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1.

Eine Berliner Regennacht ausgangs der sechziger Jahre. In der Tiergartenstraße spiegelte sich das Gaslicht in den Pfützen des Pflasters: sparsam nur, denn da nach dem Kalender der Mond am Himmel stehen sollte, so brannte lediglich die dritte Laterne. Aber der Mond hatte sich hinter dem Schwarz der Wolken versteckt, der Tiergarten selbst lag in tiefem Dunkel, nur durch die Hofjägerallee blitzte im Gerinnsel des Nebels ein karges Dutzend unaufhörlich zuckender Lichterchen wie schlaftrunkene Augen.

Der Bürgersteig war erst vor kurzem mit neuen Granitplatten belegt worden. Daneben schäumte der Rinnstein mit der Gebärde eines Wildbachs. An das Trottoir schlossen sich vereinzelte Gärten; viel lag noch unbebaut, größere Mietshäuser gab es nicht, aber hier und da doch schon eine stattlichere Villa, wie die sogenannte Degenbrodsche, die einem reichen Butterhändler gehörte und an den ehemaligen hannöverischen Staatsrat Baron Herwey vermietet war. Die Berliner sagten Herwei, mit Betonung des ei, der Staatsrat sprach seinen Namen englisch aus. Daß er früher Herweg gehießen hatte, wußten die wenigsten. Er selbst machte übrigens kein Hehl daraus.

Vor der Degenbrodschen Villa hielt ein Klapperkasten von Droschke. Der Insasse schimpfte, denn die verklammte Tür sprang nicht gleich auf. Da gab er ihr einen Fußtritt, und klirrend zerbrach das Glasfenster.

Der Kutscher schaute sich ziemlich gleichgültig um. »Macht acht Jute,« sagte er zu dem aussteigenden jungen Mann.

Der verstand anfänglich nicht recht. »Was?« fragte er.

»Acht jute Groschen for die zertöpperte Scheibe,« antwortete der Kutscher.

»Wieviel ist das auf hochdeutsch?«

Der Kutscher schüttelte ob dieser Unkenntnis den Kopf, antwortete aber willig: »'n Zehnjroschenstück.«

Nun gab der Herr ihm einen Taler. »Da haben Sie zweimal mehr,« fragte er. »Und ebensoviel über die Taxe, wenn Sie hier auf mich warten. Es kann ein halbes Stündchen dauern.«

»Na schön,« entgegnete der Kutscher und stieg auch gleich ab, um seinem mageren Gaul eine Decke überzuhängen und den Futterbeutel umzubinden.

Der junge Herr blieb einen Augenblick an der Gittertür des Gärtchens stehen, suchte nach der Klingel und schaute zugleich auf das düstere Viereck des Landhauses. Im ersten Stockwerk sah er noch einen hellen Schein hinter den herabgelassenen Vorhängen. Das konnte das Arbeitszimmer des Vaters sein.

Er mußte zweimal klingeln, ehe der Pförtner kam. Der Mann trug die sogenannte Schweizer Livree eines vornehmen Hauses und einen aufgespannten Regenschirm. Er musterte den Ankömmling scharf, doch ohne Befremden, und fragte durch das Gitter:

»Was steht zu Dienst?«

»Baron Herwey noch zu sprechen?« fragte der Herr zurück.

»Ich glaube nicht. Es ist elf Uhr durch. Es geht auf Mitternacht.«

»Das weiß ich allein. Geben Sie dem Herrn Staatsrat diesen Brief …« Die Hand in grauem Wildleder schob ein geschlossenes Kuvert durch die Eisenstäbe der Gittertür … »Und dann lassen Sie mich gefälligst ein – wenn auch nur in den Treppenflur oder ein Vorzimmer – ich habe keine Lust, im Regen stehenzubleiben.«

Die Stimme klang befehlend. Es war Offizierston, und der Pförtner hatte die Schanzen von Düppel erstürmen helfen. Aber er war auch an späte Besuche gewöhnt und an ein zuweilen huschendes Kommen. Dafür erhielt er seinen hohen Lohn. Er öffnete sofort und geleitete den jungen Herrn unter dem Regenschirm über feuchten, hellen Kies ein paar Sandsteinstufen hinauf in das Haus.

In der Halle brannte das Gaslicht. Rechts und links stiegen hohe, geschlossene Türen auf mit Blumenstücken als Supraporten. Waffen hingen an den Wänden und umrahmten ein großes, aus farbigem Gips hergestelltes Wappenbild.

