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Gant und Eliza kamen zu seiner Graduation. Eugen besorgte ihnen Unterkunft im Dorf. Es war Anfang Juni, und der Juni war hitzig grün, von einer heftig-wollüstigen Südlichkeit. Der Kampus war ein grüner Ofen; Graduierte früherer Jahrgänge, zur Reunion versammelt, liefen speckig-angeschwitzt zu zweien herum; kühle, hübsche Mädchen, von der Sorte, die nie schwitzt, waren da, um der Promotion ihrer Freunde beizuwohnen und zu tanzen; die Mamas und Papas wurden linkisch und scheu herumgeführt.
Die Universität war zauberhaft fast ganz verlassen. Die Studenten, außer der Graduantenklasse, waren Beinah schon alle in Ferien gefahren. Die Luft war geladen mit einer frischen, sinnlichen Hitze, dem tiefgrünen Schimmer des Laubs, mit Blumendüften und den tausend Gerüchen der keimschweren Erde. Die jungen Männer waren abschiedstraurig, aufgeregt, stolz.
Auf dieser prächtigen Bühne sah Gant, der seine Sterbestätte auf drei Tage verlassen hatte, seinen Sohn Eugen. Der Alte war wie auferstanden und dem Leben wiedergeschenkt. Als er die Thronbesteigung des Sohnes anläßlich der von herzhaften Hochgefühlen getragenen Commencementfeier erlebte, hob sich sein Herz über allen Staub. Auf dem herrlichen Anger, im Schatten der großen Bäume, umringt von seinen Mitgraduanten und deren Angehörigen, las Eugen das Klassengedicht: »O Mutter unsrer Myriaden Hoffnungen ...« Dann sprach der Philosophieprofessor Vergil Weldon, er sprach gedämpft-erhaben, gedankentief, feiertraurig, und die lebendige Wahrheit quoll auf in allen Herzen. Es war eine eindrucksvolle Rede. Seid wahrhaft! Seid rein! Seid gut! Seid Männer! Absorbiert das Negative! Die Welt braucht ... Leben war nie so wertvoll wie ... Nie in der Geschichte gab es ... Keine andre Klasse berechtigte zu so hohen Hoffnungen wie ... Unter andern Leistungen ist es dem Herausgeber der Universitätszeitung gelungen, das moralische und intellektuelle Niveau des Staates um zwei Zoll, zu heben. Universitätsgeist! Charakter! Dienst am Leben! Führertum!
Eugens Antlitz wurde dunkel vor Freude und Stolz. Er hatte keine Worte. Glorreich, ja glorreich war die Welt. Und das Leben gierte luststöhnend nach seiner Umarmung.
Gant und Eliza hörten die Reden und Gesänge aufs aufmerksamste an. Ihr Sohn war ein großer Mann. Sie sahen und hörten ihn auf dem Kampus, vor seiner Klasse und bei der Promotion, wo seine akademischen Ehren und seine Preise verkündigt wurden. Lehrer und Kameraden sprachen von ihm und sagten alle, daß Eugen eine »glänzende Karriere« machen würde. Und Gant und Eliza waren wohl ein klein bißchen angetan von all dem falschen Goldglanz der Jugend. Sie glaubten, daß alles möglich wäre.
»Also, Sohn«, sprach Gant, »das Übrige steht nun bei Dir. Ich bin überzeugt, daß Du Dir 'nen Namen machen wirst.« Er legte seine große, trockne Hand schwerfällig auf Eugens Schulter, und Eugen sah plötzlich in den erloschnen Augen das alte Dunkel von Umber und ungefundnem Verlangen.
»Hm«, begann Eliza mit einem neckisch geschmerzten Lächeln, »diese Reden werden Dir hoffentlich nicht den Kopf verdrehn!« Sie nahm seine Hand, in ihre rauhen, warmen Hände. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen.
»Also Sohn«, sagte sie sehr ernst, »ich wünsche, daß Du nun fortfährst und Dir Mühe gibst, etwas zu werden. Keines von den andern hat die Gelegenheit gehabt, und Du, hoffe ich, wirst sie nutzen. Dein Vater und ich haben unser Bestes getan, der Rest hängt von Dir ab.«
Er nahm ihre Hand und küßte sie. Eine wilde Ergebenheit wallte in ihm auf. »Ich werde etwas leisten!« sagte er. »Ich will.«
Sie beide blickten ihn altklug an; sein Gesicht glühte vom leidenschaftlich-naiven Eifer der Jugend, und sie empfanden Zärtlichkeit und Liebe zu seiner Jugend und vor all dem, was ihm um dieser Jugend willen noch verschlossen war. Und ihn beströmte eine große Liebe, weil sie so sonderbar und hilflos einsam waren, und ein Mitleid überfiel ihn, weil er ahnte, daß ihm die Titel und Ehren, die sie für ihn begehrten, bereits gleichgültig waren, und daß die Dinge, die er nun für sich selber begehrte, völlig außerhalb ihres Wertermessens standen. Und bestürzt von dieser Einsicht wandte er sich ab, die hagre Hand an die Kehle gekrallt.
Es war vorüber. Gant, der in der Aufregung des Festes fast die Lebenskraft seiner mittleren Jahre wiedererlangt hatte, fiel zurück in seine weinerliche Altersschwäche. Es war furchtbar heiß, und er machte schlapp. Ihm graute vor der Heimreise.
»Barmherziger Gott!« flennte er. »Warum bin ich hergekommen? O Jesus, wie werde ich diese schreckliche Rückreise überstehn? Es ist ja nicht zum Aushalten! Ich werde unterwegs draufgehn! Es ist furchtbar, es ist entsetzlich, es ist grausam!«
Eugen begleitete die beiden nach Exeter und brachte sie im Pullmanwagen behaglich unter. Er selber wollte noch ein paar Tage in Pulpit Hill bleiben, um seine Siebensachen zusammenzupacken, den Krempel von vier Jahren, Briefe, Bücher, Manuskripte und allerhand wertloses Zeug. Er hatte anscheinend Elizas blinde Anhordungssucht geerbt. Er war verschwenderisch mit Geld und verstand nicht, damit hauszuhalten; aber von Sachen konnte er sich nicht trennen, selbst wenn sie ihn, samt der schalen, verstaubten Vergangenheit, längst anwiderten.
