem Hausgesetz Herr seines Entschlusses und nicht vom König abhängig, wenn auch die Ansicht des Familienoberhauptes naturgemäß bei ihm ins Gewicht fallen mußte. Dann sprach der Kanzler rückhaltlos seine persönliche Meinung aus. Er war nicht mehr wie ehemals ein entschiedener Gegner des Projekts, weil er doch bei der Gleichheit der beiderseitigen Interessen und der Herrschaft eines befreundeten Fürsten in Madrid für Preußen mannigfaltige Vorteile zu erblicken meinte. Auch glaubte er, daß nunmehr, nach Niederwerfung der Revolution in Spanien, die Regierung genügend sichere Kraft gewonnen haben würde, um von dem Eintritt eines tüchtigen Monarchen einen dauernden Erfolg zu erhoffen. Vor allem aber war er der Ansicht, daß Napoleon gegen die spanische Kandidatur eines Hohenzollern ebensowenig Protest erheben würde wie bei der des Prinzen Carl von Rumänien; eine kriegerische Aufwallung Frankreichs sei bei der ewigen Hetze der Arkadier vielleicht möglich, werde indes geradeso rasch im Sande verlaufen wie das »Brausepulver« bei Gelegenheit der Aussprache über den Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund.

Nun konnte Herwey mit seinen letzten Pariser Erfahrungen eingreifen. Er schilderte seinen Besuch bei Madame Cornu und knüpfte eine Mitteilung an, die Bismarck bisher unbekannt geblieben war. Herwey hatte Salazar im September vorigen Jahres einen Besuch bei dem auf dem Schlosse Weinburg in der Schweiz weilenden Fürsten Carl Anton ermöglichen können, der freilich auch keine politischen Erfolge gezeitigt hatte, aber insofern wichtig war, als der Fürst darüber Napoleon berichtet hatte – und der Kaiser hatte nicht mit einem Worte gegen diese Verhandlungen Einspruch erhoben. Das war natürlich auffallend, denn wäre Napoleon ein energischer Gegner des spanischen Plans gewesen, so hätte er ganz gewiß dem ihm verwandten und befreundeten Fürsten seine prinzipielle Ablehnung bekanntgegeben.

Auf Vorschlag Bismarcks berief König Wilhelm nun einen Familienrat, bei dem Prinz Leopold bei seiner Abneigung verblieb und der König den Standpunkt einnahm, er würde nur dann zustimmen, wenn sein Neffe eine entschiedene Neigung für das Unternehmen zeige. Es war im Grunde genommen also die dritte Ablehnung, aber Salazar blieb zähe, zumal Herwey ihm von dem Umschwung in der Stimmung Bismarcks erzählt und ihm geraten hatte, nach Spanien zurückzukehren, um Prim zu veranlassen, noch einmal hinter dem Rücken des Königs allein mit den Hohenzollernschen Herren zu verhandeln, sich zuvor aber eines bestätigenden Beschlusses der Cortes zu versichern.

Inmitten dieses regen politischen Treibens, von dem weder das Staatsministerium noch die Gesandtschaften, weder das Parlament noch die Öffentlichkeit etwas erfuhr, vergaß Baron Herwey nicht seine persönlichen Angelegenheiten, in die freilich auch immer die politischen Geschehnisse hineinschwirrten. Seit der Verlobung Erikas mit Hans Weerth drückte der Handel, für den er Robino in Wien gewonnen hatte, doppelt schwer auf seine Seele. Er verhehlte sich nicht, daß es eine schamlose Erpressung war, selbst wenn die wilden Annexionsgelüste König Georgs auf Tatsachen beruhten. Hans Weerth hatte ahnungslos die Ausarbeitung über das vergrößerte Welfenreich geliefert, und zwar in derselben Handschrift, die man an den Höfen aus der Korrespondenz seines Vaters her kannte. Dann war das Manuskript an Robino gegangen. Der grinsende Satyr, der in der mazzinischen Lehrzeit mit allen Schlichen und Ränken eines niedrigen Intrigenspiels vertraut geworden war, sollte damit versuchen, eine runde Million Schweigegeld aus Hietzing herauszulocken. Der Minister Weerth hatte oft mit Hietzing verhandelt – aus seinen Briefschaften ging hervor, wie lebhaft er gegen die geplante Angliederung Kurhessens an Hannover für den Fall der Wiederherstellung des Königreichs protestiert hatte, ging auch hervor, daß ihm der Wahnwitz des neuen Welfenreichs nicht unbekannt geblieben war – und es wäre immerhin möglich gewesen, daß seine Aufzeichnungen auf direkten Mitteilungen gefußt hatten. Natürlich konnte man in Hietzing den Plan bestreiten, aber es war doch schon zu viel von ihm durchgesickert, und hatte man in den Kabinetten bisher nur darüber geschmunzelt, so konnte es zu einem dröhnenden Lachen kommen, wenn man erfuhr, daß der depossedierte König allen Ernstes einmal daran gedacht hatte, das Riesenreich Heinrichs des Löwen von neuem zu dem seinen zu machen. Der Fluch dieses Lachens aber war mit einer Million kaum zu teuer erkauft.

