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4.

Zur ungefähr selben Zeit, da der Baron Herwey in seinem dunkelblau lackierten Coupé mit dem phantastischen Wappen auf dem Türschlag nach dem Ripplauschen Geschäft fuhr, benutzte Hans Weerth einen Omnibus für den gleichen Weg. Der Omnibus fuhr die Friedrichstraße hinauf nach dem Wedding, und an der Ecke der Dorotheenstraße stieg Hans aus. Nun hatte er nur noch etwa zehn Minuten zu Fuß vor sich, denn die große Buchhandlung lag dicht an der Neuen Wilhelmstraße, in einem jener älteren Häuser, die später dem Neubau der Kriegsakademie weichen mußten. Der kurze Weg tat Hans nichts, aber das Wetter war ungemütlich. Der Regen fiel in dichten Strichen, und Hans hatte, wie gewöhnlich, seinen Schirm vergessen. Annemarie hatte ihn ihm noch in die Hand gegeben, und im letzten Augenblick war er dennoch stehengeblieben. In bezug auf den Regenschirm hielt sich Hans pflichtgetreu an das Gelehrtenvorbild der »Fliegenden Blätter«. Außerdem schwor er auf die Tücke des Objekts.

Er hatte den Rockkragen hochgeschlagen und eilte in kurzem Trabe die Straße hinab, während von seiner Hutkrempe die Wassertropfen ihm in das Gesicht perlten. Aber vor dem großen doppelten, hell erleuchteten Schauladen der Firma E. A. Ripplau blieb er trotz des Regens noch ein paar Minuten stehen, um sich mit leichtem Neidgefühl im Herzen die Neuigkeiten des Buchhandels anzusehen. Das Ripplausche Geschäft war nicht nur Antiquariat, sondern auch Sortiment, und so prangten denn hier in langen Reihen die Großen und Kleinen der Literatur, im Hintergrunde die Klassiker in neuen Ausgaben und prächtiger Gewandung neben streitbarer Philosophie und dickleibiger Wissenschaft aller Art, mehr nach vorn gerückt aber und gewissermaßen lockender ausgestellt die Modernen, die auf dem Gebiete des Romans und des Dramas schon festen Fuß gefaßt hatten, hier und da unterbrochen von einem Frischling der schönen Künste, der sich schlicht broschiert in der stolzen Umgebung zu schämen und doch nur darauf zu warten schien, endlich einmal gekauft und aufgeschnitten und möglichst auch gelesen zu werden. Hans Weerths Auge glitt über eben Erschienenes von Gutzkow, Auerbach und Spielhagen, und leicht aufseufzend malte er sich aus, wie sein eigener Name sich wohl auf dem lichtgrünen Umschlag ausnehmen würde, den ein Roman von Georg Hesekiel trug. Helles Pferdewiehern störte ihn in seinen von Sprüngen der Hoffnung getragenen Phantasien: vor dem Geschäft hielt ein geschlossenes, dunkelblau lackiertes Coupé, dessen Fuchsgespann unruhig und unmutig das Pflaster stampfte und sich das spritzende Naß von dem Fell schüttelte.

So trat Hans Weerth denn in den Laden, nachdem er vor der Tür sorgfältig den Regen von seinem Filzhut geschwenkt hatte, durchmaß rasch den ersten Raum, der nur dem Sortiment diente, und stieß in der gewölbten Halle dahinter auf seine Schwester, die soeben dabei war, eine Leiter zu besteigen, um einen kleinen schweinsledernen Band zwischen die gewichtigeren Folianten des Regals zu schieben.

»Tag, Hans,« sagte sie und gab ihm die Hand; »hast du mich bei Haug entschuldigt, daß ich heute nicht zum Essen kommen konnte? Die Inventur mußte fertig werden, lieber Junge, und ist's nun auch glücklich, so daß ich von morgen ab wieder pünktlich sein kann. Verzeihe einen Augenblick – ich will bloß den Erasmus einreihen.«

Sie stieg auf die Leiter, während Hans fragte: »Annemie, wie ist es mit den Briefen Vaters, kann ich einmal hineinschauen?«

Sie trat zurück auf den Estrich und näher an den Bruder heran. »Es ist ein Kunde da,« antwortete sie mit leiserer Stimme, »irgendein reicher Sammler aus dem Tiergartenviertel, der die Autographen besichtigen wollte. Ripplau hat sie ihm vorgelegt, er muß sich den Kunden warmhalten, wie er sagt. Hofft aber, der Mann wird grade für unsre Briefe kein Interesse haben – im übrigen wären sie bei ihm in bester Hut.«

»Ja – nun,« sagte Hans und wiegte den Kopf, »– immerhin, ich hätte sie gern zurück. Ich habe mir zwanzig Taler eingesteckt. Mehr wird die Korrespondenz ja wohl nicht wert sein.«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte die Schwester, »aber Herr Ripplau ist in Geschäftssachen etwas eigentümlich. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß er die Sammlung im ganzen verkauft. Man könnte dann noch mit dem Käufer verhandeln. Komm her und setz' dich – hier ist ein Stuhl frei.«

Hinter einer grünen Schutzwand arbeitete eine zweite junge Dame über großen Kontobüchern.

»Fräulein Rosenow,« stellte Annemarie sie vor, »meine Kollegin.«

Die junge Dame hob grüßend den Kopf, warf aus aufgestielten wasserblauen Augen einen raschen Blick auf den sich Verneigenden und versenkte sich sofort wieder in ihre Zahlenreihen.

