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XXXVIII

Drei Wochen nach Eugens Rückkehr auf die Universität endete der Krieg. Die Studenten zogen fluchend die Uniformen aus, läuteten die große Bronzeglocke, machten ein mächtiges Freudenfeuer auf dem Kampus und tanzten drumherum wie Derwische.

Allmählich dann gehörte das Leben wieder den Zivilisten. Dem Winter ward das graue Rückgrat gebrochen, und der Frühling drang durch.

Eugen war ein großer Mann auf dem Kampus der kleinen Universität. Er tummelte sich übermütig im Strudel des Lebens, das ihn umgab. Freudenschreie fuhren aus seiner Kehle: Der Frühling war wiedergekommen über das ganze Land. Die jungen Männer waren zurückgekehrt auf den Kampus. Die Bäume schlugen aus, kleinfiedrig, in einem zarten Hauchgrün leuchtete das Laub. Glockenhafte Narzissen sproßten aus fettem, schwarzem Grund. Pfirsichblüten fielen auf schrillgrüne Inseln aus jungem Gras. Allenthalben war das Leben: es war wiedergekommen, es war wieder erwacht, es lebte wieder. Freudig und sieghaft dachte Eugen an die Blumen auf Bens Grab.

Er war maßlos verzückt, weil der Frühling den Tod überwunden hatte. Der Schmerz um Ben sank in verschollne Tiefen. Leben und Bewegung stießen ihn voran. Er ging nicht, er hüpfte in großen Sätzen. Er trat überall bei und machte überall mit, wo er zuvor nicht beigetreten war und mitgemacht hatte. Er hielt witzige Reden in der Kapelle, in Raucherkollegien, bei allen möglichen akademischen Zusammenkünften. Er gab die Universitätszeitung heraus, er schrieb Gedichte und Kurzgeschichten – rastlos, rückhaltlos lebte er sich aus.

Manchmal abends sauste er neben einem besoffnen Chauffeur über Land, nach Exeter oder Sydney, und besuchte dort die Weiber hinter den Gitterfenstern, rief ihnen im frischen Frühlingszwielicht den Bocksruf seines gierigen, jungen Hungers zu.

Lily! Louise! Ruth! Ellen! O Mutter der Liebe, Du Wiege des Wesens und Werdens, wie auch immer Deine Billionen Namen lauten, ich komm, Dein Sohn, Dein Liebhaber, ich komm! Steh Maya, in der offnen Tür Deines Hauses im Dschungellabyrinth der Niggerstadt und erwarte mich, ich komm!

 

Manchmal im Vorübergehn hörte er, wie die jungen Studenten auf ihren Buden von Eugen Gant sprachen. Eugen Gant war verrückt, Eugen Gant war wahnsinnig. Ach, ich, dachte er, bin Eugen Gant!

Drinnen sagte jemand: »Er hat seine Unterwäsche seit sechs Wochen nicht gewechselt. Einer aus seiner Bruderschaft hat es mir erzählt.« Ein andrer ließ sich vernehmen: »Monatlich einmal nimmt er ein Bad, gleichgültig ob er es braucht oder nicht.« Sie lachten. Dann behauptete einer, er wäre »brillant«, und hierin stimmten sie alle überein.

Er krallte sich an der Gurgel. Sie reden von mir, von mir! Ich bin Eugen Gant, der Eroberer von Nationen, der Herr der Erde, der Schiwa der tausend schönen Formen.

In seelischer Nacktheit und Einsamkeit schritt er die Straßen entlang. Niemand sagte: Ich kenne Dich. Niemand sagte: Ich bin da. Das große Lebensrad, dessen Nabe er war, raste um.

 

Man hält sich meist für einen Mordskerl, dachte Eugen. Ich zum Beispiel halte mich dafür. Aber als er leise die dunklen Kampuspfade entlang strich und die jungen Studenten in den Dormitorien von Eugen Gant reden hörte, fauchte er vor Selbsthaß und hätte sich am liebsten das Gesicht blutig gekratzt.

