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Eines Tages gegen Ende Juni sprach Laura James:
»Nächste Woche muß ich heimfahren.«
Dann, als sie seine gequälte Miene sah, fügte sie hinzu:
»Aber es ist nur auf ein paar Tage. Nicht länger als 'ne Woche.«
»Aber warum? Der Sommer fängt doch erst an. Da unten wirst Du vor Hitze umkommen.«
»Ja, ich weiß, es ist albern. Aber meine Leute erwarten mich zum Nationalfeiertag. Ich hab Dir ja gesagt, wir sind eine Riesenfamilie, Hunderte von Onkeln und Vettern und Schwägerinnen und Basen. Und jedes Jahr am vierten Juli ist Familientag, mit Ausflug, Picknick und Freudenfeuer im Freien. Ich hasse den Betrieb. Aber sie würden mir nie verzeihen, wenn ich nicht käme.«
Er sah sie einen Augenblick an, furchtsam.
»Du kommst sicher zurück, Laura, gelt?« fragte er ruhig.
»Aber gewiß«, sagte sie. »Reg Dich nicht auf.«
Er zitterte heftig. Er hatte Angst, sie weiter auszufragen.
»Sei doch ruhig! Reg Dich nicht auf, Liebster!« flüsterte sie und legte ihre Arme um seinen Hals.
Er fuhr mit ihr zum Bahnhof in der Knallhitze des Nachmittags. Die Straßen rochen teerig vom aufgeweichten Asphalt. Sie hielt seine Hand in der ratternden Trambahn, preßte sie von Zeit zu Zeit, um ihn zu trösten, und flüsterte:
»In einer Woche, Liebster. Nur eine Woche!«
»Ich seh nicht ein warum«, murmelte er. »Eine Reise von sechshundert Kilometern bloß auf ein paar Tage!«
Da er ihr Gepäck trug, passierte er den einbeinigen Mann an der Sperre des Bahnsteigs ohne Beanstandung. Dann setzte er sich bis zur Abfahrt des Zugs neben sie in die beengende Hitze des grünen Pullmanwagens. Ein kleiner elektrischer Fächer surrte nutzloserweise im Gang. Eine schicke, junge Dame, die er kannte, kam ins Abteil, richtete sich unter dem neuen gelben Leder ihres Handgepäcks ein. Elegant, ein wenig hochmütig erwiderte sie seinen Gruß und wandte sich zum Fenster, um sich beredt grimassierend mit ihren Eltern zu unterhalten, die bewundernd vom Bahnsteig zu ihr aufstarrten. Ein paar wohlhabende Kaufleute kamen den Gang entlang; das Knarren ihrer teuren gelben Schuhe überknirschte das Gesurr des Fächers.
»Sie gehn nicht von hier weg, Mister Morris, wie?«
»Hallo, Jim. Nein, ich reise nur auf 'n paar Tage nach Richmond.«
Aber selbst das graue Wetter ihres Lebens vermochte es nicht, die Erregung in diesem heißen Wagen, der nach Osten fahren sollte, zu dämpfen.
»Einsteigen!«
Zitternd stand er auf.
»In ein paar Tagen, Lieber!« Sie sah auf, nahm seine Finger in ihre schmale, behandschuhte Hand.
»Du wirst mir schreiben, sobald Du dort bist, ja? Bitte!«
Er neigte sich plötzlich zu ihr herab und flüsterte: »Laura! Du wirst zurückkommen?! Du wirst ganz bestimmt zurückkommen?!«
Sie wandte ihr Gesicht ab, weinte bittre Tränen. Er setzte sich wieder neben sie. Sie umarmte ihn, preßte ihn an sich, als wäre er ein Kind.
»Mein Lieber! Mein Lieber! Vergiß mich nie!«
»Nie! Komm wieder! Kehre zurück!«
Die Salzspuren ihrer Küsse lagen auf seinen Lippen, seinem Gesicht, seinen Augen. Er wußte, was das war. Die blakenden Kerzenstummel der Zeit. Der Zug zockelte ab. Blindlings sprang er den Gang hinauf, einen Schrei in der Kehle.
»Komm wieder zurück!«
Aber er wußte. Ihr Schrei folgte ihm. Ein Schrei, als ob er ihr etwas entrissen hätte.
Drei Tage später hatte er seinen Brief. Kriegsbriefpapier, vier Bogen, von kleinen, siegreichen amerikanischen Bannern umrahmt. So:
Mein Lieber! Ich kam um halb 2 heim. Einfach zu müd, um 'nen Finger zu rühren. Ich konnte die ganze Nacht im Zug nicht schlafen: Mir scheint, es wurde immer heißer unterwegs. Ich war so kaputt, als ich hier ankam, daß ich fast weinte. Little Richmond ist einfach fürchterlich, alles versengt und ausgedörrt. Und alle Leute ins Gebirg oder an die See verreist. Wie werde ich das nur eine Woche aushalten können! (Gut, dachte er, wenn das Wetter so bleibt, wird sie umso früher heimkommen.) Nun wäre es Himmel für mich, einen Atemzug frischer Bergluft zu schöpfen. Könntest Du den Weg zu unserm Platz im Bergtälchen wiederfinden? (Ja! und wenn ich blind war! dachte er.) Du mußt mir versprechen, Lieber, daß Du Dich um Deine Hand bekümmerst. Ich machte mir so Sorge im Zug, weil ich gestern vergaß. Dir den Verband zu wechseln. Mein Papa hat sich sehr gefreut, mich, wiederzusehen. Er will mich nicht wieder weglassen. Aber mach Dir keine Gedanken, er gibt immer nach und läßt mich schließlich doch tun, was ich will. Hier kenn ich keinen Menschen mehr. Die jungen Männer sind alle eingezogen oder arbeiten auf den Werften in Norfolk. Die meisten Mädchen, die ich kenne, wollen heiraten oder sind schon verheiratet. So bleiben nur die ganz jungen. (Er zuckte zusammen. Die so alt sind wie1 ich, vielleicht älter, dachte er.) Bitte grüße Mistress Barton und richte Deiner Mutter von mir aus, daß sie nicht den ganzen Tag in der heißen Küche arbeiten soll. Und all die kleinen Kreuzchen da unten sind für dich. Rate was sie bedeuten sollen.
Laura.
Er las diesen prosaischen Brief mit unbeweglicher Miene, er verschlang die Worte, als läse er ein lyrisches Gedicht. Sie würde bald wiederkommen. Zurückkommen. Bald. Bald.
Die Aufregung war von ihm gewichen. Er lehnte sich matt zurück. Aber den vierten Briefbogen hatte er noch nicht gelesen. Nun sah er ihn an. Dort fand er, fast unleserlich geschrieben, endlich in der ihr eignen Redeweise abgefaßt, so als überspränge ihr Ton die absichtliche Ziellosigkeit des Briefs, diese Nachschrift:
4. Juli. Richard kam gestern. Er ist 25, arbeitet in Norfolk. Wir sind fast ein Jahr verlobt. Morgen fahren wir nach Norfolk, um in aller Stille zu heiraten. Mein Lieber! Mein Lieber! Ich konnte es Dir nicht sagen. Ich gab mir alle Müh, aber ich brachte es nicht fertig. Ich wollte Dich nicht belügen, wirklich nicht. Und alles andere war wahr, Wort für Wort wahr, ganz so wie ich es sagte. Wenn Du nur nicht so jung gewesen wärst. Aber was hilft das jetzt? Versuch es, mir zu vergeben. Aber vergiß mich nicht, bitte. Lebwohl und Gott schütze Dich. Ach mein Liebster, es war Himmel! Ich werde Dich nie vergessen.