Der junge Herr streifte mit flüchtigem Blick das heraldische Ungetüm. Ein ironisches Zucken hob seinen linken Mundwinkel. Der krähende Hahn auf der Perlenkrone erinnerte ihn an den gallischen.

Im Hintergrunde schwang sich eine gewundene Treppe aus Eichenholz aus der Helle in das dämmerige Obergeschoß. Über den Teppichläufer flog eilender Mädchenschritt. Vom Podest herab, vor einer blanken Ritterrüstung, lugte ein junges Weibsgesicht. Die Züge verschwammen in dem gebrochenen Licht. Aber die Augen leuchteten auf in einem unbeschreiblichen Ausdruck von Überraschung, jäher Freude und heimlicher Angst.

Da vergaß der junge Herr jede Vorsicht und auch die Achtung vor der preußischen Polizei. Er öffnete die Arme und rief: »Erika!« und sprang dem Mädchen entgegen.

Sie umarmten und küßten sich.

»Wo kommst du her, Herbert?« fragte Erika.

»Nachher,« sagte er und wandte den Kopf zurück. Der Pförtner stand noch unten im Treppenhaus, den Brief in der Hand. Er war einmal Portier bei einer Gesandtschaft gewesen und verstand sich auf diplomatisches Mienenspiel. Sein Gesicht sagte gar nichts.

»Gellrich,« rief Erika ihm zu, »Sie können sich in Ihre Kemenate zurückziehen. Ich bringe den Herrn zu meinem Vater. Es ist …«, sie überlegte nur einen Augenblick und schloß dann den Satz: »unser Vetter aus Wien.«

»Der Vetter aus Wien,« wiederholte Herbert lachend und kopfnickend. »Den Brief können Sie mir wiedergeben, Gellrich – er ist nicht mehr nötig.«

Er nahm ihn, und dann stiegen die Geschwister die Treppe hinauf.

»Aus Paris?« fragte Erika. Sie dämpfte die Stimme ab. Und im gleichen Tonfall erwiderte er:

»Direkten Wegs.«

»Mein Gott, wenn man dich hier ertappt!«

»Dann käme ich ins Zuchthaus. Aber man wird nicht. Ich habe einen falschen Paß, und mein Signalement ist nicht mehr das von vor drei Jahren.«

»Du siehst wie ein Engländer aus. Wo ist der Stolz deiner Dragonerzeit geblieben?«

»Abrasiert. Der Bart mußte fallen. Alle jungen Lords laufen bartlos herum. Ist die Dame zu Hause?«

»Welche?«

»Vaters Zweite.«

»Schläft schon. Es ist auch nur ein Zufall, daß ich noch auf bin. Ich war beim Ordnen von Vaters Autographenschrank und wollte den Buchstaben G zu Ende bringen. In der Literaturabteilung. An die politischen Fächer komme ich nicht heran.«

Sie standen jetzt im Vorraum des Obergeschosses. Hier war es halbdunkel. Eine tiefgeschraubte Gasflamme unter weißem Milchglas surrte unwillig. Im halben Licht sah Herbert wieder rechts und links Bilderschmuck über den Türen: auf der einen Seite ein Gelehrtenstilleben, Folianten, Pergamentrollen, einen Totenkopf und die Eule der Weisheit, gegenüber zwischen Girlanden einen fröhlichen Puttenreigen.

»Dein Werk?« fragte Herbert.

»Ja,« entgegnete sie heiter. »Ich tusche alles voll. Wo ich einen leeren Fleck finde, bemale ich ihn. Nun will ich dich bei Vater anmelden. Er muß vorbereitet werden. Er ist überarbeitet und nervös. Warte hier.«

Sie klopfte leise an die Tür, über der die Eule Wache hielt, und trat ein. Herbert blieb draußen und lauschte. Er hörte das stärkere Pochen seines Herzens. Dann vernahm er drinnen einen kurzen Ausruf, und wieder wurde die Tür geöffnet.

»Komm,« sagte der Vater mit schwerer Stimme.

Der Staatsrat riß seinen Jungen an die Brust. Der große Mann, der in einem Grundleben reicher Erfahrung, das ihn zu beständiger Selbstzucht zwang, die Beherrschung gelernt hatte, wurde in diesem Augenblick weich. Aber er bezwang sich sofort. Er öffnete auch vor den eigenen Kindern ungern die letzte Herzenskammer.

