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In der Prozession der Jahre, in denen die Geschichte der Familie Gant sich vollzog, sind nur wenige mit Schmerz, Schrecknis und Elend so beladen gewesen wie das, mit dem das 20. Jahrhundert begann. 1900 wurde Gant fünfzig. Er wußte, daß er halb so alt war wie das ausgegangne Jahrhundert, daß Menschen nur selten ein Jahrhundert alt werden. Eliza, die mit dem letzten Kind, das sie gebären sollte, schwanger ging, überstand ihre letzte verzweifelte Angst. In der üppigen Dunkelheit von Sommernächten, als sie ausgestreckt, die Hände auf dem verschwollenen Leib, im Bett lag, begann sie, ihr Leben für die Jahre, in denen sie nicht mehr Mutter werden würde, zu planen. Der Golf, an dessen gegenüberliegenden Küsten ihr und Olivers Leben gegründet waren, lag weit offen vor ihr. Mit unendlicher Geduld und instinktiv prophetischer Gefaßtheit spähte sie aus.
Die fast buddhistische Stille ihres Wesens, die sie weder unterdrücken noch verleugnen konnte, brachte Gant, da er sie am wenigsten verstehen konnte, am meisten in Wut. Er war fünfzig, war sich seines Alters tragisch bewußt. Er sah, daß die leidenschaftliche Fülle der Lebenskraft für ihn entschwand, und benahm sich sinnlos wie ein gereiztes Biest. Eliza hatte vielleicht mehr Grund zur Stille als er. Sie hatte von Kind auf Schweres durchgemacht, hatte in der Ehe Tod und Elend, Kinderkriegen und Krankheit überstanden. Nun war sie zweiundvierzig. Das letzte Kind regte sich in ihrem Leib. Sie war abergläubisch davon überzeugt – und die blinde Eitelkeit der Pentlands, die aller Welt Ende, nur nicht das ihrer Sippe, voraussahen, bestätigte sie hierin –, daß sie zu etwas Besonderem bestimmt sei.
Da lag sie in ihrem Bett und sah durchs Fenster einen großen Stern am Westhimmel brennen. Sie bildete sich ein, daß der Stern langsam steige. Und obschon sie unmöglich zu sagen vermocht hatte, zu welchem Gipfel ihr Leben nun führte, so sah sie doch in der ungekannten zukünftigen Freiheit die Fülle von Besitz und Wohlstand für sich. Die Lust danach brannte ihr unauslöschlich im Blut. Sie erging sich in der Vorstellung, sie schürzte die Lippe im Dunkeln, sie schaute sich selber im Geiste, wie sie im Karneval des Lebens aus den Händen der Narrheit leichthin das Gut nahm, das noch nie ein Mensch zu halten wußte.
»Ich werd' es kriegen, ich werd' es kriegen!« dachte sie. »Will hat es. Jim hat es. Und ich bin gescheiter als sie.« Mit bitterem, peinigendem Bedauern dachte sie an Gant. »Schauderhaft! Nicht einen Nickel hätte er, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Um jede Kleinigkeit habe ich kämpfen müssen. Sonst hätten wir nicht einmal ein eignes Dach überm Kopf und müßten auf unsre alten Tage in Miete wohnen.« In Miete wohnen müssen aber war für sie die endgültige Schande, die Verschwender und unfürsorgliche Menschen befällt.
»Für das Geld allein, das er jährlich für Whisky ausgibt«, dachte sie weiter, »könnte man einen schönen Bauplatz kaufen. Ach, wir könnten es zu wahrem Wohlstand gebracht haben, wenn wir gleich angefangen hätten. Aber er hat immer schon den bloßen Gedanken an Besitz gehaßt. Er sagte mir einmal, er könne ihn nicht ertragen, seit er bei dem Handel in Sidney all sein Geld verlor. Wenn ich nur damals schon bei ihm gewesen wäre! Meinen letzten Dollar will ich wetten, daß die andern statt seiner verloren hätten«, fügte sie trotzig hinzu.