Als er diese Nachschrift gelesen hatte, las er sie langsam und bedächtig noch einmal. Dann faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die innere Brusttasche und verließ Dixieland. Er ging dreiviertel Stunden, bis er an den Bergsattel über der Stadt kam. Die Sonne ging hinter den Bergen im Westen unter, glutrandig, blutrot; weithin leuchtete ihr Scheideglanz über das braune, dunstige Land. Die reingewaschne, süße Luft schimmerte und leuchtete von Perlen und Gold. Die Berge schmolzen in ein tiefes Rotviolett; einsam lagen sie da; es war wie Kanaan und reife Trauben. Ein paar Autos klommen die Hufeisenkurve der Landstraße herauf. Die Dämmerung kam. Die kleinen, blinzelnden Lichter der Stadt zuckten auf. Die Dunkelheit fiel wie Tau über die Erde. Sie verschwemmte die Pein des Tages, verschattete die harschen Wirrheiten. Langgezogne Klagelaute wehten matt aus dem Niggerviertel herauf.
Und am Himmel flammten die stolzen Sterne. Da war einer, mächtig im Licht, so nah, daß er ihn mit den Händen hätte greifen können, wenn er auf den Berg hinter dem »Judenschloß« hinaufgestiegen wäre. Ein andrer, ganz niedrig, hing wie eine Ampel über den Häuptern der Menschen, die nun nach Hause zurückkehrten. (O Hesperus, Du bringst uns alles Gute!) Einer hatte sein Licht ausgesandt in der Nacht, als Ruth zu Füßen des Boas lag, einer hatte der Königin Isolde geleuchtet, einer über Korinth und Troja gestanden. Es war Nacht, weite, brütende Nacht. Nacht, Mutter der Einsamkeit, die uns vom Makel des Tages reinigt. Er badete im großen Strom der Nacht, in den Gangesfluten der Erlösung. Seine bittre Wunde war für den Augenblick geheilt; er hob sein Gesicht zu den stolzen und zarten Sternen, zu den Sternen, die ihn zu einem Gott und zu einem Sandkorn machten, ihn, den Bruder der ewigen Schönheit, den Todessohn. Allein – – allein.
»Ha-ha-ha-ha-ha!« Helene lachte heiser und stocherte ihn in die Rippen. »So, Dein Mädchen ist abgereist und hat geheiratet, was? Hat Dich zum Narren gehalten, ist Dir abspenstig geworden!«
Eliza spielte die Neckische. »Ei wa-a-as? Ist mein Jungchen, wie die Leute sagen, dem Mädchen nachgestiegen?« Sie kicherte in die vorgehaltne Hand. Dann zog sie eine vorwurfsvolle Schnute.
»Um Gottes willen, was für Leute sagen was?« knurrte er ärgerlich. Er legte die Stirn in zornige Falten. Als er den Blick seiner Schwester auffing, mußte er, trotz seiner Wut, grinsen. Sie lachte.
»Na, Eugen«, sagte Helene ernsthaft, »vergiß drauf! Du bist ja noch ein Bub. Und Laura ist 'ne erwachsne Frau.«
»Ei aber Sohn!« sagte Eliza spöttisch. »Das Mädchen hat Dich die ganze Zeit genasführt.«
»Ach bitte, hört doch auf davon!«
»Komm, sei wieder vergnügt!« mahnte Helene herzhaft. »Die schönen Jahre kommen ja erst für Dich. In einer Woche wirst Du die ganze Geschichte vergessen haben. Es gibt viele andre Mädchen, weißt Du, das war so eine Kinderliebschaft. Zeig ihr, daß Du Dir nichts draus machst. Du solltest ihr einen Hochzeitsglückwunsch schicken.«
»Aber gewiß«, sagte Eliza, »ich an Deiner Stelle würde die ganze Sache als Spaß auffassen. Ich würde sie es nicht merken lassen, daß es mir was ausmacht. Ich würde ihr einen großartigen Brief schreiben und lachend über die ganze Sache hinweggehn. Ich würde es ihr zeigen! Ja, ganz gewiß würde ich ...«
»Ach um Gottes willen, laßt mich in Ruhe!« stöhnte er. Sprang auf und verließ das Haus.
Den Brief aber schrieb er. Im Augenblick, als der Briefkastendeckel zugefallen war, packte ihn die Scham. Denn er hatte stolz und prahlerisch geschrieben, hatte mit griechischen, lateinischen und englischen Versen, unangebracht und ungenau zitiert, um sich geworfen, und zwar aus keinem andern als dem erbärmlichen, offensichtlichen Grund, seinen gewichtigen Verstand und seine tiefe Gelehrsamkeit vor ihr darzutun. Sie sollte sich kränken, sollte einsehn, wen sie an ihm verloren habe. Und gegen Schluß war ihm doch sein heftig pochendes Herz davongestürmt:
... und ich hoffe, daß er Deiner wert ist – aber er kann Dich ja nicht verdient haben, niemand könnte das. Aber wenn er wenigstens weiß, wen er hat, ist's mir ein Trost. Ach, der Glückliche! Du hast recht, ich bin zu jung. Ich würde eine Hand hingeben, wenn ich dafür acht oder zehn Jahre älter werden könnte. Gott schütze und erhalte Dich, meine liebe, liebe Laura.
Etwas in mir möchte zerspringen. Es möchte, aber es wird nicht. Es ist noch nie zersprungen. O mein Gott, zerspränge es doch! Ich werde Dich nie vergessen. Ich bin nun verloren und werde den Weg nie wieder finden. Um Gottes willen, schreib mir ein paar Reihen, wenn Du diesen Brief erhältst. Schreib mir, wie Du nun heißt, und wo Du wohnen wirst. Laß mich nicht ganz aus Deinem Leben gehn, ich bitte Dich drum, laß mich nicht allein.
Er hatte den Brief ins Haus ihres Vaters geschickt, an die einzige Anschrift, die er wußte. Woche um Woche verging. Jeden Tag, morgens und nachmittags, war er fieberhaft und furchtsam gespannt, wenn der Postbote kam – und dann, als keine Nachricht kam, glitt er in den Sumpf des Trübsinns. Der Juli ging herum; der Sommer war am Entschwinden. Sie schrieb nicht.
Auf der dämmernden Terrasse, lachend, in Erwartung der Mahlzeit, saßen die Kostgänger und schaukelten, schaukelten, schaukelten.
Die Kostgänger sagten: »Dem Eugen ist sein Mädchen davongegangen. Den Eugen hat sein Mädchen sitzen lassen. Dem Eugen ist sein Mädchen untreu geworden. Der arme Kerl, er weiß nicht, was er tun soll, seit das Mädchen weg ist.«
Eine kleine Göre mit fetten, braunen Waden über den kurzen Söckchen, Tochter einer der beiden fetten Schwestern, deren Gatten Hotelangestellte in Charleston waren, führte langsam einen Reigentanz um ihn auf: »Eugen! Eugen! ... hat sein' Schatz verloren ... hat sein' Schatz ... hat sein' Schatz ... hat sein' Schatz verlo-o-oren ...«
Das fette Kind schlüpfte zu seiner fetten Mama, um seine Belobigung einzuheimsen; die beiden sahen einander mit dem gleichen, lose hängenden Lächeln um die dicklippigen Münder an.
»Laß Dich nicht hänseln, großer Junge! Was ist denn los? Hat Dir ein andrer Dein Mädchen weggeschnappt?« fragte, eine große schwarze Zigarre im Mund, Mister Hake, Handlungsreisender in Mehl, ein forscher, junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, mit einer von feinem Blondhaar dünn befransten Glatze.
