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Herbert saß seinem Vater gegenüber, die Lampe brannte im Arbeitszimmer, gegen die Fenster ballerte der erste frühe Schnee des Winters.
»Ich glaube, du überarbeitest dich, Papa,« sagte der junge Mann. »Du siehst elend aus, du bist grau im Gesicht und hast einen müden Zug um den Mund. Sei verständig, hänge einmal für ein paar Wochen die Politik an die Wand und gehe an die Riviera. Gönne dir eine kleine Erholung.«
Der alte Herr kaute wie gewöhnlich an seiner schweren Zigarre.
»I wo,« entgegnete er, »dazu habe ich gar keine Zeit, lieber Junge. Ich kann alles vertragen – nur die Ruhe nicht. Diese sogenannte Erholung würde mich bloß noch nervöser machen. Ich bin auch gar nicht krank – ein bissel abgenutzt, nun ja – jünger bin ich nicht geworden. Aber jetzt kommen ja wieder stillere Tage.«
»Kein neues Rasseln mit dem Säbel? Keine Erhöhung des Militäretats?«
»Die war schon da. Auch die Marineanleihe hat man von zehn auf siebzehn Millionen gebracht, ohne Widerspruch zu finden. Der kleine Lasker hat ein bißchen geschimpft und Virchow sich auf die Friedfertigkeit des französischen Volkes berufen. Da ist ja nun Daru an die Spitze des Auswärtigen getreten, und sein Abrüstungsvorschlag scheint immerhin ehrlich gemeint zu sein. Daß Bismarck sich dagegen erklärt hat, ist noch kein Beweis für etwaige kriegerische Absichten seinerseits. Bei der Organisation der preußischen Heeresverfassung läßt sich eine rasche Abrüstung schwer durchführen. Die Taube mit dem Ölblatt fliegt also wieder mal durch die Lande … Aber zu deiner Angelegenheit, lieber Berti. Du hast meinen Brief erhalten?«
»Ja – ich danke dir. Wie ist es mit dem Paß für Rußland?«
»Den besorgt mir Herr von Kotzebue auf Grund deiner Pariser Legitimation. Du bleibst natürlich Herbert Haug, reist aber für Strousberg in Angelegenheit seiner rumänischen Bahnen. Freilich wird die Fahrt sich etwas ausdehnen. Bis Warschau hast du gute Verbindung, von da über Berditschew und Tiraspol mußt du Bummelzüge benutzen. Übrigens reist man in Rußland im allgemeinen viel bequemer als bei uns, und Kotzebue hat mir zudem noch ein Empfehlungsschreiben der Botschaft zugesagt, das dir überall Erleichterung schaffen wird, vor allem bei seinem Onkel, dem Generalgouverneur von Kotzebue in Bender. Der stellt dir auch die nötige Wachmannschaft bis Galatz. Das ist der beschwerlichste Teil, weil man die Militärbahn dahin zwar in Angriff genommen, aber wieder hat liegen lassen …«
»Ich komme schon durch. An wen wende ich mich in Galatz?«
»An den Hafenkommandanten. Ich notiere dir das alles ganz genau. Der Kommandant übernimmt die Waffen, den Betrag dafür händigt dir das Bankhaus Philippesco in Wechseln auf Bleichröder ein, die du auf unserm Generalkonsulat in Bukarest hinterlegst. Du hast dann freie Hand und kannst dich um deine Anstellung kümmern.«
Herbert neigte ein wenig den Kopf. »Genügt die Empfehlung an den Kabinettschef Friedländer?«
»Insofern ja, als du durch ihn ohne weiteres eine Audienz beim Fürsten erreichen wirst. Das übrige ist dann deine Sache. Dem Fürsten mußt du natürlich die volle Wahrheit sagen. Wenn du noch besonders sein Vertrauen gewinnen willst, kannst du gelegentlich einflechten, daß dein Vater ein guter Freund der Madame Hortense Cornu in Paris ist, eine dem Kaiser sehr nahestehende Dame, die seinerzeit bei ihm die Anerkennung des Fürsten für den rumänischen Thron durchgesetzt hat.«
Herbert schaute auf. »Wie heißt die Dame?« fragte er.
»Frau Cornu.«
»Die Milchschwester Napoleons?«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Will ich dir sagen. Ich war neulich einmal bei Ralph in der Kaserne, habe auf seinem Zimmer zu Abend gegessen und ein Stündchen ganz gemütlich mit ihm verplaudert. Da sah ich auf seinem Schreibtisch die Photographie einer eleganten, behäbigen Frau mit sympathischen Zügen – eine unlesbare Widmung in kleinen Krakelfüßen stand auf dem Bilde. Und als ich fragte, wer das sei, antwortete mir Ralph, das sei eine sehr bedeutende Persönlichkeit, nämlich Madame Cornu, die Milchschwester des Kaisers von Frankreich. Ich würde das vergessen haben, wenn er es nicht besonders betont hätte. Du weißt ja, er ist auf seinem Herbsturlaub bis nach Paris gekommen und sagt, Graf Solms von der Preußischen Botschaft habe ihn bei ihr eingeführt. Es sei recht interessant gewesen – wie er denn überhaupt von dieser Reise schwärmt.«
Der Staatsrat säuberte sein Einglas mit dem Taschentuch. »Ja,« antwortete er in gedehntem Tone, »das sagte er mir auch. Er wollte eigentlich nur bis Verdun – da so herum – und hat seine Reise schließlich bis Paris ausgedehnt. Es benutzen jetzt viele Offiziere ihren Urlaub zu Ausflügen über den Rhein. Man interessiert sich lebhaft für Frankreich – das ist ja erklärlich … Übrigens hat mir Ralph nichts von Frau Cornu erzählt, die mir doch seit langen Jahren gut bekannt ist – ich muß ihn gelegentlich danach befragen. Er sagte mir nur, er habe sich in Paris gehörig ausgebummelt – aber die Cornu spielt auch eine gewichtige Rolle in der Politik – Napoleon hat großes Vertrauen zu ihr, und damals, in der rumänischen Frage, hat sie tatsächlich den Ausschlag gegeben …« Er klemmte das Einglas wieder in die Augenhöhle … »Wie gefällt dir denn jetzt der Ralph?« fragte er. »Er scheint ja gottlob vernünftiger geworden zu sein. Er hat auch seinen Rennstall aufgelöst.«
Herbert nickte zustimmend. »Ich habe gleichfalls den Eindruck,« erwiderte er, »als finde er sich auf bessere Wege zurück. Er schwor mir zu, daß er das Jeu aufgegeben habe – der neue Kommandeur denkt sehr streng über derlei, hat auch den Besuch der Kranzlerschen Rampe verboten und die Zivilpolonäsen im Orpheum. Der Verkauf der Rennpferde ist Ralph natürlich schwer geworden, das läßt sich denken; aber er hat in letzter Zeit wenig Glück mit den Gäulen gehabt und nimmt Rücksicht auf deine Verluste in Wien.«
