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Drittes Buch

XXVIII

Eugen war nicht ganz sechzehn, als er auf die Universität zog. Er war damals annähernd zwei Meter groß und wog dabei kaum mehr als 120 Pfund. Er war fast nie krank gewesen, aber das schnelle Wachstum hatte sehr an seinen Kräften gezehrt. Er war ungestüm und heftig, aber sein Vorrat an Energie war bald erschöpft. Er ermüdete schnell.

Er war ein Kind, als er fortzog, ein Kind, das viel Schmerzliches und Schlimmes gesehn hatte und ein Phantast, ein Idealist geblieben war, ein Kind, das in der Schlüsselburg seiner Träume hauste. Zwar hatte er spotten und die Nase rümpfen gelernt, aber sein geheimes Leben blieb völlig unangetastet. Immer und immer wieder war er mit den grauen Tatsächlichkeiten des gemeinen Daseins in Berührung gekommen, seine grausamen Augen hatten keine einzige Gebärde mißdeutet, sein gepreßtes und bittres Herz hatte in ihm geglost wie ein Eisenbarren in der Schmiedesse, aber all die harterworbnen Einsichten zerschmolzen wieder im Licht seiner Phantasie. Zwar war er kein Kind mehr, wenn er nachdachte, aber wenn er träumte war er eines; und das traumselige Kind war es, das die Herrschaft über sein Wesen innehatte und behielt. Vielleicht gehörte er zu einer älteren, einfacheren Art Mensch, nämlich zu den Mythenschöpfern. Für ihn war die Sonne eine herrliche Lampe, die ihm den Weg zu großen Abenteuern erhellte ... Er glaubte an ein tapfres, heldisches Leben. Er glaubte an die seltnen Blumen des Zartsinns und der Menschlichkeit. Er glaubte an Schönheit und Ordnung und war überzeugt, daß er durch diese Mächte das Wirrsal des Daseins bannen könne. Er glaubte an Liebe, an die Güte und Reinheit der Frauen. Er glaubte an den Adel des Denkens und erwartete von sich selber, daß er, ganz wie Sokrates, nichts Niedriges oder Gemeines in der Stunde der Gefahr tun werde. Er stand im Überschwang seiner Jugend, so daß er glaubte, er könne nie sterben.

Vier Jahre später, als er die Universität absolviert hatte und seine Jünglingsjahre hinter ihm lagen, brannte der Kuß der Liebe und des Todes auf seinen Lippen ... und er war immer noch ein Kind.

 

Als es schließlich feststand, daß Gants Wille in der Sache unbeugsam war, sagte Margaret Leonard zu ihm:

»Dann also mußt Du Deiner Wege gehn, Junge, und Gott schütze Dich!«

Sie sagte das ganz ruhig. Dann sah sie einen Augenblick lang Eugens lange, dürre Gestalt an, wandte sich feuchten Blicks ab und sagte zu John Dorsey Leonard:

»Kannst Du Dir noch den Burschen in Kniehosen vorstellen, der vor vier Jahren zu uns kam? Kannst Du es glauben?«

John Dorsey Leonard lachte verlegen, trübselig, leer.

»Man faßt es nicht«, sagte er.

Als Margaret sich wieder an Eugen wandte, war eine Leidenschaft in ihrer Stimme, wie er sie nie zuvor gehört hatte:

»Du nimmst ein Stück von unserm Herzen mit, weißt Da das, Eugen?«

Sie nahm seine zitternde Hand zärtlich in ihre schmalen Finger, Er senkte den Kopf, schloß die Augen.

»Wahrhaftig, Eugen«, sagte sie, »wir könnten Dich nicht mehr lieben, wenn Du unser eignes Kind wärst. Wir hätten Dich so gern noch ein Jahr bei uns behalten, aber nachdem das nicht sein kann, schicken wir Dich mit all unsern guten Hoffnungen fort. Ach, Junge. Du bist fein. Keine Faser ist an Dir, die nicht fein wäre. Und das Licht des Genius liegt hell auf Dir. Gott schütze Dich, die Welt gehört Dir!«

Diese stolzen Worte von Liebe und Ruhm waren Musik für ihn; strahlende Triumphvisionen zogen auf, und heiße Scham über seine verborgnen Wünsche brannte in ihm. Er war begehrlich, aber sein Herz schrak vor der Sünde zurück. Ein Tierschrei zwängte ihm die Kehle, jäh löste er seine Hand ans der ihren und fuhr sich an die Gurgel.

»Sie müssen nicht denken ...« stammelte er. »Ich bin ja nicht ...« Aber er konnte nicht weitersprechen. Alles in ihm drängte zur Beichte.

