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Im Herbst, als er fünfzehn war und das letzte Jahr in Leonards Schule ging, machte Eugen eine Reise nach Charleston. Er fand einen Ersatzträger für seine Zeitungsroute.
»Hopp! Mach mit!« sagte Max Isaacs, den er gelegentlich noch traf. »Junge, das wird 'ne vergnügte Spritztour!«
»Und ob!« sagte Malwin Bowden, von dessen Mutter der Gedanke zu diesem Ausflug stammte. »In Charleston gibt's noch Bier«, setzte er mit einem genüßlichen Seitenblick hinzu.
»Wir können bei der Palmeninsel im Meer schwimmen«, sagte Max Isaacs. »Und wir können die Schiffe in der Marinestation besichtigen«, bemerkte er ehrfurchtsvoll.
Max wartete nur auf den Tag, an dem er alt genug wäre, um in die Kriegsmarine einzutreten. Er las alle Plakate, kannte alle die Marineleute im Werbebüro, hatte alle Flugschriften gelesen; er kannte sich ganz genau aus. Er wußte die Löhnungssätze, Dollars und Cents, der Maschinisten, der Leichtmatrosen, der Funker, der Deckoffiziere. Sein Vater war Installateur, und Max wollte kein Installateur werden. Er wollte zur Kriegsmarine und die Welt sehen. Bei der Flotte da empfängt der Mann anständige Löhnung und gute Ausbildung; er lernt was für später. Er bekommt gute Menage, gute Montur. Und das alles umsonst, gewissermaßen für nichts.
»Hm«, sagte Eliza und lächelte neckisch. »Warum willst Du da mitfahren? Du bist ja noch ein Baby!« Baby? Seit Jahren nicht mehr. Sie lächelte schmerzlich.
»Ja, Mama«, sagte Eugen, »darf ich mit? Es dauert nur fünf Tage. Das Geld hab ich.«
Er steckte die Hand in die Tasche, um sich zu vergewissern, ob die Scheine noch da wären.
»Ich will Dir was sagen«, sprach Eliza und verzog den Mund. »Eh noch der Winter rum ist, wirst Du mehr als einmal wünschen, daß Du das Geld noch hättest. Du brauchst neue Schuhe und einen dicken Wintermantel, wenn das kalte Wetter kommt. Du mußt sehr reich sein. Ich wünschte nur, ich könnte mir auch mal so 'nen Ausflug leisten.«
»Ach, Du mein Gott!« sagte Ben. Er lachte kurz. Er warf seinen Zigarettenstummel in die Glut; es war einer der ersten Tage, an denen das Feuer im Kamin brannte.
»Ich möchte Dir sagen, mein Sohn«, bemerkte Eliza sehr ernst, »daß Du den Wert eines Dollars kennenlernen mußt, oder Du wirst nie ein eignes Dach überm Kopf haben. Natürlich gönne ich Dir ein Vergnügen, aber Du solltest Dein Geld nicht vergeuden.«
»Ja, Mama«, sprach Eugen.
»Um Himmels willen«, fuhr Ben auf. »Es ist doch sein selbstverdientes Geld. Damit kann er wahrhaftig machen, was ihm beliebt. Wenn er es zu diesem verdammten Fenster da rausschmeißt, ist es immer noch seine eigne Angelegenheit.«
Sie starrte, die Hände auf dem Bauch gefaltet, die Lippe geschürzt, nachdenklich ins Leere.
»Nun«, entschied sie, »ich nehme an, daß die Sache in Ordnung ist. Mistress Bowden wird ja gut auf Dich aufpassen.«
Es war die erste Reise nach einem ungekannten Ziel, die er allein machte. Eliza packte umständlich einen alten Handkoffer für ihn, verstaute eine Schachtel mit belegten Broten und Eiern darin. Er reiste abends. Als sie ihn gewaschen, gebürstet und aufgeregt bei dem Handkoffer stehen sah, flennte sie ein bißchen. Wieder war er, das spürte sie, ein Stück weiter von ihr weggerückt. Der Hunger nach Reisen stand in seinem Gesicht.
»Halt Dich brav, Junge!« ermahnte sie ihn, »und daß Du mir keine Dummheiten anstellst.« Sie dachte einen Augenblick lang angestrengt nach und blickte weg. Dann griff sie in ihren Strumpf und holte eine Fünfdollarnote heraus.