»Na, mein Gott,« sagte der Staatsrat gutmütig einlenkend, und Herbert fuhr fort: »Ja, Papa, was ich noch aussprechen möchte, und grade deshalb, weil Ralph sich wirklich gründlich geändert zu haben scheint: er klagte ein wenig über dich.«
»Hallo – über mich? Und warum?«
»Du seiest nicht wie sonst zu ihm, meinte er. Seiest kühl, verschlossen und abwehrend. Und fügte hinzu – es ist gar zu albern – vielleicht seiest du ein bissel eifersüchtig, weil Désirée ihn mit ihrer Freundschaft verwöhne.«
Der Baron lachte. »Auch noch,« rief er. Dann brach das Lachen kurz ab. Ein fahler Schein flog über das verarbeitete Gesicht wie unter der Einwirkung eines plötzlich Neuen. Ein Blatt vom Schreibtisch flatterte auf den Boden. Sein Ärmel hatte es heruntergestreift. Er bückte sich und hob es auf, ehe Herbert hinzuspringen konnte. »Danke,« sagte er, und nun war ihm bei der Bewegung wieder das Blut in die Wangen gestiegen. »Das fehlte noch, Berti. Ich eigne mich nicht für den Tragödienstil. Kann mich nur freuen, wenn Désirée und Ralph sich herzlich zueinander stehen. Gott, diese jungen Menschen!«
»So ist es, Vater,« sagte Herbert lebhaft. »Die Jugend hält unwillkürlich zusammen. Da ist nichts dabei. Ich war auch einmal verschossen in deine schöne Frau und träumte mich poetisch in die Rolle des Don Carlos hinein. Aber Elisabeth winkte lachend ab – und heute weiß ich, daß der holde Gedanke mir über die Wirklichkeit ging. Denn die Wirklichkeit ist mir näher gerückt. Ich bin aufrichtig verliebt, Vater.«
»I – sieh da – und ganz ernsthaft, Berti?«
»Ja, ernsthaft – und das wird tragisch in der Lage, in der ich mich befinde.«
»Wieso? Ich verstehe nicht recht.«
»Ich bin hier vogelfrei. Ich lebe unter falschem Namen. Wenn man mich am Griebs kriegt, spazier' ich ins Zuchthaus. Nun soll ich in Rumänien Dienste nehmen. Wird mir mein Mädchen in die Fremde folgen?«
»Das kommt auf das Mädchen an. Bin ich indiskret, wenn ich nach dem Namen deiner Flamme frage?«
»Nein. Dir kann ich es sagen, obwohl ich noch nicht einmal weiß, ob sie meine Neigung erwidert. Oder doch: ich weiß es. Ein Liebender täuscht sich selten. Aber ich habe mich noch nicht mit ihr ausgesprochen, weil – weil eben meine persönlichen Verhältnisse noch zu unklar liegen. Weil ich keinen festen Boden unter den Füßen habe – ich schwebe ja in der Luft.«
»Wer ist es?«
»Annemarie Weerth, die Schwester deines Sekretärs.«
»Ich dachte es mir. Lieber Junge, ich kenne sie nicht – Erika sprach mir mal von ihr und hat viel für sie übrig –, aber sie ist arm. Auch das muß berücksichtigt werden, denn – sieh mal, ich habe große Einnahmen, hatte sie, jetzt haben die Verhältnisse sich verschoben –, ich weiß nicht, was mir die Zukunft bringt, und nähere mich den Jahren, in denen man an Elastizität verliert – kurzum, ich kann dir keine festen Zusagen geben, inwieweit ich dich fürderhin noch zu unterstützen vermag. Was an mir liegt, geschieht sicherlich – aber ich muß ehrlich zu dir sein.«
Herbert erhob sich und küßte den Vater auf die Stirn. »Ich bin dir dankbar dafür,« sagte er. »Und nun hör' mich einmal an. Du weißt, daß ich mich auf die Schriftstellerei geworfen habe. Und ich finde dabei meine Erfolge. Das Fundament ist da. Das Drama, das ich mit Hans Weerth zusammen gearbeitet habe, kommt im Januar zur Aufführung. Ein selbständiges habe ich begonnen, auch einen Roman aus hannöverschen Tagen. Noch kann ich eine Frau nicht ernähren, aber die Einnahmen dürften wachsen – – wenn ich nur wenige Jahre auf deinen Zuschuß rechnen könnte, würde uns geholfen sein. Hans Weerth hat nun durch Rechtsanwalt Hirsekorn einen Prozeß gegen den Kurfürsten von Hessen auf Herauszahlung der im Trubel von Sechsundsechzig von seinem Vater verauslagten Beamtengehälter anstrengen lassen, und Professor Pernice hält es für nicht unmöglich, daß der Kurfürst noch vor Erledigung der Klage die Sache aus der Welt schaffen wird. In diesem Falle könnten wir ja heiraten – dann wäre wenigstens eine kleine materielle Grundlage da. Aber auch das hängt noch in der Schwebe –«
»Erlaube,« fiel der Staatsrat ein. Er hatte den Rest seiner Zigarre in den Aschbecher gelegt und stopfte sich dafür seine kurze englische Pfeife. »Wenn alles so liegt, wie du sagst, werde ich dich natürlich nicht im Stiche lassen. Ich habe Ralph oft genug die Schulden bezahlt und habe für Désirée – – nun also, du stehst mir nicht minder nahe, und mit einem kleinen Kapital kann ich dir jederzeit unter die Arme greifen, wenn es nötig ist. Aber, bester Berti, auf die Erträge deiner Feder baue nicht allzu fest. Ganz etwas anderes, wenn du die Schriftstellerei sozusagen als Nebenberuf betrachtest. Willst du denn Rumänien aufgeben? Man sucht dort tüchtige Offiziere, und wenn deine Annemarie dich liebhat, folgt sie dir auch bis an das Ende der Welt.«
Herbert hatte sich erhoben und reckte die Arme.
»Ach Gott, Papa,« rief er, »ich möchte erst einmal wieder frei sein von Fesseln, die keine Rosenketten mehr für mich sind! Hirsekorn sagt mir, daß Windthorst bei der preußischen Regierung die Begnadigung für alle hannöverischen Emigranten nachsuchen will. Ist etwas Wahres daran?«
»Insofern ja, als Windthorst sich dazu bereit erklärt hat und einen günstigen Erfolg bei der Regierung für sicher hält. Aber der Starrsinn seines Königs ist dagegen. Ich habe mit Hietzing endgültig gebrochen, weil ich diese verfahrene Politik nicht mehr mitmachen kann. Nun will man die armen Heimatlosen in Afrika ansiedeln. Hättest du Lust, mit deiner jungen Frau eine Farm in der Algérie zu übernehmen, die dir angewiesen wird und die vielleicht in klimatisch ungesunder Gegend liegt?«
»Nein, ich danke,« erwiderte Herbert hastig, »ich wünsche überhaupt nicht französischer Untertan zu werden. Aber ich wiederhole: meine Freiheit möchte ich wiederhaben, die Freiheit meiner Person. Ich denke heute anders darüber als vor einem halben Jahr.«
»Und würdest auch für deine Person um eine Begnadigung einkommen?«
»Ja,« entgegnete Herbert fest.