»Also, Sohn«, sagte Eliza, als ein stiller Augenblick eintrat, »hast Du Dir überlegt, was Du nun zu tun gedenkst?«
»Ja, ja«, sagte Gant und leckte seinen Daumen, »denn von jetzt an mußt Du auf eignen Füßen stehn. Du hast die beste Erziehung genossen, die man für Geld haben kann, nun ist es an Dir, was zu leisten.«
»Laßt uns in ein paar Tagen zu Haus davon reden«, sagte Eugen. »Wenn ich heimkomme, können wir es in Ruhe besprechen.«
Glücklicherweise zockelte der Zug los. Eugen gab jedem geschwind einen Abschiedskuß und sprang aus dem Wagen.
Er hatte ihnen nichts zu sagen. Er war neunzehn, hatte das College absolviert und hatte trotzdem keine Idee, was er werden wolle. An Gants Plan, daß der Junge Rechtswissenschaft studieren und in die Politik eintreten solle, glaubte seit Eugens zweitem Universitätsjahr kein Mensch mehr. Es war allzu augenfällig, daß Eugen keine Lust zur Juristerei hatte. Insgeheim hielt ihn die Familie für einen Exzentriker; für sie war er »quer«, wie sie es nannten; sie munkelten etwas von »unpraktischer Art« und »literarischer Neigung«.
Lächerliche Vorstellung, diese schlaksige Gestalt mit dem wilden, leidenschaftlichen Gesicht in einen Gehrock zu stecken! Er war undenkbar als Kaufmann oder Jurist. Eher sahen sie ihn als einen Bücherwurm und Träumer. Eliza nannte ihn oft einen »guten Gelehrten«, was er aber keineswegs war. Er hatte einfach in allen Fächern, die seinen Hunger erregten, geglänzt und sich in allen andern Fächern achtlos, gleichgültig und dumpf durchgebracht. Niemand in der Tat hatte eine klare Vorstellung, was er nun anfangen könne, Eugen selber am allerwenigsten. Die Familie hatte von Kameraden das Stichwort »Journalistische Laufbahn« aufgeschnappt; das bedeutete so etwas wie eine Anstellung an einer Zeitung. Gewiß war das unbefriedigend und unklar genug, aber die Gemüter standen ja zunächst noch unter dem Eindruck seines blendenden Erfolgs auf der Universität.
Eugen aber scherte sich nicht im geringsten um den Gedanken an ein Ziel. Er war von wilden, niegekannten Verzückungen besessen. Er war ein Zentaur, mondäugig, wildgemähnt, hingerissen vom Hunger nach der goldnen Welt. Manchmal war er nahezu außerstand, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Wenn Leute mit ihm sprachen, kam es vor, daß er sie plötzlich anwieherte und davonsprang, das Gesicht von idiotischer Lebensfreude verkrampft. In der Ekstase von tausend unausgesprochnen Wünschen trieb er sich quietschend in den Straßen und auf dem Kampus umher. Die Welt lag vor ihm, er brauchte sie nur zu fassen, mit ihren herrlichen Städten, goldnen Weinjahren, glorreichen Triumphen, schönen Frauen, voll von tausend ungekannten und großartigen Möglichkeiten. Nichts war trüb oder dumpf. Die fremden, zauberhaften Küsten waren unbesucht. Und er war jung und unsterblich.
Er fuhr zurück nach Pulpit Hill auf zwei oder drei Tage glücklicher Einsamkeit in der verlassnen Universität. Er strich nachts auf dem Kampus umher unter dem großen Mond des prächtigen, vollentfalteten Spätfrühlings; er atmete die tausend schweren Düfte von Laub, Gras und Blumen, die Gerüche des üppigen, verführerischen Südens. Er empfand die köstliche Traurigkeit des Abschieds, und im Mondlicht sah er die tausend Schatten von Jünglingen, die nie wiederkommen würden.
Er zögerte und trieb sich herum, obschon sein Gepäck seit Tagen fertig war ... Mit verzweifeltem Schmerz dachte er daran, daß er dieses Arkadien, wo er so fröhlich gelebt hatte, nun verlassen müsse. Nachts auf dem Kampus traf er eine Handvoll Studenten, die, ganz wie er, es nicht fertig brachten davonzufahren. Sie gingen unter den gespenstischen Gebäuden, unter den Schatten verlorner Jünglinge umher und redeten, bis es Tag wurde. Der Gedanke an eine endgültige Trennung war einfach unfaßlich. Eugen sagte, er wolle im Herbst auf ein paar Tage und dann jedes Jahr mindestens einmal zurückkehren.
Dann, an einem knallheißen Morgen, packte ihn der Impuls, und er fuhr kurzerhand ab. Als das Auto, das ihn nach Exeter brachte, die gewundne Dorfstraße hinunterfuhr, vernahm er, wie aus der Meerestiefe eines Traums, fern-matt, den vollen, weichen Klang der Kampusglocke. Und plötzlich war ihm, als hörte er auf allen Pfaden das Fußgetrampel all der verlornen Jünglinge, die in die Klasse eilten, und er selber wäre einer von ihnen. Er lauschte gespannt ... der Ton der Glocke schwang aus, das Fußgetrampel verhallte ins Nichts.
Das Auto schlurrte über den Rand des Tafelberges und fuhr schnell den Steilhang hinunter in das heiße, ausgedörrte Unterland. Als die verlorne Welt aus seinen Augen entschwand, stieß Eugen einen lauten Schrei aus. Ein Schmerz hatte ihn getroffen, und er trauerte, denn er wußte, daß die Tür in diese elfische Wildnis hinter ihm zugefallen war; er wußte, daß er nie wieder zurückkommen werde.
Er sah die Berge, machtvolle, trächtige Leiber, hochbrüstig, prangend im wogenden Grün, von weitwandernden Wolkenschatten gescheckt. Aber es war, wußte er, das Ende.
Aus tiefen Forsten tönte das Hörn. Ihn hungerte wild nach Entlassung: die weite, trunkne Erde lag ausgestreckt vor ihm mit ihrer grenzenlosen Verführung.