Ganz reine Hände hatte Baron Herwey nie gehabt. Zu viel des Schmutzes blieb in der Geheimdiplomatie an den Fingern haften. Das lag in ihrem Wesen und ihren Bedingungen, an diesem Kunstgewerbe des Macchiavellismus, an der Unentbehrlichkeit krummer Wege und kleiner Mittel. In diesem Falle aber war der vorsichtige Mann bis zum Nullpunkt sittlichen Empfindens herabgeglitten. Der Haß gegen Hietzing und die Angst vor dem Bankerott nach dem Zusammenbruch der Wiener Bank hatten ihn in eine geistige Verkehrung getrieben, die keineswegs überlegungslos war, und die er doch gern wieder rückgängig gemacht hätte. Er war in die Hände eines Schuftes geraten. Mit derlei Gelichter hatte er mannigfach zu tun gehabt. In einem Berufe, in dem die Bewegung des Lebens nicht eine gerade Linie verfolgte, sondern zur Erreichung der Ziele im Zickzack lief und in allen Phasen gut wie böse als gleichberechtigt umspannte, ließen sich auch die Wegelagerer nicht vermeiden. Aber in der Auswahl des Gesindels war Herwey ehemals vorsichtiger gewesen. Nun war er nicht mehr der frühere, war nicht mehr das »große Reptil«, war eine jämmerliche kleine Blindschleiche geworden. Das Verhängnis der Nerven beherrschte ihn. Er hatte in Lavergne seinen Meister gefunden – jetzt drohte ihm Robino.

Wie die meisten Menschen von starker Rücksichtslosigkeit und ausgeprägtem Eigenwillen war auch Herwey nicht frei von gelegentlich rasch und unvermittelt hervorbrechender weicher Sentimentalität. Es waren die Oasen seines Seelenlebens. Er konnte von schroffster Härte sein, wenn er etwas durchsetzen wollte, und in einem banalen Trauerspiel Tränen vergießen. So erfüllte ihn denn auch das kleine bescheidene Glück seiner Kinder mit Rührung. Es lag so ganz abseits seiner ehemals hochfliegenden Pläne und der Unrast seines arbeitswütenden Lebens, daß es ihm vorkam wie ein altmodisches Bildchen aus einem »Kinderfreund« seiner Jugend. Nun gut – Herbert und Erika sollten ihr Glück haben. Aber da durchjagte ihn wieder die Sorge, Robino könne Dummheiten machen. Als ihm Herbert die ersten Anspielungen von einer Neigung zwischen Erika und Hans Weerth gemacht, hatte er sofort an Robino telegraphiert, die schwebende Angelegenheit ruhen zu lassen. Doch sie war schon im Gange. Robino berichtete, sie liege »in guten Händen«, und als Herwey mehrfach drängte, ihm das Manuskript zurückzustellen, ließ er in seiner Antwort eine versteckte Drohung einfließen, die er später freilich wieder beschönigte. In seinem letzten, vorsichtig abgefaßten Briefe erklärte er, Herwey möge sich beruhigen, jede Gefahr für ihn sei ausgeschlossen; eine sichere Persönlichkeit in Hietzing führe die Sache, die »von unten herauf an den Mann gebracht« werden müsse. Aber der »Mann« liege derzeit krank, man wolle sich auch nicht übereilen, jedenfalls sei Aussicht auf guten Erfolg vorhanden, denn das unerwartete Auftauchen des verhängnisvollen Schriftstücks, das in den Grundzügen durchaus dem sorgsam gehüteten Original gleiche, habe in Hietzing wie eine Bombe eingeschlagen.

Inzwischen bemühte sich Baron Herwey, die Angelegenheiten seiner Kinder zu ordnen. Das kleine Kapital für Erika lag unangebrochen da, und die gleiche Summe wollte er Herbert mit auf den Weg geben. Das machte Umstände. Der Bankkrach und das verunglückte rumänische Unternehmen hatten alle Dispositionen über den Haufen geworfen, und zum Sparen war Herwey bei den Ausgaben, die der Haushalt verschlang, nie gekommen. Aber er hatte noch immer Kredit, und so glückte es ihm, auch Herbert zwanzigtausend Taler in guten Papieren als Grundstock für den Aufbau seines neuen Glücks einhändigen zu können.

Nun trat Pressel mit einer großartigen Idee auf den Plan. Es war ihm gelungen, die Käufer, die sich für das Grundstück am Kreuzberg gemeldet hatten, nacheinander durch seine fürchterlichen topographischen Beschreibungen der Örtlichkeit herauszugraulen, so daß der Bruder Bäckermeister schon daran verzweifelte, die Villa jemals loszuwerden. Jetzt kaufte Pressel sie selbst für einen billigen Preis, d. h. er kaufte sie für Hans und Herbert, nachdem er ihnen nachgewiesen hatte, was dies für ein glänzendes Geschäft sei. Natürlich mußte man Umbauten vornehmen, aber sie ließen sich leicht anbringen, und Pressel kannte einen jungen Baumeister, dem es Spaß machte, die lateinische Villa stilgemäß auszugestalten, und der auch keine unverschämten Anforderungen stellte. Da behielt man denn vorläufig das Dichterheim am Mont de Croix, und wollte man es später einmal weiter veräußern, so ließ sich immer noch ein guter Verdienst herausschlagen, denn Berlin wuchs gewaltig und kroch schon über den Kreuzberg fort, und alle Preise stiegen.