Der Baron machte sich eine Notiz und nickte. »Gut,« sagte er, »ich werde mich darum bemühen. Melde deinem Kommandanten in Paris offiziell deinen Austritt aus der Legion. Das kannst du von Bukarest aus tun. Ich rate dir auch, dich für alle Fälle um ein Offizierspatent in der rumänischen Armee zu bemühen – wenigstens die erforderlichen Schritte vorzubereiten. Schaden kann es dir nicht, denn es liegt immerhin die Möglichkeit vor – die Möglichkeit, sage ich –, daß mein Gesuch abgewiesen oder doch wenigstens auf die lange Bank geschoben wird. Man ist sehr erbittert über die Umtriebe König Georgs.«
»Er ist krank, Papa,« erwiderte Herbert, »und in der Umgebung von Leuten, die nur von Intrigen leben. Mir fällt dabei ein, daß du deinem Sekretär einen merkwürdig interessanten Auftrag gegeben hast –«
»Ah,« unterbrach ihn der Staatsrat und runzelte leicht die Stirn, »die kleine historische Arbeit über das Welfenreich! Er hat sie vortrefflich ausgeführt, aber – Herbert, das muß ich dir sagen –, ich habe ihn besonders gebeten, andern gegenüber nicht über Angelegenheiten zu sprechen, die in meinem Privatzimmer verhandelt werden. Es ist mir keineswegs angenehm, Herrn Weerth auf einer Indiskretion zu ertappen.«
»So darfst du das nicht auffassen, Papa,« entgegnete Herbert, ein wenig verblüfft über den ernsten Ton. »Weerth hat nie mit einer Silbe seiner Tätigkeit bei dir erwähnt – in diesem Falle handelte es sich aber um die Beschaffung der nötigen Unterlagen, und da hatte er sich an seine Schwester gewandt, die ihm in der Tat auch aus dem Ripplauschen Antiquariat ein paar wichtige Quellenwerke leihen konnte. Mir selbst hat nur das Thema Spaß gemacht, weil es so ganz hietzingisch klingt und die Tatsache vergißt, daß König Georg eigentlich überhaupt kein Welfe mehr ist, sondern von einem Markgrafen von Este abstammt, der im zehnten Jahrhundert lediglich das Glück hatte, alte welfische Güter zu erben.«
»Weiß ich, mein Junge – weiß ich ja –, die Genealogie ist nun einmal eine etwas kapriziöse Wissenschaft – und schließlich, wenn es dem Hause Hannover Freude macht, bis auf Karls des Großen Zeiten zurückzukriechen, uns kann's recht sein. Übrigens ging der Auftrag diesmal nicht von Hietzing aus – ich sagte dir ja schon, daß ich mit den Herrschaften nichts mehr zu tun habe –, sondern von privater Seite – es handelte sich um eine Gefälligkeit, die ich nicht abschlagen wollte. Ich höre, Eri hat dem Weerth bei der Arbeit geholfen. Ich konnt's nicht verhindern, aber ich finde, die beiden sind etwas intim miteinander geworden, seit du dein Inkognito aufgehoben hast und Erika häufiger im Weerthschen Hause verkehrt.«
Herbert stand hinter dem Schreibtisch. Er sah dem Vater gerade in die Augen, und ein hübsches Lächeln ging dabei über sein Gesicht.
»Ja,« sagte er, »den Herzen läßt sich schwer etwas verbieten.«
Der Staatsrat warf den Kopf in den Nacken. »Ei du Donnerwetter,« rief er, »heißt das, daß die beiden vielleicht auch miteinander einig sind?«
»Ob einig, weiß ich nicht. Aber daß sie sich liebhaben, sieht man.«
Herwey schlug mit der Faust auf den Tischrand. »Himmelelement, die Erika kann keinen armen Plöter heiraten! Ich habe dir ja offen zugestanden, wie meine Verhältnisse liegen. Dies große Hauswesen verschlingt Unsummen. Ich habe Eri bei ihrer Geburt mit zwanzigtausend Talern bei einer Versicherungsgesellschaft eingekauft. Die liegen fest für sie – über die kann sie verfügen. Eine magere Mitgift für ihre Ansprüche. Und was ist er denn? Schriftsteller wie du, mein Herr Sohn. Ja du lieber Gott, wollt ihr von euern Idealen leben?«
»Nicht ganz,« entgegnete Herbert heiter, »aber sie helfen uns vorwärts. Ja du lieber Gott, Vater, glaubst du denn, Annemarie wird mir sagen: Ich nehme dich nur, wenn ich an deiner Seite das Leben einer gefeierten Frau führen kann? Nein – sie nimmt mich, weil sie mich liebhat. Und genau dasselbe ist mit unsrer Erika der Fall, wenn sie ihren Hans heiraten will. Der Unterschied zwischen dir und Eri und mir liegt darin, daß du sozusagen von Beruf aus Realpolitiker bist, während für uns die Macht des Äußeren erst in zweiter Linie kommt. Versteht sich, daß wir die Kehrseite der Dinge keineswegs unterschätzen, aber wir stellen sie nicht über das Recht der Empfindung. Laß uns nur ruhig unsern sogenannten Idealismus; er ist der beste Mitarbeiter an unserm Werk, und wandern wir auch einmal im tiefen Tal, so wandern wir wenigstens mitsammen und wissen, daß wir doch wieder auf Bergeshöhn kommen, wenn wir den Mut zum Steigen nicht verlieren. Und das ist die Hauptsache. Dunkles und Feindliches und allerhand Widerstände hat jeder Mensch zu überwinden. Es kommt nur darauf an, daß man die Kraft dazu hat – und die gibt uns schon unsre Liebe …«
Der Staatsrat hatte sich tief in seinen Arbeitssessel gelehnt, den Kopf leicht geneigt, aber doch mit scharfem Auge den Sohn beobachtend, der alle Waffen für seine Zukunft aus einer Rüstkammer holte, die für den Mann der praktischen Erfahrung nie vorhanden gewesen war. Es ging eine seltsame Wandlung über das alte Gesicht, gleichsam ein Zufluß aus entgegengesetzten Polen, eine starke innere Bewegung, die sich gegen ein Hinüberwirken zu sentimentaler Schwäche auflehnte und doch einer entschiedenen Rührung nicht Herr zu werden vermochte. Es huschte an dem Staatsrat auch eine Bilderreihe flüchtiger Erinnerungen vorüber; an seine erste kleine, zarte Frau, an ihre Tapferkeit in den Jahren subalterner Hemmung und ihre unverdrossene Herzensgüte – und dann an die Zeiten des Aufstiegs mit ihrer Anhäufung neuer Zielpunkte, und endlich an das Bekanntwerden mit Désirée, das ihn in der Folge dahin gebracht hatte, die Kritik gegen sich selbst einzustellen. Das, was Herbert in lachender Abwehr als eine Unmöglichkeit seiner Annemarie in den Mund legte: Ich nehme dich nur, wenn ich an deiner Seite eine gefeierte Frau werden kann – das hatte ihm Désirée in Wahrheit gesagt … Dem Staatsrat schwirrte der Gedanke durch den Kopf, daß sein ganzes Leben in zugespitzter Dialektik aufgegangen war. Jede Wendung hatte ein Schlagwort begleitet, es war zu einer einzigen Phrase geworden. Alle vielgerühmte Praxis des Daseins hatte in spekulativer Hirnarbeit sich gelöst, an der das Herz keinen Anteil nahm. Und nun kamen diese Kinder mit dem frischen Wollen ihrer Phantasie und der Triebkraft ihres Empfindens und schufen sich eine neue Bildlichkeit und ein Selbst in der Betätigung ihres Fühlens, nicht kleinklug, sondern im vollen Glauben an die ewige Gesundheit dessen, was über allem Zauber ist … Baron Herwey spürte so etwas wie eine Erschlaffung seines Wesens, bei der wieder ein Unterton tiefster Rührung mitschwang. Wider Willen wurde sein Auge feucht, er blinzelte, er räusperte sich, er ruckte mit den Schultern, und dann öffnete er mit rascher, zuckender Bewegung die Arme und rief:
»Komm her, mein Junge!«
Er küßte ihn, wischte sich mit dem Handrücken die Augen, lachte und sagte: »Bist ein braver Kerl, Berti. Bist ein Schafskopf, aber doch ein braver Kerl. Bist mit deinem Idealismus schon einmal gründlich reingefallen und bleibst dir trotzdem treu. Respekt davor – ich könnte dich beneiden. Ja – also nun mit der Erika, das muß ich abwarten –«
»Natürlich,« fiel Herbert eifrig ein, »ich will nichts gesagt haben – ich habe nur einem Vermuten Ausdruck gegeben.«
»Gut, gut – und auch mit dir kann ich doch erst das Nähere besprechen, wenn es so weit ist. Statte dich also vorläufig für die Reise aus und richte dich ein, daß du in spätestens vierzehn Tagen losfahren kannst. Russisches Geld besorge ich dir; reichliche Trinkgelder machen sich immer bezahlt. Willst du von hier wieder nach Hause?«
»Ich hätte gern noch deiner Frau die Hand geküßt, Papa. Gellrich sagte mir, Erika und Ralph seien bei ihr oben.«
Der Staatsrat erhob sich, indem er die Hände auf die Seitenlehnen des Sessels stützte und sich langsam emporwuchtete. Seine riesige Figur hatte in letzter Zeit an Umfang zugenommen; er war schwerfälliger geworden.