Da lag sie, die Frühherbstwinde fegten mit dem Rauschen ferner großer Bäume und welkem Laub ins nächtige Tal. Sie dachte an den Fremdling, der in ihrem Leib zu leben begonnen hatte, und an den anderen Fremdling, den Urheber von so viel Leid, der nun fast zwanzig Jahre mit ihr gelebt hatte. So oft ihre Gedanken auf Gant kamen, spürte sie ein schmerzlich-elementares Wundern über die wüste offne Fehde und den großen heimlichen Kampf, den ihre Habgier gegen seinen unverständlichen Haß auf Besitz führte. »Ich schwör' es«, flüsterte sie, »einen solchen Menschen gibt es nicht zweimal.« An ihrem Endsieg zweifelte sie nicht.
Gant stand dem Abklingen seiner sinnlichen Genußfähigkeit gegenüber. Er merkte, daß dem Unmaß im Essen, Trinken und Lieben nun Dämme gesetzt waren, und wußte um keinen Gewinn, der diese Einbuße aufwiegen könne. Audi er spürte den Stachel der Reue. Er hatte Kraft vergeudet. Er hatte gute Gelegenheiten – zum Beispiel die Partnerschaft mit Will Pentland, die ihm Ansehen und Reichtum gebracht hätte – verpaßt. Die besten Jahre seines Lebens waren vertan. Mehr denn je empfand er die Fremdheit und Einsamkeit unsres kleinen Abenteuers auf Erden. Er dachte zurück an seine Kindheit auf der Farm bei den Pennsylvania-Deutschen, an seine Lehrzeit in Baltimore, an seine ziellosen Wanderjahre über den Kontinent, an die auffallende Verknüpfung seines Daseins mit einer Kette von Zufällen. Die riesenhafte Tragödie des Zufalls hing wie eine graue Wolke über ihm. Klarer denn je sah er ein, daß er fremd unter Fremden in der Fremde lebte. Am fremdesten aber kam ihm seine Ehe vor, in der er Kinder, abhängiges Leben, gezeugt hatte, diese Verbindung mit einer Frau, die ihm so völlig wesensfern war.
Er wußte nicht, ob das Jahr 1900 einen Anfang oder ein Ende für ihn bedeute. Mit der bekannten Schwäche des Sensualisten beschloß er, es als ein Ende zu betrachten und die Reste der Lebenskraft in einer lodernden Flamme zu verbrennen. In der ersten Hälfte des Januar zeugte er ein Kind. Im Frühling, als Elizas Schwangerschaft offenbar war, stürzte er sich in eine heftige Whiskyorgie, mit der verglichen selbst seine sechzehnwöchige Sauferei im Jahre 1896 nichts war. Tag um Tag war er wahnsinnig besoffen, die Trunksucht artete in dauernde Raserei aus. Im Mai schickte ihn Eliza in eine Heilstätte in Piedmont. Die Kur bestand darin, daß er sechs Wochen lang schlechtes billiges Essen bekam und jeglichem Alkohol ferngehalten wurde. Er kam Ende Juni zurück, äußerlich gebessert, innerlich wütend vor Hunger und Durst.
Am Tag vor seiner Heimkehr ging die hochschwangere Eliza mit entschlossenem Gesicht in jede der vierzehn Bars im Städtchen, suchte den Eigentümer oder Schankhalter hinter der Theke auf und sprach laut und vernehmlich vor der dumpfen Gesellschaft der Gäste:
»Hören Sie, ich bin hereingekommen, um Ihnen zu sagen, daß Mister Gant morgen zurückkehrt, und ich möchte Sie alle wissen lassen, daß ich jeden, der ihm etwas ausschenkt, vor Gericht und ins Gefängnis bringen werde!«
Diese Drohung, das wußten sie alle, war hochstaplerisch. Aber das strenge weiße Gesicht, die gedankenvoll geschürzte Lippe, die männisch-gehaltene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger verliehen der Ankündigung einen unheimlichen Nachdruck. Bierdumpf hörten die Männer sie an; höchstens daß einer oder der andre eine überraschende Zustimmung ihr nachmurmelte, während sie hinausging.
»Wahrhaftiger Gott!« bemerkte ein Mann aus dem Gebirg und sandte einen langen Kautabakspritzer aus dem Mundwinkel in den hohen Messingspucknapf, »die wär dazu imstand! Die macht Ernst.«
»Teufel auch«, sagte Tim O'Donnell und wackelte komisch mit seinem Affenkopf hinterm Schanktisch, »ich würde mich nicht trauen, dem Gant was auszuschenken, und wenn der Whisky nur fünfzehn Cents das Quart wäre und es säßen keine Zeugen dabei. Ist sie weg?«
Die Männer lachten angeheitert und laut.