Seine Mutter, Strohwitwe, fast fünfzig, mit einem scharfgeschnittenen Indianergesicht, hochgekämmtem, gelbgefärbtem Haar und einem groben Lächeln voll von Goldplomben und Herzlichkeit, schaukelte mächtig auf und ab, und sagte heiser-mitleidig lachend: »Such Dir 'ne andre, Eugen! Ach was! Da würde ich mich keine zwei Minuten grämen!« Er erwartete immer, daß sie mit Nachdruck und Gusto ausspucken würde, wenn sie sich geäußert hatte.
»Sie brauchen sich Sorgen zu machen, das haben Sie gerade nötig«, sagte Mister Farrel aus Miami, der Tanzlehrer. »Frauen sind wie Straßenbahnwagen, wenn einem eine wegfährt, kommt in spätestens fünfzehn Minuten eine andre. Nicht wahr, Lady?« sagte er keck zu Miss Clark aus Valdosta im Staate Georgia, der zulieb er seine Meinung zum besten gegeben hatte. Sie antwortete mit einem gurgelnden Gahlern: »Ach, die Männer sind doch wirklich schlimm«, meinte sie.
Am Terrassengeländer gelehnt in der dichter werdenden Dämmerung stand Mister Jake Clapp, der wohlhabende Witwer aus Old Hominy, in verstohlenem Liebeswerben um Miss Florry Mangle, die Krankenpflegerin. Ihr blasses, schlaffes Gesicht schwamm wie ein weißer Klecks im Halbdunkel. Sie sprach mit müder, weinerlicher Stimme:
»Ich dachte mir's ja, daß sie zu alt für ihn wäre, als ich sie sah. Eugen ist ja noch ein Junge. Der Schlag hat ihn schwer getroffen. Man braucht ihn bloß anzusehn, dann weiß man, wie elend er ist. Er wird krank werden, wenn das so weiter geht. Er ist spindeldürr und ißt fast nichts. Wenn jemand so abmagert, wird er im Handumdrehn widerstandslos gegen die nächtsbeste Krankheit, die ihn anfliegen kann ...«
Ihr melancholisches Geweine dauerte an, während Jake verstohlen sich mit dem Schenkel an sie rieb. Sie stand neben ihm, die Arme vorsichtigerweise über ihre Hängebrüste gekreuzt. Durch die graue Dämmerung wandte Eugen den beiden sein ausgehungertes Gesicht zu. Er sah aus wie eine Vogelscheuche, die schmutzigen Kleider schlotterten um seinen abgemagerten Leib. Seine Augen funkelten im Dunkel wie Katzenaugen. Das Haar fiel ihm in die Stirn, ungewaschen, ungekämmt, verklebt wie eine Fasermatte.
»Er wird drüber wegkommen«, sagte Jake Clapp, in seiner gedehnten bäurischen Redeweise, einen Unterton von Geilheit in der Stimme. »Das ist Kälberliebe, jeder Junge muß das durchmachen. Als ich so alt war wie Eugen ...«
Er preßte seinen harten Oberschenkel leise an Florry, grinste breit mit seinen paar Goldzähnen. Er war ein Kerl wie ein Baum, mit einem höckerigen Glatzkopf, mongolische Schlitzaugen im hartgeprägten, lüsternen Gesicht.
»Es wäre besser, er gäbe acht«, greinte Florry trübselig. »Ich weiß, wovon ich spreche. Der Junge ist gar nicht fest mit seiner Gesundheit ...«
Eugen starrte die Kostgänger mit einem steten Haß an. Plötzlich fauchte er wie ein wildes Biest und rannte von der Terrasse, taumelnd vor wahnwitzigem, ersticktem Zorn.
Die sogenannte Miss Brown saß derweilen steif und geziert da. Aus dem Wintergarten erschien die hohe elegante Gestalt von Miss Irene Mallard, achtundzwanzig Jahre alt, aus Tampa in Florida. Sie erwischte Eugen, als er auf der untersten Treppenstufe war, packte ihn am Arm, drehte ihn schnell um und hielt ihn mit ihren langen, kühlen Fingern fest.
»Was tun Sie denn, Eugen?« sagte sie leise. Ihre veilchenfarbnen Augen waren ein wenig müde. Sie duftete nach einem erlesenen Rosenparfüm.
»Lassen Sie mich allein!« murmelte er.
»Sie können es nicht so weiter treiben!« mahnte sie leis. »Sie ist es nicht wert. Kein Mensch wäre es wert. Reißen Sie sich doch zusammen!«
»Lassen Sie mich allein«, knurrte er wütend. »Ich weiß, was ich tu.« Er riß sich heftig los, stürzte in den dunklen Garten davon, rannte hinters Haus.
»Ben!« rief Irene Mallard scharf.
Ben stand auf; er hatte bei Mistress Pert auf der Schwingschaukel gesessen.
»Sehen Sie, daß Sie ihn aufhalten!« sagte Irene Mallard.
»Er ist verrückt«, murmelte Ben. »Wo ist er hingegangen?«
»Hier herum, hinters Haus. Machen Sie schnell!«
Ben eilte über den abschüssigen Rasen.
Die Rückwand von Dixieland hing über dem Abhang; sie war hochgepfropft. Als Stützen dienten ein Dutzend weißgetünchter, etwa drei Meter hoher Backsteinsäulen. An einem dieser Pfosten, dessen Gemäuer schon bröckelte, ließ die Vogelscheuche ihre Wut aus.
»Verruchtes, verrottetes Haus! Ich werde Dich töten! Einreißen werde ich Dich!« keuchte er. »Ein Wrack wirst Du sein, gemeines Haus, aber die Kostgänger wirst Du unter Deinen Trümmern begraben!«
Er rannte mit der Schulter gegen den Pfosten; Bauschutt regnete herunter.
»Verrecken sollen sie in Deinen Trümmern, Haus!« tobte er.
»Narr! Was machst Du!?« schrie Ben und sprang ihn an. Er packte ihn von hinten bei den Armen und zog ihn fort. »Bildest Du Dir ein, daß sie zurückkommt, wenn Du das Haus da in Trümmer schmeißt? Gibt's keine andern Frauen auf der Welt, daß Du Dich so gehn läßt?«
»Laß mich los!« tobte Eugen. »Was geht es Dich an?«
»Glaub doch nicht, daß ich mich drum schere«, sagte Ben wild. »Du tust niemandem weh, außer Dir selber. Glaubst Du, es macht den Kostgängern was aus, wenn es Dir gelingt, ihnen das Haus überm Kopf einzureißen?« Er schüttelte den Jungen. »Nein. Nein. Weißt Du, mir ist es gleich, was Du machst. Bilde Dir doch nicht ein, daß ein Mensch auf der Welt darnach fragt, ob Du Dich selber umbringst oder nicht. Ich möchte der Familie lediglich Umstände und Begräbnisunkosten sparen, weiter nichts.«
Eugen schrie, versuchte sich loszureißen. Verzweifelt hielt Ben ihn fest. Da hob Eugen ihn hoch und schleuderte ihn mit ungeheurer Anstrengung gegen die weiße Wand. Ben ließ ihn los und fiel zusammen. Er bekam einen Hustenanfall, er hustete trocken, die Hand auf den mageren Brustkasten gepreßt.
»Sei doch kein Narr!« keuchte er.
»Hab ich Dir wehgetan?« fragte Eugen dumpf.