Das Vierblatt war glückselig. Die Pläne für den Umbau wurden sorgfältig geprüft und für gut befunden. Das Haus eignete sich trefflich für die beiden Familien, das alte Atrium wurde das gemeinsame Speisegemach, rechts davon sollten Hans und Erika die Vestaflamme schüren, in den Zimmern links Herbert und Annemarie ihr Glück rüsten. Der Vorgarten diente, wie bisher, der blühenden Anmut, hinten wollte man die Nützlichkeit in die Erde verpflanzen. Pressel schwelgte in Zukunftsplänen und hatte sich auch damit abgefunden, daß er künftighin nicht mehr Alleinherrscher sein würde, denn natürlich brauchte man neben ihm noch weibliches Personal, das ging nicht anders. Aber man hatte ihm zugesagt, daß er seine Würde als Generalintendant und Haushofmeister beibehalten und selbstverständlich nach wie vor das Departement der Küche leiten sollte; auch die Gartenpflege behielt er sich vor.

Da das Wetter günstig war, konnte mit dem Umbau gleich begonnen werden. Infolgedessen siedelten Hans und Annemarie vorläufig in eine kleine Pension in der Nähe über, während Herbert sich ein Zimmer am Halleschen Tore mietete. Erika besorgte inzwischen ihre Ausstattung, und Désirée war ihr dabei behilflich. Die schöne Frau war seit einiger Zeit wie umgewandelt. Da sie der Trauer wegen keine größeren Gesellschaften besuchte, so schloß sie sich fester an Erika an, die sich den Kopf über den Stimmungswechsel der Stiefmutter zerbrach. Désirée war weich und träumerisch geworden, ihr lebhaftes Wesen einer gewissen Ausgeglichenheit gewichen; sie trug auch eine größere Würde zur Schau, war gemessen in ihren Bewegungen und von einer milden Freundlichkeit. Sie lachte nicht mehr ihr reizendes girrendes Lachen, das wie ein koketter Lockruf klang, aber sie lächelte gern, wohlwollend, herablassend und gütig. Sie nannte Erika ihr »liebes Kind« und war durchaus nicht damit einverstanden, daß sie sich ein so bescheidenes Trousseau anschaffte; die Leibwäsche schenkte sie ihr, aus ihren kleinen Ersparnissen, wie sie sagte, und freute sich herzlich über die großen Augen Erikas, als sie alle die Wunder aus feinem Leinen und Spitzen vor ihr ausbreiten konnte.

Sonst lebte sie wie vordem ihr Leben allein, so wie sie es gewöhnt war, und speiste man einmal gemeinsam, so war die Tischunterhaltung karg und einsilbig. Die verstärkte Zurückhaltung des Vaters seiner Gattin gegenüber fiel Erika allerdings auf, aber sie dachte sich nichts Besonderes dabei. Auch der alte Herr war stiller geworden, und sein Wesen hatte kleine Wunderlichkeiten angenommen. Zuweilen zog er Erika an sich und küßte sie stürmisch ab, und dann sah sie, daß seine Augen feucht geworden waren. Im übrigen war er mehr außer dem Hause als sonst; die Geschäfte nahmen ihn stark in Anspruch.

Die rumänische Angelegenheit kam nicht vom Fleck. Depeschen des Bukarester Rechtsanwalts besagten Herwey nur, daß die Untersuchung über den Vorfall eingeleitet worden sei, aber wegen einer Kompetenzstreitigkeit Schwierigkeiten unterliege. Die Gerichte bestritten, daß gegen die Gesamtregierung Klage erhoben werden könne, und nun war wieder die Frage, ob das Finanz- oder das Kriegsministerium oder die Intendantur haftpflichtig zu machen sei. Dazu kam eine absichtliche Verwicklung der Angelegenheit, die sich auf die formelle Meldung des Hafenkommandos in Galatz stützte, daß dort drei Waggons mit Eisenbahnmaterial beschlagnahmt worden seien, die man nach Bukarest weiterbefördert habe. Da waren sie indessen nicht zu finden. Es lag also die Gefahr der Verschleppung vor, die Baron Herwey auch vorausgesehen hatte. –

An einem heiteren Märztage hatte Herbert das fertige Manuskript seines neuen Romans zu dem Jankeschen Verlag in der Anhaltstraße gebracht und bog nun in die Wilhelmstraße ein, um irgendwo zu Mittag zu essen, als er unerwartet den Baron Fatin-Lévêque vor sich sah. Er erkannte ihn auf der Stelle wieder, und auch der andere schien einen Augenblick betroffen zu sein und wollte dann hastig an ihm vorüber. Aber Herbert war schon dicht neben ihm, faßte an den Hut und sagte auf französisch:

»Ich denke, Sie werden sich meiner noch entsinnen, Herr. Wir trafen uns zuletzt auf dem Bahnhof in Bukarest bei Gelegenheit meiner Ausweisung.«

Nun zog auch Lavergne den Hut und lächelte verbindlich. »Natürlich – Herr von Herwey, nicht wahr?« erwiderte er. »Ich habe mich damals lebhaft um die Sache Ihres Herrn Vaters bemüht – ich hoffe, sie wird endlich in Ordnung sein.«

»Leider nicht, Herr Baron, und deshalb möchte ich Sie bitten, sich mit mir zu meinem Vater zu bemühen.«

Er rief eine Droschke heran.