Da bilde ich mir ein, ich war ein Mordskerl und die andern behaupten, daß ich stinke, weil ich nicht gebadet habe. Aber nur die andern stinken. Mein Schmutz ist besser als ihre Sauberkeit. Das Gewebe meines Fleisches ist feiner. Mein Blut ist ein köstliches Elixier. Das Haar auf meinem Haupt und das Mark in meinem Rückgrat, alle meine Knochen und Flexen und Sehnen, mein Speichel und mein Schweiß sind mit selteneren Elementen gemischt und sind besser und feiner als das Fleisch dieser groben Bauernochsen.

 

Er hatte in diesem Jahr einen kleinen Hautausschlag im Genick bekommen, einen juckenden, schuppenden Ekzemflecken, – ein Zeichen seiner Verwandtschaft mit den Pentlands, ein Zeichen seiner Verwandtschaft mit der großen Kränke des Lebens. Er kratzte sich wie ein Verrückter, brannte den Flecken bis sich Blasen zeigten mit Karbolsäure, – der Ausschlag blieb. Es war, als nährte ihn ein unausrottbarer Aussatz seines Bluts. Manchmal, bei kühlem Wetter, verschwand der Flecken fast ganz, aber sobald es wieder heiß wurde, brach die Wunde aufs neue auf, und Eugen kratzte sich das Genick rot vor Qual.

Es war ihm peinlich, Leute hinter sich hergehen zu lassen. Wenn es irgend möglich war, saß er mit dem Rücken gegen die Wand. Ging er in Gesellschaft eine Treppe runter, dann zog er verzweifelt die Schultern hoch, um den furchtbaren Flecken mit dem Rockkragen zu verdecken. Er ließ sich die Haare lang wachsen, um die Wunde zu verbergen und aus Scham vor dem Barbier.

Die Vorstellung einer fleckenlosen Jugend trieb ihn manchmal fast zum Wahnsinn. Er fürchtete sich vor der laut zur Schau gestellten guten Gesundheit Amerikas, die in Wirklichkeit eine Kränke ist, weil niemand sich traut zuzugeben, daß er wunde Stellen am Leib hat. Er schrak zurück vorm Andenken seiner verlornen Phantasiehelden, er dachte an Bruce-Eugen und an all die tausend andern romantischen Wunschbilder, und es schien ihm schlichthin unerträglich, mit einem Hautausschlag im Genick zu leben. Krankhaft befaßte er sich mit seinen Makeln, den wahren und den eingebildeten. So sah er tagelang nichts als Zähne, er starrte den Leuten in den Mund, wenn sie mit ihm sprachen, lediglich darauf aus, Lücken, Plomben, Brücken und Platten zu entdecken. Die gesunden, elfenbeinernen, schmelzweißen Schneidezähne junger Männer erfüllten ihn mit Angst und Neid. Hundertmal am Tage sah er sein eignes Gebiß an; die Zähne waren zwar regelmäßig, aber vom Rauchen leicht angegilbt. Er bürstete sie besessen, bis ihm das Gaumenfleisch blutete. Stundenlang beschäftigte er sich mit einem angefaulten Backenzahn, der eines Tages gezogen werden mußte. Verzweifelt darüber rechnete er sich schwarz auf weiß aus, in wieviel Jahren er vermutlich zahnlos sein würde.

Aber – sagte er sich: von meinem zwanzigsten Jahr an gerechnet, – wenn ich jedes zweite Jahr einen Zahn verliere, dann werde ich, da wir ja zweiunddreißig, Weisheitszähne inbegriffen, haben, mit fünfzig Jahren noch fünfzehn übrig haben. Und das wird nicht so schlimm aussehn, besonders wenn es mir glückt, die Vorderzähne zu erhalten. Und bis dahin sind die Dentisten vielleicht so weit, daß sie mir echte Zähne einsetzen können. In solchen Stücken hegte er stets große Zukunftshoffnungen. Er las zahnärztliche Fachliteratur, um zu sehen, ob eine Aussicht bestünde, alte Zähne durch gesunde neue zu ersetzen. Und dann beobachtete er seinen Mund mit den sinnlichen, starkgeschwungnen Lippenlinien und der vorstehenden Unterlippe und stellte mit Befriedigung fest, daß er selbst beim. Lächeln sein Gebiß kaum zeigte.