Es war das Ende, das Ende. Es war der Beginn der Reise, der Suche nach neuen Landen.
Gant war tot und Gant war am Leben; Gant war Tod-im-Leben. In seinem großen Hinterzimmer in Elizas Haus wartete er aufs Sterben, ein verlorner, gebrochner Mann in einem Halbdasein von wehleidigen Erinnerungen. Sein Leben hing an einem Versehrten Leitungsdraht; er war eine Leiche, in der ab und zu einmal das Bewußtsein elektrisch aufflackerte. Der plötzliche Tod, dessen Drohung so lange über ihnen gehängt hatte, war nie eingetreten. Er hatte dort zugeschlagen, wo sie es am wenigsten erwartet hatten, bei Ben. Und die Überzeugung, die sich vor anderthalb Jahren bei Bens Tod in Eugen festgesetzt hatte, war nun Wahrheit geworden: die Familie war auf immer auseinandergefallen. Das Muster war zerbrochen, die Bande der Gemeinschaft waren gelöst seit Bens Tod. Der Nachtmahr von Tod und Verlust hatte alle Hoffnung vernichtet. Mit einem wahnsinnigen Fatalismus hatten sie sich alle dem wüsten Chaos des Lebens überantwortet.
Ausgenommen Eliza. Sie war nun sechzig, gesund an Körper und Geist, triumphierend gesund. Sie hatte noch ihren Betrieb in Dixieland, aber es wurde nicht mehr für die Fremden gekocht: die Hausgäste waren keine Kostgänger mehr, sie bekamen nur noch möblierte Zimmer vermietet. Die Geschäftsführung überließ Eliza fast ganz einer alten Jungfer, die im Haus wohnte. Sie selbst vertat beinahe ihre ganze Zeit mit dem Immobilienhandel.
Sie hatte schon im Vorjahr endgültige Verfügungsfreiheit über Gants Eigentum erlangt. Sie hatte den Besitz sofort und rücksichtslos, ohne auf sein gleichgültiges Protestgebrumm zu hören, verkauft. Das alte Haus an der Woodson Street hatte sie für 7000 Dollar losgeschlagen, – »ein guter Preis in Anbetracht der Nachbarschaft«, wie sie behauptete. Es stand nun steif, kahl und roh da, seines dichten Rebengeranks beraubt, und gehörte als Nebengebäude zu einem neuaufgemachten Quacksalbersanatorium für Nervenkranke. Gants reiche Lebensarbeit war vernichtet. Hierin erkannte Eugen, deutlicher als in andern Dingen, den Verfall der Familie.
Ferner hatte Eliza das für 6000 Dollar gekaufte Farmanwesen von 150 Hektar an der Reynoldsviller Landstraße für 15 000 Dollar verkauft und sonst noch mehrere kleine Immobilien losgeschlagen. Schließlich hatte sie Gants Werkstatt am Stadtplatz für 25 000 Dollar verkauft: Käufer war ein Bausyndikat, das auf dem Grundstück den ersten Wolkenkratzer von Altamont zu errichten plante. Mit dem freigewordnen Kapital verlegte sie sich auf den Handel. Sie kaufte, verkaufte, tauschte, nahm Optionen auf, sie spann ein verworrnes Netz unkontrollierbarer Geschäfte.
Dixieland war mittlerweile ungeheuer wertvoll geworden. Jene wichtige Zufahrtstraße, die Eliza seit Jahren vorausgeschaut hatte, war tatsächlich knapp hinter der Grenze ihres Grundstücks durchgebrochen worden. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie für den dazwischenliegenden Bodenstreifen einen hohen Preis gezahlt, und seitdem hatte sie, ein runzliges Lächeln um den Mund, ein Angebot von 100 000 Dollar bar für das Besitztum glatt abgelehnt.
Sie war besessen von ihren Geschäften. Sie sprach von nichts anderem als von Grund und Boden. Die Hälfte ihrer Zeit verredete sie mit den Immobilienmaklern, die wie Schmeißfliegen im Haus herumschwärmten. Mehrere Male täglich fuhr sie mit diesen Herren zu Besichtigungen fort. Während ihre Besitztümer an Wert und Zahl zunahmen, wurde sie, was ihren persönlichen Aufwand betraf, zusehends geiziger. Sie erhob lautes Gezeter, wenn ein Licht im Haus nicht ausgeknipst wurde und sprach sofort von Ruin und völliger Verarmung. Sie aß sehr selten und sehr wenig, es sei denn, daß sie zu Mahlzeiten eingeladen war. Eine Tasse schwachen Kaffee und eine trockne Brotkruste in der Hand lief sie im Haus herum. Ein knauseriges, nachlässig zubereitetes Frühstück war das einzige Mahl, dessen Lukas und Eugen einigermaßen sicher waren. Ärgerlich knurrend oder laut blökend mit blödem Lachen nahmen sie es ein; sie aßen in den engen Anrichteraum eingezwängt, denn das frühere Speisezimmer war für immer umgerichtet und auf Dauer an einen Hausgast vermietet.
Um Gant bekümmerte sich Helene. Sie fütterte ihn. Mit unaufhörlichem Gequengel trieb sie zwischen Hugo Bartons Heim und Dixieland hin und her, in einem ständigen Stimmungswechsel von Energie und Erschöpfung, hysterischem Ärger und trübsinniger Gleichgültigkeit. Sie hatte keine Kinder, und allem Anschein nach würde sie keine bekommen. Sie verfiel deswegen in längere Perioden krankhaften Brütens; während dieser Depression betäubte sie sich, ständig nippend, mit hochalkoholhaltigen Patentmedizinen und im Haus hergestellten Weinen und Maiswhisky. Ihre großen Augen wurden glanzlos und stumpf, ihr langer Mund war hysterisch gespannt, sie pflegte sich das Kinn zu petzen und brach oft unerwartet in Tränen aus. Sie sprach unruhig, grämlich, ohne aufzuhören; sie verschwendete und verlor sich in einem Gewimmel nervöser Äußerungen, in endlosem Klatsch, in zusammenhanglosem Gewäsch über Leute im Städtchen, Nachbarn, Ärzte, Krankheiten,. Kuren, Hospitäler, Todesfälle.