»Wer ist sie?« fragte jemand.
»Will Pentlands Schwester.«
»Bei Gott, dann macht sie Ernst!« riefen mehrere, und die Bar dröhnte vor Gelächter.
Will Pentland saß in Loughrams Bar, als Eliza eintrat. Sie grüßte ihn nicht. Als sie hinausgegangen war, wandte er sich an einen der Herumsitzenden und bemerkte nach einem vogelhaften Nicken und Zwinkern:
»Ich wette, daß Sie das nicht fertigbrächten.«
Dem heimgekehrten Gant wurde in den Bars nichts ausgeschenkt. Er tobte vor Wut. Natürlich war es ihm ein leichtes, sich Whisky holen zu lassen: er schickte einen Fuhrmann, der bei ihm zu tun hatte, oder irgendeinen Neger danach. Aber er war mit den Jahren, obschon er wußte, daß sein Benehmen eine klassische Mythe für die Kinder im Städtchen war, äußerst empfindlich für jeden Hinweis auf seinen Leumund geworden. Auch schämte er sich insgeheim seiner Trunksucht, besonders wenn er verkatert war. Nun war sein Stolz aufs bitterste verletzt. Er schrie, daß Eliza ihn böswillig vor aller Öffentlichkeit herabgesetzt und gedemütigt hätte, und schimpfte maßlos mit ihr.
Den ganzen Sommer lebte Eliza in einer weißen, ahnungsvollen Stille dahin. Sie war nun schon an die Schrecken gewöhnt. Mit furchtbarer Ruhe erwartete sie allabendlich die Wiederkehr ihrer Angst. Gant, den ihre Schwangerschaft verdroß, ging jeden Abend in Elisabeths Freudenhaus in Eagle Crescent, wo er dann in später Stunde von ein paar verbrauchten und erschreckten Huren der Obhut seines ältesten Sohns Steve übergeben wurde. Steve verstand bereits, mit den Weibsleuten dieses Distrikts frech und frei umzugehen. Sie verhöhnten ihn mit vulgärer Gutmütigkeit, lachten über seine schlüpfrigen Anspielungen und machten sich nichts daraus, wenn er ihnen einen festen Klaps auf den Hintern gab und dann ihren plumpen Haschversuchen gewandt entschlüpfte.
»Junge, Junge«, sagte Elisabeth und gab Gants Kopf einen Stoß, daß er wackelte, »gib ja acht, daß Du nicht nach diesem alten Gockel gerätst. Er kann auch ganz nett sein, wenn er sich Müh gibt«, fuhr sie fort, und während sie Gant auf die Glatze küßte, ließ sie die gefüllte Brieftasche, die er ihr zuvor in heftig aufwallender Freigebigkeit geschenkt hatte, in Steves Hand gleiten. Sie nahm's mit der Ehrlichkeit sehr genau.
Steve wurde auf diesen Gängen meist von Jannadeau und dem Neger Tom Flack, einem Kutscher, begleitet. Die beiden pflegten vor dem Gattertor zu warten, bis der Radau anzeigte, daß Gant zum Aufbruch bewegt worden war. Sie brachten ihn durch die allzu stillen Stadtstraßen heim. Manchmal ging Gant schwerfällig und fluchte pathetisch auf seine Begleiter. Manchmal war er jovial und willfährig und grölte ein unanständiges Lied:
»Droben im Hinterzimmer
Ja, da droben, ihr Buben
Hüpfen die Wanzen und Flöh ...«
Zu Hause angekommen, ließ er sich die Verandatreppe hinaufhelfen und zu Bett bringen. Manchmal aber war er nicht zurückzuhalten; dann suchte er das abgeschlossene Schlafzimmer Elizas auf und tobte vor der Tür. Er beschimpfte sie aufs gemeinste, er bezichtigte sie sogar der Unkeuschheit, denn mit dem Abflauen der geschlechtlichen Lebenskraft stiegen dunkle, neidische Verdachte in ihm auf. Die furchtsame Daisy floh dann in eines der Nachbarhäuser, zu Sudie Isaacs oder zu den Tarkintons. Die zehnjährige Helene aber, das Kind, das er am meisten liebte, meisterte ihn. Sie löffelte ihm heiße Suppe ein, und wenn er sich störrisch anstellte, ohrfeigte sie ihn fest mit ihrer kleinen Hand.