Den Medizinstudenten legte er zahllose Fragen vor über die Behandlung und Kur ererbter Blut- und Geschlechtskrankheiten und von Darm- und Leistenkrebs; er erkundigte sich eingehend nach dem Erfolg der Übertragung tierischer Drüsen in den menschlichen Organismus. Er ging ins Kino lediglich, um die Zähne und Muskeln der Filmhelden zu studieren. Er ging in den Brauseraum der Gymnastikhalle, starrte auf die geraden Zehen der Sportsleute und dachte dabei, krank vor Verzweiflung, an seine eignen verkrümmten und verkrüppelten Fußspitzen. Er stand nackt vor dem Spiegel und betrachtete seinen sehnigen, langen Leib, der weiß und glatt war, bis auf die verkümmerten Zehen und den Flecken im Genick, hager zwar, aber fein, kräftig und ebenmäßig im Bau.

Und dann, allmählich, fing er an, sich furchtbar über seinen Makel zu freuen. Er brachte das unausrottbare Ekzem in seinem Genick in Verbindung mit seiner tragischen Schwerblütigkeit, die ihn zuweilen in Melancholie und wahnsinnige Depressionen verfallen ließ. Aber dann mußte – das sah er ein – eine ebenso große Gesundheit in ihm stecken, eine positive Daseinskraft, die ihn wieder aus der Trostlosigkeit in die Höhe riß. Nirgends in Büchern, Filmen und Reklamen, noch auch in seinen tausend Wunschbildphantasien von Bruce-Eugen war er einem Helden mit verkrümmten Zehen, einem faulen Backenzahn und einer nässenden Flechte im Genick begegnet, nirgends hatte er eine Heroine entdeckt, die einen juckenden Ausschlag oder sonst eine Krätze hatte. In seinen Imaginationen liebte er nun eine Frau mit karottenrotem Seidenhaar und einem Gewebe zarter, delikater Fältchen um die etwas müden, blaßvioletten Augen. Sie hatte weiße, unregelmäßige Zähne, und wenn sie lächelte, blinkte die Goldkrone auf einem ihrer Eckzähne. Sie war subtil und ein wenig weltschmerzlich, Kind und Mutter in einer Person, so alt und tief wie Asien und so jung wie der keimträchtige April, der immer zugleich als Mädchen, Geliebte, Mutter und Amme erscheint.

So wurde, durch das Erlebnis von Bens Tod und durch die Kränke seines eignen Fleischs, Eugen sich tieferer und dunklerer Dinge bewußt als je. Er fing an zu begreifen, daß das Schöne und Köstliche des Menschendaseins von einer göttlichen Perlenkrankheit befallen ist. Wohl gab es Gesundheit in den steten Augen von Katze und Hund, und auch die ausdrucksleeren, vollen Hängebacken der Bauern zeugten davon. Aber wenn er die Gesichter der Herren der Erde betrachtete, dann sah er, daß sie von dem schönen Siechtum des Denkens und den Fiebern der Leidenschaft abgezehrt und angegriffen waren. In tausend Büchern fand er Porträts. Da war Coleridge im Alter von fünfundzwanzig Jahren mit dem sinnlich-losen, idiotisch halboffnen Mund, den großen, starrenden Augen, in deren opiumtiefen Visionen die vom Albatros heimgesuchten Meere schliefen, und der großen, weißen Stirn: ein Kopf, in dem die Züge des olympischen Zeus mit denen eines Dorfblödels gekreuzt schienen, in dem Eigenschaften des hagern, an den Flanken ein wenig durstigen Haupts des Cäsar mit denen des träumenden, von grünflackernden Augenfeuern erhellten Mumiengesichts des Kublai Khan sich vereinigten. Und Eugen betrachtete die Büsten des großen Thutmoses und von Aspalta und Mykerinus und alle die feingeistigen Ägypterköpfe mit den glatten ungefurchten Mienen, in denen das Wissen um die zwölfhundert Götter bewahrt ist. Er betrachtete die Köpfe von Goten, Franken und Vandalen, die gegen die alten, trübgewordnen Augen der Römer Sturm liefen. Und er kannte die müde Schläue im Gesicht des großen Juden Disraeli, das furchtbare Schädelgrinsen Voltaires, die wahnwitzige, tolle Wüstlingsfresse Ben Jonsons, die starrköpfige, düstre Qual in Charlyles Antlitz, und er kannte die Gesichter von Heine, Rousseau, Dante, Tiglath-Pileser und Cervantes ... das waren alles Gesichter, an denen das Leben gezehrt, die der Geier des Denkens verheert, die die Flamme der Schönheit versehrt und ausgehöhlt hatte.