»Wollen hören, ob du willkommen bist,« sagte er und trat an das Sprechrohr, das auch von hier aus in das obere Stockwerk führte. Er läutete an und hörte gleich darauf die Stimme Désirées. Sie schien in liebenswürdigster Stimmung zu sein.
»Aber natürlich,« rief sie zurück, »schick' Herbert nur zu mir. Willst du selbst mir nicht die Ehre erweisen, großer Teutone? Wir trinken Lacrimae Christi und knabbern dazu von den Plätzchen, die Erika gebacken hat.«
»Vielleicht etwas später, wenn du gestattest,« antwortete Herwey. »Ich habe noch ein paar Durchsichten vor und möchte die Nachtdepeschen abwarten …«
… Es war in den letzten Wochen häufiger vorgekommen, daß Désirée Erika gebeten hatte, ihr eine Abendstunde kürzen zu helfen. Das Gesellschaftsleben hatte zwar bereits eingesetzt, aber es pflegte sich doch erst nach Neujahr reger zu entfalten. Zudem war Désirée sichtlich zurückhaltender geworden; sie sagte, sie müsse endlich lernen, eine gute deutsche Hausfrau zu werden, und sprach auch gelegentlich davon, daß bei den großen Verlusten ihres Mannes Einschränkungen eine Notwendigkeit seien. Sie war immer sehr freundlich zu Erika und interessierte sich lebhaft für ihren Verkehr im Weerthschen Hause, tat mütterlich und schwesterlich und gewann durch die Herzlichkeit ihres Wesens Erika in dieser Zeit mehr für sich, als es ihr in den Jahren ihrer zweiten Ehe möglich gewesen war.
Herbert fand die drei in gemütlicher Unterhaltung beim Kaminfeuer.
»Sag', lebst du noch?« rief ihm die schöne Stiefmutter entgegen und ließ sich die Hand küssen. »Zuweilen vergesse ich ganz, daß ich zwei erwachsene Söhne habe, denn von dir sehe ich auch in Berlin nicht viel. Ich könnte glauben, du seiest noch in Paris.«
»Ist er auch noch,« sagte Ralph, »den du hier vor dir hast, ist nur Herr Herbert Haug, ein strebsamer junger Dichter, von dem du in der Voß und in der Spenerschen und in der Nationalzeitung und überall sonst viel Schönes und Gediegenes lesen kannst.«
»Spotte nicht,« erwiderte Herbert. »Das bißchen Schreiberei vertreibt mir die Langeweile und gibt mir auch neue Erwerbsmöglichkeiten. Denn was soll nun aus mir werden, da man die armen Teufel von der Legion nach Algerien verschicken will und den Offizieren sagen läßt, man brauche sie nicht mehr, sie möchten sich nach anderer Beschäftigung umsehen? Ein hübscher Dank vom Hause Welf und ein glorreiches Ende nach Jahren unnötigen Exils.«
»Stärke dich erst einmal,« sagte Erika und füllte ihm das Glas mit dem rubinfarbenen italienischen Wein.
»Stärke dich und rede,« fügte Ralph hinzu. »Trittst du wirklich in die Dienste des Hospodars?«
Herbert nippte an seinem Glase. »Jedenfalls will ich mir da unten einmal die Situation ansehen,« antwortete er und zog sich einen Sessel in den Kreis. »Ich habe eben mit dem Papa gesprochen – ja, apropos, Ralph, der alte Herr ist auch ein guter Bekannter der Madame Cornu, deren Bild ich auf deinem Schreibtische sah.«
Eine leichte Röte ging über das Gesicht Ralphs, indes Désirée wie unwillkürlich lauschend den Kopf hob.
»Du bist ein Schwätzer, Herbert,« sagte er verärgert.
»Wieso?« fragte der Bruder erstaunt.
Ralph verbesserte sich lachend. »Es war nicht bös gemeint, alter Junge. Man soll nicht Bilder herumstehen lassen, die zu pikanten Erörterungen Anlaß geben können. Nämlich – nämlich diese gute Frau Cornu – diese gute Frau Cornu – du hast nie ihre Bekanntschaft gemacht, 'tite maman? vielleicht damals, in deiner Pariser Zeit?«
»Ich entsinne mich wohl ihres Namens,« erwiderte Désirée leichthin. »Sie ist die Tochter der Amme Napoleons und war, irre ich nicht, mit einem Maler verheiratet.«
»Ganz richtig,« sagte Ralph, »und ist eine geborene Lacroix und eine intime Vertraute Napoleons, spricht tadellos Deutsch und hat auch die Briefe zwischen Goethe und der Bettina ins Französische übersetzt. Eine famose Frau – ich wurde bei ihr eingeführt – aber ich sagte schon – man erzählt ihr allerhand Pikantes nach – über ihre Beziehungen zum Kaiser und weiß der Deibel, zu wem noch alles.«
»Und deshalb hat sie dir auch gleich ihr Bild geschenkt,« meinte Erika scherzend. »Die pikanten Reflexe fallen auf dich zurück, junger Sünder.«
Ralph lachte wieder, und es fiel nicht auf, daß seine Fröhlichkeit ein wenig gequält klang. »Sei so gut, Schwesterherz,« rief er, »da muß ich doch bitten! Die Cornu ist eine würdige alte Dame – mehr als nochmal so alt wie ich selbst – nichts für ein stürmisches Herz, ach nein. Die Sache liegt sehr einfach. Ich hatte mir ihre Photographie in einem Bilderladen gekauft und sie gebeten, mir ein Widmungswort darauf zu schreiben, weil sie doch eben eine sehr interessante Persönlichkeit ist. Das ist das ganze Geheimnis.«
»Es hat sie ja noch niemand als ein Geheimnis betrachtet,« warf Herbert ein. »Bloß du tatest so mysteriös und fuhrst mir mit ›Schwätzer‹ in die Parade, weil ich dem Papa ganz beiläufig von dem Bilde gesprochen hatte.«
»Streitet nicht, Kinder,« sagte die Baronin begütigend, »die Sache ist nicht der Rede wert. Jedenfalls hat dir der Pariser Aufenthalt viel Anregendes gebracht, Ralph.«
»Ah ja, Mama. Ich konnte auch einen Abend bei Dumas sein und habe da Feuillet getroffen und Flaubert, der von seiner Besitzung bei Rouen auf ein paar Wochen nach Paris gekommen war, und den jungen Schriftsteller Zola, dessen reizende Contes à Ninon vor ein paar Jahren Aufsehen erregt haben. Der alte Dumas ist übrigens auf dem absterbenden Ast: es geht ihm schlecht, und es zehrt auch an ihm, daß er das Gold nicht mehr mit vollen Händen um sich streuen kann.«
»Ja du lieber Himmel,« sagte Herbert, »die Tage des Monte-Cristo sind endgültig für ihn vorbei –,« und Erika fragte: »Wie ist die politische Stimmung in Paris, Ralph? So friedlich wie bei uns?«
»Ich habe mich nicht viel darum bekümmert, Erichen,« antwortete Ralph, »die Politik liegt mir doch zu fern. Der Kaiser soll ewig krank sein, zankt sich viel mit seiner gnädigsten Gattin, hat aber bei Eröffnung der Kammern eine schöne Thronrede gehalten. Sein größter Widersacher ist augenblicklich wohl Herr Jules Favre, den man mir in der Großen Oper zeigte: ein Kerl mit einem unglaublichen Schädel und einer Stirn, die wie ein Balkon aus der Fassade seines Gesichts hervorspringt. Na, und dann geht dem Kaiser als weltliches Haupt der katholischen Christenheit, wie er sich gern nennt, wohl das Konzil in Rom im Kopfe herum – ich weiß nicht, was man da wieder für niedliche Dinge zusammenbraut.«
Désirée stand am Tische und hielt ihr Glas gegen das Licht. »Lassen wir die Politik ruhen,« sagte sie, »sie rumort sowieso genügend durch dieses Haus. Herbert, erzähle uns lieber von deinen poetischen Arbeiten. Ist es wahr, daß du dich an einem Roman versuchst? Und darf man hören, welches Thema er behandelt?«
»O gewiß, Désirée,« entgegnete Herbert gefällig, »aber ich kann natürlich nur in kurzen Worten den Inhalt angeben, das rein Stoffliche. Und das ist nicht durchaus die Hauptsache. Es ist eine ziemlich stille Geschichte aus den hannöverischen Marschen.«
»Keine langen Vorreden,« rief Ralph. »Schieß los – wir lauschen …« Und Herbert begann. – – –
– Der Staatsrat saß inzwischen eine Treppe tiefer noch immer an seinem Arbeitstische. Er wartete auf den Diener, der mit der Abendpost kommen sollte. Herwey besaß ein eigenes Postfach, das täglich einmal geleert wurde; die Briefträger hatten wenig Arbeit in seinem Hause.