Hans setzte sich auf einen schmalbrüstigen Stuhl mit zerfasertem Rohrgeflecht, der zwischen dickleibigen Holz- und Pergamentbänden stand, die bis über die Höhe des Sitzes aufgeschichtet waren, so daß er sie als Armstützen benutzen konnte. Er saß inmitten theosophischen Wustes des sechzehnten Jahrhunderts, aber er merkte es nicht. Das Zuständliche des Raumes regte seine Phantasie an, die hohen Wölbungen der Decke, die den Eindruck erweckten, als sei dies einmal ein Klosterrefektorium gewesen, und die eckigen Halbsäulen der Wände, zwischen die sich nun die Regale schoben, auf denen Bücher in allen Formaten, vom niedlichsten Elzevirbändchen bis zum Riesenmaß der alten Missale, in die bogengespannte Höhe kletterten. In dieser Halle drängte sich eine buntscheckige Literatur wild durcheinander, Reformation und Humanismus, Zauberwesen, Thëurgie und Mantik, Aberwitz und Aufklärung, die derben Fazetien der Schwankerzähler und der Schwulst der Sprachgesellschaften, Klassiker und Epigonen, Vergessenes und Gesuchtes. Man merkte die Inventur. Ein Stapel Bücher lag noch auf der Erde, ein Durcheinander politischer Broschüren in einem Winkel, ein Haufen zusammengebündelter Flugschriften in einem anderen. Auf dem großen Tische breiteten sich Mappen mit Kupfern, Lithographien und Stahlstichen aus, alte Berliner Stadtansichten waren von besichtigender Hand überall verstreut worden und schoben sich zwischen einen Adelsbrief von 1653 und ein Ernennungsdekret Friedrichs des Großen mit seiner Unterschrift.

Hans Weerth saß lächelnd und in halben Träumen als Poet von heute zwischen den Predigern der Vergangenheit und wagte sich kaum zu rühren, weil er die arbeitsamen Damen nicht stören wollte. Die Schwester hantierte an ihrem Tische mit Katalogzetteln, deren Nummern sie mit den Eintragungen in einem großen Buche verglich. Das Fräulein mit den Wasseraugen rechnete ununterbrochen, sah niemals auf und tippte dann und wann mit dem Zeigefinger der Linken, gleichsam haftenbleibend auf eine Seite. Hans sah von ihr nur das vorn in die Stirn gekämmte und rückwärtig in ein Chignon vereinte stumpfgelbe, strohige Haar, das ihm nicht gefiel. Über das Blondhaar der Schwester spielten immer allerhand niedliche Lichter; je nachdem sie sich bewegte, huschte es goldig oder bronzefarbig oder auch in leicht rötlichem Schein darüber hin, und das sah wunderhübsch aus. Sie war ja keine Schönheit, Gott bewahre. Sie besaß keine Regelmäßigkeit der Züge, die Oberlippe war zu kurz, der Mund zu voll, die Stirn etwas scharf geeckt wie bei dem Vater – aber das Gesamtbild war trotzdem sehr reizend, und man konnte schon verstehen, daß die jungen Männerherzen ihr zuflogen. Der Mensch, der ihr da in Paris nachgelaufen war … wie hatte er sich doch genannt, wie hieß er gleich … und Hans versank in Grübeln, um den fremdartig klingenden Namen wiederzufinden, den Annemarie ihm gegenüber einmal flüchtig, mit spöttischem Mundzucken, aber auch mit leichter Empörung im Tone erwähnt hatte …

… Inzwischen saß Baron Herwey im Privatkontor Ripplaus zwischen der stattlichen, klug ausgewählten Handbücherei des Antiquars am grünüberzogenen Tische, das Einglas wie gewöhnlich in der Augenhöhle, den ausdrucksvollen Kopf vorgeneigt, Interesse und Neugier in den Zügen. Eine umfangreiche, aufgeschnürte Mappe lag vor ihm, deren Briefinhalt er mit rascher, geübter Hand durchblätterte. Die Hängelampe über ihm breitete einen Lichtkreis über den Tisch, hinter dem, schon etwas im Dunkeln, Herr Ripplau stand, schweigend, nur gelegentlich eine Bemerkung hinwerfend, doch immer mit einer gewissen Zurückhaltung und in einem Tone, der auf jeden Widerspruch von vornherein einzugehen schien.

Auch Herr von Herwey sparte nicht mit flüchtigen Äußerungen, aber er sprach mehr zu sich als zu seinem Gegenüber. Er lächelte, als er ein Blatt mit einer steilen, englischen Handschrift in die Hand nahm – er kannte die Schriftzüge. »Von Derby,« sagte er, »– aha, sein Zank mit Stanley über die Luxemburger Geschichte,« … und er blätterte weiter. »I, sieh da – der Herr Marquis von Moustier hätte gern den hannöverischen Hof auf der Weltausstellung gesehen – glaub's schon … Über die Militärkonvention mit Hessen – Dalwigk beruft sich auf seinen alten Freund Beust – olle Kamellen – nicht viel Neues, lieber Herr Ripplau – immerhin …« Jetzt hob er den Kopf und schaute den Antiquar fragend an. »Aber wollen Sie sich nicht setzen, Verehrtester,« sagte er und fügte hinzu: »Sie wissen natürlich nicht, auf welche Weise diese Papiere in den Handel gekommen sind?«

Ripplau hatte am Ende des Tisches Platz genommen, wo er wieder in halber Beleuchtung saß.