»Nein, geh ins Haus und wasch Dich. Und ein- oder zweimal die Woche könntest Du Dir die Haare kämmen, verstehst Du? Du kannst nicht wie ein Wilder rumlaufen. Und iß Dich mal wieder richtig satt. Hast Du Geld?«
»Ja, ich habe genug.«
»Bist Du wieder in Ordnung?«
»Ja – – sprich nicht davon, bitte.«
»Du Narr, ich habe nicht die geringste Lust, davon zu sprechen. Ich möchte nur, daß Du ein bißchen Vernunft annimmst«, erklärte Ben. Er richtete sich wieder auf, wischte seinen von der getünchten Wand weißgewordnen Rock ab. Er schwieg eine Weile. Dann sagte er ganz ruhig: »Zur Hölle mit der ganzen Bande, Eugen! Zum Teufel mit ihnen! Laß Dich von dieser Gesellschaft nicht unterkriegen! Nimm, was das Leben Dir bietet, und scher Dich einen Dreck um den ganzen Betrieb! Niemand und nichts schert sich um Dich. Zur Hölle damit, zur Hölle! Es gibt schlimme Tage. Es gibt gute Tage. Du wirst vergessen. Es gibt viele Tage. Man muß die Fünf gerade sein lassen.«
»Ja«, sagte Eugen trübselig. »Man muß die Fünf gerade sein lassen. Es ist wieder gut. Ich bin zu müde. Wenn man müd ist, ist einem alles schnuppe. Wenn mir nun einer einen Revolver vor die Brust hielte, wär mir's auch gleich. Ich würde nicht mal erschrecken. Ich bin es einfach müde.« Er begann zu lachen, erlöst, mit einem gewissen, fast köstlichen Erleichtertsein. »Von nun an bekümmere ich mich um niemanden und nichts auf der Welt mehr. Ich habe immer vor allen möglichen Dingen auf der Welt Angst gehabt, aber wenn ich es dann müde wurde, war mir alles schnuppe. Und so werde ich über alles hinwegkommen: ich werde es müde sein.«
Ben zündete eine Zigarette an.
»Das klingt schon besser«, sagte er. »Sehen wir, daß wir was zu futtern kriegen!« Er lächelte dünn. »Komm mit, kleiner Simson!«
Sie gingen langsam ums Haus.
Er wusch sich und aß tüchtig. Die Kostgänger hatten gespeist und gingen fort: – ein paar zum Kurkonzert auf dem Stadtplatz, ein paar ins Kino, andre wieder auf einen Bummel durch die Stadt. Eugen ging nach dem Essen heraus auf die Terrasse. Sie war dunkel, fast leer. Auf der Seitenschaukel saß Mistress Selborne mit einem reichen Holzhändler aus Tennessee. Ihr dunkles, üppiges Lachen strudelte leis auf aus dem Bottich der Nacht. Die sogenannte Miss Brown saß allein für sich auf einer Schaukel. Sie war eine untersetzte, sehr unauffällig angezogne Person von neununddreißig Jahren, von jener leichtkomischen Geziertheit, jener allzubedachten Vornehmheit, mit der Prostituierte inkognito auftreten. Sie benahm sich ungemein wohlerzogen, sie betonte mit jeder Allüre, daß sie eine perfekte Lady sei.
Die sogenannte Miss Brown wohnte, so gab sie an, in Indianapolis. Sie war nicht häßlich: ihr Gesicht war einfach völlig durchtränkt von jener unausrottbaren Doofheit, die die Leute aus den Mittelweststaaten auszeichnet. Trotz ihres langen, dünnen, unzüchtigen Mundes wirkte ihr Gesicht spießig. Sie hatte ziemlich viel Haar von einem gleichgültigen Braun, eine glatte, rötliche Haut, verhältnismäßig kleine braune Augen.
»I wo!« sagte Eliza von ihr, »wenn ihr Name Miss Brown ist, dann will ich Mistress Smith heißen.«
Es hatte geregnet. Die Nacht war kühl und schwarz. Die Blumenbeete vorm Haus waren feucht, es roch stark nach Geranien. Er zündete eine Zigarette an. Miss Brown schaukelte.
»Es hat sich abgekühlt«, sagte sie. »Das bißchen Regen hat gutgetan, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er. »Es war widerlich heiß. Ich hasse so 'ne Hitze.«
»Ich auch«, sagte sie. »Deswegen verreise ich jeden Sommer. Sie hier in den Bergen wissen ja eigentlich gar nicht, was richtige Hitze ist.«
»Sie sind aus Milwaukee, nicht wahr?«
»Indianapolis.«
»Ich wußte, es war dort in der Gegend. Ist es 'ne große Stadt?«
»Ja, man könnte ganz Altamont dort in 'ne Ecke stellen, und es würde verschwinden.«
»Wie groß?« fragte er neugierig. »Ich meine: wieviel Einwohner?«
»Genau weiß ich's nicht. Über dreimalhunderttausend, die Vorstädte einbegriffen.«
Er dachte befriedigt nach.
»Ist es hübsch dort? Ich meine: nette Häuser und feine öffentliche Bauten?«
»Ja«, sagte sie nachdenklich, »das würde ich schon behaupten. Es ist nett und gemütlich dort.«
»Und wie sind die Leute? Was tun sie? Viele Reiche, was?«
»Ja, schon. Reiche Leute gibt's massenhaft. Viel Großhandel und Fabriken, wissen Sie.«
»Und die Reichen wohnen wohl in großen Häusern und fahren in großen Autos herum. Und sicher essen sie gut, was?«
»Ei gewiß! Besonders viel deutsche Küche. Machen Sie sich was aus deutscher Küche?«
»Bier!« murmelte er lüstern. »Wird dort noch Bier gebraut?«
»Ja.« Sie lachte. Etwas Wollüstiges klang in ihrer Stimme mit. »Sie scheinen mir ein loser Bube zu sein, Eugen!«
»Und die Theater und Bibliotheken? Da gibt's wohl allerhand zu sehn, was?«
»Ja. All die großen Schlager aus New York und Chicago kommen nach Indianapolis.«
»Und sicher haben sie 'ne Riesenbibliothek dort?«
»Ja, eine nette Bibliothek.«
»Wieviel Bände?«
»Ach, das kann ich nicht sagen. Aber die Bibliothek ist ein schöner, stattlicher Bau.«
»Über hunderttausend Bände sicher. Vielleicht über 'ne halbe Million. Nein, das wäre wohl zuviel. Wieviel Bücher kann man auf einmal ausleihen?«
Der große Schatten seines Hungers überfiel sie; er fraß sie auf mit Fragen.
»Wie sind denn die Mädchen? Blond oder brünett?«
»Na wie? Wir haben Blonde und Braune; die Dunklen überwiegen, scheint mir.« Sie sah ihn an, grinste durchs Dunkel.
»Hübsch, was?«
»Na, das kann ich nicht beurteilen, da müssen Sie Ihre eignen Schlüsse ziehn. Sie wissen ja, ich gehöre dazu.« Sie sah ihn spröd-unzüchtig an, stellte sich ihm zur Besichtigung dar. Dann sagte sie neckisch-vorwurfsvoll lachend: »Sie scheinen mir ein loser Bube zu sein, Eugen!«
Fieberhaft zündete er eine neue Zigarette an.
»Ich würde alles um 'ne Zigarette geben«, murmelte die sogenannte Miss Brown. »Glauben Sie, ich könnte hier eine rauchen?« Sie sah sich um.
»Warum nicht?« sagte er ungeduldig. »Kein Mensch sieht Sie. Es ist stockfinster. Und außerdem, was macht es denn aus?«
Die Erregung spielte in kleinen elektrischen Schauern über sein Rückgrat.