»Nimm Platz,« sagte er. »Willst du etwas essen? Ein Glas Wein? Eine Zigarre?«

»Eine Zigarre gern. Gegessen habe ich in aller Hast in meinem kleinen Hotel. Ich war ausgehungert nach der langen Fahrt.«

Er nahm die Havanna, die der Vater ihm reichte. Erika gab ihm ein Zündholz.

»Danke, Schwesterchen. Dein Tabak steht noch immer auf der Höhe, Papa. Die Pariser Regiezigarren sind schauderhaft.«

Er rauchte mit Wohlgefallen, und dabei flog sein Auge über die Gestalt des Vaters und in rascher Prüfung durch den ganzen Raum. Das Zimmer war genau so wie das alte am Schiffgraben zu Hannover. In der Mitte der riesige Arbeitstisch, wie immer übersät mit Papieren, Broschüren und Zeitungsausschnitten, alles wild durcheinander gestreut in scheinbarer Unordnung; doch Auge und Hand des Mannes am Schreibtisch fanden dennoch sofort, was sie suchten. An den Wänden die Schränke mit den Autographenmappen und die Bücherregale, auf dem Journaltisch Stapel von Blättern mit blau und rot angestrichenen Stellen, in einer Ecke noch die Bronzebüste des Königs Georg, der Dank für das Kabel von Emden, auf dem Kaminsims eine Fülle gerahmter Photographien mit Widmungsworten, darunter von manchem Würdenträger des exilierten Hofes, und auch eine Silhouette des verjagten Herzogs Karl von Braunschweig mit seinem Namenszuge. Sonst schwere Polstersessel, der breite Diwan mit Kissen und Schlafrollen, dicke Teppiche am Boden, und die Luft erfüllt vom Rauch der Zigarren und der kurzen englischen Pfeife.

Alles wie einst. Auch der Vater schien kaum verändert. Auf der riesigen Figur mit der gierigen Bauchwölbung und den wie mit einem Winkelmaß geformten Schultern saß noch immer der kleine, feine Kopf, gleichsam als Widerspruch zu dem mächtigen Gefüge des Körpers und wie der Aufbau einer geistigen Welt auf sinnlich bewußter Materie. An den schmalen Schläfen war das kaum ergraute blonde Haar militärisch zurückgefegt, unter der gebuckelten Stirn senkte das Lid des linken Auges sich tiefer, während das rechte das viereckige Einglas hielt, als sei es in der Höhlung verwachsen, der Mund, empfindsam, schlemmerisch und doch von rücksichtsloser Energie, zeigte starke, prachtvolle Zähne – das ganze Gesicht war von seltsamer Zeitlosigkeit und höchst malerisch in der Tönung der Farben und ihren Verdämmerungen unter den Augen. Wie alt ist der Vater? fragte sich Herbert. Er wußte es wirklich nicht genau. Aber über die Fünfzig mußte er sein.

Baron Herwey lehnte sich in seinen Arbeitsstuhl zurück. Herbert merkte, daß er auch im Äußeren seiner Kleidung auf die Überlieferung hielt. Man sah ihn, wenn nicht im Frack, kaum je anders als in einem überlangen dunkeln Rock von biedermännischem Zuschnitt und mit sehr weiten Beinkleidern, die um die kleinen Füße knitterige Falten schlugen, wie sie die Mode bei den Rothosen der französischen Offiziere erfunden hatte. Und immer trug der Baron Herwey dazu eine hochgeschlossene schwarzseidene Weste mit eingesticktem, altfränkischem Blumenmuster und einen Kragen, der an die sogenannten Vatermörder der Reaktionszeit erinnerte. Seine Erscheinung wirkte wie ein lebendig gewordenes Trachtenbild aus der Allgemeinen Modenzeitung um 1840. Sonst aber war er durchaus ein Mensch der Gegenwart.

»Kommst du in geheimer Mission oder auf eigene Faust?« fragte er.