»Nein,« erwiderte er, »ich habe nur meine Vermutungen. Sie entsinnen sich des großen Depeschendiebstahls vom vorigen Jahre, Sir Herwey. Derartige Vorkommnisse pflegen gewöhnlich ganz ähnlich geartete nach sich zu ziehen. Es folgte die Beraubung des französischen Kuriers zwischen Kolmar und Straßburg und der Einbruch in die Russische Gesandtschaft – und um diese Zeit mögen auch die vorliegenden Briefschaften ihr Versteck verlassen haben. Ich glaube mich zu erinnern, daß einmal die Notiz der plötzlichen Entlassung eines der Sekretäre des Grafen Platen durch die Blätter ging, der den König Georg nach Gmunden begleitet hatte – da nämlich passierte die Geschichte. Der Sekretär wurde umfangreicher Unterschlagungen bezichtet, und vielleicht … aber ich betone, das sind nur Vermutungen. Jedenfalls habe ich selbst die Papiere aus einwandfreier Hand erhalten und gut honoriert – und ich hätte sie ohne weiteres dem Auswärtigen Amt angeboten, wenn ich dort nicht gelegentlich recht schlechte Erfahrungen gemacht hätte. Herr von Thile ist nicht nur ein sehr sparsamer Herr, er droht auch gern. Andrerseits ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, daß ich die Autogramme – für mich sind die Handschriften nur dies, nur Sammelobjekt – nicht einem Menschen überlassen werde, dem ich nicht mein absolutes Vertrauen schenken kann.«

»Natürlich,« sagte Baron Herwey zerstreut und schon wieder weiter blätternd, und Herr Ripplau fügte hinzu:

»Für die Weerthschen Briefe hat sich übrigens die Familie gemeldet. Vielleicht lassen sie sich abzweigen.«

»Kein Gedanke,« erwiderte der Staatsrat ohne weiteres. »Ich habe nur flüchtig hineingeschaut, es sind keine Wertstücke dabei, auch keine diplomatischen Kuckuckseier. Die Wühlereien des Kurfürsten von Böhmen aus sind aller Welt bekannt,« – seine rechte Hand schlug mit dem Mittelfinger ein paar Bogen um – »und was sonst da noch drin steht –«, die Augen hefteten sich schärfer auf eine bestimmte Zeile, in der Garibaldis Name genannt wurde, und dann schloß er: »Ich muß den Krempel erst einmal lesen. Die stenographischen Randglossen sind nicht ohne weiteres zu entziffern – man hat da wohl absichtlich fremde Zeichen mit eingeschoben, wechselt auch mit den Methoden – – jedenfalls lasse ich mich nicht auf Teilungen ein: entweder ich nehme den ganzen Stoß oder ich verzichte. Wie ist Ihr Preis?«

Herr Ripplau kannte seinen Kunden. Der war zahlungsfähig, aber er handelte gern. Auf dem Gesicht des Antiquars zeigte sich ein bedauernder Ausdruck. Seine Schultern hoben sich.

»Achtzehnhundert Taler, Herr Baron,« entgegnete er. »Mein Verdienst bei der Sache ist gering. Nur weil Sie es sind.«

Baron Herwey lächelte spöttisch. Er erhob sich und schlug die Mappen zu. »Zwölfhundert ungelesen,« sagte er. »Keinen Groschen mehr.«

Herr Ripplau tat, als überlege er ernsthaft. Dann verbeugte er sich.

»Sir Herwey,« begann er, »ich wiederhole: nur weil Sie –«

»Weil ich es bin,« ergänzte der Staatsrat und klopfte dem Buchhändler wohlmeinend auf die Schulter. »Wir wollen uns kein X für ein U machen, lieber Freund. Sie würden die Briefschaft anderweitig kaum loswerden, ohne sich Unannehmlichkeiten zuzuziehen. Mir dient sie als freundliche Erinnerung an ausgelöschte Daten und ein Spiel von vorgestern – dann kommt sie in den Schrank. Über die zwölfhundert Taler sende ich Ihnen eine Anweisung auf Bleichröder. Kann ich den Krempel gleich mitnehmen? – ich habe meinen Wagen draußen.«

Herr Ripplau rief Fräulein Rosenow und bat sie, die Mappe zu verpacken. Währenddessen erzählte er von neuen Angeboten, so einer Sammlung Autogramme aus klassischer Dichterzeit – »mit einem unbekannten, noch nie veröffentlichten Schiller-Brief und andern Kostbarkeiten aus Alt-Weimar, Herr Baron. Das ist etwas für Feinschmecker.«

Aber der Feinschmecker war schon wieder zerstreut. »Na schön,« sagte er nur – er hatte wohl kaum hingehört. Er nahm das Paket Fräulein Rosenow ab und reichte Ripplau die Hand.

»Die Ehre, mein Lieber.«

»Sir Herwey –«, und Ripplau verneigte sich tief. Er gebrauchte dem Staatsrat gegenüber gern die englische Anrede. Er war ein Mann von internationaler Bildung.

Der Baron schritt durch das Antiquariat und Sortiment, die Mappe fest unter dem rechten Arm, in der Linken mit leicht wiegender Bewegung seinen breitkrempigen Zylinderhut. Herr Ripplau sauste voran und öffnete die Ladentür.

»Pfui Geier,« sagte der Staatsrat, als ihm der Regen entgegenpeitschte. Dann sah Herr Ripplau die große Gestalt wanken und schrie auf: »Herr Gott!« … Herwey mußte auf dem schlüpfrigen Bürgersteig ausgeglitten sein.

Hans Weerth hörte die rufende Stimme Ripplaus. »Komm doch mal einer her! Petersen – Hantelmann! Der Herr Baron ist verunglückt!«

Zwei junge Leute aus dem Sortiment sprangen herzu, und ebenso schnell war Hans Weerth. Man wuchtete den starken Mann in die Höhe. Die Mappe lag neben ihm, der Zylinder drehte sich im Straßenschmutz zweimal um sich selbst.

Jetzt erst erkannte Ripplau Hans, der mit ihm der Schwester halber verhandelt hatte, und nickte ihm flüchtig zu.

