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XIII

In den folgenden Jahren, bis er elf oder zwölf Jahre alt war und nicht mehr auf eine Kinderfahrkarte mitgenommen werden konnte, reiste Eugen mit Eliza in den reichen, geheimnisvollen Süden. Eliza wurde während ihres ersten Winters in Dixieland von schwerem Rheumatismus befallen; ihr Körper war aufgedunsen, der Doktor diagnostizierte ein Nierenleiden. So begann sie – auf der Suche nach Gesundheit und unklar auch auf der Suche nach Reichtum – ausgedehnte, wenn auch keineswegs großzügige Reisen nach Florida und Arkansas zu machen.

Sie äußerte sich stets sehr hoffnungsvoll über die Möglichkeit, in einem tropischen Winterkurort ein zweites Boardinghouse aufzumachen und so im Sommer ihr Haus in Altamont, im Winter das im warmen Süden zu führen. Im Winter vermietete sie nun Dixieland auf ein paar Monate, manchmal auch auf ein Jahr, obschon sie alsdann keineswegs daran dachte, sich die einträgliche Kursaison im Sommer entgehen zu lassen. Sie vermietete, mehr oder weniger absichtlich, an unerfahrene Frauen, die sich abenteuernd im Geschäft der Pensionsinhaberin versuchten, für ein oder zwei Monate im voraus bezahlten, aber weder Mittel noch Ausdauer hatten, ein Unternehmen wie Dixieland außerhalb der Kurzeit länger zu halten. Wenn Eliza dann von ihrer Reise zurückkehrte, war entweder ein fälliger Termin nicht erledigt oder irgendein andrer Punkt im Kontrakt nicht eingehalten worden. Sie rückte triumphierend in die Schlacht, erzwang den Eintritt in die Burg mit Hilfe von Polizisten, Detektiven, mit Befugnissen, Vollmachten, Vorladungen und all der anderen schweren Artillerie juristischer Kriegführung und riß rachsüchtig ihr Vermögen wieder an sich.

Ihre Reiseziele lagen stets im Süden. Den Norden hielt sie, obschon sie ihn öfters zu erkunden drohte, für verdächtig. Nicht etwa, daß sie wegen des verjährten Bürgerkriegs gegen Land und Leute dort eine feindselige Gesinnung hegte, aber sie empfand Furcht, Mißtrauen, Fremdheit: der echte Yankee, der Mensch aus den Nordoststaaten der Union, war ein Ausländer für sie. So reiste sie also in den Süden, in jenen Süden, der wie die dunkle Helena in Eugens Blut brannte, und sie nahm ihn stets mit. Er schlief noch immer in ihrem Bett.

Eugens Gefühl für den Süden galt nicht so sehr dem Historischen. Es war vielmehr Kern und Sehnsucht seiner romantischen Natur. In ihm war jene grenzenlose und unerklärliche Trunkenheit, jener Magnetismus des Blutes, der manche Menschen ins Herz der Hitze und darüber hinaus in die smaragdene Kälte des Südpols treibt, so wie es dem Romantiker Coleridge in dem unvergleichlichen »Rime of the Ancient Mariner« ging, einem Gedicht, über das nichts geht. Diese Sehnsucht nach dem Süden wurde fraglos gesteigert durch das, was er gelesen und geträumt hatte. Dazu kam, daß der Geschichtsunterricht in der Schule eine Gloriole um die Gegend wob: da hörte er von dem »guten alten Süden« in jenen »guten alten Zeiten«, wo Leute noch in sogenannten »Herrenhäusern« wohnten, wo die Sklaverei eine von dauerndem Banjogestrumm und Schiebetänzen begleitete Wohlfahrtseinrichtung war, wo alle weißen Frauen rein, adlig und schön und alle weißen Männer kühne, todverachtende Kavaliere waren. Jahre später, als Eugen längst mit Widerwillen an diesen billigen Schwindel dachte, tat er immer noch so, als sei er dem Süden fanatisch ergeben, und entschuldigte die Tatsache, daß er in den Nordstaaten wohnte, mit Gründen der Notwendigkeit. Schließlich fiel ihm bei, daß er der Gegend und den Leuten dort nichts schuldig sei, daß er die ganze leidige Mythe zum Teufel wünschen könne – und das tat er denn auch.