Lavergne erblaßte leicht. »Lieber Herr von Herwey,« entgegnete er, »ich stehe jederzeit zur Verfügung, aber im Augenblick bin ich etwas pressiert.«

Das Gesicht Herberts wurde drohend. »Tut mir außerordentlich leid, unsre Angelegenheit eilt indessen. Herr Baron, wir sind nicht in Bukarest, sondern in Berlin. Sehen Sie den blauen Menschen da drüben an der Straßenecke. Das ist ein Schutzmann. Es würde mir unangenehm sein, ihn in Anspruch zu nehmen. Zwingen Sie mich nicht dazu, uns vorerst einmal auf der Polizei gründlich auszusprechen.«

Lavergne kniff die Lippen zusammen. Er überlegte nur einen Augenblick und stieg dann in die Droschke. Herbert setzte sich neben ihn.

»Wir haben ein Viertelstündchen Fahrt vor uns,« sagte er, »– vielleicht haben Sie inzwischen immer die Güte, mir Aufklärung darüber zu geben, ob wir den Gaunerstreich, dem wir in Rumänien zum Opfer gefallen sind, Ihnen zu danken haben. Allerhand Vermutungen lassen nämlich darauf schließen.«

»Ich ahne nicht, wovon Sie sprechen, mein Verehrtester,« erwiderte Lavergne, »aber Ihr Ton zwingt mich doch, Sie zu ersuchen, sich ein wenig zu mäßigen. Ich würde sonst in die Lage kommen, Ihnen mit gleicher Münze dienen zu müssen – und ich möchte ungern vor dem Sohne die Ehre des Vaters berühren.«

Herbert wurde blutrot und wollte auffahren. Doch er bezwang sich. Eine heimliche Stimme riet ihm zur Vorsicht. »Sie werden mir noch Rechenschaft für diese Äußerung geben,« sagte er kurz.

»Mit Vergnügen,« entgegnete Lavergne. –

Vor der Villa in der Tiergartenstraße hielt das blaulackierte Coupé des Staatsrats, als die Droschke sich näherte. Herbert sah seine Stiefmutter die Gartenpforte öffnen. Er sprang aus dem Wagen und nickte ihr zu. Aber Désirée schien über ihn hinwegzuschauen. Sie trat einen Schritt zurück, und es machte den Eindruck, als wanke sie. Ihre Hände fuhren nach dem Herzen. Und dann geschah etwas für Herbert Unbegreifliches.

Lavergne hatte sich Désirée genähert und ihre Rechte flüchtig an die Lippen gezogen. Er sprach halblaut einige Worte zu ihr. In diesem Augenblick bezahlte Herbert den Droschkenkutscher, der ihm mit großer Umständlichkeit einen Taler wechselte. Inzwischen hatte Lavergne die Tür des Coupés geöffnet und Désirée einsteigen lassen. Jetzt setzte er sich ihr gegenüber und schlug die Tür zu. Der Wagen fuhr davon.

Herbert starrte ihm nach. Das alles hatte sich so rasch begeben und entwickelt und erschien dabei in seinem Ganzen so verbindungslos, daß ihm jedes Begreifen fehlte. Erst als er durch den Garten schritt, dämmerten vage und unheimliche Vermutungen in ihm auf, die sich zu dunklen Zusammenhängen formten, vor denen er ein Grauen empfand.

Der Vater war in seinem Arbeitszimmer und diktierte Hans Weerth, der am Schreibtisch saß, einen Brief.

»Sieh da,« rief er Herbert zu, »schenkst du mir auch einmal die Ehre deines Besuchs!«

»Ich möchte dich gern allein sprechen, Vater,« antwortete Herbert.

Der Baron schaute forschend in das verdunkelte Gesicht seines Sohnes. »Entschuldigung, lieber Weerth,« sagte er und ging mit Herbert in das blaue Zimmer gegenüber.

»Was ist los, mein Junge?« fragte er. »Du siehst verteufelt ernst aus.«

»So ist mir auch zumute, Papa. Ich habe vorhin den Baron Fatin-Lévêque getroffen.«

»Ah – und hast ihn stellen können?«

»Ja. Ich zwang ihn, mit mir in eine Droschke zu steigen. Wir fuhren hierher. Aber als wir eintrafen, trat Désirée aus dem Garten.«

Herwey setzte sich. Sein Atem ging schwer. Ein Schatten glitt bis in die letzten Tiefen seiner Augen.

»Weiter!«

»Fatin-Lévêque begrüßte deine Frau wie eine alte Bekannte und stieg mit ihr in das Coupé. Dann fuhren sie fort.«

»Wohin?« fragte Herwey heiser.

»Ich weiß es nicht.«

Der große Körper des Staatsrats sank langsam zusammen. Der stiere Blick bohrte sich in die verschlungenen Linien des Teppichs.

Herbert schritt auf und ab. Ein unbestimmtes Etwas saß ihm an der Gurgel. Im fiebernden Hirn häuften sich die Eindrücke der Sinnlosigkeit dieses verdammten Lebens.

Dann blieb er vor dem Vater stehen.

»Sag' mir die Wahrheit,« rief er. »Sag' sie mir, wenn sie mir auch den letzten Glauben nimmt, wenn sie mir auch … Ich will alles wissen … Dieser Fatin-Lévêque ist Herr von Lavergne, Désirées erster Mann. Er lebt also noch!«

»Ja,« sagte der Staatsrat und nickte. »Setze dich zu mir, Herbert, und höre mich an. Ich will dir eine Schuld gestehen, die aus dem Menschlichsten keimte und nun zum Umfang meines Lebens geworden ist.«

Herbert schob einen Sessel neben den des Vaters, und der Staatsrat hub an. –

– – »Woher kommst du?« fragte Désirée im Wagen. Sie saß so, daß sie jede körperliche Berührung mit Lavergne vermeiden konnte; nicht einmal ihr Kleid streifte ihn.