»In Auftrag, aber doch noch mehr in persönlichem Interesse.«

»Und kennst die Gefahren, die dich hier umlauern?«

»Gewiß. Aber ich fürchte sie nicht. Preußen hat keinen Paßzwang mehr. Und verlangt man einen Ausweis von mir, so kann ich auch damit dienen. Mein Paß lautet auf den Namen Herbert Haug, Kaufmann aus Offenbach am Main, Reisender für die Firma Ramdow Söhne, zahnärztliche Bedarfsartikel, und trägt das Visum des preußischen Konsulats in Paris. Er hat meinem Mittelsmann nur dreihundert Franken gekostet. Hier kennt mich kein Mensch außer euch. Richtig, daß ein Steckbrief hinter mir herläuft. Aber sicher ein längst vergessener. Es kümmert sich keine Ratze mehr um die glorreiche welfische Legion. Ich bin vorläufig im Dessauer Hof abgestiegen, einem kleinen Gasthof am Potsdamer Bahnhof, will mir aber ein Privatlogis nehmen, um meine Angelegenheiten in Ruhe abwickeln zu können.«

»Und die sind?«

»Auf Order von drüben Spionendienst. Ja, Papa, dahin sind wir gekommen. Spionendienst fordert man von einem ehemaligen Cambridge-Dragoner!«

»Du mußt dich näher erklären, Herbert. Auch der sogenannten Spionage haftet nicht immer der Makel der Ehrenrührigkeit an. Sie kann ein einfacher Aufklärungsdienst sein und eine Berichterstattung. Und sie ist eine Notwendigkeit im politischen Daseinskampfe.«

»Ich kenne mich in der Politik nicht sonderlich aus, Papa, und wenn ich seinerzeit … Ich bitte, ein wenig zurückgreifen zu dürfen. Du mußt mich zu verstehen suchen. König Georg entband uns nicht vom Fahneneide, stellte uns aber frei, den Abschied einzureichen. Bruder Ralph tat dies sofort, und irre ich nicht, so unterstütztest du ihn in seiner Auffassung.«

Baron Herwey schüttelte den Kopf. »Ich habe nur vermieden, ihn zu beeinflussen,« entgegnete er eigentümlich sanft, »ebensowenig wie dich. Aber er ist eine Natur der Tatsächlichkeit. Sein Tun hat immer ein Ziel jenseits der unmittelbaren Eindrücke. Richtung auf die Sache ist ihm alles. Er hatte nicht ein Ideal, sondern das Praktische vor Augen.«

»Vielleicht war das unter der Lage der Verhältnisse das Verständigste. Er trat in preußischen Dienst, in das Heer des Feindes, und wurde mit offnen Armen aufgenommen. Er hat sich damit jedenfalls schwere Kämpfe und viel Seelenleid erspart. Ich war anders – und kann heute freimütig gestehen, daß Désirée, daß deine Frau schließlich den Ausschlag gegeben hat.«

Eine Bewegung Erikas ließ ihn zur Seite blicken. Auch der Vater hob den ausdrucksvollen Kopf. Eine Linie der Spannung trat in seine Züge.

»Inwiefern den Ausschlag, Herbert?«

Die Schultern des jungen Mannes zuckten. »Mein Gott, Vater,« sagte er hastig, die Worte unregelmäßig und stoßweise hervorschleudernd, »ich war damals noch ein unerfahrener Fant und ein phantastischer Kopf. Ich bin erst in der Verbannung reifer geworden. Und Désirée in ihrer Klugheit und Schönheit war einfach maßgebend für mich. Die Idee der Pflicht, wie sie sie auffaßte, hatte etwas Berauschendes für mich. Die Treue war immer der Grundzug ritterlichen Wesens. Aber ich will mich nicht besser machen als ich bin. Auch die Lust an Abenteuer sprach mit. Die King's German Legion hatte dermaleinst unter Wellington in Spanien gefochten und bei Waterloo tapfer gekämpft. So etwas schwebte mir vor. Ich dachte mir unter der neuen welfischen Kohorte Ähnliches, jedenfalls etwas ganz anderes als – als sie geworden ist. So schloß ich mich der Minorität an, ging mit den Emigrierten nach Holland, dann nach der Schweiz, dann nach Frankreich. Daß Preußen mich wie andre Hannoveraner als Hochverräter in contumaciam zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilte, machte mir nichts. Ich lachte darüber. Es schwellte nur meinen Stolz. Es verbitterte mich nicht einmal. Aber anderes verbitterte mich: das Hangen und Bangen in schwebender Pein, der fehlende Grund unter den Füßen, endlich die Einsicht der Nutzlosigkeit. Der Soldat soll in beständiger Bereitschaft sein. Gut. Daheim und in gesicherten Verhältnissen ist das eine Selbstverständlichkeit. In der Fremde zerreißt es die Nerven. Seit zwei Jahren malt man uns den neuen Krieg an die Wand. Dann müßte ich gegen den eigenen Bruder kämpfen. Salutieren – und sich auf den Nächsten stürzen. Darüber war ich mir klar. Aber wo bleibt der Krieg mit seinen treibenden Zielen?«