»Fassen Sie den Herrn Baron unter den rechten Arm,« bat er – »– hupp! Noch einmal – hupp!«

Herwey schwankte. » Damn –,« ächzte er. »Kinder – ich glaube, ich hab' mir den Fuß gebrochen. Ladet mich in den Wagen.«

Es war schwierig. Herwey stöhnte laut.

»Bringen Sie ihn nach Hause,« raunte Ripplau Hans zu. »Er hat die Briefe gekauft. Beste Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.«

Hans Weerth trat an den Wagenschlag, Mappe und Zylinderhut in den Händen.

»Darf ich Sie begleiten, Herr Baron?« fragte er. »Es dürfte zweckmäßig sein.«

»Dankend akzeptiert.« entgegnete Herwey. »Wenn das Geschäft es erlaubt …« Er glaubte einen Angestellten Ripplaus vor sich zu haben … »Ich kann mich ja kaum rühren. Au! – Donnerwetter! Ein Knöchelbruch. Angenehme Situation. Klettern Sie zu mir, wenn ich bitten darf …«

Hans Weerth saß dem Staatsrat gegenüber und hatte die Mappe auf seinen Knien. Baron Herwey ächzte und stöhnte nur. Wenn er sprach, waren es zusammenhangslose Worte, leises Schimpfen auf deutsch und englisch, das bei einer raschen Umfahrt um die nächste Straßenecke und einem leichten Kippen des Wagens zu einem derben Fluche wurde.

Erst als das Coupé hielt, kehrte seine Liebenswürdigkeit wieder.

»Ich bin Ihnen herzlich dankbar,« sagte er. »Außerordentlich verpflichtet. Bitte nachher um Ihre Adresse. Vorläufig – ja, vorläufig müssen Sie die Güte haben, mir aus dem Wagen zu helfen. Der Kutscher soll mit zufassen. Georg,« schrie er, »– seien Sie so gut und kümmern Sie sich auch ein bißchen um mich! Die Füchse laufen schon nicht davon.«

Der dicke Mann mußte beinahe getragen werden. Hans Weerth brach unter der Riesenlast fast zusammen. Aber im Hausflur gesellte sich Gellrich dazu, der Pförtner.

»I Gott,« rief er, Herr Baron!«

»Na was denn?! Kann jedem passieren. Stemmen Sie sich gegen meinen Buckel, Gellrich – fest – nun schieben – so wird es gehen …«

Oben auf dem Podest der Treppe erschien Erika. Sie hatte die lärmende Stimme des Vaters gehört.

»Nicht aufschreien,« rief der Baron, »nicht quietschen! Eri, mein Herz, es ist nicht gefährlich. Ich bin ausgeglitten und habe mir den Fuß verletzt. Legt mich in meinem Zimmer auf das Sofa – und dann schickt zum Arzt …«

Erika hatte für den fremden Herrn nur einen flüchtigen Blick. Hans Weerth wollte sich auch ohne weiteres zurückziehen, als der Baron glücklich auf dem breiten Diwan seines Arbeitszimmers untergebracht worden war, aber Herwey winkte ihm mit den Augen und rief ihm zu: »Gehen Sie noch nicht fort, lieber Herr. Gellrich, führen Sie den Herrn vorläufig in das blaue Zimmer!«

Und da saß nun Hans Weerth: in dem blauen Zimmer, in dem tatsächlich alles blau war – die Tapete, die Möbelpolsterung, die Fenstervorhänge, der Teppich, sogar das riesige Ölgemälde an der Längswand, das eine Alpenlandschaft in bläulichem Mondlicht darstellte und von Achenbach signiert war.

Gellrich hatte ein paar Gasflammen angesteckt und war dann wieder entschwunden, Hans aber langweilte sich, nachdem er sich mit dem geschmacklosen Blau einigermaßen vertraut gemacht hatte, und überlegte gerade, ob es nicht am besten sein würde, sich ohne Lebewohl zu verabschieden, als eine Zofe eintrat, die ein großes Tablett mit einem kalten Imbiß und einer Karaffe Wein brachte. Sie deckte mit flinker Hand eine Tischecke und sagte freundlich:

»Das gnädige Fräulein läßt bitten, fürliebzunehmen. Das gnädige Fräulein kommt gleich selbst. Der Arzt ist eben da.«

Das gnädige Fräulein war natürlich die hübsche dunkeläugige junge Dame, die Hans vorhin gesehen hatte – jedenfalls die Tochter des Staatsrats. Die Tafelung machte einen guten Eindruck, Hans äugte über ein paar Scheiben Gänseleberpastete und über ein halbes kaltes Huhn, und auch die dunkelgelbe Färbung des Weines gefiel ihm.

Er probierte. Es ist alter Sherry, sagte er sich und nahm an der gedeckten Ecke Platz und ließ es sich schmecken. Und gerade, da er vermeinte, genug zu haben, ging die Tür, und Erika trat ein.

Hans stand auf und stellte sich vor. Erika reichte ihm die Hand.

»Mein Vater läßt um Ihren Besuch bitten,« sagte sie. »Er wollte Ihnen gern noch danken für Ihre liebenswürdige Hilfe – übrigens ein Dank, dem ich mich warmherzig anschließe.«

»Aber ich bitte Sie, gnädiges Fräulein,« rief Hans, eine Selbstverständlichkeit!«

»In Ihren Augen,« antwortete sie. Dann streifte ihr Blick die geleerten Platten. »Hat man Sie wenigstens anständig bedient?« fragte sie.