Und so – von der furchtbaren Mitgift seines Bluts betroffen, in der Falle seines Ichs und der Pentlands gefangen mit der kleinen Blüte von Sünde und Finsternis im Genick – gelang es Eugen, sich auf immer von den Guten und Hübschen zu sondern und in das Land zu gelangen, das den Sterilisierten nie erreichbar ist. Die Geschöpfe der Romanschreiber, die lasterhaften Puppenfrätzchen der Filmweiber, die Masken der Bildreklamegesichter in der brutalen Idiotie ihrer Regelmäßigkeit, die Gesichter der meisten Studenten und Studentinnen erschienen ihm schematisch aus einer Schablone emaillierter Leere gegossen; sie kamen ihm unrein vor. Und das ganze Getu, das die Amerikaner um glänzende Installationen, Zahnpasta, weißgekachelte Restaurants, Haarschnitte, manikürte Zahnklempnerei, Hornbrillen und Badezimmer aufführen, die ganze wahnwitzige Angst vor Ansteckung, die die Staatsbürger nach ihren unbeholfnen Ausschweifungen flüsternd vor den Apotheker treibt, das alles erschien ihm schmutzig. Die äußerliche Reinlichkeit wurde zum Anzeichen innerer Verderbtheit: da glänzte etwas und im Kern war es saftlos, verrottet und faul. Er spürte und wußte, daß in ihm – gleichgültig welch ein Aussatz an seinem Fleisch fräße – eine größere Gesundheit steckte, als diese andern sie je kennen könnten, etwas, das wild und grausam verwundet, aber lebendig war und vor den furchtbaren Unterströmen des Lebens nicht zurückschrak, etwas Verzweifeltes und Mitleidloses, das standhaft die versteckten und unaussprechlichen Leidenschaften erkannte, die das Gemeingut aller tragischen Menschen auf dieser Erde sind.

 

Ein Rebell jedoch war Eugen nicht. Er hatte kein größeres Bedürfnis nach Revolution als die meisten Amerikaner, nämlich überhaupt keins. Er war vollauf zufrieden mit jedem System, das ihm Behagen und Sicherheit verbürgte, ihm Geld genug zu einem Leben, wie er es begehrte, verstattete und seine Freiheit zu denken, essen, trinken, lieben, lesen und schreiben, was ihm paßte, unangetastet ließ. Solang er dieser Dinge versichert war, kehrte er sich nicht im geringsten drum, ob das Land von Republikanern, Demokraten, Tories, Sozialisten oder Bolschewiken regiert würde. Er selber verspürte keinen Drang, das Leben zu reformieren oder die Erde in ein besseres Hienieden zu verwandeln. Seine ganze Überzeugung bestand darin, daß es überall angenehme Orte und verzauberte Plätze gäbe, wenn er nur fortgehn und sie auffinden könne. Das Leben in Pulpit Hill verdroß ihn bereits; er dachte dran, wie er entfliehn könne, denn er kam sich oft wie ein Gefesselter vor. Er war felsenfest überzeugt, daß es woanders besser wäre; immer war er felsenfest überzeugt, daß es woanders besser wäre.

Er war ein Romantiker, jedoch es war nicht seine Art, vom Leben weg, sondern in das Leben zu flüchten. Er sehnte sich nicht nach Trugwelten, sondern seine Phantasien erstreckten sich in die Wirklichkeit. Es bestand für ihn kein Grund zu bezweifeln, daß es in Ägypten tatsächlich zwölfhundert Götter gab, und daß der Zentaur, das Flügelroß und der beschwingte Bulle in ihren zugehörigen Umwelten auffindbar hausten. Er glaubte, daß es in Byzanz Zauberei gab, und daß dort Geister in Flaschen eingestöpselt werden konnten. Außerdem war er seit Bens Tod zu der Überzeugung gelangt, daß die Menschen das Leben nicht aufgeben, weil das Leben langweilig ist, sondern daß das Leben die Menschen aufgibt, weil die Menschen klein sind. Er sah, daß die Leidenschaften im Schauspiel größer sind als die Darsteller. Er hatte – so schien ihm – keinen großen Augenblick erlebt, dem er an Fülle und Kraft gewachsen war. Sein Schmerz über Bens Tod war größer gewesen als er; die Liebe und der Verlust Lauras hatten ihn überrumpelt und umgeworfen; und wenn er junge, Frauen und Mädchen umarmte, verspürte er stets eine verzweifelte Unzulänglichkeit, die Lust, die ihn besaß, auszudrücken; er wollte sie auffressen wie Kuchen und dann doch noch haben, wollte sie in einen Ball kneten, wollte sie in sein Fleisch begraben, nur um sie voller zu besitzen, als sie je besessen werden können.