»Er dürfte näher sein, als du glaubst, lieber Junge. Immerhin, ich kann dich verstehen. Das Abwarten liegt der Jugend nicht recht. Berichte weiter. Hast du durch Gans und Kompagnie pünktlich deine Zulage erhalten?«

»Ja – ich danke dir. Habe auch keine Schulden gemacht. Habe leidlich solide gelebt. Anfänglich gehörte ich zum Stabe der Legion und wohnte in der Rue du Faubourg Montmartre in den schönen und bequemen Räumen einer großen Zeitung, die zur Unterstützung der hannöverischen Sache in Paris begründet worden war, aber kein langes Leben führte –«

»Der ›Situation‹?« warf Herwey ein.

»Ganz richtig. Hatte unsern kleinen Trupp zusammenzuhalten und mich inzwischen mit der französischen Waffentechnik vertraut zu machen. Das interessierte mich. Eine Zeitlang war ich auch Ordonnanzoffizier des Generals d'Angereau, und vielleicht war er es, der mich an Herrn Eriau empfahl, den Kabinettschef des Départements der Sûreté générale. Der hatte nun schon andre Wünsche. Er übertrug mir kartographische Ausarbeitungen der durch Hannover führenden Verbindungslinien zwischen Elbe und Rhein und derartiges mehr, auch wieder ganz interessante Dinge, bei denen ich leider immer nur das Gefühl hatte, Frankreich viel hilfreichere Dienste zu erweisen als meinem armen Vaterlande. Jedenfalls war er sehr zufrieden mit mir und fragte mich infolgedessen eines Tages, ob ich bereit sei, eine subtile Mission nach Deutschland zu übernehmen. Natürlich sagte ich ohne weiteres Ja. Das Gefahrvolle reizte mich, und bei dem Gedanken, einmal wieder in die Heimat zu kommen, schlug mir das Herz bis an den Hals heran. Das könnt ihr euch denken.«

»Ja, wahrhaftig, Herbert,« rief Erika, die bis dahin schweigend zugehört hatte, »das begreife ich!«

»Na ja – aber ich machte doch ein etwas langes Gesicht, als Herr Eriau mit seinen Vorschlägen herausrückte, die natürlich nicht aus ihm selbst kamen, sondern aus irgendeinem Zimmer des Kriegsministeriums. Er wußte, daß Ralph hier zur Gardeartillerie kommandiert ist, und nun insinuierte er mir, mich vorsichtig an das Bruderherz heranzumachen, um von ihm die Veränderungen in der preußischen Artilleriewirkung seit Sechsundsechzig herauszukriegen. Er hat mir einen ganzen Fragebogen mit auf den Weg gegeben. Meine Erfahrungen sollte ich Benedetti direkt oder dem Legationssekretär Baron Ring oder am besten dem Militärattaché Obersten von Stoffel mitteilen, der selber Artillerist ist und das lebhafteste Interesse für die Sache hätte.«

»Gemeinheit,« sagte Erika halblaut, aber ihr Vater winkte ihr wehrend mit der Hand.

»Aussprechen lassen, Eri,« warf er ein, »und bitte keine vorlauten Bemerkungen. Was du Gemeinheit nennst, gilt überall als sanktionierte Sitte. Weiter, Herbert. Du nahmst trotz inneren Widerstands den Auftrag an?«

»Ja, Papa – aber nur, um ihn nicht auszuführen. Das versteht sich von selbst, daß ich nicht das Vertrauen meines Bruders mißbrauchen werde. Das Ekelhafte des Auftrags stieß mich sowieso ab. Ich sagte zu, weil mir Eriau den falschen Paß verschaffte und damit Gelegenheit gab, Frankreich ungefährdet verlassen zu können. Zweck meines Hierseins ist im übrigen nur, mich einmal gründlich mit dir über meine Zukunft auszusprechen.«

Er schwieg und schaute auf das brennende Endstück seiner Zigarre. Sein Gesicht nahm plötzlich einen sehr müden Ausdruck an. Seine Schultern zuckten wieder nervös und hilflos.