»Ja, ich werd's wagen«, flüsterte sie. »Haben Sie 'ne Zigarette?«
Er gab ihr sein Paket. Sie stand auf, um aus seinen hohlen Händen Feuer zu nehmen. Sie lehnte ihren schweren Körper gegen seinen, verzog das Gesicht und schloß die Augen, als sie die Zigarette an die Flamme brachte. Sie hielt seine Hände, in denen das Zündholz zitterte, fest. Sie hielt sie noch ein wenig länger fest, als nötig war.
»Wie wär's, wenn Ihre Mutter uns nun ertappte?« sagte die sogenannte Miss Brown mit einem schlauen Lächeln.
»Sie wird uns nicht sehn. Und außerdem«, bemerkte er großherzig, »warum sollten denn Frauen nicht rauchen? Ganz so wie Männer. Es ist doch nichts dabei.«
»Ja«, sagte die sogenannte Miss Brown. »Man sollte nicht engherzig denken in solchen Dingen.«
Er aber grinste im Dunkeln, weil die Person sich mit der Zigarette zu erkennen gegeben hatte. Unter den provinziellen Umständen war es ein untrügliches Zeichen für Liederlichkeit.
Dann, als er sie, wieder auf dem Geländer sitzend, mit den Händen abtastete, gab sie sich ganz passiv seiner Umarmung hin.
»Eugen, aber Eugen«, sagte sie leis, scherzhaft-vorwurfsvoll.
»Welches ist Ihr Zimmer?« fragte er.
Sie sagte es ihm.
Später dann erschien Eliza plötzlich und lautlos auf der Terrasse.
»Wer ist da? Wer ist da?« fragte sie und spähte argwöhnisch in die Finsternis. »Eugen? Ist Eugen da? Haben Sie Eugen gesehn?« Sie wußte sehr wohl, daß er da saß.
»Ja, ich bin hier«, sagte er. »Was ist?«
»Ach so, wer ist denn da bei Dir, he?«
»Miss Brown ist bei mir.«
Miss Brown sagte: »Kommen Sie doch, Mistress Gant, und setzen Sie sich ein bißchen zu uns! Sie müssen müd und erhitzt sein.«
»Ach so!« sagte Eliza, »Sie sind's, Miss Brown. Ich hätte Sie so im Dunkeln nicht erkannt!« Sie knipste das trübe Terrassenlicht an. »Es ist ja stockfinster hier draußen. Jemand könnte auf den Terrassenstufen fallen und ein Bein brechen.« Sie wurde gesprächig. »Ich will Ihnen was sagen, man atmet auf an der frischen Luft. Ich könnte alles liegen und stehn lassen, wünscht ich, und mein Leben ein bißchen genießen.«
Sie setzte ihr liebenswertes Selbstgespräch eine halbe Stunde lang fort, ohne auch nur einen Augenblick ihre forschenden Augen von den beiden Halbdunkeln Gestalten wegzuheben. Dann zog sie sich linkisch und zaudernd wieder ins Haus zurück.
»Sohn!« sagte sie besorgt beim Weggehn. »Es ist spät. Du solltest schlafen, Wir sollten alle längst im Bett stecken.«
Die sogenannte Miss Brown pflichtete ihr verbindlichst bei und erhob sich:
»Ja, ich wenigstens bin müde. Ich geh schlafen. Gute Nacht!«
Eugen saß still auf dem Geländer, rauchte und horchte. Das Haus ging schlafen. Er ging in die Küche und fand Eliza, die sich gerade in ihre kleine Zelle zurückziehn wollte.
»Sohn!« sagte sie leis, nachdem sie mehrere Male vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt hatte, »ich will Dir was sagen. Das gefällt mir nicht. Es sieht nicht nach rechten Dingen aus, wenn Du nachts allein mit dieser Frau auf der Terrasse sitzt. Sie ist alt genug, um Deine Mutter zu sein.«
»Sie ist Dein Gast, nicht meiner«, sagte er störrisch. »Ich hab sie nicht ins Haus gebracht.«
Eliza war verletzt. »Eine Sache ist sicher, das wirst Du bemerkt haben: ich verkehre nicht mit den Leuten. Ich trage meinen Kopf so hoch wie irgend jemand.« Sie lächelte herb.
»Na ja, gute Nacht, Mama«, sagte er beschämt und betroffen. »Laß uns die Hausgäste auf ein Weilchen vergessen. Was macht es schon viel aus?«
»Sei brav, Junge«, mahnte Eliza scheu. »Ich möchte, daß Du brav bleibst, Sohn.«
Er war schuldbewußt; Reue und Zerknirschung rissen an ihm. Er war, wie immer, bitter berührt von der wahrhaft kindlichen Unschuld, der anständigen Festigkeit, die ihrem Leben zu Grunde lag.
»Mach Dir keine Gedanken!« sagte er und wandte sich jäh ab. »Es ist nicht Dein Fehler, wenn ich es nicht bin. Ich werde Dir keine Vorwürfe machen. Gutnacht!«
Das Licht in der Küche ging aus. Er hörte, wie die Tür von Elizas Kammer leise ins Schloß schnappte. Ein kühler Luftzug wehte durchs Haus. Langsam, pochenden Herzens, stieg er die Treppe hinauf.
Aber auf der dunklen Treppe, wo der dicke Teppichläufer den Laut seiner Tritte erstickte, prallte er unversehens auf eine Frau. An dem Magnoliengeruch erkannte er, daß es Mistress Selborne war. Sie hielten einander einen Augenblick bei den Armen, mit angehaltnem Atem. Ein paar Strähnen ihres blonden Haars streiften sein Gesicht.
»Pst!« wisperte sie.
So standen sie da, Brust an Brust, das einzige Mal, daß sie einander berührten. Und, jedes in seinem dunklen Wissen um das Leben des andern bestätigt, trennten sie sich, um sich fortan mit ruhigen Augen, die nichts verrieten, vor der Welt zu begegnen.
Er tastete vorsichtig den dunklen Gang entlang, bis er an die Zimmertür der sogenannten Miss Brown kam. Die Tür war angelehnt. Er ging hinein.
Sie nahm alle die Medaillen, die er in Leonards Schule gewonnen hatte: Die eine im Diskussionswettbewerb, die andre für Deklamation und die bronzene für William Shakespeare. W. S. 1616-19. Für einen Dukaten ward's getan!
Er hatte kein Geld, um ihr es zu geben. Sie verlangte nicht viel. Jedesmal eine Silbermünze oder zwei. Es wäre ihr, so erklärte sie, nicht ums Geld zu tun. Es wäre wegen des Prinzips. Er erkannte ihren Standpunkt als richtig an.
»Wenn ich Geld wollte, würde ich mich nicht mit Dir abgeben. Ich kriege täglich Anträge. Der reiche, alte Tyson stellt mir nach, seit ich hier bin. Er bot mir zehn Dollar, wenn ich mit ihm ins Auto ginge. Dein Geld brauch ich wahrhaftig nicht. Aber Du mußt mir etwas geben dafür, es ist mir gleich, wie wenig es ist. Ich käme mir sonst unanständig vor; ich habe zuviel Selbstachtung. Ich bin keine von den kleinen Gelegenheitsschneppen, wie sie hier zu Dutzenden herumlaufen.«
So gab er, statt Geldes, die Medaillen zum Pfand.
»Wenn Du sie nicht einlöst«, sagte die sogenannte Miss Brown, »werde ich sie meinem Sohn geben, wenn ich nach Hause komme.«
»Hast Du'nen Sohn?«
»Ja. Er ist achtzehn. Beinah so groß wie Du und doppelt so breit. Die Mädchen sind wie verrückt hinter ihm her.«
Er wandte den Kopf scharf weg und erblaßte. Es war ihm übel vor Entsetzen. Ihm war, als hätte er sich blutschänderisch besudelt.