Hugo Bartons gemächliche Gemütsruhe brachte sie oft ganz ans dem Häuschen. Er pflegte abends, ohne auf ihre Tiraden zu hören, seine lange Zigarre lutschend, über Geschäftspapieren und Fachzeitschriften zu sitzen. Seine Fähigkeit, sich einfach und einsam in eine Sache zu verlieren, machte Helene rasend. Sie wußte nicht, was sie von ihm wollte, aber sein Stillschweigen war mehr, als sie ertragen konnte. Wutschnaubend fuhr sie ihn an, schlug ihm die Zeitschrift aus der Hand und packte ihn an dem dünnen Haarschopf.
»Antworte mir gefälligst, wenn ich mit Dir rede!« stöhnte sie,. »Ich setze mich nicht Tag und Nacht hierhin und seh zu, wie Du Dich in Deinen Kram vergräbst, Was glaubst Du denn eigentlich? Was stellst Du Dir denn überhaupt vor?!« Sie brach in Tränen aus. »Da hätte ich genau so gut 'ne Schneiderpuppe heiraten können.«
»Ja, aber ich möchte mich ja gern mit Dir unterhalten«, brummte er sauertöpfisch. »Wenn ich dann was sage, paßt es Dir doch nie! Wovon soll ich denn reden?«
Tatsächlich, wenn sie in dieser Stimmung war, paßte ihr nichts. Sie war gereizt, wenn jemand mit ihr übereinstimmte, war gereizt, wenn jemand ihr widersprach, war gereizt, wenn jemand sie einfach anschwieg. Die harmloseste, unstrittigste Bemerkung über das Wetter konnte ihre Wut herausfordern.
Manchmal nachts weinte sie hysterisch in die Kissen und fuhr plötzlich ihren Gatten wütend an:
»Verlaß mich auf der Stelle! Geh fort! Scher Dich weg! Ich haß Dich! Ich haß Dich!«
Gehorsam stand er dann auf und ging ins Erdgeschoß hinunter. Aber noch ehe er das Wohnzimmer erreicht hatte, rief sie ihn zurück und flehte ihn an zu bleiben.
Sie überhäufte ihn abwechselnd mit ungezügelten Liebkosungen und sinnlosem Schimpf. Der ungestillte Wunsch nach einem Kind überschwemmte ihr ganzes Wesen. Ihre unausgelebte Mutterzärtlichkeit schenkte sie einem gemeinen, kleinen Hund, der ihr eines Abends halbverhungert auf der Straße zugelaufen war. Er war eine schwarz-und-weiß gescheckte Promenadenmischung, eine miese, widerliche Kreatur. Alle Leute außer seinem Herrn und seiner Herrin bleckte er bösartig an. Helene hatte ihn mit Leber und allerlei andern Leckerhissen so gemästet, daß er im Fett wabbelte. Er schlief weichgebettet auf einem Samtkissen. Wenn die Bartons ausfuhren, saß er im Auto und knurrte und kläffte die Vorübergehenden an. Diesen Köter herzte und hätschelte, küßte und tätschelte Helene, sie redete mit ihm wie mit einem Baby, sie haßte jeden Menschen, der das verraßte, bissige Biest nicht leiden konnte. Aber weitaus den größten Teil ihrer Zeit, ihrer Liebe, ihrer jähen Energie schenkte sie ihrem Vater. Gegen Eliza empfand sie bittrer als je; sie war händelsüchtig und gereizt, manchmal haßte sie ihre Matter. Sie pflegte stundenlang über sie herzuziehen:
»Ich glaub, sie ist verrückt. Scheint's Dir nicht auch so? Mir kommt es vor, als müßte man sie unter Kuratel stellen. Weißt Du eigentlich, daß ich fast jeden Bissen, der dort im Haus verzehrt wird, bezahle? Wenn ich's nicht tät', ließe sie den armen Papa vor ihren Augen verhungern. Sie würde es glatt tun, Du kannst davon überzeugt sein, sage ich Dir. Sie ist so geizig geworden, daß sie nicht mal mehr Essen für sich selbst kauft. Ach, Du lieber Himmel!« schrie sie entrüstet auf, »es ist doch nicht meine Sache, für sein Essen zu sorgen, nicht wahr? Er ist doch ihr Gatte, nicht meiner! Hältst Du so was für recht? Du kannst es doch unmöglich für recht halten.« Sie weinte vor Wut.
Und sie pflegte Eliza mit Vorwürfen zu überfallen; so: »Mama, um Gottes willen! Wie kannst Du es mitansehen, wie der arme, alte Mann Hungers stirbt? Geht es denn nie in Deinen Kopf, daß Papa schwerkrank ist? Er braucht gute Kost und anständige Pflege.«
Und Eliza, verwirrt und betreten, pflegte dann zu entgegnen:
»Wieso, Kind? Ei, wieso denn?! Was in aller Welt meinst Du denn damit? Ich selbst habe ihm zum Mittag einen großen Teller Gemüsesuppe gebracht, und er hat sie auf einen Sitz ausgelöffelt. ›Ei geh!‹ sagte ich zu ihm, um ihn ein bißchen aufzuheitern, ›das will mir aber gar nicht einleuchten, daß ein Mann mit so einem Appetit krank sein soll! Ei, pah! nun sag mir doch selbst mal‹, sagte ich ...«
»Um Himmels willen«, schrie Helene zornentbrannt, »Papa ist ein Schwerkranker! Kannst Du es denn nicht fassen?! Bens Tod sollte Dir wirklich eine Lehre gewesen sein, wahrhaftiger Gott!!« Der Eifer verschlug ihr die Stimme.
Gant war ein Schemen, wächsern und vergilbt. Die Krankheit, die seinen ganzen Körper in Mitleidenschaft gezogen hatte, verlieh ihm ein zartes, fast durchsichtiges Aussehn. Er lebte im Schattenland. Trübselig-gleichgültig ließ er den Radau im Haus über sich ergehn; er greinte und keifte, wenn er Schmerzen hatte, wenn ihn hungerte oder fror; er lächelte, wenn er zufriedengestellt war und die Schmerzen ihn in Ruhe ließen. Zwei- oder dreimal im Jahr wurde er zur Radiumbehandlung nach Baltimore gebracht; jedesmal flackerte dann seine Lebenskraft auf eine kleine Spanne auf, aber sie wußten alle, daß diese Erholungen nur kurzbefristet waren. Sein Körper war ein verrottetes Gewebe, das wie durch ein Wunder zusammenhielt.