»Nach Rang und Würde. Ich bin nämlich Dichter im Hauptberuf.«

»Ah!« machte sie und schaute ihn interessierter an. »Ich dachte, Buchhändler.«

»Leider nicht. Sonst würde ich mich selbst annehmen, drucken lassen, verlegen und vertreiben. So aber dichte ich eigentlich nur zu privatem Vergnügen. Das ist insofern sehr hübsch, als man das arbeitende Hirn nicht noch mit Rechnen zu beschweren braucht.«

Nun erschien der Diener und wiederholte: der Herr Baron lasse bitten. Erika führte Hans in das Arbeitszimmer des Staatsrats zurück. Herr von Herwey lag noch immer auf dem Diwan, und neben ihm saß eine schöne junge Frau.

»Mein lieber Helfer in der Not,« sagte der Baron herzlich, »– ich freue mich, daß Sie noch dageblieben sind. Désirée, das ist – ja, nun müssen Sie mir erst einmal Ihren Namen nennen.«

»Hans Weerth« – und der Dichter verneigte sich vor der holden Frau und machte in seiner Harmlosigkeit große verwunderte Augen, denn sie erschien ihm wie die Verlebendigung der Heldin seiner letzten Novelle. Gerade so hatte er sie geschildert. Es war merkwürdig.

Désirée gab ihm die Hand, die er mit innerer Begeisterung küßte. »Lieb von Ihnen,« sagte sie, »daß Sie sich meines Mannes angenommen haben –,« und Hans merkte am Tonfall, daß sie eine Ausländerin war. Seine Heldin stammte aus Perugia.

»Weerth,« wiederholte Baron Herwey den Namen, »– doch nicht ein Verwandter des früheren kurhessischen Ministers?«

»Sein Sohn, Herr Baron.«

Herwey wurde aufmerksam. Der Zeigefinger seiner rechten Hand deutete nach der Mappe auf dem Journaltisch.

»Haben Sie die Güte und schnüren Sie das Ding einmal auf,« sagte er. Hans tat es, und der Baron fuhr fort: »Da – im ersten Konvolut – ja, da – kennen Sie die Handschrift?«

Hans nickte. »Ganz genau – es ist meine eigene.«

»Ihre eigene?«

»Jawohl, Herr Baron. Ich war in den letzten Lebensjahren meines Vaters sein Privatsekretär und schrieb fast alle seine Briefe. Infolge einer mißglückten Staroperation war er beinahe blind geworden. Ich wußte auch, daß sich die Papiere bei Herrn Ripplau befanden, und in dem Augenblick, da Sie sie kauften, stand ich im Begriff, mit Herrn Ripplau darüber zu verhandeln. Vielleicht ergibt sich doch noch die Möglichkeit, die Briefschaft für die Familie zu erhalten.«

»Das sind geschäftliche Erörterungen, die wir nicht stören wollen,« warf Désirée ein und nahm den Arm Erikas. »Auf Wiedersehen, Charlie.«

Die Damen gingen. Hans öffnete ihnen die Tür. Er sah noch eine grüßende Kopfneigung Erikas und ein liebenswürdiges Lächeln auf ihrem Gesicht und sagte sich: die Mutter ist schöner, aber die Tochter hat ein weicheres Herz. Diese Tochter kommt in meine nächste Geschichte.

Der Baron bat ihn, Platz zu nehmen. »Ich erinnre mich Ihres Herrn Vaters recht gut,« begann er. »Ich habe dann und wann mit ihm zu tun gehabt und mich immer darüber gefreut, wie er mit aller Energie die pfäffisch-polizeiliche Willkürherrschaft im Lande zu bekämpfen suchte. Es nützte leider nicht viel. Er hat seinen Herrn auch auf die böhmischen Güter begleitet, nicht wahr?«

»Er folgte ihm zunächst in die Kriegsgefangenschaft nach Stettin, dann auch nach Böhmen, aber es kam bald zu Zwistigkeiten zwischen ihm und dem Kurfürsten, als er davon hörte, daß die ehemaligen hessischen Truppen zur Meuterei gegen die neue Herrschaft verleitet werden sollten. Es sind da schlimme Geschichten passiert, Herr Baron. Bei dem großen Wirrwarr im Juni Sechsundsechzig waren die Staatskassen in Sicherheit gebracht worden, aber die Beamten verlangten ihre Löhnung, und mein Vater ließ sie auszahlen und hat nie einen Pfennig zurückerhalten.«

»Haben Sie als Erbe Ihres Vaters denn nicht Klage erhoben? Oder nicht wenigstens einmal mit Professor Pernice als Vertreter des Kurfürsten über die Sachlage verhandelt?«

»Es fehlen die Beweise, Herr Baron. Es ging damals drunter und drüber. Mein Vater wurde einfach das Opfer des Zusammenbruchs dieser lächerlichen Kleinstaaterei. Natürlich habe ich versucht, zu retten, was noch zu retten möglich war, habe auch alle Verbindungen in den Kreisen um Oetker wie um Hassenpflug wieder aufgenommen, aber es half mir nichts. Immer verwies man mich auf den regulären Klageweg, und der erforderte, wie gesagt, ein umfangreiches Beweismaterial und bedeutende Mittel. Der Konkurs war nicht abzuwenden – und schließlich konnte ich froh sein, daß nicht auch der ganze Hausstand unter den Hammer kam. Nun hab' ich mich abgefunden und will nichts mehr von den alten Geschichten wissen. Das regt mich nur auf und führt zu nichts, und ich habe mehr zu tun, um mir eine neue Zukunft zu zimmern.«

»Rauchen Sie?« fragte Baron Herwey. »Drüben auf meinem Schreibtisch … Erzählen Sie mir doch einmal ausführlich von Ihren Schicksalen, lieber Herr Weerth. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Und sprechen Sie ohne Scheu – wie zu einem guten Freunde. Meiner Diskretion können Sie sicher sein.«

»Ich habe keine Geheimnisse auf dem Herzen, Herr Baron,« entgegnete Hans, und dann schilderte er freimütig seine Erlebnisse bis zu dem Zusammensturz der kurhessischen Herrlichkeit, von der nichts übrigblieb als die Erinnerung an die tausendjährige Eigenart des kattischen Stammes.