Er blätterte in einem Bericht, der ihm aus Florenz zugegangen war und den Widerstand der Mutter des Herzogs Thomas von Genua gegen dessen Kandidatur für den spanischen Königsthron behandelte. Die Frage beschäftigte Herwey um so lebhafter, als er wußte, daß Bismarck der Möglichkeit eines abermaligen Angebots der Krone Spaniens an den Prinzen Leopold von Hohenzollern nicht mehr so schroff abweisend gegenübertreten würde wie früher. Montpensiers Wahl war erledigt: einen Orleans wollte man in den Tuilerien nicht. Auch für den Prinzen Thomas schien man abzuwinken. In Spanien war man also wieder auf dem alten Fleck angelangt: ein leerstehender Thron, ein Königreich ohne König. Nun stand Baron Herwey in intimer Verbindung mit dem einflußreichsten Mitglied der Cortes, dem Abgeordneten Salazar y Mazarredo, der mit heißer Leidenschaft die Kandidatur des Prinzen Leopold verfocht, ein Manifest nach dem anderen zu seinen Gunsten in die Welt schleuderte, unermüdlich hin und her reiste und schließlich auch den Minister Prim auf seine Seite zu bringen verstand. Die geheime Diplomatie war in diesen Monaten wieder einmal ungemein rührig. Herwey hatte es durchgesetzt, daß Salazar bei dem in der Schweiz weilenden Vater des Prinzen Leopold persönlich empfangen wurde, und wünschte nichts sehnlicher, als ihm auch eine Audienz bei Bismarck zu verschaffen. Das lag nicht im Bereich des Unmöglichen, denn Herwey hatte durch seine letzten, sehr geschickten Relationen die etwas schwankend gewordene Gunst des Bundeskanzlers zurückgewonnen und wurde auch wieder vom Unterstaatssekretär von Thile liebenswürdig aufgenommen, wenn er sich anmelden ließ. Daß er mit Hietzing reinen Tisch gemacht hatte, rechnete man ihm besonders hoch an, und die hannöverische Zukunftsbanknote mit der die Ketten sprengenden Freiheit hatte in der Wilhelmstraße wahrhaften Jubel erregt.
Nun war ja noch die famose Ausarbeitung über das neue Welfenreich da, freilich ein kleiner Schwindel, immerhin auf Tatsächlichkeiten fußend – aber mit diesem Manuskript sollte erst Robino in Wien ein paar geschickte Erpressungsversuche in Szene setzen. Natürlich handelte es sich dabei um nichts weiter als um eine im Grunde genommen schamlose Erpressung. Nun ja – das war richtig – in Hietzing selbst war man indessen auch nicht heikel in bezug auf Mittel und Wege, wenn man etwas erreichen wollte – und Pressionen gehörten zum Handwerk. Ein böse grinsendes Lächeln ging um den schlemmerischen Mund des Staatsrats, aber es verschwand sofort wieder und machte dem Ausdruck sichtlicher Verärgerung Platz, als ihm einfiel, was ihm Herbert über das sich anbahnende zärtliche Verhältnis zwischen Hans Weerth und Erika gesagt hatte. Die Denkschrift war schon in den Händen Robinos, und es war gar nicht darauf zu rechnen, daß der alte Gauner sie zurückgeben würde, ehe er es nicht mit einem seiner gewandten Überraschungstricks versucht hatte. Aber schließlich – Hans Weerth blieb ja im Hintergrunde und kam gar nicht in Frage – es war auch ganz klar, daß man in Hietzing nicht Lärm schlagen würde, selbst wenn man Robino unsanft an die frische Luft beförderte – dann wahrscheinlich erst recht nicht …
Baron Herwey warf den Bericht aus Florenz auf den Tisch zurück und stopfte sich wieder die englische Pfeife. Er sah, daß seine Hand dabei zitterte. Es war aus mit seiner Nervenkraft – ihm war zuweilen zum Zerflattern zumute, inhaltleer und substanzlos. Lohnt sich die Arbeit noch, fragte er sich, dieses blöde Hinundherwerfen zwischen emsig sich bekämpfenden Heimlichkeiten, dies Suchen und Spüren nach ausgestreuten Minen, dies elende Schmarotzertum auf dem Boden erst werdender Geschichte? Einst hatte es ihm Freude gemacht; auch in Überhebung und Selbstsucht, war es doch ein Streit der Geister gewesen, mit dreister Ausbeutung und Raubinstinkten, aber ein Spiel um Werte und eine Messung der Kräfte. Das war vorbei. Schäbiger Rest an Gesinnung war zum Teufel gegangen, das Reinnützliche hatte letzte Bedenken verdrängt, Gauner wurden zu Freunden – Herrgott, stand man denn nicht längst auf der schmalen Grenze zwischen Böse und Gut, auf der die Handreichung mit einem Hochstapler zu legaler Form geworden war? –
Der Staatsrat zog sein Taschentuch, zerknüllte es zwischen den Fäusten, fuhr damit über die Stirn. »Désirée,« murmelte er unwillkürlich und schaute in die Höhe, als könne sein Blick die Decke durchbohren, um sie zu sehen. Sie war der Anfang und das Ende seines Niedergangs, diese berückende Frau. Seit der Unterredung mit Lavergne in der Wohnung der Rumänin schlief er nur noch, wenn er künstliche Mittel gebrauchte. Er zermarterte sich den Kopf, wie er die nackte Wahrheit erfahren könne. Beweise waren die vier Briefe, die er Lavergne abgekauft hatte. Gut, sie ergaben den Wunsch Désirées, sich von ihm zu trennen. Das bedeutete für ihn den Einsturz letzter Hoffnungen, aber noch nicht die Tatsache ihres Ehebruchs. Nein, doch noch nicht. Auch ein tollgeschwellter Ehrgeiz konnte das treibende Rad sein. Wer wußte Bescheid? Konnte der kaiserliche Vater nicht seine besonderen Absichten mit ihr haben? Vielleicht träumte der kranke Imperator in seinen Fiebernächten sich in vergangene Tage zurück und spürte wieder den Duft der Rosen von Rom und sah die Kerkermauern von Ham um sich, die Hände der Liebe ihm auch mit Rosen geschmückt hatten, und fühlte auf einmal brennende Sehnsucht nach dem vergessenen Kinde. Was war unmöglich bei diesem Manne der Rätsel? –
Baron Herwey hatte sich einige Tage mit dem Gedanken getragen, selbst nach Paris zu reisen, um sich dort Aufklärung zu schaffen. Seine persönliche Anwesenheit konnte nicht auffallen, er war überall bekannt und wohlgelitten und hätte sich durch den Oberkammerherrn Herzog von Bassano auch leicht eine Audienz in den Tuilerien verschaffen können, denn der Herzog hatte noch nicht vergessen, daß Herwey ihm dereinst in einem sehr unangenehmen Handel mit dem Narren von Braunschweig hilfreiche Dienste leisten konnte. Aber welchen Nutzen hätte er im Augenblick aus dieser Reise erzielt? Ob Désirée wirklich eine Tochter des Kaisers war oder ob die politischen Handlanger, die in den Pariser Ministerien, in der Polizeipräfektur, auf den Gesandtschaften und im Hofstaat steckten, mit ihr nur ein theatralisches Spiel trieben, um sich ihrer Dienste zu versichern, das trat weit zurück gegen das unumstößlich Feststehende in den vier Briefen von Lavergne.