 

Nun aber reichte sein Leben an ein fabelhaftes, einsames Wunder, in die Verzauberung, die nur durch Elizas geizige Gewohnheiten, ihren Mangel an Großartigkeit in einer großartigen Welt, unterbrochen wurde. Sie nahmen Mahlzeiten von mürben Brötchen und Butter und Milch in trüben Restaurants; im Speisewagen packten sie mitgebrachte Butterbrote aus einer Schuhschachtel, sobald Eliza nach einem langwierigen Studium der Karte schließlich Kaffee bestellt hatte. Beinah überall, wo sie abstiegen, gab es Schwierigkeiten wegen des Preises und Streit wegen der Rechnung. Wenn der Fahrkartenkontrolleur kam, hieß sie ihn sich zusammenzu»hutzeln«, damit seine Berechtigung auf eine halbe Fahrkarte nicht angezweifelt würde, denn Eugen war ein hochaufgeschoßner Junge.

Auf die Herbstfahrt mit Gant nach Augusta folgte eine Winterreise mit Eliza nach Florida. Sie gingen zuerst nach Tampa, dann ein paar Tage später nach Saint Petersburg. Er watete durch den tiefen losen Sand der Straßen, saß und fischte mit munteren alten Männern am Ende des langen Piers, verschlang eine ganze Menge von 10-Cent-Räuber-Schinken, die er in einer Kiste in den möblierten Zimmern, die Eliza in einem Privathaus gemietet hatte, fand. Sie reisten ganz plötzlich ab. Es gab Krach mit dem alten Kavalier, der ihnen die Zimmer vermietet hatte und sich nun um sein Haupteinkommen für die Saison geprellt sah. Sie fuhren eiligst nach Süd-Carolina, auf eine hysterische Depesche Daisys hin, die ihrer Mama ein »Komme bitte sofort« gedrahtet hatte. Sie kamen in der trüben Kleinstadt an, es war spät im März, man blieb mit den Schuhen im lehmigen Gassenkot stecken, es regnete unausgesetzt. Daisys erstes Kind, ein Junge, war am Tage zuvor geboren worden. Eliza hielt die Unterbrechung ihrer Erholung für überflüssig und unnütz, war verärgert; zwei oder drei Tage nach der Ankunft zerstritt sie sich mit der Tochter und fuhr heim nach Altamont. Bei ihrer Abreise erklärte sie – Daisy applaudierte den Vorsatz mit Ironie –, sie würde nie wieder zu Daisy zu Besuch kommen. Aber sie hielt nicht Wort.

Im nächsten Winter fuhren sie um die Fastnacht nach New Orleans. Eugen erinnerte sich an die großen Zisternen, die im Garten hinter dem Haus seiner Tante Mary voll mit Regenwässer standen; an das Schnarchen der Tante, von dem nachts die Fenster schepperten; und an den Mardi Gras. Der große Karnevalszug kam durch die Canal Street mit geschmückten, hochaufgestockten Narrenkutschen; die Schönen lächelten; Gruppen in grotesken und phantastischen Masken marschierten lärmend vorbei. Und wieder sah Eugen Schiffe vor Anker; die hohen Kiele ragten über die Hafenmauer am Ende der Canal Street. Auf dem Friedhof waren die Grabhügel über der Erde angelegt, weil – wie Gants Neffe Olly erklärte – »das Grundwasser für die Leichen nicht gut ist«.

Und er erinnerte sich an die Gerüche auf dem alten französischen Markt, an den Duft des starken Kaffees, den er dort trank, und an die völlig ungewohnte Sonntagsheiterkeit der Stadt: offne Theater, Gehämmer und Gesäge aus den Werkstätten, Menschen in lustiger Stimmung auf der Straße. Er besuchte die Boyles, Stammgäste in Dixieland, die im alten französischen Viertel wohnten. Er schlief mit Frank Boyle in einem dunklen, von Kerzen matterleuchteten Saal. Die Boyles hatten als Köchin eine steinalte Negerin, die nur Französisch konnte; morgens kam sie vom Markt mit einem großen Korb voll Gemüsen, Südfrüchten, Geflügel, Fleisch. Sie bereitete fremde Gerichte von ungekannter Köstlichkeit: schweren Gumbo, garnierte Beefsteaks, Geflügel in würzigen Tunken.