»Aus Rumänien,« antwortete er. »Dein teurer Gatte hat mich da unmöglich gemacht.«

»Was heißt das?«

»Mein Gott, ich hatte für ihn ein Geschäft mit der Regierung abzuwickeln, und dabei haben sowohl die Herren Vertreter verschiedener Behörden wie auch meine Wenigkeit mehr den eigenen Vorteil als den des Auftraggebers wahrgenommen. Nun klagte dein Gatte – darauf war man vorbereitet; aber er schrieb auch an den Fürsten, und daran hatte man nicht gedacht. Ich wurde also schleunigst abgeschoben, damit man sagen konnte: die Kanaille, die alles verschuldet hat, ist flüchtig geworden.«

Désirée verzog nicht die Miene. Sie ersparte es sich, dem Lumpen ihr gegenüber ihre Verachtung zu zeigen.

»Herwey hat mir von der Angelegenheit gesprochen,« sagte sie. »Er ahnte ja auch, daß du hinter dem Verbrechen stecken würdest. Nun wollte dich Herbert zu ihm führen, nicht wahr?«

»Ganz richtig. Aber mir liegt nichts an der Aussprache.«

Désirée ließ das Glasfenster herab, neigte sich heraus und rief dem Kutscher zu:

»Nach dem Polizeipräsidium, Georg!«

»Hallo! –« stieß Lavergne hervor, »– was soll das, Désirée?!«

»Wir sind gleich am Potsdamer Platz«, entgegnete sie ruhig, »und fahren dann durch die belebte Leipziger Straße. Wolltest du aus dem Wagen springen, so würde ich um Hilfe rufen. Ich bringe dich nach der Polizei, mein Lieber. Ich werde aussagen, daß du einen Erpressungsversuch an mir verübt hast. Damit ist auch die Vermutung aus der Welt geschafft, ich oder Herwey hätten bei unserm Eheschluß wissen können, daß du noch am Leben warst. An strafbare Bigamie ist nicht zu denken. Im Gegenteil – die Gerichte werden nun ohne weiteres unsre Ehe nachträglich für ungültig erklären. Dann haben wir Ruhe vor dir.«

Ein Lächeln zog um den Mund Lavergnes. Er strich sich den Vollbart.

»Du bist noch immer die gute Komödiantin, Désirée,« sagte er. »Aber du überstürzest die Effekte. Überdies wirken sie nicht auf mich, weil ich dich doch zu genau kenne. Also erkläre mir kurz, was du von mir willst. Wir werden uns auch diesmal wieder einigen können.«

»Es kommt auf dich an. Zunächst bitte ich um die Beantwortung einiger Fragen. Auf welche Weise ist dir die gegen Herwey gerichtete Gaunerei gelungen?«

»Du hast häßliche Ausdrücke. Aber ich höre darüber fort. Es war eine Kleinigkeit. Ein paar geschickte Schiebungen leiteten die Sache ein. Das Finanzministerium übergab sie dem Kriegsministerium, das Kriegsministerium der Intendantur. Die ist gegenwärtig in der Umbildung begriffen, und es ließ sich leicht machen, mich hineinzuberufen. Nun hatte ich die Geschichte in der Hand. Willst du noch weiteres hören?«

»Ich bitte darum.«

»Schön. Ich ließ zunächst auf Grund des Aufsichtsrechts der Regierung über den Bahnbau das sogenannte Bahnmaterial beschlagnahmen und sorgte dann dafür, daß der junge Herwey schleunigst über die Grenze spediert wurde. Nun wurde dem Finanzministerium die Rechnung über die Waffen vorgelegt, die man natürlich anstandslos honorierte. Die Waggons mit den Gewehren sollten nach Bukarest gebracht werden, trafen aber dort nicht ein. Ich hatte sie nämlich nach der Türkei schaffen lassen und an Suleiman-Pascha verkauft. Es war ein recht gutes Geschäft, doch es wäre noch besser gewesen, hätte ich nicht so viele Teilhaber gehabt. Bist du befriedigt?«

»Ja. Noch eine letzte Frage: Du glaubst nicht, daß Baron Herwey den eingeleiteten Prozeß gewinnen kann?«

»Nein. Ich würde ihm unbedingt raten, ihn abzubrechen, denn er kostet ihm unnötig heillose Summen. Liebes Kind, die Sache liegt doch ganz einfach so, daß man mich als den allein Schuldigen vorgeschoben hat, und ich bin entwischt.«

»Aber man kann deiner auch in Berlin noch habhaft werden.«

»Ich will morgen nach Paris. Da ist ein Plebiszit in Vorbereitung, das mich interessiert. Die Politik hat noch immer die alten Reize für mich. Habe die Güte und bestelle die Vergnügungsfahrt nach dem Polizeipräsidium ab.«

»Noch nicht. Ich verpflichte mich aber, dich völlig unbehindert zu lassen, wenn du mir die schriftliche Erklärung gibst, daß der Selbstmord von Flamandville nur eine Vorspiegelung war, um Herrn von Herwey die Ehe mit mir zu ermöglichen, so daß ich also auf Grund dieser Erklärung einen Gerichtsbeschluß herbeiführen kann, der mich von deinen Fesseln befreit.«

»Fesseln klingt wieder nicht hübsch, Désirée. Wenn ich so an vergangene Zeiten zurückdenke –«

»Bleiben wir bei der Gegenwart. Und eile dich mit der Überlegung, Anatol. Wir sind gleich auf dem Molkenmarkt.«

»Nun gut. Ich kann mir ja denken, daß du die unbequemen Erinnerungen loswerden möchtest. Also einverstanden. Willst du mich in mein Hotel begleiten?«

Désirée hatte sich wieder aus dem Fenster geneigt und rief: »Machen Sie kehrt, Georg, und fahren Sie uns nach der Französischen Botschaft!«

»Warum das?« fragte Lavergne.