»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«
So etwas gefiel ihm ungemein. Diese Tochter und er waren aus demselben Holz geschnitzt.
Manchmal nahm er überhaupt keine Vernunft an. Völlig von Sinnen, wie er dann war, schichtete er ein großes Holzfeuer im offnen Kamin des Wohnzimmers, goß Petroleum aus einer Kanne auf die lodernden Scheite und spuckte wild in die aufzischenden Flammen. Dazu sang er, bis er es müde wurde, oft dreiviertel Stunden lang, etwa dies:
»Ohe! Goddam, Goddam,
Goddam, Goddam,
Oho! Goddam, Goddam,
Goddam, Goddam«
meist in dem langgezogenen Tonfall, in dem Uhren die ganze Stunde schlagen.
Draußen auf dem Zaun hockten wie Affen Sandy und Fergus Duncan, Seth Tarkinton ... – manchmal machten auch Ben und Grover den Spaß mit – und sangen als Gegenstrophe:
»Der alte Gant
Besoffen kommt er,
Besoffen kommt er,
Kommt er nach Haus.«
In der guten Stube der Nachbarin weinte Daisy vor Scham und Angst. Helene aber, das kleine, schmächtige, zornige Wesen, gab nicht nach. Schließlich bequemte Gant sich in einen Sessel und nahm grinsend heiße Suppe und feste Ohrfeigen von ihr an. Droben lag Eliza mit bleichem, aufmerksam gespanntem Gesicht.
Der Sommer ging. Es war Ende September. Fern blies der Wind. Die letzten Trauben hingen in runzligen und angefaulten Perkeln an den Rebstöcken.
Eines Abends stellte der vertrocknete Doktor Cardiac beim Weggehn fest: »Morgen abend, denk ich, wird wohl die ganze Sache vorüber sein.« Eine tüchtige, ländliche Hebamme in mittleren Jahren blieb im Haus zurück.
Um acht Uhr kam Gant allein nach Haus. Steve hatte dableiben müssen, um für Eliza, falls es nötig sein würde, Botengänge zu tun. Niemand kümmerte sich um den Hausherrn; die Aufmerksamkeit galt Eliza, die in den Wehen lag.
Drunten im Wohnzimmer sang Gant mit voller Stimme Obszönitäten, so daß es bis zu den Nachbarn schallte. Als Eliza das plötzliche wilde Aufzischen der Flammen im Kamin hörte, winkte sie Steve zu sich ans Bett:
»Er wird das Haus in Brand stecken, Steve«, flüsterte sie heiser.
Sie hörten, wie unten ein Stuhl umgeschmissen wurde, und Gants Fluch. Sie hörten, wie er mit schwerem Schritt durchs Speisezimmer und über die Diele stapfte, wie die Treppenstufen knarrten und sein Körper gegen das Geländer krachte.
»Er kommt 'rauf, Steve, er kommt 'rauf! Schließ die Tür ab!«
Steve schloß die Tür ab.
»Sind Sie drinnen?« brüllte Gant und trommelte mit seinen großen Fäusten an die Tür. »Miss Eliza! Sind Sie drinnen?« heulte er. Er hatte die Angewohnheit, sie in solchen Augenblicken ironisch als »Miss« anzusprechen.
»Das hätte ich nicht gedacht ...«, fing er mit hochstaplerischer Rhetorik an, »... das hätte ich nicht gedacht, als ich Sie vor achtzehn bittern Jahren das erstemal sah, als Sie mir wie eine Schlange auf dem Bauche kriechend entgegenkamen ...« und endete lahm, »... das hätte ich nicht gedacht, daß es dazu käme.« Er wartete auf eine Antwort. Er wußte, daß sie still mit weißem Gesicht hinter der Tür lag. Er barst fast vor Wut, denn er wußte genau, daß sie ihm nicht antworten würde.
»Bist du da?« brüllte er. »Ich frage, ob Du da bist, Weib?« Er bombardierte die Tür mit Fausthieben.
Da war nichts als weiße, lebendige Stille.
»Weh mir! Weh! Weh!« stöhnte er selbstmitleidig auf. Er brach in erzwungenes, dumpfes Seufzen aus. »Gnädiger Gott«, weinte er. »Es ist furchtbar. Es ist entsetzlich. Es ist grausam. Was habe ich getan, daß Gott mich so heimsucht?«
Keine Antwort kam.