Es verdroß und verletzte ihn sehr, daß man ihn für »quer« hielt. Seine Beliebtheit bei den Studenten tat ihm wohl, sein Herz schlug stolz unter all den Nadeln und Abzeichen, aber es erfüllte ihn mit Groll, daß er im Ruf eines Exzentrikers stand. Er beneidete jene Kameraden, die um ihrer goldnen Mittelmäßigkeit willen zu den akademischen Ehrenämtern gewählt wurden. Er wünschte, alle Gesetze zu befolgen und wohlangesehn zu sein; er hielt sich allen Ernstes für eine konventionelle Person ... aber dann sah ihn jemand nach Mitternacht, wenn er unterm Mond mit großen Sätzen über den Kampus stürmte und sein wildes Bocksgeschrei ausstieß. Seine Anzüge waren ungebügelt wie Säcke. Seine Wäsche wurde schmutzig, seine Hüte verloren jegliche Form und bekamen Löcher, er lief seine Schuhe durch und stopfte Pappdeckelsohlen hinein. Es lag ganz und gar nicht in seiner Absicht zu verschlampen, aber schon der Gedanke, daß er sich um seine Sachen bekümmern solle und sie zur Reparatur bringen müsse, war ihm einfach unerträglich. Er haßte es zu handeln. Am liebsten hätte er vierzehn Stunden täglich vor sich hingebrütet. Schließlich, wenn es gar nicht anders mehr ging, raffte er sich auf, riß sich von seinen Träumereien los und tat wildfluchend und heftig, was notwendig war.

Er hatte eine verzweifelte Angst vor Menschen in der Masse. Bei den Meetings der Klasse, in Tabakkollegien oder bei andern öffentlichen Anlässen war er nervös und beklommen, bis er zu den andern reden und sie in seinen Bann zwingen konnte. Er hatte stets Angst, jemand könne einen Witz über ihn reißen und er würde verlacht werden. Nie aber hatte er Angst vor Einzelnen. Er konnte Menschen behandeln, sobald er sie von der Herde wegbrachte, das wußte er. Und da er nie seinen Haß auf die Masse, seine Angst vor der Herde vergaß, spielte er grausam wie eine Katze mit seinem Opfer, knurrte leise und lauerte mit bedrohlicher Schweigsamkeit, die Tigertatze seines Scharfsinns schlagbereit. Die armen Burschen schienen von allen guten Geistern verlassen, bang und verlegen sahen sie sich nach der Tür um.

Er fischte sich irgendeinen pompösen Bauerntölpel heraus – den Präsidenten der Klasse oder den Studentenvorstand des Christlichen Vereins Junger Männer – und ließ liebenswürdig-schlimm seine sachlichen Argumente auf ihn los.

»Glaubst Du nicht«, begann er mit ernster Frömmigkeit, »daß ein Ehemann seine Gattin auf den Bauch küssen sollte?« Er nahm die ganze begierige Unschuld seiner Mienen zusammen und starrte. »Der Bauch ist doch schließlich manchmal viel schöner und außerdem oft viel reinlicher als der Mund! Oder glaubst Du etwa an ein bauchloses Eheglück? Ich zum Beispiel«, fuhr er mit leidenschaftlichem Bekennerstolz fort, »halte es für ausgeschlossen. Ich trete offen für öfteres und intensiveres Bauchküssen ein. Frauen, Mütter und Schwestern haben ein Recht, es von uns Männern zu verlangen. Es ist ein Akt der Reverenz vor dem Sitz des geschöpflichen Lebens, es ist geradezu eine hohe Form von Gottesdienst. Wenn es uns gelänge, ein paar prominente Busineßmen und andere, gerecht denkende Männer für diese Bestrebung zu interessieren, dann würde die mächtigste Umwälzung, die je im Leben einer Nation eintrat, sich vollziehn. In fünf Jahren sicher gäbe es keine Ehescheidungen mehr, und das Prestige des Heims wäre aufs neue garantiert. In zwanzig Jahren würde unsre Nation der stolze Mittelpunkt der Kultur und der Künste sein. Glaubst Du nicht auch? Oder meinst Du, es wäre was dagegen einzuwenden?«

Eugen glaubte so. Es war eine seiner wenigen Utopien.