Und er blickte auf die ungeheure gelbe Schlange des Mississippi. Er träumte von den langen Ufern dieses »Vaters der Ströme«, von den unzähligen, tropisch umwucherten Flüssen, die ihn speisen, von dem merkwürdigen Leben auf den Plantagen und in den Zuckerrohrbrüchen, von Uferlandschaften im Mondlicht. Er sah Neger im Dunkel auf den Deichen tanzen, sah die langsamen Lichter der goldverstuckten Flußdampfer, Frauen an Deck mit schwarzen Haaren und duftender Haut; er hörte das geisterhafte Echo der Musik klingen unter den tief ins Wasser hängenden phantomischen Uferbäumen.

Sie waren erst kürze Zeit von dieser Reise zurück, als Eugen eines Nachts, als er im Hause seines Vaters schlief, durch furchtbare Schreie Gants geweckt wurde. Gant hatte seit Tagen maßlos gesoffen. Eugen hatte ihn selbst am Abend mit Jannadeaus und eines Negerkutschers Hilfe heimgebracht. Nach der üblichen Bändigung des wahnsinnig Betrunknen, dem Suppeessen und dem Entkleiden erschien Doktor McGuire, gab Gant eine Spritze in den sehnigen Arm, ließ Schlafpulver zurück und ging. Helene war völlig erschöpft; auch Gant war am Ende seiner Kräfte. Ein schmerzhafter Rheumatismus fiel ihn an, die Anfälle wiederholten sich zweimal in der Nacht.

Nun erwachte er in der Dunkelheit, schrie vor Entsetzen, vor wahnsinnigen, niegekannten Schmerzen. Seine ganze rechte Körperhälfte war gelähmt. Abwechselnd flehte er Gott an und verfluchte ihn. Es bestand die Gefahr, daß die rheumatische Entzündung sich aufs Herz schlüge. Tagelang betreuten Arzt und Pflegerin den Kranken, der sich vor Schmerz bog, krümmte, wand. Als er soweit hergestellt war, daß er reisen konnte, fuhr er unter Helenes Obhut nach Hot Springs. Wie eine Wilde trieb die Tochter alle andere Hilfe von der Seite des Kranken, sie wich nicht von ihm, schenkte ihm jeden Augenblick ihrer Zeit. Sie blieben sechs Wochen weg. Ab und zu kamen Postkarten und Briefe, berichtend von einem Leben in Hotels, Mineralbädern, Krankheit, Lähmungserscheinungen, von dem Sport, den vornehme Reiche dort im Kurort trieben. Als Gant zurückkam, konnte er wieder gehn, aber seine rechte Hand, steif und krumm nun, war für dauernd gelähmt. Er konnte die Finger nie mehr schließen. Sein Auftreten war ernüchtert und zahm; Angst, ein gewisses Entsetzen glomm in seinen Augen.

Die Zusammengehörigkeit von Vater und Tochter aber war endgültig besiegelt. Vor Gant lag, er ahnte es selbst, eine Straße der Schmerzen, die in den Tod führte. Aber jeden Schritt dieses Weges, den er gebrochen, von seinen großen Kräften verlassen, ging, ging sie mit ihm und knüpfte so das Band, das sie zusammenhielt, über das Leben, über den Tod, über alles Gedenken hinaus, fest.

»Ich wäre gestorben, wenn ich sie nicht hätte«, behauptete er immer wieder von Helene und prahlte unaufhörlich mit ihrer Ergebenheit und Treue, mit den Kosten der Kur, den Hotels, von dem Reichtum und den feinen Leuten, die sie zusammen gesehen hatten.

Und während die Legende von Helenes Ergebenheit von Tag zu Tag wuchs, während Gants Abhängigkeit von ihr zunahm und stets laut verkündigt wurde, schürzte Eliza immer gedankenvoller die Lippe, weinte manchmal in das brutzelnde Fett der Bratpfanne, lächelte dann wieder unter der breitangesetzten roten Nase, ein zuckendes, bittres, furchtbar gekränktes Lächeln.