»Jetzt ist's aber genug!« sagte Miss Brown streng. »Geh auf Dein Zimmer und schlaf Dich aus!«
Aber – anders als jene erste in der Tabakstadt – nannte sie ihn nie »Sohn«.
»Arme Butterfly, es brach ihr das Herz, oh
Arme Butterfly, denn sie liebte ihn so-o-o ...«
Miss Irene Mallard wechselte die Nadel an dem kleinen Grammophon und legte die andre Seite der abgespielten Schallplatte auf. Als die gravitätische, nachdrücklich-rhythmische Melodie von »Katinka« erklang, stand sie da: aufrecht, lächelnd, schlank und schön. Die langen, lieblichen Hände wie Flügel erhoben, wartete sie auf seine Umarmung. Sie lehrte ihn tanzen. Laura James hatte wundervoll getanzt; es hatte ihn wahnsinnig gemacht, sie beim Tanze in den Armen eines jungen Mannes zu sehn. Und nun bewegte er sich steif und täppisch, zählte ein-zwei-drei-vier, schwankte schwerfällig auf dem linken Fuß. Irene Mallard schwebte, fast körperlos wie eine Rauchsäule, unterm Druck seines unbeholfen steuernden Arms. Gewichtlos wie ein Vogel war ihre Linke auf seine knochige rechte Schulter gesetzt; die kühlen Finger ihrer Rechten lagen auf dem heißen Handteller seiner Linken, die auf- und abging, als sägte er die Luft.
Sie hatte dichtes, eichenholzfarbnes Haar, in der Mitte gescheitelt. Ihre Haut war perlenblaß und von durchsichtiger Feinheit. Ihr Kinn war lang, voll und sinnlich – sie war ein reiner präraffaelitischer Typ. Sie hielt sich wunderbar aufrecht, war sehr graziös; aber in ihrem ganzen Wesen war etwas Zerbrechliches und Müdes. Ihre schönen Augen hatten die Farbe von Veilchen; sie waren ein wenig traurig und voll von langsamer Verwunderung und Zärtlichkeit. Sie war wie eine Luinimadonna, himmlisch und irdisch, heilig und verführerisch zugleich. Er hielt sie in ehrfurchtsvoller Vorsicht umfangen, wie einer, der nicht zu nahe zu kommen wagt aus Angst, ein geweihtes Bild zu zerbrechen. Ihr köstliches, feines Parfüm flüsterte ihm etwas Verstohlnes, etwas von heidnischer Heiligkeit zu. Er hatte Angst, sie zu berühren, und seine heiße, nervöse Hand schwitzte ihre kühlen Finger feucht.
Manchmal hustete sie leis, lächelte, hielt ein zerknülltes, kleines blaugerändertes Taschentuch an den Mund.
Sie war nicht wegen ihrer eignen Gesundheit ins Gebirg gekommen, sondern wegen ihrer Mutter, die an Asthma litt und herzkrank war. Die Mutter war fünfundsechzig; sie trug verschossene, altmodische Kleider und machte die ewig trübselige Miene alter Leute, die ständig krank sind. Sie waren aus Florida. Irene Mallard war eine tüchtige Geschäftskraft; sie bekleidete den Oberbuchhalterposten in einer Altamonter Bank. Jeden Abend rief der Bankpräsident Randolph Gudger bei ihr an. Irene Mallard legte die Hand auf die Schallmuschel des Telephonhörers, lächelte Eugen ironisch an und verdrehte die Augen. Manchmal fuhr Randolph Gudger in seinem Auto vor, um sie zu einer Spazierfahrt einzuladen. Eugen zog sich mürrisch zurück, bis der reiche Mann wieder abgezogen war. Der Bankier sah ihm mit bittern Blicken nach.
»Er macht mir dauernd Heiratsanträge«, sagte Irene Mallard. »Was soll ich nur tun?«
»Er ist alt genug, um Dein Großpapa zu sein«, sagte Eugen. »Hat 'ne Glatze, falsche Zähne und wer weiß, was sonst alles nicht stimmt.«
»Aber er ist reich, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Das muß auch in Betracht gezogen werden.«
»Los, dann los! Vorwärts geheiratet! Heirate ihn und verkauf Dich!« rief er wütend. Und mit dramatischem Pathos sagte er: »Dieser Greis!« Randolph Gudger war fünfundvierzig Jahre alt.
Und so tanzten sie im Wintergarten, im grauen Zwielicht, das schmerzlich schön war wie das Licht unter der See, in dem sein Ich schwamm, ein Meerwesen, verloren und der Verbannung eingedenk. Und im Tanz gab sie, die er nicht zu berühren wagte, sich ihm körperlich hin, flüsterte ihm leis ins Ohr, preßte die schlanken Finger seiner heißen Hand. Ja, sie, die er nicht anrühren wollte, lag wie eine Garbe in seinem gewinkelten Arm, in tausendfach wandelbaren Formen des Trosts und Entzückens schön: Heilmittel und Gnadenzeichen der Welt, Zuflucht vor dem einen verlornen Gesicht unter allen Gesichtern, Linderung für jene Wunde, die Laura hieß. Der große Maskenzug von Stolz und Schmerz und Tod zog an seiner Schau vorbei durch die Dämmerung und berührte seinen Kummer mit einer einsamen Freude. Er hatte verloren und hatte seinen Verlust tragen gelernt; die ganze Pilgerfahrt über die Erde war Verlust; ein Augenblick des Zusammenhängens, ein Augenblick der Trennung, das Winken von tausend phantomischen Schatten und der hohe, leidenschaftslose Kummer der Sterne.
Es war dunkel. Irene Mallard nahm ihn bei der Hand und führte ihn nebenan auf die Terrasse.
»Setz Dich einen Augenblick hierher zu mir, Eugen, ich möchte mit Dir sprechen.« Gehorsam nahm er neben ihr auf der Sitzschaukel Platz; er ahnte, wovon sie reden würde.
»Ich hab Dich in diesen letzten Tagen ein bißchen überwacht, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Ich weiß, was Du treibst.«
»Was meinst Du?« fragte er heiser. Sein Puls schlug heftig.
»Das weißt Du ganz genau«, sagte Irene Mallard streng. »Nun hör mal, Eugen. Du bist ein viel zu feiner Kerl, um Dich an so ein Frauenzimmer zu hängen. Jeder Mensch sieht doch, zu was für einer Sorte sie zählt. Meine Mutter hat mir auch davon gesprochen. So eine Person kann einen Jungen wie Dich ruinieren. Du mußt aufhören damit.«
»Wie hast Du es erfahren?« murmelte er. Er war verschüchtert und beschämt. Sie nahm seine zitternde Hand und hielt sie mit ihren kühlen Fingern, bis er ruhiger wurde. Aber er rückte nicht näher zu ihr; er hielt Abstand aus Angst vor ihrer Schönheit. Ganz wie Laura James schien sie ihm zu hoch für körperliche Leidenschaft, er fürchtete sich vor ihrem Fleisch; aber vorm Fleisch der sogenannten Miss Brown war ihm nicht im geringsten bange. Nun war er dieser Person müde und wußte nicht, wie er sie bezahlen sollte; sie hatte alle seine Medaillen.