Derweilen plapperte Eliza unaufhörlich von Grundstücksgeschäften. Über ihre eignen Händel war sie peinlich verschwiegen, sie tat wahnsinnig geheimnisvoll und verriet nichts. Wenn man sich nach dem Stand der Dinge erkundigte, dann lächelte, blinzelte, kicherte sie und sagte:
»Es fällt mir nicht ein, Euch alles auf die Nase zu binden.«
Diese Redensart war mehr, als die vor Neugier gespannte, ohnehin schon gereizte Tochter ertragen konnte. Trotz allen Ärgers, trotz allen Hohns waren Helene und Hugo von der Manie für Bodenbesitz angesteckt worden. Insgeheim hegten sie große Hochachtung für Elizas Geschäftsschlauheit, und sie holten stets ihren Rat ein bei den Käufen, in die Hugo Barton seine sämtlichen Ersparnisse steckte. Wenn Eliza sich weigerte, sie in ihre Geschäfte einzuweihen, dann, tobte Helene aus Wut über ihre vereitelten Anschläge.
»Sie hat kein Recht, das zu tun! Du weißt doch sicher, daß es genau so gut Papas Vermögen ist, wie ihres, das in den Liegenschaften steckt. Wenn sie jetzt stürbe, wäre es ein heilloses Durcheinander. Kein Mensch kennt sich aus, kein Mensch weiß überhaupt, was sie losgeschlagen und aufgenommen hat, ich glaub, sie weiß es selbst nicht. Und ihre Geschäftspapiere hat sie Gottweiß wo in Schublädchen und Pappschachteln versteckt!«
Aus lauter Angst und Argwohn hatte sie – sehr zu Elizas Verdruß – vor einem Jahr schon den Alten dazu gebracht, ein Testament zu machen, in: dem er seinen fünf Kindern je fünftausend Dollar und den Rest seines Eigentums seiner Frau zuerkannte. Und nun im Frühsommer bearbeitete sie Gant, die beiden Männer, in deren Ehrlichkeit sie das größte Vertrauen hatte, zu Testamentsvollstreckern zu machen, nämlich Hugo Barton und Lukas Gant.
Lukas war seit seiner Entlassung aus der Marine Verkäufer für elektrische Farmanlagen; sein Arbeitsgebiet war der Gebirgsdistrikt rund um Altamont. Helene sagte zu Lukas:
»Wir sind diejenigen, die stets das Interesse der Familie im Auge hatten, und was haben wir davon? Nichts! Wir sind großzügig und aufopfernd gewesen, und am Schluß werden Eugen und Steve alles ergattern. An den Eugen ist alles gehängt worden, und an uns? Nichts! Nun redet er gar davon, nach Harvard zu gehn, hast Du es schon gehört?«
»St-st-st-stell Dir vor! Seine Majestät!« sagte Lukas ironisch. »Wer soll denn fürs St-st-st-studium berappen?«
Der Hochsommer kam, und über die Erbschaft des halbtoten Gant entbrannte der gehässig-habsüchtige Zwist. Steve kam aus Indiana; es dauerte keine vier Tage, und er war unzurechnungsfähig von Whisky und Veronal. Es fing damit an, daß er Eugen überall im Haus nachstellte. Er drängte ihn drohend in Ecken, packte ihn streitsüchtig am Arm, blies ihm seinen gelb stinkenden Atem ins Gesicht, sprach mit weinerlicher, halbbetrunkner Stimme auf ihn ein.
»Ich hab nie Deine Chancen gehabt. Der Stevie ist immer von allen schlecht behandelt worden. War soviel an ihn gehängt worden wie an Dich, dann war er heut ein großer Mann. Und selbst ohne dies hat er immer noch mehr Grütze im Kopf als manch einer, der auf die Universität gegangen ist, verstehst Du? Höh?!«
Er brachte sein mit Eiterpickeln übersätes, stinkendes Gesicht ganz nahe an Eugens.
»Geh weg, Steve! Laß mich in Ruh!« knirschte Eugen und wollte entweichen. Steve aber versperrte ihm den Weg. »Geh weg, Du Schwein!« schrie er und schlug dem Burschen in die üble Fresse.
Als Steve schlapp und dumpf am Boden lag, fiel Lukas, Flüche stotternd, über ihn her und drosch auf ihn los. Und Eugen fiel über Lukas her, um ihn von Steve abzubringen, und alle drei stotterten und fluchten und fauchten und knirschten und schimpften, und die Hausgäste drückten sich an der Türe herum, und Eliza flennte und rief nach Hilfe, und Daisy, die mit ihren Kindern zu Besuch da war. rang ihre Patschhände und stöhnte: »Ach, sie bringen ihn um, sie bringen ihn um! Habt doch Mitleid mit mir und meinen armen Kindern, ich flehe Euch an!«
Und dann die Scham, der Ekel, das weinerlich-bekümmerte »Es-tut-mir-leid«, die flennenden Weibsleute, die erhitzten Mannsbilder.
»E-e-e-e-e-elender, e-e-entarteter Mensch!« schrie Lukas. »Du bi-bi-bist b-bloß heimgekommen, weil Du gedacht hast, der P-p-papa wird sterben und Du be-be-bekämst ein bi-bi-bißchen Geld zu e-e-erben! Du verdienst keinen Pf-f-fennig!«
»Ich weiß, was Ihr vorhabt!« kreischte Steve verzweifelt. »Ihr seid alle gegen mich und wollt mich um meinen Anteil betrügen. Ihr habt das untereinander ausgemacht«, behauptete er.