»Ich werd's ihnen zeigen«, flennte sie, »ich werd's ihnen zeigen«, und kratzte sich gedankenvoll einen hochroten juckenden Flecken auf dem linken Handrücken, ein Ekzem, das in diesem Jahr dort ausgeschlagen war.

 

Im folgenden Winter ging auch sie nach Hot Springs. Sie unterbrachen auf zwei Tage in Memphis, wo Steve gerade in einer Farbenhandlung arbeitete. Er ging mit Eugen in der Stadt spazieren, schlüpfte ab und zu in eine Bar an der Straßenecke, um »'nen Augenblick 'nen Bekannten zu sprechen«. Der Bekannte hatte die Eigenschaft – so schien es Eugen –, Steves Gang noch schlenkriger und herausfordernder zu machen.

Eugen fuhr verschlafen auf, als der Zug über den Fluß nach Arkansas hinüberfuhr. Dann sah er verschwommen armselige Häuser auf den dunklen, malariaverseuchten Feldern.

In Hot Springs schickte ihn Eliza gleich in die Schule. Mit einem kühnen Satz sprang er in die bestürzende neue Welt. Seine Leistungen waren glänzend und erwarben ihm die Gunst der jungen Klassenlehrerin, aber die feindselige Bande der Mitschüler ließ den Fremdling bitter büßen. Eh noch ein Monat vergangen war, hatte er schwer für seine Unkenntnis ihrer Gebräuche gezahlt.

Eliza kochte sich täglich in den Bädern aus. Manchmal begleitete er sie. Trunken von Unabhängigkeit verließ er sie und schritt in die Männerabteilung. Er entkleidete sich, ging in den mit Liegegelegenheiten ausgestatteten Heißluftraum, schloß sich in der Dampfzelle ein, wo er in der Schweißlache, die sich zu seinen Füßen bildete, sich aufzulösen glaubte. Mit zitternden Knien kam er wieder heraus und ließ sich von einem mächtigen grinsenden Negermasseur rollen und kneten. Später lag er glorreich, ein Mann unter Männern, im Nachschwitzraum. Sie unterhielten sich von Liege zu Liege oder trugen ihre prallen Bäuche auf und ab, die Lenden keusch mit einem Badetuch gegürtet. Da waren malariakranke Männer von Mississippi; Alkoholiker mit schweren Augensäcken, Spieler mit puterroten Gesichtern; zusammengebrochne Boxer. Dampf und Männerschweiß; Eugen roch das gern zusammen.

Eliza sorgte dafür, daß er nicht müßig gehe. Sie schickte ihn mit der Saturday Evening Post auf die Straßen. »Es schadet Dir nichts, wenn Du nach der Schule ein bißchen leichte Arbeit tust«, sagte sie zu ihm, als er mit der vollgestopften Tasche abschob.

»Trag den Kopf hoch, Junge!« rief sie ihm nach. »Geh gerade, daß die Leute denken, daß Du wer bist!«

Sie hatte ihm einen Stoß gedruckter Karten mitgegeben, auf denen stand:

Verbringen Sie den Sommer in
Dixiland
im schönen Altamont
der Perle der amerikanischen Schweiz

Zivile Preise. Für Touristen. Für Dauergäste
Man wende sich an die Besitzerin
Eliza M. Gant

»Wenn wir leben wollen. Junge, dann müssen wir ein wenig Kundschaft zusammentrommeln, und Du mußt mir helfen«, bemerkte sie mit jener lippenschürzenden, mundverzognen Scherzhaftigkeit, die ihm so entsetzlich wehtat, weil er spürte, daß sie die augenscheinliche Maske einer noch augenscheinlicheren Unaufrichtigkeit war.