Er sprach lebhaft und mit Stilgefühl, hier und da mit einer sanft ironischen Unterströmung, wenn er des Kurfürsten Erwähnung tat, und mit einem verächtlichen Zucken des weichen Mundes, wenn auf politische Verhältnisse die Rede kam.

Baron Herwey hatte den Kopf in die Hand gestützt und beobachtete unter der Schattung seiner Finger und leicht gesenkten Lidern den Erzählenden scharf. Dieser junge Mensch interessierte ihn wirklich. Dieser junge Mensch war jenes »brauchbare Material«, wie es ihm zuweilen unter die Hände gekommen war, wenn er nach einem Wachs gesucht hatte, aus dem er seine Puppen kneten konnte. Das war ein Phantast, ein Träumer, ein Wanderer durch den Zauberwald, eine allen Realitäten abholde sinnige Natur, aber doch auch voller naiver Ehrlichkeit und trotz seiner Erfahrungen voll Glaubens an die Güte der Menschheit, war kein Lump wie Lavergne. Baron Herwey überlegte, wie man ihm »helfen« könne, während Hans weitersprach.

»Ich bin auch nach der Annexion noch bei meinem Vater geblieben, während meine Schwester den verlassenen Hausstand in Kassel weiterführte. Wir gingen mit dem Kurfürsten nach Minden und Stettin, aber nach Aufhebung der Kriegsgefangenschaft trennte ich mich von ihm – mein Vater wünschte sichtlich, ein allzu häufiges persönliches Zusammensein zwischen dem wetterwendischen Herrn und mir zu vermeiden. Trotzdem folgte ich nochmals einer Einladung auf seine böhmischen Besitzungen, weil mein Vater mich doch nicht recht entbehren konnte – er war ja so gut wie erblindet –, und da geriet ich mit dem Fürsten denn gelegentlich so heftig aneinander, daß ein längeres Bleiben einfach unmöglich war. Ich bin im allgemeinen eine ziemlich sanfte Natur und mehr grüblerisch als auffahrend, doch die schroffe Art des Kurfürsten, sein hochmütiges Vonobenherab, sein nutzloses Schimpfen auf Bismarck – Herrgott ja, auch das, es klang immer so unsäglich albern, vor allem aber seine Behandlung meines Vaters, der ihm ins Exil gefolgt war und dem er unendlich viel zu danken hatte, erbitterte mich mehr und mehr, und so war eines Tages der Krach da. Eine Kleinigkeit rief ihn hervor – ganz gleich, er war schließlich unvermeidlich geworden, und da hielt auch schon mein Reisewagen vor dem Portal des Schlosses. Ein halbes Jahr später folgte mein Vater nach – als gebrochener Mann. Nun überstürzten sich die Geschehnisse – Tod, Konkurs über den Nachlaß, Auflösung der Wirtschaft, die Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten, alles das folgte rasch aufeinander. Ich wäre ja ganz gern in preußische Dienste getreten – nein, nicht gern, denn der Aktendienst behagte mir gar nicht, gewissermaßen nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe –, aber die Kompetenzen der Gerichtsbarkeit lagen noch nicht im klaren und – ach du lieber Gott, man machte so fürchterliche Umstände, daß ich die Sache satt kriegte, ehe sie überhaupt angefangen hatte. Und da wurde ich denn Schriftsteller.«

»Und zogen nach Berlin,« fügte Baron Herwey hinzu.

»Ja. Es machte sich so. Ich hatte übrigens schon immer Neigung für die Federzunft, ich habe als Primaner ein Brutusdrama geschrieben und aus derselben Zeit ein Epos im Schreibtisch liegen – es ist auch danach. Nun quäle ich mich so durch – immerhin mit Würde und Anstand, darauf hält schon Pressel. Richtig, Sie wissen nicht, wer Pressel ist – es ist auch gleichgültig. Wichtiger ist meine Schwester Annemarie, ein Prachtmädel, Herr Baron. Sie ist Buchhalterin bei Ripplau, aber vorher war sie in Paris oder vielmehr in Asnières – als Erzieherin von zwei kleinen Mädchen, die absolut Deutsch lernen sollten – da hat sie es denn ein paar Monate ausgehalten, bis …,« er schnippte mit den Fingern … »jetzt fällt mir der Name wieder ein, den ich vorhin gesucht habe – Fatin-Lévêque – es war ein Baron Fatin-Lévêque.«

»Wer?« fragte der Staatsrat, lächelnd über die sprunghaft werdende Erzählung.

Hans Weerth strich gewohnheitsmäßig sein Haar aus der Stirn. »Ein Verwandter oder Bekannter der Famllie Labrousse, bei der meine Schwester war – ich glaube, ein Dorobanzenoffizier oder ein rumänischer Agent oder so etwas Ähnliches – jedenfalls ein gebürtiger Franzose, der aber in rumänische Dienste getreten war und viel von seinen Grenzkämpfen gegen bulgarische Banden erzählte und sich bei Annemarie schön zu machen suchte. Er war hauptsächlich die Ursache, daß Annemarie ihre Stellung wieder aufgab – er verfolgte sie mit seinen Anträgen, und da sagte sie denn Adieu und empfahl sich –, übrigens waren auch die Labrousse nicht sonderlich nett zu ihr. So leben wir denn wieder zusammen – ich dichte erfolglos weiter, und sie katalogisiert und führt die Bücher bei E. A. Ripplau, und um noch etwas besser auf unsre Kosten zu kommen, vermieten wir von unsrer Wohnung ein paar Zimmer an Fremde. Das hat zuweilen auch seine Nachteile – ein Biedermann ist uns mit Hinterlassung eines Stehkragens und eines ausgefaserten Manschettenpaares durch die Lappen gegangen –, aber jetzt haben wir Gott sei Dank einen stabileren Mieter, einen sehr angenehmen Menschen, einen gewissen Haug.«

»Haug?« wiederholte Baron Herwey fragend.