 

Manchmal, wenn er gereizt und mißlaunisch war und die Studenten auf ihren Buden lachen hörte, wandte er sich um, fuhr die Bande an und verfluchte sie, denn er glaubte, sie hätten über ihn gelacht. Er hatte das Mißtrauen seines Vaters geerbt, so sehr, daß er zuweilen im Wahn lebte, die ganze Welt sei gegen ihn verschworen und ihm ungeheuer aufsässig. Die Luft um ihn schien dann mit Hohn und Bedrohung geladen, die Blätter an den Bäumen flüsterten Verrat, in tausend Verstecken saßen Menschen und Mächte beisammen, lauerten und berieten, wie sie ihn demütigen, ihn in den Staub zerren, ihn der Freude abspenstig machen könnten. Er verbrachte ganze Stunden unter der bedrückenden Vorahnung einer über ihm schwebenden Gefahr: er betrat dann, obschon er sich keiner Schuld bewußt war als seiner eignen skurrilen Phantasien, eine Versammlung mit kaltem, beklommenem Herzen und erwartete, daß man ihn nun, er wußte nicht wegen welchen Verbrechens, anklagen und aburteilen und dadurch sein Leben ruinieren werde. Dann wieder war er wild ausgelassen und sorglos, lachte und quiekte den andern triumphierend ins Gesicht und hüpfte wie von der Bockslust besessen weiter. Ihm war, als hinge die Welt wie eine reife Pflaume am nächsten Baum und wartete darauf, von ihm gepflückt zu werden.

Wenn er hochgemut, vom Ruhm träumend, nachts auf dem Kampus umherstrich, hörte er oft, wie die jungen Studenten gütig und ruppig von ihm redeten und sagten, was er brauche, sei ein Bad und reine Leibwäsche. Er fuhr sich an die Gurgel, wenn er das vernahm.

Da bilde ich mir ein, ich wäre ein Mordskerl, und die andern behaupten, daß ich stinke, weil ich nicht gebadet habe. Ich! Ich! Bruce-Eugen, die Geißel der Mexikaner, der größte Sportheros, der je für eine Universität Baseball spielte! Marschall Gant, der Retter des Vaterlands! Kampfflieger Gant, der Himmelshabicht, der den Richthofen runtergebracht hat! Senator Gant, Gouverneur Gant, Präsident Gant, der Staatsmann, der die zertrümmerte Nation wieder herstellte und einte und sich trotz weinenden Protests von hundert Millionen Mitbürgern dann still ins bescheidne Privatleben zurückzog, bis er wie Artus oder Barbarossa den Trommelschlag von Not und Gefahr wieder vernimmt.

Jesus-von-Nazareth Gant, verspottet, gelästert, angespuckt und eingekerkert für die Sünden andrer, der, der den Tod vorzieht und vornehm stillschweigt, um der Frau, die er liebt, keinen Kummer zu verursachen. Gant, der Unbekannte Soldat, der zum Märtyrer gemachte Präsident, der erschlagne Gott der Ernten, der den guten Segen der Erde bringt. Herzog Gant von Westmoreland, Vizegraf von Pondicherry und zwölfter Lord Runnymede, der inkognito nach wahrer Liebe jagt in Devon, wenn das Korn reif steht, und die weißen Beine in Kaliko findet, gebettet ins süße Heu. Ja, George Gordon-Noel-Byron Gant, der die tragische Maske seines blutenden Herzens durch ganz Europa trägt, und Thomas-Chatterton Gant, dieser großartige Kerl, und Francois-Villon Gant, und Ahasver Gant, und Mithridates Gant, und Artaxerxes Gant, und Edward-der-Schwarze-Prinz Gant; Stilicho Gant und Jugurtha Gant und Vercingetorix Gant und Iwan-der-Schreckliche Gant. Und Gant, der olympische Stier; und Herakles Gant; und Gant, der verführerische Schwan;, und Astaroth und Asrael Gant, Proteus Gant, Anubis und Osiris und Mubo-Jumbo Gant.