Er heulte vor Angst, Wut und Mißtrauen. Er war wie ein geprügeltes Kind. Eugen sah ihn voller Mitleid an; ihm wurde zum Erbrechen übel, so schweinisch, gemein und jammerläppisch war der Kerl. Und dann, als er mitanhörte, wie die Brüder einander beschuldigten, packte ihn das Entsetzen. Er traute seinen Ohren nicht. Die Geldsucht oder Habgier ist eine Krankheit, die andre Leute anfällt oder in Büchern geschildert wird. In der eignen Familie, meint man, käme sie nicht vor. Da knurrten und bellten die Brüder einander an wie Straßenhunde, die sich um einen Knochen balgen – – – und es ging um das bißchen Geld eines Unbegrabnen, der leise stöhnend vor Schmerz keine drei Meter weit weg in seiner Stube lag und nicht sterben konnte.
Die Familie spaltete sich in zwei Lager, die einander feindselig beobachteten: Helene und Lukas auf der einen Seite, Daisy und Steve, unterdrückt aber hartnäckig, auf der andern. Eugen, der für Parteigängerei kein Talent hatte, schwebte im siderischen Raum und ging nur für Augenblicke auf Erden vor Anker. Er ging auf den Bummel, räkelte in der Drogerie herum und unterhielt sich mit den Galanen, machte den reizenden Sommerfräulein auf den Boardinghouseterrassen den Hof; er besuchte einen Studienkameraden in einem Hochgebirgsdorf und beschlief ein hübsches Mädchen im Wald, machte eine kleine Reise nach Südkarolina; er ließ sich in Dixieland von einer Zahnarztsgattin verführen, einer forschen, durchaus unhübschen Frau von dreiundvierzig Jahren, die einen Zwicker trug und ziemlich gelichtetes Haar hatte. Sie war Mitglied der Damenliga der »Töchter der Konföderation« und trug stets das Bundesabzeichen auf ihren gestärkten Linnenblusen.
Er hielt sie für eine kühle, hochrespektable Person. Er spielte mit ihr und andern Hausgästen Casino – das einzige Gesellschaftsspiel, das er kannte – und nannte sie »Ma'am«. Eines Abends nahm sie seine Hand, kitzelte sie auf dem Handteller und sagte, nun wolle sie ihm mal zeigen, wie man mit einem Mädchen recht liebtäte. Daraufhin legte sie seinen Arm um ihre Taille, dann hob sie seine Hand und führte sie an ihre Brüste, und plötzlich fiel sie ihm unversehens um den Hals und wiederholte schweratmig durch ihre dünnen Naslöcher: »Guter Junge! Guter Junge!« in einem fort. Er trieb sich bis drei Uhr früh auf den kühlen, dunklen Straßen herum und erwartete sich wundern, was er in der Angelegenheit tun würde. Er kehrte in das schlafende Haus zurück und schlich auf den Strümpfen in ihr Zimmer. Angst und Ekel folgten unmittelbar. Er kletterte auf den Bergen herum, um seinen gequälten Geist zu befreien. Halbe Tage lang mied er das Heim. Sie stellte ihm durchs ganze Haus nach. Wenn er an ihrem Zimmer vorüberging, tat sich plötzlich die Tür auf, und sie stand in einem roten Kimono da. Sie wurde sehr gehässig und bitter, behauptete, daß er sie betrogen, entehrt und geprellt habe. Sie sagte, in ihrer Heimat, dem guten, alten Staat Südkarolina, würde ein Mann, der eine Dame so behandle, kurzerhand über den Haufen geschossen. Eugen dachte an neue Lande. Er war verzweifelt vor lauter Reue und Schuldbewußtsein; das Gefühl, sich erniedrigt zu haben, bedrückte ihn. Er legte sich Wort für Wort eine ausführliche Bitte um Vergebung zurecht und schloß diese Bitte in sein Nachtgebet ein. Er betete nämlich noch, nicht etwa aus ergebner Gottgläubigkeit, sondern aus dem Aberglauben in die Zahl und den Brauch. Er murmelte eine festgesetzte Formel sechzehnmal mit angehaltnem Atem herunter. Von Kind auf hatte er an die Zaubermacht von Zahlen geglaubt; so tat er zum Beispiel sonntags immer nur das zweite Ding, das ihm zu tun einfiel, und niemals das erste. Sein umständlich verzahntes Ritual von Zahl und Gebet hielt er immer noch mit sklavischer Treue ein, nicht etwa, um sich den Schöpfer aller Dinge günstig zu stimmen, sondern um eine geheimnishafte Bindung mit dem All herzustellen, und um der dämonischen Macht, die über ihm brütete, seine Verehrung kundzutun. Andernfalls konnte er nicht schlafen.
Eliza schöpfte schließlich Verdacht auf die Zahnarztsgattin, brach einen Streit vom Zaun und setzte sie hinaus.
Über seinen Plan, die Universität Harvard zu besuchen, wurde kaum gesprochen. Er selber sah keinen klaren Grund ein, warum er weiter studieren solle, und erst im September, ein paar Tage vor Beginn des Kollegienjahrs, faßte er den festen Entschluß hinzugehn. Er hatte zwar den ganzen Sommer schon gelegentlich die Sache erwähnt, aber wie alle Gants bedurfte er zu Entscheidungen des Drucks der Unmittelbarkeit. An mehreren Zeitungen im Staat und im Lehrkörper einer ziemlich heruntergekommenen Militärakademie, die zwei Meilen von Altamont entfernt auf einem Hügel lag, waren ihm Stellen angeboten worden. Im Grund wußte er genau, daß er weggehn würde. Und niemand erhob klaren Einspruch dagegen. Helene schimpfte sich mit Lukas weidlich aus, Eugen gegenüber aber beschränkte sie sich auf ein paar gleichgültige, abfällige Bemerkungen. Gant stöhnte grämlich und erklärte: »Meinetwegen kann er machen, was er will. Ich kann kein Geld mehr an seine Erziehung hängen. Wenn er durchaus hinwill, soll ihn seine Mutter schicken.« Eliza schürzte gedankenvoll die Lippe und kicherte neckisch:
»Hm! Harvard! Das heißt allerhand, Sohn. Wo willst Du denn das Geld hernehmen?«
»Ich kann es kriegen«, deutete er dunkel an. »Es gibt Leute, die es mir leihen werden.«
»Nein, nein, Sohn!« sagte sie, sofort von ernster Besorgnis erfüllt. »Ich wünsche nicht, daß Du so was tust. Du sollst nicht Dein Leben mit Schulden anfangen.«
Er schwieg.