»Herbert Haug, einen jungen Kaufmann in zahnärztlichen Bedarfsartikeln – er sucht aber nach einer andern Branche. Scheint auch ein wohlhabender Mann zu sein. Er kommt gleichfalls aus Paris und ist mit Annemarie unterwegs bekannt geworden.«

»Wo wohnen Sie, Herr Weerth?« fragte der Staatsrat von neuem. Seine Hand sank von der Stirn. Seine schweren Lider hoben sich ein wenig. In sein Auge trat abermals ein aufmerksamer Ausdruck.

»In der Belle-Alliance-Straße hundertneun – schon in der Nähe des Kreuzbergs. Wir bewohnen das ganze Haus – eine kleine Villa, die uns Pressel verschafft hat …« Er lachte … »Ja, nun wissen Sie noch immer nicht, wer Pressel eigentlich ist, Herr Baron. Also – nämlich eigentlich ist der Mann ein Roman. Oder besser ein Dramolet. Schauspielerisch eine sogenannte Charge.«

Baron Herwey winkte. »Fortsetzung folgt,« sagte er. »Ich bin ein wenig abgespannt, lieber Herr Weerth. Auch schmerzt der bandagierte Fuß. Aber ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Können Sie mich morgen vormittag besuchen?«

»Jederzeit.«

»Bitte gegen Elf. Sie sind nicht irgendwie gebunden?«

»Nein. Ich bin ein freier Mann und singe.«

»Solche Menschen hab' ich gern. Ich sage also: auf Wiedersehen. Haben Sie die Güte und reichen Sie mir die Mappe mit den Handschriften herüber – und auch das kleine schwarze Notizbuch, das da rechts auf meinem Schreibtische liegt – jawohl, das. Und nochmals meinen herzlichsten Dank für Ihren Samariterdienst.«

Er drückte seine Hand. Hans wollte eigentlich noch nach den Briefen seines Vaters fragen, aber er ließ es. Das konnte morgen erledigt werden. Er ging. Er war schon an der Tür, als Baron Herwey ihn nochmals zurückrief.

»Sie werden keine Droschke finden,« sagte er »und eh Sie die Pferdebahn erreichen, sind Sie bei dem Wetter bis auf die Knochen durchweicht. Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten – ich lasse meinen Wagen anspannen.«

»Aber das ist wahrhaftig nicht nötig, Herr Baron,« rief Hans.

Der Staatsrat hatte schon den Klingelzug in der Hand. »Meinen faulen Füchsen schadet die Fahrt ebensowenig wie meinem faulen Kutscher,« meinte er …

So fuhr Hans Weerth denn in dem blaulackierten Coupé nach Hause und träumte, sein Schauspiel sei angenommen und sein erster Novellenband gedruckt worden, und ein Goldschiff habe in seinem Hafen Anker geworfen, und nun sei er dank Apoll und den Musen ein reicher Mann geworden und könne auf Gummi durch die Straßen rollen. Und dabei rauchte er behaglich die dicke schöne Upman zu Ende, die Baron Herwey ihm angeboten hatte, und die erheblich besser schmeckte als die alltägliche Sechserzigarre und der Pfeifenkanaster, den er sich gönnte. –

Inzwischen hatte der Staatsrat zunächst in seinem kleinen schwarzen Notizbuch geblättert. Er suchte die Adresse, die Herbert ihm gegeben hatte, und fand sie sofort. Belle-Alliance-Straße 109 – es war richtig – Herbert Haug wohnte bei den jungen Weerths. Der Staatsrat glaubte sich auch zu entsinnen, daß Herbert ihm von einem verrückt gebauten kleinen Hause und einem freundlichen Geschwisterpaar und einem ganz verdrehten alten Diener gesprochen hatte … Und dann wurde er nachdenklich. Zufall oder Schicksalswendung? fragte er sich. Natürlich Zufall. Er ist immer der Regisseur im Lebensdrama und scheut auch Abgespieltes nicht. Alles wiederholt sich, alles ist dagewesen. Im übrigen: dies Mätzchen des Zufalls brauchte nicht mehr zu sein als eine blasse Gleichgültigkeit. Herbert mußte natürlich an seinem Inkognito festhalten – und zunächst mußte man einmal die Weerthschen Briefe sorgfältig prüfen.

Baron Herwey schob sich vorsichtig in eine sitzende Stellung. Der Schmerz im gebrochenen Fuß hatte nachgelassen. Die Bandage saß fest. Er nahm die Briefe aus der Mappe, klemmte das Einglas ein und begann zu lesen.