 

Was aber – sprach Eugen langsam vor sich hin ins Dunkel –, wenn ich kein Genie wäre? Er legte sich diese Frage nicht oft vor. Nun war er allein und sprach sie aus, laut-leis, leis-laut, bloß um zu erfahren, wie unwirklich solche Blasphemie sei. Die mondlose Nacht blieb sternhell, und es blitzte und donnerte keineswegs.

Ja, was aber, wenn sonst jemand denkt, ich wäre keins? Denn das dächten sie bestimmt gern, die Schweine. Sie hassen mich und sind eifersüchtig; und weil sie es mir nicht gleichtun können, möchten sie mich klein machen. Sie würden es gar zu gern behaupten, bloß um mir wehzutun. Einen Augenblick verkrampfte sich sein Gesicht vor Pein und Bitterkeit. Die Hand an der Gurgel verrenkte er den Hals.

Dann, wie er es gewohnt war, wenn sich sein Herz ausgetobt hatte, legte er sich die Frage in aller Ruhe vor, sah er die Sache nackt und kritisch an;

Also – dachte er da in aller Ruhe – was wär, wenn ich keins wär? Soll ich mir deswegen die Gurgel durchschneiden, Würmer fressen oder Arsenik schlucken? Langsam und nachdrücklich schüttelte er den Kopf. Nein – sagte er –, keinesfalls. Zudem gibt es genug Genies. In jede höhere Lehranstalt geht mindestens eins, und in jeder Kleinstadt sitzt abermals eins im Kinoorchester. Manchmal schickt die reiche Mistress von Zeck, Patronin der Künste in Altamont, ein oder zwei Genies nach New York zum Musikstudium. So daß also – berechnete er – entsprechend der letzten Volkszählung In diesen Vereinigten Staaten nicht weniger als 26 400 Genies und 83 752 Künstler herumlaufen; diejenigen aus der Geschäftswelt und im Reklamefach nicht mit einbegriffen. Zu seiner, persönlichen Zufriedenstellung murmelte Eugen alsdann die Namen von 21 Genies, die Gedichte schrieben, und von 37 weiteren Genies, die sich dem Drama und dem Roman widmeten, vor sich hin. Das verschaffte ihm endgültig Erleichterung.

Was – dachte er – kann ich sein außer einem Genie? Ich bin es lang genug gewesen. Es muß was Besseres zu tun geben.

Jenseits dieser letzten Hürde – dachte er – ist nicht, wie ich einst glaubte, der Tod, sondern neues Leben ... und neues Land.

 

In diesen Jahren fuhr Eugen von Pulpit Hill weg, wann es ihm beliebte, bei Tag oder Nacht, wenn der April mit jungem Hauchgrün einherschwamm oder wenn der Frühling zu seiner ganzen Pracht entfaltet war. Am liebsten sauste er durch die kühle, pfingstliche Landschaft in Nächten voll von Tau und Sternenschein unter einer großen von Wolken gerippten Mondbucht.

Er fuhr nach Exeter oder Sydney, öfters auch in kleine Städte, die er nie zuvor besucht hatte. Er schrieb sich in den Hotels ein als »Robert Herrick«, »John Donne«, »George Peele«, »William Blake«, »John Milton«. Niemals nahm jemand Anstand daran; die Leute in diesen Nestern hatten dergleichen Namen.

Einmal, in einer Kleinstadt im Piedmont bezeichnete er sich als »Ben Jonson«.

Der Hotelportier drehte das Buch um und sah ihn kritisch an.

»Haben Sie kein H im Namen?« fragte er.

»Nein«, sagte Eugen, »das ist ein andrer Zweig der Familie. Ich habe einen Onkel Samuel, der schreibt sich mit H.«

Manchmal in übelbeleumdeten Gaststätten trug er sich mit diebisch-finstrer Schadenfreude als »Robert Browning«, »Alfred Tennyson« oder »William Wordsworth« ein.