Durch den ganzen Spätsommer ging er mit Irene Mallard. Nachts bummelten sie auf kühlen Straßen im Rauschen des angewelkten Laubs. Sie gingen zusammen auf das Hoteldach tanzen. Später kam Pap Reinhart zu ihnen an den kleinen Tisch; er war scheu und gütig und linkisch und roch nach seinem Reitpferd. Sie saßen und tranken. Pap war in den letzten Jahren, nachdem er Leonards Schule verlassen hatte, auf eine Militärakademie gegangen und hatte sich bemüht, seinem komisch verrenkten Hals eine gerade Haltung beizubringen. Aber er blieb immer derselbe: ein drollig-trockner, gutmütiger Spötter. Eugen sah ihm gern in das gute, scheue Gesicht und dachte an die verlornen Jahre, an die verlornen Gesichter. Und ein Kummer befiel sein Herz um all das, was nicht wiederkommen würde.
Der August endete. Der September kam. Die Luft war voll von schwirrenden Zugvögelschwingen, die Welt voll von Abschied. Die Trommel schlug zum Streite, und junge Männer zogen ins Feld. Ben war abermals in der Musterung zurückgewiesen worden. Er dachte daran, sich in anderen Städten sein Brot zu verdienen. Lukas hatte eine Anstellung in einer Munitionsfabrik in Dayton in Ohio aufgegeben und war in die Marine eingetreten. Er erschien zu einem kurzen Heimaturlaub, ehe er zu einem Ausbildungskurs nach Newport in Rhode-Island ging. Die Straßen brüllten vor Lachen, wenn er mit seinem vulgären Schritt angesegelt kam, in flappenden Hosen, mit grinsendem Gesicht, die dicken, widerspenstigen Locken unter der Matrosenmütze hervorquellend: ganz der »Blaue Junge«, wie er im Witzblatt steht.
»Lukas!« schrie Mister Fawcett, der Landauktionär, und zog ihn am Ärmel von der Straße in Woods große Drogerie. »Bei Gott, Sohn, Du hast Dein Bestes getan! Ich lade Dich auf 'nen Trunk ein. Was möchtest Du?«
»Ein Glas Coca-Cola«, sagte Lukas. »Ihr Wohl, Colonel!« Er hob das frostbeschlagne Glas mit einer heftig zitternden Hand, stand nervös vor der grinsenden Bargesellschaft. »V-v-vor v-v-vierzig Jahren«, sagte er heiser, »würde ich dieses Ansinnen abgelehnt haben, aber nun, bei Go-go-gott!, ka-ka-kann ich's nicht.«
Die Krankheit hatte Gant mit verstärkter Heftigkeit angefallen. Sein Gesicht war hager und gelb. Er tatterte vor Schwäche. Es war beschlossen, daß er wieder nach Baltimore müsse. Helene sollte ihn begleiten.
»Hör mal«, versuchte Eliza ihn zu überreden, »warum gibst Du nicht Deinen Betrieb auf, um Dich auf den Rest Deiner Tage zur Ruhe zu setzen? Du bist nicht mehr gesund genug, um Dein Geschäft richtig zu verstehn. Ich an Deiner Stelle würde mich zurückziehn. Das Geschäftshaus könnten wir jederzeit für zwanzigtausend Dollar verkaufen. Wenn ich so viel Kapital in der Hand hätte, um es arbeiten zu lassen, dann würde ich den Leuten was zeigen.« Sie nickte forsch, zwinkerte schlau. »Ja, ja, das Kapital könnte man zwei- oder dreimal in den nächsten zwei Jahren umsetzen. Heutzutag muß man im Handel schnell sein, so daß der Ball im Rollen bleibt. Verstehst Du? Das ist die Art, Geld zu machen!«
»Barmherziger Heiland!« stöhnte er. »Die Werkstatt ist meine letzte Zuflucht auf Erden! Weib! Hast Du denn gar keine Spur von Mitgefühl? Ich flehe Dich an: laß mich in Ruhe sterben, es dauert ja nicht mehr lang. Nachher kannst Du mit dem Zeug machen, was Du willst. Aber laß mir ein bißchen Frieden. In Jesu Namen, ich bitte Dich drum.« Er schnüffelte, als wolle er weinen.
»I wo«, sagte Eliza, vermutlich in der Hoffnung, ihn aufzumuntern. »Dir fehlt ja kaum was. Gut die Hälfte ist nichts wie Einbildung.«
Er stöhnte, wandte sich ab.
Der Sommer starb auf den Bergen. Ein Hauch von Rostrot, kaum merklich, lag auf dem Laub. Die nächtlichen Straßen waren voll von traurigem Gelispel. Die ganze Nacht hindurch, schlafsüchtig auf seiner Altane, lauschte Eugen auf die seltsamen Herbstlaute. Und alle die vielen Geräusche, die das helle, heiter drängende Sommerleben in die Stadt gebracht hatte, waren merkwürdigerweise wie über Nacht verschollen. Die Fremden waren in den weiten Süden heimgekehrt. Die ganze Nation war vom feierlichen Ernst und der Spannung des Kriegs bestrickt. Eugen hatte das Gefühl, in einem grimmig-grauen Zwielicht zu leben. Ihm war, als sei die Freude gestorben, und er spürte, wie tastend der Glaube an Wunder und Ruhm in ihm erwachte. Das Land erholte sich aus dem ziellosen, unordentlichen Taumel der ersten Kriegsmonate und fing an, die großen Maschinen aufzubauen: – Maschinen, um Haß und Falschheit zu mahlen und durch Druck zu verbreiten – Maschinen, um die Ruhmsucht aufzupumpen – Maschinen, um die Opposition zu knebeln und zu zerstampfen – Maschinen, um junge Männer regimentsweise zu drillen.
Aber etwas von echtem Wunder war über die Nation gekommen. Die Flammengarben und Leuchtraketen der Schlachtfelder warfen ihren Widerschein über die weiten Ebnen. Junge Männer aus Kansas sollten in der Pikardie fallen. Irgendwo, noch Erz in fremder Erde, lag das Eisen, das sie erschlagen sollte. Das Bewußtsein der unbekannten Mächte Schicksal und Tod war plötzlich auf Gesichtern zu lesen, auf denen sonst nichts Besondres zu lesen stand ... und die Vereinigung des Fremdartigen mit dem Alltäglichen ist es ja, die das Wunder bewirkt.
Lukas war zu seinem Ausbildungskursus nach Newport gefahren. Ben begleitete Helene und Gant nach Baltimore. Gant hatte sich, ehe er sich im Hospital zur Radiumbehandlung einstellte, noch einmal tüchtig der Sauferei ergeben. Sie wurden aus dem Hotel rausgeschmissen und mußten in ein andres ziehn. Schließlich lag der Alte erschöpft auf seinem Bett, stöhnte und verpuffte in gotteslästerlichen Flüchen die Kraft, die er viel lieber aufgespart hätte, um Dutzende frischer Austern mit Bier und Whisky durcheinander herunterzuwaschen. Sie tranken alle ziemlich viel, Gants Unmaß jedoch war derart, daß Ben sich davor ekelte und Helene darüber in rasenden Zorn versetzt wurde.
»Verdammter Alter!« schrie Helene, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich könnte Dich prügeln! Nicht Du bist krank, sondern ich bin's, und Du hast mich krank gemacht. Du wirst noch leben, wenn ich längst unterm Rasen liege, Du selbstsüchtiger, alter Kerl! Es macht mich rasend, so was!«
Er lag stinkbesoffen und gleichgültig auf dem unordentlichen Bett.
»Aber Baby!« grölte er und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Gott soll Dich schützen. Ohne Dich könnte ich nicht leben!«
»Sag nicht Baby zu mir!« schrie sie.
Aber am nächsten Tag, als sie ins Hospital fuhren, hielt sie seine Hand. In der Tür blieb er stehn, sah sich um, schaute lange auf die Stadt hinunter.