»Geh sparsam mit Deinem Geld um«, riet sie ihm an. »Hier ist noch ein bißchen, vielleicht wirst Du es brauchen.«
»Her mit Dir, Du kleiner Lump!« sagte Ben, die Brauen finster gerückt. Mit geschickter Hand band er ihm die verkordelte Krawatte zurecht und holte mit einem schnellen Griff einen Zehndollarschein aus seiner Weste und steckte ihn in Eugens Tasche. »Benimm Dich«, knurrte er, »oder ich schlag Dir die Knochen kaputt.«
Max Isaacs pfiff vorm Haus. Eugen sagte Lebwohl und zog ab.
Mistress Bowdens Reisegesellschaft bestand aus sechs Teilnehmern: Max Isaacs, Malwin Bowden, Eugen, zwei Mädchen, namens Josie und Louise, und Mistress Bowden. Josie war Mistress Bowdens Nichte; sie lebte mit ihr zusammen. Sie war eine Bohnenstange von einem Gör, zwanzig Jahre alt, mit einem hervorstehenden Gebiß voll grinsender Zähne. Das andre Mädchen, Louise, war Kellnerin: eine kleine, rundlich-mollige Brünette. Mistress Bowden war eine verhutzelte, alte Frau mit sehr viel falschem braunem Haar und müden, braunen Augen. Sie war Schneiderin. Ihr Gatte, ein Zimmermann, war im Frühjahr gestorben. Eine kleine Lebensversicherung war ihr zugefallen. So kam sie auf den Gedanken, diese Reise zu machen.
Wieder einmal fuhr Eugen durch die Nacht in den Süden. Das Abteil war heiß; es roch unangenehm nach dem alten, roten Plüsch. Die Fahrgäste dösten vor sich hin, schmerzlich aufgeschreckt durch das Geklingel der Zugschelle und das Schleifen der Bremsen, wenn der Zug an den vielen Stationen hielt. Ein kleines Kind weinte. Die Mutter, eine Frau aus dem Gebirg, hager und wirrhaarig, breitete eine Zeitung auf den Plüschsitz und wechselte dem Kind die Windeln. Das Kind weinte sich in Schlaf. Vorn im Wagen saß in einem Rippelsamtanzug und Ledergamaschen ein junger Farmerbursch, hervorstehende Backenknochen im sonnverbrannten Gesicht; er aß unablässig Erdnüsse und warf die Schalen auf den Boden. Es gingen unausgesetzt Leute durch den Wagen; die Schalen knirschten unter ihren Tritten. Die drei Jungen langweilten sich. Sie gingen abwechselnd zum Trinkwasserbehälter am Ende des Wagens. Benutzte Papierbecher lagen am Boden; es stank aus den Toiletten.
Die beiden Mädchen schliefen fest mit feuchten, halboffnen Lippen auf den verbreiterten Sitzpolstern; die kleine Brünette atmete warm und süß.
Die Buben drückten sich am rußbefleckten Fenster die Nasen platt und sahen aus heißen, schlaflosen Augen auf das dunkle, vorbeigleitende Land hinaus: – Waldklumpen, Ackerflächen, wellendes Gehügel, runde Talwannen –: amerikanische Erde: roh, unermeßlich, formlos, gewaltig.
Eugens Sinne waren gebannt vom magischen Gang der Waggonräder. Klacketi-klack, klacketi-klack, klacketi-klack. Sein Leben kam ihm vor wie etwas, was sich seit vor langer Zeit zugetragen hätte. Er hatte endlich in seine verlorne Welt gefunden. Aber lag sie hinter ihm, oder lag sie vor ihm? Beim Rhythmus des fahrenden Zugs fiel ihm die Art ein, wie Eliza über Längstvergangnes lachte. Er sah eine knappe, vergeßne Gebärde, die breite, weiße Stirn, das Gespenst eines Kummers in ihren Augen. Er hörte Gant, er hörte Ben; ihr seltsames Lachen, ihre traurigen Stimmen. Verloren. Nun schwammen sie auf ihn zu, durch die hellgrünen Wasserwände der Phantasie. Sie griffen nach seinem Herzen, zwickten es. Der grüne Geisterflimmer ihrer Augen rollte davon. Verloren, verloren.
»Gehn wir 'ne Zigarette rauchen!« schlug Max Isaacs vor. Sie traten auf die geschlossne Plattform hinaus, standen spreizbeinig, weil der Zug schlingerte, rauchten.