»Baron Ring kennt meine Lebensverhältnisse. Ich habe kein Geheimnis vor ihm. Du bist noch Franzose, und als Botschaftsbeamter kann er deine Unterschrift bestätigen.«

Lavergne lachte. »Du denkst an alles. Aber soll mir recht sein. Ring ist mir ja auch kein Fremder. Bist du noch immer seine Egeria?«

Ein Zucken ging durch ihre Schultern. »Es verblüfft mich nicht,« sagte sie langsam, »daß du mir nachspioniert hast. Jede Gelegenheit zu einer neuen Erpressung mag dir willkommen gewesen sein.«

»In diesem Falle irrst du, teuere Verflossene. Als Roset mich ins Vertrauen zog, hatte er wohl seine besonderen Absichten. Ich habe deinen Gatten vor ihm gewarnt, weil ich ihn nie für zuverlässig hielt. Nun ist er tot, requiescat in pace, und Eriau wieder auf der Höhe. Der hat mehr Respekt vor der Kaisertochter und schaut über die flüchtige Gegenwart in die Zukunft hinein. Hast du einen Pariser Auftrag für mich? Ich stelle mich dir gern zur Verfügung – unentgeltlich, aus Liebe zur Sache und alter Anhänglichkeit.«

Sie schaute finster vor sich hin. »Ich danke dir und verzichte,« erwiderte sie.

»Schade,« sagte er, »ich könnte dir dienstbar sein. Wir haben gemeinsame Interessen. Wir arbeiten beide für den Krieg. In Frankreich hat Rouher wieder die Oberhand. Das Plebiszit soll das Kaisertum in eine liberale Monarchie verwandeln. Aber die Republikaner sind regsam, und das Ministerium wackelt. Daru hat Abdankungsgelüste, dann hätte Ollivier freie Hand. Er ist nicht mehr der alte. Er will eine energische Kraft für das Auswärtige, einen handfesten Klerikalen, der Rom unterstützt und Preußens wachsende Frechheit zu zügeln versteht. Ich weiß positiv, daß er an Gramont denkt, den Bismarck einmal den größten Dummkopf Europas nannte. Hat vielleicht recht. Aber das ist das Närrische in der Politik, daß man zuweilen auch einen ausgewachsenen Schafskopf als Handlanger braucht. In Rumänien liegen die Verhältnisse ähnlich. Und kommt es zum Kriege, dann ist auch das Thrönchen des Hospodars nicht mehr sicher. Man ist da unten mehr französisch als hohenzollerisch gesinnt.«

Der Wagen hielt. »Laß uns aussteigen,« sagte Désirée mit gelangweilter Stimme. –

Im Verlaufe einer Stunde konnte sie nach Hause zurückkehren. Sie fragte nach ihrem Gatten, der daheim war und sie in seinem Arbeitszimmer empfing. Sie sah strahlend aus, trug das Licht des beginnenden Frühlings in den Augen und ein anmutiges Lächeln um den Mund.

»Glück im Unglück,« sagte sie und ließ sich in einem der Ledersessel nieder. »Ich habe Anatol abfangen können. Herbert hat dir berichtet, wie er ihn traf.«

»Ja,« antwortete der Staatsrat. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte den Stuhl aber so gerückt, daß er Désirée vor sich hatte. Sein verfallenes Gesicht, in dem die Sorge tiefe Furchen zog, erregte sie nicht. Sie wußte ja, mit welchen Schwierigkeiten er in der letzten Zeit zu kämpfen gehabt hatte.

»Nun gut,« fuhr sie fort und öffnete ihr Handtäschchen, ich will dir nicht erst schildern, wie erschreckt ich war, als ich Anatol aus der Droschke steigen sah. Er tat übrigens ganz unbefangen, sagte mir, daß er mich sprechen müsse, und bat, mich im Wagen begleiten zu dürfen. Und da schoß mir ein guter Einfall durch den Kopf. Ich stimmte zu, befahl aber Georg, uns nach dem Polizeipräsidium zu fahren. Das Coupé wurde für Anatol zu einem Gefangenenwagen.«

Einen Augenblick schwieg sie, als wolle sie die Wirkung ihrer Worte abwarten. Sie nestelte ein zusammengefaltetes Papier aus ihrem Täschchen und hielt es spielend in der Hand. Auf ihrer Miene lag der fröhliche Ausdruck eines großen Erfolges, etwas Unbekümmertes und Sorgloses.