Der Staatsrat fühlte wieder, wie sein Herz sich krampfhaft zusammenzog. Durch das Aschgrau seines Gesichts flackerten ein paar rote Punkte, als er an Ralph dachte. Pfui Teufel, welcher Wahnsinn! Die Gedanken flogen hin und her, verirrten sich, schwirrten durcheinander, es war wie ein Hexentanz. Ein kurzes Lachen kam. Herbert hatte ja ganz offen gestanden, daß auch er einmal in die petite maman verliebt gewesen war. Wer sie sah, verliebte sich. Aber der leichte Flirt verlor sich nicht in tiefergreifenden Ernst. »Quatsch,« sagte Baron Herwey laut, und dann fiel ihm das neue Geständnis Herberts ein: sein Verhältnis zu Annemarie Weerth. Herbert hatte ihm immer nähergestanden als der leichtsinnige Ralph. Er hätte ihm gern eine Zukunft geschaffen. Windthorst mußte für die Begnadigung sorgen – das tat er auch sicher. Sonst ging man schlankweg selber zu Bismarck. Die Liebesgeschichte Herberts verschob freilich die Aussicht auf den rumänischen Dienst. Der Staatsrat strich mit der schlank gewordenen Rechten über Wangen und Kinn. Die buschigen Brauen zogen sich zusammen. Wenn der Junge nur erst glücklich mit dem Waffentransport in Galatz wäre! Er fuhr unter dem schützenden Fittich Strousbergs – aber über diesen vielgewandten Geschäftsmann zog der Klatsch auch schon seine Kreise. Man erzählte, er habe seine großen Liegenschaften im Posenschen und andere bedeutende Werte auf den Namen seiner Gattin überschreiben lassen. Pah, was tratscht man nicht alles! Für die Seehandlung galt er jedenfalls noch als sicher, und an dem rumänischen Unternehmen waren Leute wie die Herzöge von Ujest und Ratibor beteiligt. »Quatsch,« sagte der Staatsrat abermals halblaut, und dann glitt ein Lächeln der Erinnerung über sein Gesicht. Irgend jemand hatte ihm einmal erzählt, der König sehe die Beteiligung seines Adels an Spekulationsgeschäften nicht gern, und so habe der hohe Herr gelegentlich den Herzog von Ujest mit den Worten begrüßt: »Guten Tag, lieber Doktor Ujest, wie geht es dem Herzog von Strousberg?« –
Es klopfte. Der Diener mit der Postmappe trat in das Zimmer. Baron Herwey schloß sie auf und entleerte den Inhalt: Kreuzbandsendungen mit ausländischen Zeitungen, Depeschen und Briefe. Er öffnete zunächst die Telegramme. Eins war mit Onibor unterzeichnet – Robino in Wien – und enthielt die Nachricht, die Angelegenheit werde in Gang gebracht werden, sobald der König aus Gmunden zurückgekehrt sei. Ein zweites kam aus Paris und behandelte die Bildung eines neuen Ministeriums unter Ollivier, ein wichtigeres chiffriertes von dem Agenten Salazars in Barcelona: der Ministerpräsident Serrano sei damit einverstanden, daß Salazar anfang des nächsten Jahres nochmals nach Deutschland geschickt werde, um die Unterhandlungen über die spanische Königsfrage von neuem aufzunehmen. Auch unter den brieflichen Berichten fand Herwey manches Interessante – was ihn aber am nächsten berührte, war eine Mitteilung seines zuverlässigsten Vertrauensmannes in Paris, eines geborenen Deutschen, der der dortigen politischen Polizei Spitzeldienste leistete und auch sonst ganz verwendbar war. Er schrieb:
»Ich kann Ihre Anfrage erst heute beantworten, da mir daran lag, das Material zur Sache nach Möglichkeit zusammenhängend zu überblicken. Hier das Resultat. Der Kaiser hat seit einiger Zeit seine frühere Kabinettspolizei, die Anfang des Jahrzehnts aufgelöst wurde, wieder reorganisiert. An der Spitze stand anfänglich Herr Eriau vom Departement der öffentlichen Sicherheit und augenblicklich der auch Ihnen bekannte Graf Roset, der keinen offiziellen Posten vertritt, aber schon lange sehr erfolgreich die auswärtige Spionage geleitet hat. Diese Privatpolizei verfolgt in der Hauptsache den Zweck, allen Angelegenheiten, die sich auf die Person des Kaisers beziehen, nachzuspüren. Da die genannte hohe Persönlichkeit indessen die Fäden der Gesamtpolitik in der Hand hält, so erweitert sich der Kreis der Befugnisse des neuen Organs naturgemäß ungeheuer: die sogenannte Kabinettspolizei ist also tatsächlich das Hauptbureau für die Spionage. Sie stand früher nicht unter der Präfektur, ist aber nunmehr der Tätigkeit des Herrn Piétri angegliedert worden, der für die Berichte aus dem Ausland besondere Filialen eingerichtet hat. Meldungen aus Deutschland, jedenfalls solche aus Berlin, gelangen zunächst in die Hände der Frau Cornu, über die ich Ihnen ja nicht mehr viel zu sagen brauche. Sie ist im Grunde genommen eine unendlich harmlose, gutmütige Dame; da sie ihren kaiserlichen Milchbruder aber wie einen Halbgott verehrt, so weiß man, daß man ihr unbedingtestes Vertrauen schenken kann. Natürlich hat diese Kabinettspolizei mit den Agenten des Auswärtigen Amtes nichts zu tun, hat vielmehr ihre eigenen Hilfskräfte, die sowohl in Wien wie in Berlin durch Vermittlung der Botschaften arbeiten, in den kleineren deutschen Staaten durch bestimmte Persönlichkeiten. Die Namen dieser Hilfskräfte sind nur wenigen bekannt. Ich kann Ihnen aber bestätigen, daß die bei Frau Cornu einlaufenden Berichte aus Berlin tatsächlich mit Egeria signiert sind, während sie noch vor etwa zwei Jahren Desideria gezeichnet wurden …«
Der Staatsrat ließ das Blatt sinken und schob den Chiffrekasten, den er für die Entzifferung gebraucht hatte, zur Seite. Die Reorganisation der kaiserlichen Privatspionage war ihm nichts Neues – er hatte schon davon läuten hören. Auch die Bestätigung der Mitteilung Lavergnes, daß Désirée für Paris eine ausgebreitete Tätigkeit entfaltete, regte ihn augenblicklich nicht sonderlich auf. Er wiederholte sich, was er sich schon einmal gesagt hatte: sie arbeitet ja für den Herrn Papa … Was er aber nicht begriff, war die heillose Geschwätzigkeit des Grafen Roset. Der Mann war sonst von kluger Zurückhaltung und kannte doch auch die Verlumptheit seines Vetters Lavergne – da war es in der Tat unfaßlich, daß er über den Geheimdienst Désirées ebenso harmlos geplaudert hatte wie über ihre Abstammung. Entweder war das in der Weinlaune geschehen, oder Roset verfolgte auch mit dieser Indiskretion bestimmte Absichten, die sich vorläufig nicht übersehen ließen …
Die Klingel am Sprachrohr schlug an. Herwey erhob sich und hörte die Stimme Ralphs.