»Eine Frage zuvor,« sagte sein Vater. »Das Kommando über die Legion führt meines Wissens der Hauptmann von Hartwig. Kennt er den dir gegebenen Auftrag?«

»Nein, Papa. Von dem Augenblick ab, da wir einer französischen Behörde attachiert sind, gehören wir nur noch im militärischen Sinne zur Legion.«

Baron Herwey nickte. Er erhob sich, öffnete die Tür zum Treppenhaus und die zum Nebenzimmer, wie er es öfters tat, um sich vor Lauschern zu sichern, und ließ sich dann wieder nieder.

»Ich bin aus praktischen Erwägungen gegen die Begründung der Legion gewesen,« sagte er, »als ich gesehen hatte, daß von den gesamten hannöverischen Offizieren nur die wenigsten bei der Stange blieben. Aber ich respektierte den Geist opferfreudiger Ritterlichkeit in dieser kleinen Gemeinde – und glaubte auch dich zu verstehen. Es ist nur die Frage, ob die Voraussetzungen, unter denen die Herren gewillt sind, nach wie vor für die Herstellung des Welfenreichs zu wirken, sich jemals ermöglichen lassen werden. Daß ein Krieg zwischen Frankreich und Preußen unvermeidlich ist, steht fest. Die Luxemburger Angelegenheit war nur das Vorspiel. Aber man irrt sich, wenn man glaubt, daß im Kriegsfalle ein Volksaufstand in Hannover den französischen Waffen zu Hilfe kommen könne. Man vergißt den Einfluß der neuen nationalliberalen Partei, die sich gegen jede Einmischung des Auslands in die inneren deutschen Händel wendet, vergißt vor allem die Stimme des Bluts, die sich gewaltig regen würde, wenn der Franzose über den Rhein zieht.«

»Ja, Vater, das ist es!« rief Herbert lebhaft. »Ich sagte dir schon, ich bin kein Politiker. Aber ich lebe lange genug in Paris, um die französische Seele kennengelernt zu haben. Wir Exilierten waren den Leuten drüben von Anbeginn nur Mittel zum Zweck – und jetzt fangen wir an, ihnen unbequem zu werden. Also ich mache nicht mehr mit, ich will nicht!« … Er sprang auf … »Ich habe hin und her überlegt, was ich tun soll. Ich dachte an den Eintritt in bayerische Dienste, aber es ist fraglich, ob man mich da aufnehmen wird. Einem Kameraden ist es abgeschlagen worden. Hast du Verbindungen in Rumänien? Da regiert jetzt ein deutscher Fürst, und ich höre auch, daß preußische Offiziere als Lehrmeister zu ihm kommandiert worden sind. Ich bin ein tüchtiger Soldat gewesen – wäre das da unten nicht ein Feld für mich?«

»Rumänien ist ein im Entstehen begriffenes staatliches Gebilde,« antwortete der Vater. »Immerhin – ich kenne den Minister Cogalniceanu, übrigens auch den alten Bratianu, und vor allem den preußischen Generalkonsul in Bukarest, Grafen Keyserling. Durch ihn ließe sich am ehesten etwas erreichen. Aber das erfordert Zeit, und was willst du inzwischen machen, Herbert? Willst du es wagen, in Berlin zu bleiben?«

»Warum nicht? Wer vermutet mich hier? Ralph wird nicht den Verräter spielen, und Désirée auch nicht. Außerdem –«

Er schwieg und schaute mit einem Lächeln, das einem flüchtig schreitenden Glück nachzublicken schien, in den Rauch seiner Zigarre.

»Außerdem?« wiederholte der Vater.

»Lockt mich Berlin,« sagte Herbert fröhlich. »Du hast mich als Jungen einmal mitgenommen, Papa, entsinnst du dich noch? Noch zu Lebzeiten unsrer Mutter. Erika war in Lausanne in Pension, und du fuhrst mit Ralph und mir hierher, um uns der alten Frau Westerhold vorzustellen, der berühmten Erbtante, die schließlich ihr ganzes Vermögen an braunschweigische Stiftungen verteilte. Da wohnten wir im Hotel Petersburg, Unter den Linden und gingen abends ins Wallner-Theater, es war im Juli und es wurde auf der Sommerbühne gespielt, und Helmerding trat in einer Posse auf, die hieß ›Nimrod‹ und war zum Totlachen komisch. Aber am nächsten Abend war's noch schöner – im Viktoria-Theater, wo ein Zauberstück gegeben wurde, die ›Henne mit den goldenen Eiern‹ – o, ich erinnere mich noch genau, ich war erst zehn Jahre alt, aber die wunderschönen Fräulein auf der Bühne in ihren kurzen Röckchen und mit den weißen Schwanenhälsen entzückten mich doch schon –«