»Charlie,« sagte sie, »ich war fest entschlossen, um Hilfe zu rufen, wenn Anatol die Absicht gehabt hätte, mir zu entspringen. Aber er dachte gar nicht daran. Er ist eine feige Seele. Zunächst fragte ich ihn über deine rumänische Angelegenheit aus – und er beichtete schamlos. Armer Freund, du wirst die Hoffnung aufgeben müssen, aus diesem Handel noch etwas für dich zu retten.«

Mit drei Worten klärte sie die Sachlage auf. Die Lider des Staatsrats senkten sich, er stöhnte leise. Da glitt ein weicher Zug des Mitempfindens über ihr Gesicht.

»Ein schwerer Verlust, Charles – aber wir bringen ihn wieder ein. Uns gehört die Zukunft. Und mit diesem letzten Bubenstreich Anatols haben wir auch unsre Freiheit erkauft. Lies das.«

Sie reichte ihm das Papier. Er überflog es, nickte und schloß es in seinen Schreibtisch.

»Gut,« sagte er. »Ein unanfechtbares Anerkenntnis, daß wir an seinen Tod glauben mußten. Es sichert uns vor jeder Strafe. Nun können wir unsre Scheidung einleiten.«

Sie hob den Kopf und schaute ihn mit zwinkernden Augen an. Aus dem Schwarz ihres Blickes traf ihn ein mißtrauisches Erstaunen.

»Wir hatten verabredet,« gab sie zurück, »erst den Krieg abzuwarten –«

»Ja,« sagte er langsam, und die Worte fielen wie schwere Tropfen von seinen Lippen, »aber es ist anders gekommen. Ich habe mich mit Herbert aussprechen müssen – und er dringt auf sofortige Scheidung.«

»Herbert?« rief sie. Ein gleißender Hohn sprenkelte um ihre Mundwinkel. »Mein alter Feind. Und auf ihn hörst du mehr als auf mich?«

»Er ist erst dein Feind geworden,« antwortete Herwey. »Geradeso wie ich. Auch mich hast du in die Feindschaft getrieben – und ich liebte dich einmal.«

Er sagte das ruhig und in gleichmäßigem Tonfall, ohne Tiefe des Gefühls, wie eine Äußerung kühler Sachlichkeit. Und da empfand sie mit fester Bestimmtheit, daß es nun zu Ende ging. Doch sie erschrak nicht. Ob heute oder morgen die letzte Entscheidung fiel, war im Grunde genommen gleichgültig. Erwägungen diplomatischer Natur sprachen für eine Aufschiebung. Aber sie war keine Notwendigkeit.

Ihre Gedanken verloren sich einen Augenblick in ein Hoffen der Ferne. Dann sammelte sie sich zu einem entschlossenen Gegenkampf.

»Was soll nun geschehen?« fragte sie.

»Was das Gesetz uns vorschreibt,« entgegnete er. »Du wirst das Haus verlassen müssen. Sonst pflegtest du um diese Jahreszeit gern die Riviera aufzusuchen. Ich rate dir, reise nach Nizza und amüsiere dich da, während ich hier den Scheidungsprozeß einleite. Es wird keine Schwierigkeiten machen. Freilich, mit großen Mitteln werde ich dich nicht ausstatten können. Ich stehe so ziemlich am Rande des Ruins. Aber wenn du einen Teil deines Schmucks verkaufst, wirst du auch schon in Nizza die Herzogin spielen können, so wie in künftigen Tagen in Paris.«

Désirée entging nicht der leise Einschlag von Mokerie in diesen letzten Worten. Doch sie achtete nicht darauf. Der gleichgültige Ton, den Herwey anschlug, erfüllte sie plötzlich mit heißer Wut. Sie war schon im Begriff loszubrechen und ihn mit Schmähungen zu überhäufen. Sie verstand sich darauf; dann trieb das Blut der Mutter und Großmutter durch ihre Adern, die auf dem Gemüsemarkt in Rom die Sprache der Niedrigkeit erlernt hatten. Aber sie sah im Auge Herweys eine so gewaltige Steilheit des Empfindens, daß sie erschauernd an sich hielt. So fragte sie nur:

»Du weisest mich also aus deinem Hause?«

Nun erhob er sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schreibtisch. Eine tiefe Traurigkeit überschattete sein Gesicht, doch sie schuf keine Weichheit in seine Züge. Alle Linien formten sich zu herber Strenge.

»Daß ich dich lieben mußte,« sagte er, »wurde zum Zerfall meines Lebens. Damals lud ich die erste Schuld auf mich – und auch die größte. Aber kein Verbrecher hat schwerer gebüßt als ich. Du hast mich zuweilen daran erinnert, daß wir nur einen Vertrag geschlossen hatten. Ich habe ihn eingehalten, denn ich hob dich aus deinem Mansardenelend auf jene Höhe des Daseins, die du dir wünschtest. Ich wollte keine Gegenliebe dafür, nicht einmal Dankbarkeit. Du solltest nichts sein als meine gefeierte Frau. Aber da schlich sich eine Dirne an dich heran – o, ich kenne sie nur zu gut –, da kam die verfluchte Politik und vergiftete das Letzte in dir, was anständig war an Gesinnung und Denken. Ich sprach dir einmal von meinem Ahnen und Fühlen, und du lachtest mich aus. Heute ist mir zur Gewißheit geworden, was ich nur für Ahnen und Fühlen hielt. Wie du dich an Roset verkauftest, so an Ring und so an meinen armen Ralph – der schandbaren Politik zu Gefallen! Die trieb dich auch wieder zu deinem ersten Herzliebsten zurück – ah ja, es war eine kluge und feine Politik, die der Ehrgeiz nährte und die nicht haltmachte vor gemeiner Niedertracht in der Hoffnung auf das Ziel. Einen Sohn hast du mir in den Tod gestürzt, Désirée, aber ich habe noch zwei Kinder, die du mir nicht nehmen sollst. Du wirst auch Erika nicht wiedersehen. Ich habe sie in einer Pension einquartiert, um ihr den Abschied von dir zu ersparen. Der Abschied von mir wird dir leicht werden. Nimm diesen Kreditbrief mit auf den Weg, mehr kann ich dir nicht bieten. Und was du sonst noch mitnimmst an zerstörtem Hoffen und vernichtetem Glück, das wollen wir nicht rechnen …«