»Hier war ich als Junge!« murmelte er traurig.
»Mach Dir keine Gedanken«, tröstete sie. »Es wird alles wieder heil. Du wirst wieder ganz wie ein Junge sein.«
Hand in Hand traten sie in die Wandelhalle, wo – flankiert von Tod und Schrecken, umhuscht von der geschäftigen Sachlichkeit der Pflegerinnen und den hurtigen Schatten der stillen Männer mit den grauen Gesichtern und den kleinen bohrenden Augen, die so sicher zwischen gebrochnen Leben einhergehn – die Arme in einer Gebärde ungeheuren Mitleids gebreitet, vielmals größer als Gants größter Engel, ein Standbild des lieben Herrn Jesus steht.
Eugen besuchte die Leonards mehrere Male. Margaret sah dünn und krank aus, aber das große Licht schien deshalb umso heller zu brennen. Nie zuvor hatte ihn ihre ruhige Geduld, die große Gesundheit ihres Geistes so beeindruckt. All seine Sünden, all seine Schmerzen, alle Trübsal und Seelenqual waren ausgetilgt vor der Strahlenkraft dieses Leuchtens. Der Tumult und das Böse fielen von ihm ab wie ein schmutziger, zerschlissener Mantel; ihm war, als stünde er in neuen, nahtlosen Gewändern aus Licht.
Aber von dem, was ihm das Herz bedrückte, konnte er wenig gestehn. Er hätte gern gebeichtet, sich entlastet, sich befreit – aber er wußte im voraus, daß er nicht davon reden könne, daß sie ihn nicht verstehn würde. Sie war zu weise für alles außer dem Glauben. Einmal, ganz verzweifelt, wollte er zu ihr von Laura sprechen. Er platzte linkisch heraus. Noch ehe er ein paar Worte gesagt hatte, fing sie an zu lachen und rief ihrem Gatten zu:
»Stell Dir diesen Burschen mit einem Mädchen vor! Ei was, Junge? Du hast ja keine Ahnung, was Liebe ist! Schlag Dir das aus dem Sinn und denk in zehn Jahren mal wieder dran!«
Sie lachte zärtlich vor sich hin mit einem geistesabwesenden, von Tränen vernebelten Blick.
»Der alte Eugen mit einem Mädchen! Das arme Ding, man muß ja Mitleid mit ihm haben! Lieber Gott, Junge, damit hat es noch lange Zeit. Dank Deinen Sternen dafür!«
Er neigte schnell den Kopf und schloß die Augen. O Du, meine liebste Heilige, dachte er, wie nah bist Du mir gewesen, wenn je überhaupt ein Mensch mir nah war! Wie habe ich mein Denken bloßgelegt, damit Du mich sehen solltest! Und wie gern hätte ich mein Herz bloßgelegt, wenn ich's gewagt hätte! ... Und wie sehr bin ich allein, wie sehr bin ich immer allein gewesen.
Nachts ging er mit Irene Mallard spazieren. Die Stadt war trübselig und abschiedsöde; ein paar Leute gingen vorüber, von kurzen Windstößen vorwärts gepufft. Ihre feine Müdigkeit hielt ihn im Bann. Sie gab ihm Trost, und er rührte sie nie an. Aber er entlud sein Herz vor ihr, zitternd und leidenschaftlich. Sie saß neben ihm und streichelte seine Hand. Es schien ihm, als ob er sie nie gekannt hätte, bis er sich Jahre später an sie erinnerte.
Dixieland stand fast leer. Abends packte Eliza umständlich seinen Koffer. Befriedigt zählte sie die gebügelten Hemden und die gestopften Socken.
»Nun hast Du genug gute, warme Sachen, Sohn. Gib acht drauf!«
Sie steckte Gants Scheck in seine innere Brusttasche und machte die Tasche mit einer Sicherheitsnadel fest.
»Paß mir scharf auf das Geld acht, Junge! Man weiß nie, wer mit einem im Zug fährt.«
Er trödelte nervös zur Tür, er wollte sich das Abschiednehmen sparen und sich drücken.
»Mir scheint doch, Du könntest wenigstens einen Abend zu Haus bei Deiner Mutter verbringen«, sagte sie streitsüchtig. Ihre Augen waren naß, ihr Mund verzog sich zum bebenden Lächeln des Selbstmitleids. »Ich will Dir was sagen, es sieht sehr komisch aus, nicht wahr? Du kannst keine fünf Minuten bei mir bleiben, ohne daß Du mit der erstbesten Frau ausreißen möchtest. Es ist schon recht, schon recht! Ich beklage mich nicht. Mir scheint nur, daß Kochen und Nähen und Kofferzurechtmachen das einzige ist, wozu ich gut bin.« Sie brach geflissentlich in Tränen aus. »Sonst bin ich Dir zu nichts gut! Ich hab Dich den ganzen Sommer nicht einmal richtig ansehn können.«
»Nein«, sagte er bitter. »Du hattest zuviel zu tun, um nach Deinen Kostgängern zu sehn. Glaub doch nicht, Mama, daß Du mir nun in letzter Minute zusetzen kannst«, rief er, dessen Gefühle bereits ganz von ihr verwirrt waren. »Tränen sind billig! Ich war die ganze Zeit da, und Du hattest nie Zeit für mich. Um Gottes willen, mach Schluß damit! Es steht ohnehin schlimm genug um uns. Mußt Du Dich denn jedesmal so aufspielen, wenn ich wegfahre? Willst Du mich so elend machen, wie es nur möglich ist?«
Elizas Augen waren sofort trocken.
»Also, ich will Dir was sagen«, begann sie hoffnungsvoll. »Wenn ich ein paar Geschäfte abschließe und die Sache gut geht, dann kann es sehr wohl sein, daß Du mich in einem großen, feinen Haus findest, wenn Du nächstes Frühjahr wieder kommst. Das Grundstück ist schon ausgesucht; ich habe mir kürzlich erst die Sache wieder überlegt ...«, gestand sie mit verständnisinnigem Kopfnicken.
»Ach!« Er fauchte und riß an seinem Halskragen. »In Gottes Namen, ich bitte Dich!«
Sie schwieg.
»Also, ich wünsche, daß Du brav bist und fleißig studierst. Und gib auf Dein Geld acht! Gut und genug zu essen und warme Kleider, das brauchst Du. Aber verschwenden darfst Du nicht! Die Krankheit Deines Vaters hat einen Haufen Geld gekostet. Und das Geld geht überhaupt an allen Ecken und Enden hinaus, und nichts kommt ein. Niemand weiß, wo der nächste Dollar herkommt. Also Du mußt sparsam sein.«
Sie schwieg, sie hatte ihr Sprüchlein aufgesagt. Sie war ihm so nah gekommen, wie sie konnte, und nun plötzlich stand sie sprachlos da, ausgeschlossen, ausgesperrt aus dem bittren Geheimnis seines Lebens.
»Es ist mir schrecklich, daß Du weggehst, Sohn«, sagte sie ganz still aus einer tiefen, unergründlichen Traurigkeit.
Gequält reckte er die Arme.
»Und was macht es schon aus! O Gott! Was macht es aus!«
Elizas Augen standen voll Tränen. Es tat ihr wirklich weh. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie.
»Versuch es, glücklich zu sein, Sohn!« weinte sie. »Versuch es, ein bißchen glücklicher zu sein. Armes Kind! Armes Kind! Kein Mensch hat Dich je gekannt. Eh Du geboren wurdest ...« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war schmerzbeklommen, tränenerstickt. Dann räusperte sie sich und wiederholte leise: »Eh Du geboren wurdest ...«