»Sitzest du noch immer am Arbeitstische, Papa?« rief er. »Wir haben uns eine Flasche Sekt aufgemacht, und die Mama läßt herzlich bitten, du möchtest sie leeren helfen.«
»Schön, mein Sohn, ich komme,« antwortete der Staatsrat. Er schloß seine Papiere fort, trat vor den Spiegel, strich sich über das Haar und ging zu seiner Frau.
Die kleine Gruppe saß noch immer vor dem Kamin, nur stand an Stelle der Lacrimae Christi ein Eiskühler mit einer Flasche Cliquot auf dem Tisch.
»Zyklop, das ist nett von dir, daß du uns die Ehre deines Besuchs schenkst,« rief Désirée ihrem Gatten entgegen. »Nimm den großen Sessel, den in der Ecke, er ist von starkem Gefüge und trägt dich – und dann setz' dich zu uns. Und wundre dich nicht über den Cliquot – er stammt nicht aus deinem Keller, sondern von der Sendung, die mir Graf Woerlé zu meinem Geburtstag aus Reims schickte.«
»Ich weiß, du hast immer deine guten Verbindungen,« entgegnete Herwey und nahm den Kelch, den Herbert ihm reichte. Er trank einen Schluck und fügte mit einem Blick auf den Umkreis lächelnd hinzu: »Es kommt nicht oft vor, daß sich die Familie einmal in so schöner Geschlossenheit zusammenfindet.«
»Ja du lieber Gott, woran liegt das,« entgegnete Désirée. »Vielleicht nur an der Zusammensetzung der werten Familie. Jeder hat viel mit sich selbst zu tun: du mit deiner unleidlichen Politik, Ralph mit seinem Regiment, Bert lebt unter dem Schleier der Verborgenheit, und Erika ist auch kaum zu haben, seit sie sich mit Herrn Weerth in deinen Sekretärposten teilt. Wobei mir einfällt: Wollen wir die Weerths nicht einmal zu Tische laden? Die Schwester hat ihre Karte bei mir abgegeben – es braucht ja nur in kleinem Kreise zu sein.«
»Ich wäre sehr dankbar dafür,« sagte Herbert. »Ich bin den Leuten aufrichtig verpflichtet. Sie haben mich wirklich wie einen nahen Verwandten bei sich aufgenommen.«
»Lebte die Schwester nicht in Paris?« fragte Désirée. »Ich glaube, Erika erzählte mir davon.«
»In Asnières, Daisy – bei einer Familie Labrousse,« erwiderte Erika – und Herbert sagte: »Das müssen merkwürdige Menschen sein. Der Mann ehemals Ingenieur irgendwo in Cochinchina, dann im Kolonialamt beschäftigt, die Frau eine türkische Jüdin, und infolgedessen wimmelte es im Hause beständig von nicht ganz sauberen Balkangrößen, von Griechen, Albanesen, Bulgaren, Türken, Rumänen – es soll eine tolle Wirtschaft gewesen sein. Zuweilen, erzählt Fräulein Annemarie, gab es auch Mahlzeiten nach moslemitischem Ritus, von der Hausfrau gekocht, verzwickte Gerichte mit viel Öl, Knoblauch und Safran, und dazu wurde Mastix getrunken und ein merkwürdiger grünlicher Wein aus dem Chersonnes. Dann roch die ganze Wohnung nach schmorendem Fett.«
»Unangenehm für die Geruchsnerven,« schaltete der Staatsrat ein. »Immerhin ein interessantes Haus – pläsierlicher als ein Philisterheim …,« und in Gedanken wiederholte er sich den Namen Labrousse und verlor sich in Erinnerungen.
Désirée war an den Tisch getreten und hob die Flasche aus dem Eiskühler. Ein feines Rot strich über ihre Wangen. Die Macht des Plötzlichen ging wie ein heißer Atem durch ihre Seele. In die Verkettung der Dinge schob sich ein neuer Ring. Sie fühlte im Allertiefsten die ungeheure Gewalt, die aus dem Zusammentreffen kleiner Umstände zuweilen ein riesengroßes Unheil erwachsen lassen kann. Unter der Adresse eines Herrn J. J. Labrousse in Asnières bei Paris hatte Lavergne vor Jahresfrist ihren ersten Brief bekommen. Langsam floß der schäumende Wein in das Spitzglas.
»Natürlich hast du recht, Papa,« nahm Herbert die Unterhaltung mit seinem Vater wieder auf. »Das sagt ja auch Fräulein Annemarie, daß ihr der Aufenthalt im Labrousseschen Hause eine neue, sehr interessante Welt erschlossen hat. Es muß eine seltsam gemischte Gesellschaft gewesen sein, die da verkehrte – international-balkanisch, aber durchweg mit einem Stich ins Abenteurerhafte, also wahrscheinlich innerlich so wenig sauber wie äußerlich. Und immer waren die beiden Kinder dabei, auch bei den fremdartigen Gelagen, die beiden ebenso hübschen wie ungezogenen Mädelchen, die sie zu unterrichten hatte – und selbstverständlich hörten die Gören bei dem französisch-italienischen Kauderwelsch zuweilen Dinge, die gar nicht für ihre Ohren paßten. Denn man genierte sich durchaus nicht – die junge Deutsche war für die meisten das Objekt einer gewissen wilden Courschneiderei – und der Zudringlichkeit eines rumänischen Laffen ist sie denn schließlich auch gewichen.«
»Sieh da,« rief Désirée in diesem Augenblick, »das habe ich ja ganz vergessen! Da finde ich das Billet für die französische Komödie im Saaltheater des Schauspielhauses, das ich mir gestern schon besorgen ließ – aber ich habe wahrhaftig nicht mehr daran gedacht!«
»Was wird gegeben?« fragte Ralph.
» Les Parisiens – ich weiß nicht von wem. Ich hole es nach.«
Ein paar Minuten lang blieb das Gespräch bei der französischen Komödie, die immer viel Anziehungskraft besaß, und wandte sich dann im allgemeinen dem Theater zu. Ralph hatte kürzlich bei Wallner eine Posse »Kieselack und seine Nichte vom Ballett« gesehen und über Helmerding und die Schramm Tränen gelacht, während Erika von Robert als Don Carlos schwärmte, den sie im Schauspielhaus bewundert hatte. Der Staatsrat erklärte, das Klassische liege ihm nicht; wenn er überhaupt einmal Zeit habe, das Theater zu besuchen, ziehe er etwas Lustiges vor, das die Gedanken ablenke. Auch von der Musik wurde gesprochen; Herbert war vorgestern bei Bilse gewesen, und Désirée hatte vor einigen Tagen ein Tausigsches Konzert in der Singakademie gehört. Ralph erzählte dazwischen von dem verblüffenden Eindruck, den Makarts großes Gemälde von den sieben Todsünden bei Sachse in der Jägerstraße auf ihn gemacht, und sein Vater fügte heiter hinzu, daß irgendein übereifriger Puritaner im Landtag den Antrag eingebracht habe, die Ausstellung des Bildes aus sittlichkeitsgefährdenden Gründen zu verbieten. Der Staatsrat hatte der Eröffnung der letzten Landtagssession beigewohnt und schilderte mit etwas nervöser Lustigkeit den Kampf um das Defizit und das Rededuell zwischen den Ministern Camphausen und Heydt – und damit war man wieder auf Umwegen bei der Politik angelangt.