Das Herz krampfte sich ihm zusammen, als er schließlich einsah, daß er sich wie ein zahmer, abgehärteter Dickhäuter in Elizas Welt ausnahm. Er »trug den Kopf hoch«, er bemühte sich, den Eindruck zu schinden, daß er »wer« wäre, überreichte die Empfehlungskarte und schilderte auf Befragen die Freuden des Lebens in Altamont und die Annehmlichkeit der Unterkunft in Dixieland. Er ergriff jede Gelegenheit, um »Kundschaft zusammenzutrommeln«. Er haßte Berufsjargon; Eliza, die ihn seit langem angenommen hatte, drückte sich mit Vorliebe darin aus. Sie schmatzte mit den Lippen, wenn sie »Dauergäste« oder »Kundschaft zusammentrommeln« aussprach. Genau wie Gant war auch Eugen im stillen entsetzt, daß man für Geld das Brot auf seinem Tisch, den Schutz seiner Vierwände an den Gast, den Fremden, den unbekannten Freund aus der Welt, an den Siechen, den Lebensmüden, den Einsamen, den Zerbrochenen, den Schuft, die Hure, den Narren verkaufen könne.

Sein Blick war an die fernen blauen Berge der Ozarks verloren. Er ging die gebirgige Central Avenue hinauf, zu beiden Seiten ragten Berge. Berge, die für ihn die Grenze der Bezauberung, die nahe Pforte in ein zeitloses, unaufhörliches Feenland waren. Er trank vom Wasser der kochenden Brunnen in der Hoffnung, sich von allem Makel reinzuwaschen. Ein Traum, den er sein Leben lang träumen sollte, der Traum vom Jungbrunnen fing in ihm an. Er badete bis zum Hals im heilsamen Schlamm, der jeden Tropfen verderbten Bluts aus den Adern ziehen und dem Menschen wieder das Gewebe eines vollkommenen, reinen Geschöpfes verleihen soll.

Und stundenlang starrte er in die Eingangshallen der großen modischen Hotels, starrte er auf die Beine der Damen auf den Veranden, beobachtete er die Großen des Landes bei ihrer Erholung. Er bedachte – und das Herz klopfte ihm vor Staunen und Wundern –, daß er Gestalten aus Gesellschaftsromanen vor sich habe, die hier statt auf dem Papier in Fleisch und Blut ihr göttergleiches Leben führten. Er empfand die tiefste Ehrfurcht vor der großen Welt jener Bücher, besonders der englischen: Da liebten die feinen Leute, aber im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sterblichen liebten sie elegant; ihre Redeweise war subtil, exquisit, delikat; selbst in ihren Leidenschaften bezeigten sie nie grobe Gelüste oder heftigen Hunger; sie waren völlig außerstand niedrig zu denken, fleischliche Gier zu empfinden. Wenn Eugen die schönen Schenkel einer vorbeireitenden Dame sah, dann wunderte er sich, ob sie wohl der gute Geruch des Pferds, der warme wogende Rücken des Tiers begeistern und beschwingen könne; er fragte sich, wie so eine Dame lieben würde. Die dickaufgetragne Eleganz ihres Gehabens in den Romanen beeindruckte ihn sehr; er glaubte, daß in jener Welt Frauen mit Glacehandschuhen und schlagfertigen feinsinnigen Geistreicheleien verführt würden. Solche Gedanken erfüllten ihn mit Scham über seine eigne Niedrigkeit. Er stellte sich vor, daß die feinen Leute jenseits der Naturgesetze liebten, daß sie die Wollust der Tiere und der gemeinen Menschen schon bei der elektrisierenden Fingerberührung, dem zuckenden Aufblick der Augen, bei ein paar erregenden Worten empfänden.

Und wenn diese Leute ihm ins traumverlorne Gesicht sahen – dies Gesicht, das nun, nachdem die Locken gefallen waren, noch fremder war als zuvor –, da kauften sie von ihm und zahlten das Vielfache des Preises mit der lässigen Bußfertigkeit von Verschwendern.

In den Fenstern der Restaurants schwammen große Fische in Glaskästen; Aale rollten sich schlangenhaft, weißbäuchige, große Forellen drehten sich, ließen sich sinken. Eugen träumte von unbekannten üppigen Mählern an den Tischen dieser Gaststätten.