Er mußte sich überwinden, um den furchtbaren Satz über die Lippen zu bringen:
»Warum kann ich eigentlich nicht auf meinen Anteil an Vaters Erbschaft studieren?«
»Aber Kind!« sagte Eliza ärgerlich. »Du sprichst, als wären wir Millionärsleute! Ich weiß nicht mal, ob da für irgend jemand ein Erbteil abfallen wird. Und überhaupt«, fügte sie mürrisch hinzu, »Dein Vater hat sich gegen sein beßres Urteil zu diesem Testament bereden lassen.«
Eugen wurde vom Jähzorn gepackt, er trommelte sich wild mit den Fäusten auf den Brustkasten.
»Ich will fort! Ich will fort! Jetzt! Laß Du mich gehn! Ich brauch das Geld nicht, wenn ich alt und verfault bin! Ich brauch es jetzt! Zum Teufel mit den Liegenschaften! Was nützen mich die dreckigen Grundstücke! Ich hasse den ganzen verdammten Bodenbesitz!«
Er war außer sich, verzweifelt, völlig von Sinnen, weil sein Plan vereitelt sein sollte. Er schrie: »Laß mich gehn!« Blind vor Wut schlug er seinen Kopf an die Wand.
Eliza schürzte die Lippe.
»Also«, sagte sie nach einer Weile, »ich werde Dich auf ein Jahr hinschicken. Dann wollen wir weitersehn.«
Zwei oder drei Tage vor seiner Abreise kam Lukas, der Gant am folgenden Tag nach Baltimore bringen sollte, und reichte Eugen ein in Maschinenschrift geschriebenes Dokument.
Mit dumpfem Verdacht sah Eugen das Papier an.
»Was ist es?« fragte er.
»Ach, nur 'ne kleine Förmlichkeit, die Hugo Dich zu erfüllen bittet, für den Fall, daß was passiert. Ein Verzicht.«
»Ein Verzicht auf was?« fragte Eugen und starrte das Blatt an.
Dann, als er langsam in den glattzüngigen Jargon der juridischen Diktion eindrang, sah er, daß es sich um eine Bestätigung handelte, darüber, daß er bereits sein väterliches Erbanteil von fünftausend Dollar in Form von Studienkosten empfangen habe. Er sah seinen Bruder mit heruntergerunzelter Stirn an. Lukas platzte in verrückte Wha-Whas aus und pokte ihn in die Rippen. Eugen grinste mürrisch und sagte:
»Gib mir Deinen Füllfederhalter!«
Er unterschrieb die Erklärung und gab mit einem Gefühl traurigen Triumphs das Schriftstück zurück.
»Wha! Wha!« Lukas wieherte witzlos. »Nun hast Du unterschrieben!« sagte er.
»Ja«, sagte Eugen. »Und Du hältst mich deswegen für einen Toren. Aber ich laß mich lieber jetzt von Euch beschummeln als später. Dieser Verzicht entbindet mich, nicht Euch!«
Er dachte an Hugo Bartons verschmitztes Fuchsgesicht. Diesem Typus war er nicht gewachsen, das wußte er. Und schließlich, sagte er sich, habe ich meine Eisenbahnfahrkarte in der Tasche und dazu das Geld für meine Flucht. Nun bin ich reinlich geschieden. Ein anständiger Abschluß für mich, wenn man alles in Betracht zieht.
Als der Vorfall zu Elizas Ohren kam, erhob sie aufs schärfste Einspruch.
»Aber hört doch!« sagte sie. »Ihr habt kein Recht, so was zu tun. Eugen ist noch nicht mündig, vor dem Gesetz ist er noch ein Kind. Und sein Vater hat immer behauptet, daß er ihm die Mittel zum Studium stiften würde!«
Dann, nach einer nachdenklichen Pause, sagte sie: »Also wir werden schon sehn. Jetzt hab ich versprochen, ihn auf ein Jahr zu schicken.«
In der Dunkelheit vorm Haus krallte sich Eugen an der Kehle. Er weinte um all die lieben Menschen, die nicht wiederkommen würden.
Eliza stand auf der Terrasse, die Hände lose überm Bauch gefaltet. Eugen verließ das Haus, um zur Stadt hinauf zu gehn. Es war Zwielicht. Es war der Abend vor seiner Abreise. Die Berge blühten auf in einem fremden, purpurblauen Dämmer. Eliza sah, wie Eugen wegging.
»Halt Dich grad! Halt Dich grad, Junge!« rief sie. »Nimm die Schultern zurück.«
Er spürte im Zwielicht, daß sie ihn mit wehleidig geschürzter Lippe anlächelte. Sie hörte wohl, wie er etwas vor sich hin brummte.
»Ej ja, Kind!« sagte sie und nickte lebhaft. »Ich an Deiner Stelle würde es den Leuten zeigen. Ich würde so auftreten, daß jedermann gleich auf den ersten Blick sähe, daß er jemand vor sich hat ... Sohn! ...« sagte sie darin ernsthaft, und ihre klägliche Neckerei schien vergessen. »Sohn, wirklich, es macht mir Sorge, daß Du Dich so krumm hältst. So sicher wie Du geboren bist, Du wirst Lungengeschichten kriegen, wenn Du so vornübergehängt gehst. Das muß man Deinem Vater lassen, er hielt sich immer kerzengrad ... natürlich kann er es jetzt nicht mehr so wie früher, denn Du weißt ja, wie die Leute so sagen, wenn man alt wird, wächst man nach unten ... aber als Dein Vater noch jung war, da war weit und breit kein Mann, der so aufrecht ging wie er.«
Dann trat jene furchtbare Stille zwischen ihnen ein. Er hatte sie mit verdrossener Miene angehört, nun hielt sie unschlüssig inne und sah mit einem weißen, zusammengezognen Gesicht forschend auf ihn herunter. Und in dieser Stille hörte Eugen hinter dem trivialen Vorwand ihres Geredes das bittre Lied ihres ganzen Lebens klingen.