Nun jagte doch ein fahler Schein über ihre Wangen, aber sie biß sich trotzig auf die Lippen und nahm den Geldbrief. Dann wandte sie sich, als wollte sie schweigend gehen. Doch sie machte wieder eine rückwärtige Bewegung und hob dabei die Hand, wie um dies feige Schweigen wegzuschieben, und blieb vor ihm stehen, gleichsam in Kampfbereitschaft, etwas theatralisch im Stolz dessen, was sie erwartete.

»Du weißt nicht, was du tust,« sagte sie. »Ich habe keine Antwort auf das Böse, was du mir andichtest. Aber deine Narrheit – deine Narrheit belächle ich. Du jagst mich davon, wo dein gerühmtes Ahnen und Fühlen dir doch sagen müßte, wie nützlich ich dir noch sein kann. Wir haben uns über Torheiten der Vergangenheit die Hände gereicht und einen neuen Pakt geschlossen. Warum zerreißt du ihn? Weil dein Sohn dich verhetzt hat. Er ist ein Dummkopf, wie du, mein Lieber. Er hätte besser getan, in die Dienste meines kaiserlichen Vaters zu treten, statt sich der Gnade einer verlorenen Sache zu unterwerfen. Wir werden uns wiedersehen, Baron Herwey, daran zweifele ich nicht, und weiß auch heute schon, auf wessen Seite die Reue sich regen wird.«

»Ich wünsche kein Wiedersehen,« entgegnete Herwey kopfschüttelnd, »weil ich nicht rachsüchtig bin. Nun wir uns für immer trennen, laß mich dir ein letztes Geständnis ablegen. Ich habe dich belogen, als ich dir erzählte, ich hätte in Paris die Gewißheit deiner kaiserlichen Abkunft erfahren. Ich log, weil ich mich schützen wollte vor dir. Das ist nicht mehr nötig, denn in dem Augenblick, wo du Berlin verläßt, kann mir dein politisches Treiben nicht weiter gefährlich sein. Und daß du nicht hierbleiben darfst, dafür sorge ich. Auf der Polizei ist man bereits auf dich aufmerksam geworden; gehst du nicht freiwillig, so würde übermorgen die Ausweisung für dich bereitliegen. Ich sagte dir, ich log. Aber ich log nicht allein. Du bist von allen Seiten belogen worden, man hat dich eingesponnen in eine Wirrnis von Lügen und in das Reich des Ungeborenen gegriffen, um dir eine Fata Morgana vorzugaukeln, die du für Wirklichkeit halten solltest. Das ist das System Macchiavells – mein eigenes. Du bist nicht des Kaisers Tochter, sondern das Kind des Kapitäns Bernard, des Festungskommandanten von Ham.«

Sie stutzte, sie fuhr zurück. Sie wurde sehr blaß, dann fuhren rasche Erinnerungen durch ihr Hirn, und sie lachte schrill.

»Du machst es ungeschickt, mich das Gruseln lehren zu wollen,« rief sie. »Ich habe die Briefe Montholons an meinen Adoptivvater, die mir Graf Roset gab!«

»Sie gingen von falschen Voraussetzungen aus. Fahre nach Paris und befrage den alten Thélin. Er wird dir die Wahrheit sagen.«

Wieder glitt Unruhe durch ihre Züge und ein blasses Erschrecken in ihre Augen. Sie neigte den Kopf.

»Du bringst mich auf einen guten Gedanken,« sagte sie. »Paris ist in dieser Zeit so reizend wie Nizza …« Und dann sprach sie weiter, mit einem die Lippen umklammernden Lächeln der Bosheit: »Da brauche ich auch nicht allein zu fahren. Ich habe einen Reisebegleiter in Anatol. Ho, Baron Herwey, wir sind doch noch nicht am Ende unsrer Geschicke. Sie stoßen mich von sich. Aber verliere ich den einen Gatten, der zweite bleibt mir in der Reserve. Und sollten wirklich alle Möglichkeiten, die meine Hoffnung beflügelten, zu nichts zerrinnen, was ich nicht glaube – nein, was ich nicht glaube – ich habe noch immer die Politik, die ich meinen Zwecken dienstbar machen kann, auch zu der Revanche, nach der ich mich sehne. Eine Dirne nannten Sie die, die auch das letzte an vornehmer Gesinnung in mir vergiftet habe. Aber Sie vergessen, daß Sie es waren, der die Politik zur feilen Dirne erniedrigt und diese Dirne in unser Haus eingeführt hat. Von hier aus nehme ich ihr Gift mit in die Welt …«

Herwey hörte das Rauschen ihres Kleides und vernahm das Klappen der Tür. Er rückte seinen Stuhl zurecht und setzte sich nieder. Er war sterbensmüde.


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