Manchmal kamen Männer mit fischbeladnen Wagen von dem großen Fluß herüber. Da fragte er sich, ob er wohl je diesen Fluß, den Missouri, sehen würde. Was hier nah und unerkundet in der Gegend lag, erfüllte ihn mit Sehnsucht.

Und später wieder! Da reiste er mit Eliza die sandige Küste von Florida entlang, erging sich auf den schmalen Wegen in Saint Augustine, rannte auf dem betonharten Strand von Daytona. In Palm Beach wetzte er einmal über die grünen Rasenplätze vor den Hotels, um Kokosnüsse zu kaufen, die Eliza als Souvenirs nach Altamont mitnehmen wollte; er erstand einen Sack voll, lud ihn sich auf die Schultern und schleppte die Last durch die nicht endenwollenden Gartenrestaurants der »Royal Poinciana« und »Breakers«, Gegenstand des Zorns, des Skandals, des Amüsements für Sklaven und Prinzen. Er streifte auf den breiten, palmschattigen Wegen, die die Halbinseln queren, um am Badestrand die sinnlich gelösten seidigen Frauenbeine und die hageren gebräunten Körper der Männer zu sehen –, und die breitanbrandenden, sich, überstürzenden Wogen, das endlose smaragdgrüne Meer, das aus Muscheln, die sein Vater besaß, in sein Gemüt gerauscht, in seinem Herzen gedröhnt hatte, das er aber bisher nie gesehen hatte. Durch die huschenden Sonnenkringel unter den Palmen, auf den weichen Spazierwegen ließen sich Prinzessinnen und Lords von Negern in Rollstühlen fahren; in den vergitterten Bar-rooms, in denen große Fächer summten, saßen Herren und tranken aus beschlagnen, hochstieligen Kristallgläsern.

 

Und später wieder! Sie reisten nach Jacksonville und lebten dort ein paar Wochen in der Nähe von Pett und Greeley. Ein kleiner buckliger Mann, der die Harvard-Universität besucht hatte, gab ihm Unterricht. Er aß mit seinem Lehrer in einem Büfettrestaurant; der Lehrer trank Bier und aß Brezeln dazu. Als sie abreisten, weigerte sich Eliza, die bescheidne Summe zu bezahlen, die der Mann für seine Lehrtätigkeit verlangte. Der Bucklige zuckte die Achseln und nahm, was sie ihm anbot. Eugen verrenkte den Hals und hob scharf den Fuß vom Boden, wie jemand, der sich vor plötzlichem Schmerz windet.

So sah er, der aus dem verketteten, vom Himmel gegürteten Gebirg kam, er, dessen Meister die Berge waren, zuerst den fabulösen Süden. Bilder von vorüberwehenden Felsen, Wäldern, Hügeln blieben ihm für immer im Herzen. An die dunkle Landschaft draußen verloren lag er nächtelang auf der Liege im Pullmanwagen und sah, wie das schattende, schemenhafte Land vorüberflog; schlief schließlich ein und erwachte plötzlich, um die kühlen Seen von Florida im Tagesgrauen zu sehn, die dalagen, als hätten sie von Ewigkeit her auf diese Begegnung gewartet. Oder er hörte, als der Zug in den noch dunklen Morgenstunden in Savannah einlief, die ruhigen Stimmen von Männern, die sich auf dem Bahnsteig unterhielten, und die matten Echos der Halle. Oder er sah in der blassen Stunde vor Tagesanbruch gespenstische Wälder, tiefgefurchte Feldwege, eine Kuh, einen Buben, einen Menschen, der in der Tür einer Hütte döste. Er erlebte in diesem einzigen Augenblick der Zeit, was sich alles Leben zu zeugen gemüht hatte, damit es im Fenster des fahrenden Zugs erscheine und vorüber sei.

Der Gemeinschaft aller Dinge auf Erden entsann er sich mit einer sonderlichen Vertrautheit. Er träumte von den stillen Wegen, den monderhellten Wäldern, und er dachte, eines Tags würde er zu Fuß hinkommen und sie dort unverändert, mit all dem Wunder des Wiedererkennens, finden. Sie existierten für ihn von Anfang an und auf immer.

Eugen war fast zwölf Jahre alt.


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