Die wunderbaren Berge blühten auf im Dämmer. Eliza schürzte nachdenklich die Lippe. Nach einer Weile sagte sie:
»Also! Wenn Du da raufkommst, ins Yankeetum, wie die Leute so sagen, dann mußt Du Deinen Onkel Emerson und die ganze Verwandtschaft in Boston aufsuchen. Deine Tante Lucy mochte Dich so gern, als sie hier zu Besuch waren, sie sagten immer, sie würden sich sehr freuen, uns zu sehen, wenn eins von uns mal rauf in den Norden käme. Weißt Du, wenn man so als Fremder in ein fremdes Land kommt, dann ist es oft sehr, sehr gut, Bekannte zu haben. Und hör mal, noch was. Wenn Du Deinen Onkel Emerson besuchst, dann sag ihm, er solle nicht überrascht sein, wenn auch ich nun eines Tages vor der Tür stünde, ja, ja, in Boston mein' ich. (–Hier nickte sie keck. –) Wie die Dinge stehn, kann ich mir's jederzeit leisten, meinen Koffer zu packen und loszufahren, ohne daß ich irgend jemandem eine Erklärung darüber schuldig bin, verstehst Du? Ich denke gar nicht daran, mich mein Lebtag im Haus abzurackern, es macht sich nicht bezahlt. Wenn ich diesen Herbst ein paar Geschäfte abgeschlossen habe, mache ich mich vielleicht auf und guck mir mal die Welt an, wie ich es schon immer vorgehabt habe. Erst vor ein paar Tagen habe ich mit Cashel Rankin drüber gesprochen. – ›Ei, Mistress Gant‹, sagte er, ›wenn ich Ihren Geschäftsverstand hätt', dann war ich in fünf Jahren der reichste Mann in der Stadt; kein Mensch hier versteht sich besser auf den Handel als Sie‹, sagte er. – ›Hören Sie mir auf von Geschäften‹, sagte ich, wenn ich die Sachen, die ich jetzt in der Hand habe, los werde, dann denke ich überhaupt nicht mehr dran, mich um Grund und Boden zu bekümmern, und dann mögen meinetwegen die Leute von Häusern und Bauplätzen und Grundstücken und Liegenschaften reden, so lang es ihnen Spaß macht, ich werde ihnen dann einfach nicht mehr zuhören. Wissen Sie, Cashel‹, sagte ich zu ihm, ›wenns drauf und dran geht, können wir nichts mit uns nehmen, die Sterbehemden haben ja bekanntlich keine Taschen, und alles, was wir dann brauchen, sind sechs Kubikfuß Erde für ein Grab, und deswegen‹, sagte ich, ›habe ich mir die Sache überlegt, und ich denke daran, mich zurückzuziehen und das Leben noch ein bißchen zu genießen, ehe es, wie die Leute so sagen, zu spät dazu ist.‹ – ›Na also, so einen Standpunkt versteh ich vollkommen, Mistress Gant‹, sagte er. ›man kann Ihnen da wirklich keinen Vorwurf machen, im Gegenteil, Sie haben vollkommen recht, wir können wirklich nichts mit hinübernehmen, und außerdem, wenn wir es wirklich könnten, was würde es uns dann dort nützen?‹ – Also da siehst Du, Sohn, (– sie wandte sich mit plötzlich veränderter Miene und der altmächtigen, männlich-gelösten Handgebärde an ihn –) also, Sohn, und nun will ich Dir noch was sagen, was ich vorhabe. Du entsinnst Dich doch an das Baugrundstück in Sunset Crescent, von dem ich Dir sprach ...«
Und hier trat plötzlich die furchtbare Stille zwischen ihnen ein.
Die wunderbaren Berge blühten auf im Dämmer. Wir werden nicht wiederkommen. Wir werden nie wieder zurückkommen.
Wortlos sahen sie einander an, wortlos verstanden sie sich. Plötzlich wandte sich Eliza ab, und mit schwankenden, unstäten Schritten, ganz so, wie sie damals aus dem Zimmer, in dem der sterbende Ben lag, herausgetaumelt war, ging sie auf die Tür zu.
Eugen sprang über den Vorgartenpfad und nahm mit einem einzigen Satz die Stufen der Verandatreppe. Er riß die rauhen Hände, die sie über ihrem Leib gefaltet hatte, leidenschaftlich an sein Herz.
»Lebwohl!« murmelte er. »Lebwohl! Lebwohl, Mama!« Ein Schrei, fremd und wild wie der Schrei eines gepeinigten Tiers, entrang sich seiner Kehle. Seine Augen waren blind vor Tränen. Er versuchte zu sprechen, versuchte, seine Empfindung in Worte zu pressen: es drängte ihn, all den Schmerz, die Schönheit und das Wunder ihres Daseins auszusagen, und sich aussagend, in unglaublicher Rückerinnerung und innerer Schau, jeden Schritt der furchtbaren Reise bis heim in die Wohnung ihres Schoßes zu tun, – – – aber ihm fielen keine Worte ein, ihm konnten keine Worte einfallen, heiser vor Leidenschaft murmelte er nur immer wieder: »Lebwohl! Lebwohl!«
Sie verstand ihn, sie wußte alles, was er empfand und sagen wollte. Ihre kleinen, matten Augen standen voll Tränen, ihr Gesicht war zu einer schmerzenden Kummergrimasse verzogen, und sie wiederholte ein paarmal:
»Armes Kind! Armes Kind! Armes Kind!« Und dann flüsterte sie beklommen: »Wir müssen versuchen, einander zu lieben.«
Und dieser Leitsatz, furchtbar und schön, die letzte abschließende Weisheit, die die Erde vergönnt, kommt am Ende. Zu spät wird ihrer gedacht, zu spät wird sie ausgesagt und in Trübsal. Unbezichtigt und ehrfurchtgebietend steht dieses Wort über dem staubaufwirbelnden Lärm unsrer Leben. Kein Vergessen. Kein Verzeihen. Kein Leugnen. Keine Erklärung. Kein Haß.
O Du sterbliche und vergängliche Liebe, die Du mit diesem Fleisch geboren bist, und die Du sterben wirst mit diesem Hirn: immer und ewig wird Dein Gedenken auf Erden umgehn.
Und nun die Ausreise. Wohin?