»Cynthia! Cynthia!« heulte er plötzlich auf. Er meinte seine erste Frau, jene dürre, tuberkulöse alte Jungfer, deren Leben seine Aufführung angeblich nicht verlängert hatte, deren Gedächtnis er aber nun, um Eliza zu kränken, gerne anzurufen pflegte. »Cynthia! o Cynthia! Blicke herab auf mich in dieser Stunde der Not! Sende mir Kräfte! Leihe mir Beistand! Schütze mich vor dieser Teufelin! Steige hernieder und rette mich! Ich verderbe!! Ich flehe Dich an, ich bitte Dich, ich beschwör Dich um Hilfe!«
Es blieb still.
Er nahm seine Klage wieder auf. Er variierte das Thema. »Undankbar seid ihr! Undankbarer als die wilden Tiere des Walds. Gott im Himmel wird Euch strafen. Tretet den alten Mann! Schlagt ihn! Werft ihn auf die Straße! Schleift seine müden Knochen über das Pflaster! Schickt ihn ins Armenhaus! Zum Geldverdienen taugt er nichts mehr. Ah, ah! Du sollst Deinen Vater ehren, auf daß Du lange lebest in dem Land, das Dir der Herr, Dein Gott, gibt.« Dann zitierte er pathetisch unter schnupfendumpfen, burlesken Seufzern Mark Antons Anklagerede aus Shakespeares Julius Cäsar.
In diesem Augenblick sagte die Nachbarin, Mistress Duncan, zu ihrem Gatten: »Jimmy, Du mußt rübergehen. Er rast wieder, und sie steht vor der Entbindung.«
Der Schotte Duncan schob seinen Stuhl zurück und verließ festen Schritts das warme Behagen des wohlgeordneten Familienlebens samt dem Geruch von frischgebacknem Brot. Am Gittertor vor Gants Hause traf er den geduldigen Jannadeau, den Ben geholt hatte. Sie tauschten ein paar sachliche Bemerkungen aus. Als sie im Haus ein lautes Krachen und den entsetzten Aufschrei einer Frau hörten, stürmten sie die Verandatreppe hinauf. Eliza öffnete ihnen die Haustür. Sie war im Nachthemd.
»Schnell! Schnell!« flüsterte sie.
Gant stürzte die Treppe herunter und fiel. »Bei Gott! Ich bring sie um!« schrie er. »Ich bring sie um. Ich mache Schluß mit meiner Misere.«
Er hatte einen schweren Schürhaken in der Hand. Duncan und Jannadeau packten ihn und hielten ihn fest. Der stämmige Schweizer entwand ihm den Schürhaken mit festem Griff.
Steve kam gerade die Treppe herunter. »Mutter!« rief er, »er hat sich den Kopf an der Bettstelle aufgeschlagen.« Es stimmte. Gant blutete am Kopf.
»Geh und hol Deinen Onkel Will, Steve!« befahl Eliza. Steve sauste ab wie ein Jagdhund.
»Es war ihm Ernst mit dem Umbringen diesmal«, flüsterte Eliza.
Duncan machte die Haustür zu, um die Gaffer, die sich vor dem Tor versammelt hatten, auszuschließen. »Sie werden sich erkälten, Mistress Gant«, bemerkte er.
»Lassen Sie ihn nicht an mich!« wimmerte Eliza verzweifelt.
»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte der Schotte fest.
Schwerfällig stieg sie die Treppe hinauf. Auf der zweiten Stufe brach sie in die Knie. Die Hebamme, die sich im Badezimmer eingesperrt hatte, kam heraus und war ihr behilflich. Auf sie und Grover gestützt schleppte Eliza sich in ihr Zimmer zurück. Draußen ließ sich Ben von dem niederen Verandadach auf das Lilienbeet herunterfallen. Seth Tarkinton, der auf dem Drahtzaun saß, rief ihm vergnügt »Hallo« zu.
Gant, ein wenig verdutzt, ließ sich von den beiden Männern zu einem Schaukelstuhl führen. Er streckte alle Glieder von sich; sie zogen ihm die Kleider aus. Helene war bereits in der Küche; nun erschien sie mit kochend heißer Suppe. Ein Leuchten kam in Gants Augen, als er sie erblickte.