Später, als er von ihr weggegangen war, brannte der leise Kuß, der erste, den sie ihm gegeben hatte, wie ein feuriger Ring auf seiner Wange.

 

In diesem Sommer stand er Ben näher als je zuvor. Sie hausten zusammen im selben Zimmer in der Woodson Street. Lukas war nach Helenes Hochzeit nach Pittsburgh in die Westinghouse-Elektrizitätswerke zurückgekehrt.

Gant wohnte noch im alten Wohnzimmer, aber die übrigen Räume hatte er an eine muntre, grauhaarige Witwe von vierzig Jahren vermietet. Sie besorgte den Haushalt aufs beste; besondere, zärtliche Aufmerksamkeit aber schenkte sie Ben. Nachts fand Eugen die beiden unter den Reben auf der Terrasse; er hörte Bens ruhige Rede und sein kurzes, leises Lachen; er sah den Bogen, den Bens brennende Zigarette im Dunkel beschrieb.

Ben, der Stille, war noch stiller, noch mürrischer geworden. Seine Braue war tiefer, finsterer gerückt. Schweigsamer noch schlich er im Haus umher. Im Gespräch mit Eliza war er kurzangebunden und von bittrer Verächtlichkeit. Mit Gant unterhielt er sich überhaupt nicht. Sie grüßten einander, und das war alles. Und sahen sich dabei nicht in die Augen. Eine große Scham, die Scham zwischen Vater und Sohn, die geheimnisvolle Scham jenseits der Mutterschaft, die allen Männern die Lippen versiegelt, diese Scham hatte sie voreinander stumm gemacht.

Aber mit Eugen sprach Ben nun häufiger und mehr, als er je mit ihm gesprochen hatte. Nachts, vor dem Schlafengehn, lagen sie auf ihren Betten, lasen und rauchten, und all der Schmerz und die Bitterkeit von Benjamin Gants Leben brach in heftigen Anklagen durch. Ben fing mit verstockter Schwerfälligkeit zu sprechen an; langsam und stolpernd, ganz wie beim Lesen, brachte er die Worte hervor, aber seine Stimme wurde schneller und leidenschaftlich, wenn er ins Reden kam.

»Sie haben Dir wohl gesagt, was für arme Leute sie wären, was?« fragte er und warf den Zigarettenstummel weg.

»Ja«, sagte Eugen, »ich muß halt vorsichtig mit dem Geld umgehn.«

»Ah, bah!« lachte Ben fast lautlos und zog einen bittern Mund.

»Papa sagte mir, daß viele Studenten sich als Kellner oder so durchbringen. Vielleicht kann ich da auch Arbeit finden.«

Ben stützte sich auf den dünnen, behaarten Unterarm, wandte sich um und sah Eugen voll ins Gesicht. »Hör mal, Eugen!« sagte er streng. »Sei so kein verdammter Hanswurst! Du wirst jeden Cent nehmen, den Du von ihnen kriegen kannst!« verlangte er grimmig.

»Immerhin«, erklärte Eugen, »ich habe Grund, ihnen dankbar zu sein. Sie tun was für mich. Jedenfalls hängen sie mehr Geld an mich als an Euch andre.«

»Du Idiot!« Ben runzelte verächtlich und angewidert die Stirn. »Bildest Du Dir tatsächlich ein, daß sie das für Dich tun? Sie tun es für sich selber. Sie rechnen damit, daß etwas aus Dir wird, so daß sie eines Tages die Ehre dafür einheimsen können. Ohnehin hetzen sie Dich zwei Jahre zu früh ins Studium. Hör auf mich! Du nimmst jeden Cent, den Du von ihnen bekommen kannst. Wir übrigen Kinder haben ja nie was gekriegt, aber Dir gönn' ich von Herzen alles, was Dir zusteht. Verstanden? Mein Gott!« rief er wütend aus, »ihr Geld nützt keinem Menschen was; da haben sie's auf der Bank liegen, bis es verrottet. Nein, Eugen, wenn Du dort auf der Universität merkst, daß Du schlechter gestellt bist als die andern Studenten, dann schreibst Du dem Alten um mehr Geld. Verdammt nochmal! Hier im Städtchen hast Du den Kopf nie hochtragen können; also fang dort nicht damit an, daß Du auf die Gelegenheit verzichtest.«

Er zündete eine Zigarette an und rauchte in schweigsamer Verbitterung vor sich hin.

»Zur Hölle mit dem ganzen Betrieb«, knurrte er schließlich. »Wozu in Gottes Namen leben wir denn überhaupt?«


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