»Virchow hat sich gehörig ins Zeug gelegt«, fuhr Baron Herwey fort, »und sich auch gar nicht darum gekümmert, daß der Militäretat bis Zweiundsiebzig schon feststeht. Gott, was kann der gelehrte kleine Mann reden! Die Armee ist für ihn das rote Tuch, die Kriegsbereitschaft der Ruin der Völker. Und immer wieder kommt er auf den französischen Abrüstungsvorschlag zurück, den ich gar nicht einmal für ernsthaft gemeint halte.«
»Das weiß ich doch nicht, Papa,« entgegnete Ralph. »In Pariser Abgeordnetenkreisen stimmt man vielfach sehr entschieden mit Daru überein, und auch die Thronrede Napoleons bei Eröffnung der Kammer war zweifellos von einem stark friedfertigen Geist erfüllt.«
»Ich habe sie gelesen und nichts darin gefunden, was sich von den gewöhnlichen Napoleonischen Reden unterscheidet. Schöner Wohlklang und wirkungsvolle Rhetorik, aber mit größter Vorsicht jeder sachlichen Bindung aus dem Wege gehend. Die alte Nummer und nicht einmal ein neuer Faden. Übrigens bin ich erstaunt, daß auch du der Politik Interesse abzugewinnen scheinst, Ralph. Ich hatte geglaubt, du hättest dich in Paris nur auf die Bummelseite gelegt. Aber deine Bekanntschaft mit Madame Cornu scheint Früchte getragen zu haben.«
Wieder errötete Ralph, verlor jedoch seine Fassung nicht. »Herbert sagte mir schon,« erwiderte er, »daß du ein guter Freund der charmanten Frau bist.«
Der Staatsrat nickte. Er sah das rasche Erröten Ralphs und spürte ein Zucken im Herzen. Unfertiges Ahnen formte sich langsam zu erschreckender Gewißheit. Seine Züge verhärteten sich. Die Mundwinkel bogen sich zu einem grausamen Ausdruck, als er in anscheinender Harmlosigkeit sagte:
»Oh – ich kenne sie schon seit den vierziger Jahren. Sie schrieb damals unter dem Namen – – wie war er gleich? – ja unter dem Namen Sébastien Albin und beschäftigte sich viel mit deutscher Literatur, hatte den Kopf gleichzeitig aber immer voll politischer Intrigen. Heute wohl auch noch. Das liegt im Wesen der Französin, die gern ihr Fremdes mit Eigenem vermischt und für unklare Ziele eine besondere Empfänglichkeit besitzt …«
Und seinen Sessel mit kurzer Bewegung ein wenig zur Seite rückend, ein Lächeln böser Ironie auf den Lippen, fuhr der Staatsrat in gleichgültigem Erzählertone fort: »Hier in der Kolonie ist's ja nicht anders. Selbst die Damen der Botschaft pfuschen den Herren zuweilen ins Handwerk, wie Frau von Stoffel und Frau von Bobies – und irgendeine, ich kenne sie nicht, ich hörte nur von ihr, soll unter dem Decknamen Egeria hin und wieder sogar ganz geschickte Relationen nach Paris befördern lassen. Das ist natürlich ein Unfug, aber grade der Unfug reizt …«
Désirée hatte sich, während ihr Gatte sprach, wieder erhoben, um am Tische ein leeres Glas zu füllen. Man hörte, wie sie die Flasche aus dem mit kleinen Eisstückchen gefüllten Kühler nahm. Baron Herwey saß jetzt so, daß er sie nicht sehen konnte, wohl aber sah er im Spiegel über dem Kamin ganz deutlich das Gesicht Ralphs, und da war ihm, als falle in seinem Inneren die letzte Schranke vor einer lebensfeindlichen Erkenntnis.
Ralph war kein Komödiant und ungeübt im Verstellen bei schweren Entscheidungen. In diesem Augenblick packte ihn sicher eine krasse Hilflosigkeit. Sein Gesicht war fahl wie ein weißgraues Tuch unter der Prägung jähen Entsetzens und einer Schreckwirkung, die an allen Nerven rührte. Erst als er die lachende Stimme Herberts hörte, fühlte er das Maß drängender Selbsttätigkeit, riß sein Taschentuch vor das Gesicht und murmelte in plötzlichem Einfall: »Nasenbluten – entschuldigt …« und eilte aus dem Zimmer.
»Egeria,« hatte Herbert gerufen, »– wie niedlich und wie poetisch! Aber wir haben in Berlin nur einen Friedrichshain und keinen Hain der Kamenen, und wenigstens eine Grotte müßte da sein, in der sie ihre Weisheit für Numa Napoleon destilliert!«
»Komische Herrschaften,« setzte Erika hinzu. »Ich glaube übrigens, es handelt sich in allen diesen Fällen gar nicht einmal um ein aktives Interesse für die Politik. Der Zauber des Geheimnisvollen ist wohl das Maßgebende. Das liegt im welschen Charakter. Die Französin sucht ja auch mit Vorliebe Wahrsagerinnen auf und glaubt heilig und teuer an die Prophezeiungen aus Eiweiß und Kaffeesatz und aus den schmutzigsten Karten.«
»Häuft doch nicht alle Schuld der Dummheit auf uns armes Weibervolk,« sagte Désirée. Sie stand noch am Tische und hatte eben ein Glas Sekt in einem Zuge geleert. Ihre Wangen waren rosig überstrahlt wie immer, und der Ton ihrer Stimme von weich liebenswürdigem Klange. »Die Männer sind ja auch nicht besser. Wahrhaftig nicht. Neigung für das Geheimnisvolle liegt einfach in der Menschennatur. Bismarck, erzählt man, schwärmt für die Chiromantie und soll sich einmal von der Lucca aus den Linien der Hand die Zukunft haben deuten lassen, und Napoleon hat seine Madame de Thèbes, die er gern aufsucht, wenn er vor schweren Entschlüssen steht.«
Erika schaute prüfend zu dem Vater hinüber. »Ist dir nicht wohl, Papa?« fragte sie. »Du hast alle Farbe verloren. Und wo steckt Ralph?«
Er trat soeben wieder ein, heiter und mit einem Wort der Entschuldigung, als Désirée sagte:
»Ja, Kinder, ich glaube, wir schließen die Sitzung. Es ist spät geworden, unser Chef de famille ist abgespannt, ich selbst bin müde. Ist das Nasenbluten vorüber, Ralph?«
»Danke, maman, es ist nicht der Rede wert. Leukämie ist es noch nicht.«
Die Herren küßten Désirée die Hand. »Schlaf' wohl,« murmelte der Staatsrat. Er war sehr erschöpft, er taumelte fast. Die Fingernägel Désirées gruben sich fest in die Handfläche Ralphs. –
Im Vorraum des ersten Stockwerks stand der Diener und half den Brüdern in die Überzieher.
»Beenden wir schon den angerissenen Abend, Ralph?« fragte Herbert. »Ich habe noch Appetit auf ein Glas Bier.«
»Fahren wir zu Wagener,« antwortete Ralph.
Sie küßten den Vater auf die Wange und küßten auch Erika. Dann sprangen sie die Treppe hinab. Die Sporen Ralphs sangen eine leise Melodie auf dem Teppich. Das war das letzte an Lebensäußerung, was der Staatsrat von seinem ältesten Jungen hörte.