»Mein Lenchen«, dröhnte er und machte eine leere Armbewegung in der Luft. »Wie geht's Dir, mein Kind?« Sie stellte die Suppe nieder. Er umarmte sie. Er drückte ihren schmächtigen Körper an sich, rieb seinen borstigen Schnurrbart an ihren Wangen, blies ihr seinen faulen, widerlichen Whiskyatem ins Gesicht.
»Ach! Er hat sich geschnitten!« Die Kleine weinte fast.
»Ja, schau nur, wie sie mit mir umgegangen sind«, greinte Gant und betastete die Wunde.
Will Pentland, echtgeborner Sohn jener Sippe, die immer zusammenhält und einander nur in Zeiten von Tod, Pestilenz und Terror besucht, kam herein.
»Guten Abend, Mister Pentland«, sagte Duncan.
Will grüßte die beiden Nachbarn gutmütig. »Na, es geht zum Aushalten«, bemerkte er. Er stellte sich vors Kaminfeuer und schnipselte nachdenklich mit einem scharfen Messer an seinen stumpfen Nägeln herum. Sein Grundsatz war, daß niemand die Gedanken eines Mannes, der an seinen Fingernägeln herumschnipselt, erraten könne. Er pflegte es stets in Gesellschaft zu tun.
Wills Anblick hatte Gant sofort aus seiner Lethargie hochgerissen. Er haßte die Pentlandsippe. Er haßte ihre schnippische Gefaßtheit, ihre unaufhörliche Witzelei, ihre Geschäftstüchtigkeit.
»Bankerte aus dem Gebirg! Elendes Geschmeiß! Gemeinstes Gezücht!« brüllte er.
»Aber Mister Gant!« beschwichtigte Jannadeau flehentlich.
»Was ist los mit Dir, Schwager?« fragte Will und sah unschuldig von seinen Fingernägeln auf. »Hast Du vielleicht was Unverträgliches gegessen?« Er zwinkerte keck zu Duncan hinüber und machte sich wieder an seine Fingernägel.
»Dein elender alter Vater«, heulte Gant, »ist auf dem Stadtplatz öffentlich ausgepeitscht worden, weil er seine Schulden nicht bezahlt hat.« Dies war eine völlig aus der Luft gegriffne Behauptung, die sich irgendwie in Gants Kopf als Wahrheit festgesetzt hatte. Er brachte sie bei allen möglichen Gelegenheiten vor, vermutlich weil die Vorstellung ihm eine wahre Herzensbefriedigung war.
Will konnte es sich nicht versagen, auf diese Eröffnung einzugehn. »So? Ausgepeitscht worden ist er? Hier auf dem Stadtplatz? Ei, ei! Das müssen sie aber streng geheim gehalten haben, nicht?« Er verzog die Mundwinkel und fuhr fort, an seinen Fingernägeln zu schaben.
»Aber etwas will ich Dir von ihm sagen«, bemerkte er nach einer Weile. »Er hat seine Frau eines natürlichen Todes im Bett sterben lassen. Er hat nie auch nur den Versuch gemacht, sie umzubringen.«
»Nein! Bei Gott nein!« brüllte Gant dagegen. »Er hat sie verhungern lassen. Wenn die alte Frau je eine anständige Mahlzeit bekam, dann war es sicher hier an meinem Tisch. Sie hätte zweimal zur Hölle und zurück laufen müssen, ehe sie eine vom alten Tom Pentland oder einem seiner Söhne bekam.«
Will klappte sein Taschenmesser zusammen und steckte es ein.
»Der alte Pentland hat in seinem ganzen Leben nicht einen Tag ehrlich gearbeitet!« schrie Gant gellend.
»Ruhig, seien Sie doch ruhig! Mister Gant!« mahnte Duncan vorwurfsvoll.
»Still, still!« zischte Helene energisch. Sie trat mit der Suppe vor ihn hin und hielt ihm einen Löffelvoll an die Lippen. Gant wandte sich weg. Er wollte eine neue Beleidigung hervorstoßen und verschüttete den Löffelvoll. Sie schlug ihm fest auf den Mund.
»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«
Er grinste demütig. Sein Blick ruhte lange auf ihr, während er sich die Suppe einlöffeln ließ.