Mancherlei interessierte ihn wenig, anderes schien ihm überholt und veraltet. Wer kümmerte sich heute noch um die Anregung des abgesetzten Kurfürsten, die welfische Legion durch hessische Kräfte zu unterstützen? Wer um den Preußenhaß jener Kreise der einst von Hassenpflug und Vilmar organisierten kleinen Partei, um die paar Dutzend fanatischer Pfarrer, deren wütende Rechtgläubigkeit den Kultusminister von Mühler mit geduldiger Sympathie erfüllte? Aber es fanden sich doch auch Briefe, in die der Staatsrat sich mit größerer Aufmerksamkeit versenkte, zumal wenn darunter die Antwortnote in Kurzschrift vermerkt war, die er fließend las. Ah – sieh, sieh – eine Entgegnung auf den Vorschlag, der Kurfürst möge sich gleich dem Könige von Hannover, dem Herzog von Nassau, dem Grafen Chambord, den Herzögen von Parma und Modena und anderen Depossedierten an der neuen Wiener Fürstenbank beteiligen … Baron Herwey hielt den Brief mehr in den Lichtkreis, um die kleine, zierliche Handschrift besser entziffern zu können. Für diese Wiener Bank, die illegitime Fortsetzung des verkrachten Langrandschen Unternehmens, hatte er durch seine Zwischenhändler am exilierten hannöverischen Hofe zu Hietzing wie in der Wiener Burg mit Feuer und Flamme vorarbeiten lassen. Der Ministerbrief stammte aus den Anfangsstadien des Projekts. Der Herr Minister lehnte ohne weiteres ab: mit den Anschauungen seines gnädigen Herrn über fürstliche Würde vertrügen sich Bankgründungen und Börsenspiel nicht … Herwey lächelte. Dahinter steckte der dicke Pernice. Den Teufel, wie dieser Kurfürst immer auf seine Würde gehalten hatte! Sein Sohn, der Prinz Philipp von Hanau, hatte sich übrigens mit einer Million beteiligen wollen, war aber abgewiesen worden.

Warum abgewiesen, wo man die Million recht gut hätte brauchen können? Auch darüber gab einer der Weerthschen Briefe genügende Auskunft. Es war eine bittere Beschwerde, daß sicherem Vernehmen nach bei einer Wiederherstellung des Königreichs Hannover Kurhessen zu diesem geschlagen werden sollte. Die Randnote besagte: »Ohne Antwort lassen.« Was sollte man auch antworten? Immerhin, dies Blättchen Papier war ein guter Beleg für die Intrigenwirtschaft am hannöverischen Hofe – und auch der nächste Brief – – Donnerwetter! Baron Herwey hielt fast den Atem an. Sein Auge flog gierig über die Zeilen und die mit flüchtigem Bleistift geschriebene Nachschrift. Es war also Wahrheit, was man sich bisher nur mit vielsagendem Lächeln gelegentlich ins Ohr geraunt hatte! Dieser königliche Phantast, ein geschlagener Mann, der sich nicht mehr rücken und regen konnte, träumte in der Einsamkeit seiner Verbannung von der Errichtung eines riesigen niedersächsischen Welfenreichs, das nicht mehr und nicht weniger als die alten Erbbesitztümer Heinrichs des Löwen umfassen sollte! Der kurhessische Minister mußte aus sichtlich zuverlässigen Quellen von dem Wahnsinn gehört haben, denn er kam ausführlich auf die Angelegenheit zurück, wenn auch nur, um schließlich von neuem Protest gegen eine geplante Angliederung seines Landes an Hannover zu erheben. Die Nachschrift, wohl von der Hand des Empfängers, lautete kurz: »Abstreiten, aber O. K. vorlegen und zur Vorsicht mahnen.« O. K. war zweifellos Onno Klopp, der Geschichtschreiber des Welfentums, der wahrscheinlich auch den Auftrag erhalten hatte, das alte Reich des welfischen Löwen zunächst einmal auf geduldigem Papiere zu erneuern.

Baron Herwey lachte. Man wußte ja, mit welchen abenteuerlichen Hoffnungen und Hirngespinsten man sich in Hietzing trug und wie fest der arme alte König Georg auf die Vernichtung Preußens durch Frankreich rechnete. Der Krieg stand sicher vor der Tür, wenn auch Napoleon nach wie vor seine Cunctator-Politik verfolgte und wohl lieber die deutsche Einheitsbewegung zugunsten eines festen Bündnisses unterstützt hätte als sich dem launischen Glück der Waffen anzuvertrauen. Denn der Imperator war kein Feldherr, wußte zudem, daß sein siecher Körper den Anstrengungen eines Feldzuges kaum gewachsen sein würde, und war doch wieder zu stolz, das Kommando einem seiner Generäle zu übertragen. Die chauvinistische Stimmung drüben war jedenfalls ungeheuer im Wachsen und die »Rache für Sadowa« zu einem Schlachtruf geworden; auch Kaiser und Kaiserin sorgten sich um die Sicherung ihrer Dynastie – das » Retremper la dynastie dans la gloire Napoléonienne« hatte die Formel eines politischen Rezepts angenommen.

Aber war der Sieg Frankreichs denn so gewiß? In Österreich glaubte man es, und an dem hannöverischen Hofe, der in Hietzing sein Quartier aufgeschlagen hatte, war man so fest davon überzeugt, daß man schon eine Neueinteilung Deutschlands in Rechnung zog. Der Gedanke einer Wiederaufrichtung des alten Welfenreichs wurde natürlich als großes Geheimnis gehütet – aber es ließ sich nicht mehr leugnen und konnte in gelegener Stunde zu einem gefährlichen Pressionsmittel werden. Der Brief des kurhessischen Ministers sprach sogar von einem ausführlichen Mémoire über diese verrückten Annexionsbestrebungen, das sicher in seine Hand gekommen sein mußte. Wenn man dieses Dokuments habhaft werden konnte – wenn man …

Baron Herwey schlug die Mappe zu. Er wollte den Gedanken nicht weiter verfolgen. Er bedrückte ihn und ließ ihn doch nicht wieder los. Das wäre etwas für Bismarck gewesen! Und in diesem Augenblick sah Herr von Herwey das breite, schmunzelnde Gesicht des Bundeskanzlers vor sich und sah, wie der große Mann sich die Hände rieb. Ein besserer Beweis für die Nützlichkeit des Welfenfonds ließ sich gar nicht denken! –


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