»Na na, Herbert,« fiel Erika lachend ein, »du vergaloppierst dich.«

»Nur in der Erinnerung. Seitdem bin ich nicht in Berlin gewesen. Nun möchte ich es mir einmal gründlich ansehen. Inzwischen ziehst du vielleicht deine Erkundigungen ein, Vater –«

»Ja,« sagte Baron Herwey und fuhr aus Sinnen und Träumen auf, »– ich will auch einmal zu Strousberg gehen, der hat jetzt den Bahnbau da unten und ist in allen Ministerien lieb Kind, und gibt mir vielleicht einen guten Rat. Mein Gott, Verbindungen habe ich ja zur Genüge, selbst mit dem Bundeskanzler, und wenn ich mit Bismarck spreche, ließe sich möglicherweise eine Amnestie für dich erreichen –«

»Nein, Vater,« fiel Herbert hastig ein, »noch nicht. Das möchte ich nicht, das wäre Fahnenflucht.«

»Es wäre das Gegebene. Ein Zwang durch Freiheit. Aber warten wir ab. Jedenfalls bitte ich dich um weitgehende Vorsicht –«

Er verstummte. Es hatte an der Tür geklopft. Erika öffnete. Gellrich stand draußen.

»Vergebung, Herr Baron,« sagte er, »der Droschkenkutscher läßt fragen, ob er noch länger warten soll.«

»Ich komme schon,« rief Herbert, und Gellrich zog sich wieder zurück. »Also, Papa, hör' zu – hör' zu, Eri. Ich suche mir dieser Tage ein Privatlogis, irgendeine gemütliche kleine Bude – ganz einfach natürlich, dann gebe ich euch Nachricht. Wann können wir uns wiedersehen? Und wo? Hier im Hause oder bei mir?«

»Darüber schreibe ich dir,« antwortete der Vater. »Es verkehrt viel bei mir, und nicht jeder braucht dich zu sehen. Ich muß auch mit Désirée Rücksprache nehmen.«

»Wie geht es ihr?«

»Danke, recht gut,« erwiderte Baron Herwey kurz. »Du wirst sie ja begrüßen können. Also, lieber Junge, ich sage: auf baldiges Wiedersehen. Und nochmals: Zurückhaltung und Vorsicht. Ich weiß, daß man nicht auf euch fahndet – Herrn von Brennecke hat man sogar entwischen lassen. Aber man braucht sich auch nicht unnötig in die Gefahr zu begeben.«

Vater und Sohn umarmten sich. Erika führte den Bruder durch das Treppenhaus. Sie küßte ihn und raunte ihm zu: »Ich bin froh, daß ich dich hier habe. Ralph treibt auf abschüssiger Bahn. Darüber sprechen wir noch.«

Gellrich stand schon mit dem Regenschirm im Portal und geleitete den »Vetter aus Wien« bis zur Gartenpforte. Herbert erwarb sich sein Vertrauen durch ein Zuviel an Trinkgeld.

»Det war aber schonn 'n Stickchen mehr als wie 'ne halbe Stunde, Herr Jraf,« sagte der Droschkenkutscher und zog seinem Gaul die Decke von der Kruppe.

»Sie sollen dafür auch fürstlich entlohnt werden, Phaethon,« antwortete Herbert in guter Laune und öffnete den Wagenschlag.

»Na und wohin denn nu?« fragte der Kutscher.

Herbert überlegte einen Augenblick. Er hätte gern noch ein Glas Sekt getrunken – auf die Ankunft in Berlin und die blonde Reisebekanntschaft und die Zukunft.

»Ob wohl noch ein anständiges Weinlokal offen ist?« fragte er.

»Immerzu, Herr Jraf. ›Zum Bleistift‹ bei Ewesten, da hucken se de janze Nacht.«

»Also zu Ewest,« sagte Herbert, stieg ein und hämmerte die Tür zu, so daß die letzten Splitter der Fensterscheibe auf die Straße flogen.


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