Will Pentland sah Helene eine Weile aufmerksam zu. Dann warf er nickend und zwinkernd einen Blick auf Duncan und Jannadeau. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Zimmer. Er ging nach oben. Eliza lag weiß und still zu Bett.
»Nun, Eliza, wie geht's?«
Das Zimmer roch stark nach morschen Birnen. Ein Feuer aus Tannenknüppeln brannte ausnahmsweise im Kamin. Will stellte sich davor und arbeitete an seinen Fingernägeln.
Eliza brach unvermittelt in Tränen aus. »Kein Mensch ahnt auch nur, was ich durchgemacht habe.« Sie trocknete sich die Augen mit einem Zipfel der Bettdecke. Ihre breitangesetzte Nase ragte feuerrot aus dem bleichen Gesicht.
»Hast Du was Gutes zu futtern?« fragte Will gierig und zwinkerte wie ein Clown.
»Nebenan in der Kammer liegen Birnen auf dem Gestell. Vorige Woche gebrochen. Ich hob sie auf, daß sie mürbe werden.«
Er ging hinaus, kam gleich mit einer großen gelben Birne zurück, trat vors Feuer, klappte die kleine Klinge seines Taschenmessers auf.
»Das ist mehr als ich aushalten kann. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Du kannst getrost Deinen letzten Dollar wetten, daß ich das nicht mehr lang mitmach'«, sagte Eliza ruhig nach einer Weile.
Will schwieg. »Ich kann mich selbst durchschlagen«, setzte sie trocken hinzu in jenem Ton, den Will gut an ihr kannte.
Er stand im Begriff, ihr ein großzügiges Angebot zu machen. »Schau her, Eliza«, begann er, »wenn Du an Bauen denkst, da könnte ich Dir ...« – hier bremste er noch rechtzeitig und schloß: »ja, da könnte ich Dir das Baumaterial zum billigsten Preis geben.« Er schob schnell einen Birnenschnitz in den Mund.
Sie schürzte mehrmals rasch hintereinander die Lippen.
»Nein«, entschied sie, »es ist noch nicht so weit, Will. Wenn es dazu kommt, kriegst Du Bescheid.«
Das Holzfeuer im Kamin rutschte leise zusammen.
»Ja, dann kriegst Du Bescheid«, versicherte sie nochmals.
Will klappte sein Taschenmesser zu und steckte es in die Hosentasche.
»Gutnacht also, Eliza«, sagte er. »Pett wird morgen mal nach Dir gucken. Ich werde ihr ausrichten, daß es gut um Dich steht.«
Will verließ leise das Haus. Im Vorgarten traf er Duncan und Jannadeau.
»Wie geht's ihm?« erkundigte er sich.
»Tadellos jetzt«, versicherte Duncan vergnügt. »Er schläft tief und fest.«
»Den Schlaf des Gerechten?« fragte Will zwinkernd.
Der Schweizer fühlte sich durch den Spott auf seinen Titanen verletzt. »Jammerjammerschade«, gurgelte er, »daß Mister Gant trinkt. Er hätte es weit gebracht mit seinem Verstand. Wenn er nüchtern ist, dann gibt's keinen feineren Kerl als ihn.«
»So? Wenn er nüchtern ist?« Will zwinkerte im Dunkeln. »Na, und wenn er schläft?«
»Es ist alles sofort in Ordnung, sobald ihn Helene in die Hand bekommt«, sagte Duncans tiefe volle Stimme. »Erstaunlich, was das Mädel mit ihm vermag.«
»Ja, ja«, kicherte Jannadeau, »das Kind kennt sich am besten mit ihm aus.«
Helene saß im Lehnstuhl und las, bis das Feuer heruntergebrannt war. Dann schaufelte sie leise Asche auf die Glut. Gant lag auf dem Sofa in klaftertiefem Schlaf. Sie hatte ihn in einen Wollkolter eingewickelt. Nun legte sie ein Kissen auf einen Stuhl, schob den Stuhl ans Fußende des Sofas und legte seine Füße darauf. Er stank übel, nach Whisky. Er schnarchte, daß die Fenster schepperten.
So, in Vergessenheit versunken, verging ihm die Nacht. Er verschlief die kreißenden Wehen, die Eliza um zwei Uhr befielen. Er verschlief all die Mühe, die Geduld, die Qual des Arztes, der Hebamme, der Wöchnerin.