Einmal schrieb er »Henry W. Longfellow«.

»Das ist der Name eines Schriftstellers«, sagte der Angestellte mit einem harten, ungläubigen Grinsen. »Mich können Sie mit so was nicht anführen.«

Ein ungeheurer Lebenshunger verzehrte ihn. Nachts lauschte er auf den lullenden Wohllaut von Millionen kleiner Nachtwesen, die brütende Symphonie der Dunkelheit, das Läuten ganz ferner Kirchenglocken überland. Und dann weitete sich seine Schau in ein Ringsum von mondbeglänzten Wiesen und träumenden Wäldern; mächtige Ströme zogen durchs Dunkel, an zehntausend schlafenden Städten vorbei. Er glaubte an eine füllig-unendliche Abwechslung von Städten und Gesichtern. Er glaubte an fremdes, begrabnes Leben hinter den Wänden der Millionen von kleinen, schäbigen Häusern, köstliche Romanzen und in Scherben gegangne Glücke, dunkles, unbekanntes Schicksal. Wenn er an einem Haus vorüberging, dachte er oft, daß da drinnen jetzt jemand stürbe, daß Liebende heiß umschlungen beieinander lägen, daß ein Mord verübt würde.

Er kam sich verzweifelt ausgesperrt vor, wie einer, der nicht teilhat am großen Festmahl des Lebens. Und bedenkenlos entschloß er sich, den Bann der Sitten zu brechen und Einblicke zu tun. Sein Hunger trieb ihn. So fuhr er manchmal spät nachmittags von Pulpit Hill weg und strich in der Dämmerung durch die stillen Straßen unbekannter Städtchen. Schließlich, wenn seine Hemmungen behoben waren, lief er die Freitreppe vor einem Haus hinauf und schellte. Dann, wenn jemand kam, lehnte er matt an der Wand, die Hand an der Gurgel, und keuchte:

»Wasser! In Gottes Namen, Wasser! Mir ist schlecht!«

Manchmal kamen Frauen zur Tür, verführerisch und lächelnd, die seinen Trick durchschauten und ihn dennoch ungern gehen sahen; dann wieder andere Frauen, von Mitgefühl und Zärtlichkeit gerührt. Wenn er getrunken hatte, lächelte er tapfer und stammelte eine Entschuldigung in überraschte und teilnahmsvolle Gesichter.

»Verzeihn Sie bitte, es kam so plötzlich, ich habe manchmal diese Anfälle. Es war zu spät, um nach Hilfe zu gehn, da sah ich Licht in Ihrem Fenster.«

Sie pflegten dann zu fragen, wo seine Freunde wären.

»Freunde?!« sagte er und blickte wild und düster um sich, »Freunde hab ich keine. Ich bin ein Fremdling.«

Dann erkundigten sie sich gewöhnlich nach seinem Beruf.

»Ich bin Zimmermann«, sagte er merkwürdig lächelnd.

Sie wollten wissen, wo er her sei.

»Weit her, sehr weit her komm ich«, sagte er tiefbewegt. »Sehr, sehr weit. Von meiner Heimat haben Sie sicher nie gehört.«

Er stand dann auf und sah sich voller Seelengröße und Mitgefühl um.

»Und nun muß ich weiterziehe«, sagte er geheimnisvoll. »Ich muß noch weit wandern, eh mein Weg zu End ist. Gott schütze Sie alle. Ich kam als Fremdling, und Sie haben mir ein Obdach gegönnt. Des Menschen Sohn ist nicht so gut behandelt worden.« –

Manchmal schellte er an einer Tür und fragte:

»Ist hier Nummer 26? Mein Name ist Thomas Chatterton. Ich bin auf der Suche nach einem Herrn namens Coleridge. Mister Samuel T. Coleridge. Er wohnt doch hier, nicht wahr? ... Nicht? Oh, das tut mir leid, ich bedaure aufrichtig ... Ja, ganz bestimmt, 26 ist die Nummer, die ich mir notiert habe ... Ich danke Ihnen vielmals, ich muß mich wohl geirrt haben. Ich werde nochmals im Telephonbuch nachschlagen.«

Was aber – dachte Eugen –, wenn ich ihn eines Tages in den Millionen Straßen des Lebens wirklich fände?

Das waren die goldnen Jahre.

 


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