Am trüben Osthorizont, fern, brach die Sonne auf und fraß sich durchs Dunkel. Eugen und Max, noch in Nacht begraben, sahen unbeteiligt zu. Dann traf es sie wie ein scharfes Messer: grelles, leidenschaftliches Licht schoß in Strahlengarben durch den Vorhang der Dämmerung. Es graute; der Tag schmolz nun mild übers Land, wie Tau. Der Osten flammte. Die kleine Kellnerin im Wagen atmete tief auf, seufzte, öffnete die klaren Augen.
Max Isaacs sah Eugen freundlich grinsend an. Er rauchte täppisch, renkte den Hals aus dem engen Hemdkragen, schnitt eine nervöse Grimasse dazu. Er hatte ein hellhäutiges, blondflaumiges Gesicht, blonde Augenbrauen, dichtes, mattgoldblondes Strähnenhaar. Es war viel Güte in ihm. Die beiden hegten eine plumpe Zärtlichkeit füreinander. Sie dachten an die verschollenen Jahre in der Woodson Street. Verwundert und linkisch waren sie sich ihrer Pubertät bewußt. Das stolze Tor der Zukunft tat sich vor ihnen auf. Sie spürten, einer im andern, das Vereinsamende, das Licht. Sie sagten sich lebewohl.
Charleston, fettes Schlingkraut, das an den Ufern der Lethe verrottet, lebte in einer andern Zeit. Die Stunden waren Tage, die Tage Wochen.
Sie kamen morgens an. Als es Mittag wurde, waren sie schon Wochen da, und sie sehnten sich nach dem Abend. Sie wohnten in einem kleinen Gasthof in der King Street, das die oberen Stockwerke eines alten Hauses einnahm. Im Erdgeschoß waren Läden. Die Zimmer waren sehr groß. Nach dem Mittagessen war ein Spaziergang durch die Stadt geplant. Max Isaacs und Malvin Bowden wollten zur Marinestation. Mistress Bowden ging mit ihnen. Eugen war sehr schläfrig. Er verabredete sich auf später mit ihnen.
Als die andern gegangen waren, zog er Schuhe, Rock und Hemd aus und streckte sich aufs Bett. Durch Schlitze in den Fensterläden fiel das Licht in dünnen Bohlen ins verdunkelte Zimmer. Schlafsüchtig wie eine Herbstfliege summte die Zeit sich zu Tod.
Um fünf Uhr kam Louise, die kleine, brünette Kellnerin, um ihn zu wecken. Auch sie hatte geschlafen. Sie pochte leis an die Tür. Als keine Antwort kam, schlich sie leis herein und schloß die Tür. Sie trat an sein Bett, sah ihn eine Weile an.
»Eugen!« flüsterte sie. »Eugen!«
Er murmelte verschlafen und dehnte sich. Louise lächelte und setzte sich aufs Bett. Sie beugte sich über ihn, kitzelte ihn an den Rippen, kicherte, als er sich krümmte. Sie kitzelte ihn an den Fußsohlen. Er kam allmählich zu sich, gähnte, rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Was ist denn?« fragte er.
»Es ist Zeit, wir müssen dorthin gehn«, sagte sie.
»Wohin?«
»Ei, zur Marinestation! Wir haben uns doch verabredet!«
»Verflucht die ganze Marinestation«, murrte er. »Ich möcht' lieber schlafen.«
»Ich auch«, gestand sie und gähnte üppig. Sie reckte die vollen Arme. »Ich bin so müd, daß ich mich überall ausstrecken und schlafen könnte.« Sie sah vielsagend auf das Bett.
Auf der Stelle war er ganz wach, sinnlich gespannt.
Er stützte sich auf den Ellenbogen, das Blut schoß ihm heiß zu Kopf, sein Puls ging schwer.
»Wir sind ganz allein hier oben«, sagte Louise lächelnd. »Wir haben das ganze Stockwerk für uns.«
»Warum legen Sie sich nicht nieder und schlafen, wenn Sie noch müde sind?« fragte er. »Ich werde Sie rechtzeitig wecken«, fügte er ritterlich-zärtlich hinzu.
»Ich hab so ein kleines Zimmerchen. Heiß und muffig. Deswegen bin ich aufgestanden«, sagte Louise. »Was für ein großes Zimmer Sie hier haben!«
»Ja«, sagte er, »und so ein feines, großes Bett.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Wirklich, Louise, warum legen Sie sich nicht einfach hier hin und schlafen?« sagte er leis. Seine Stimme war nicht sehr fest. »Ich werde aufstehn!« Er richtete sich hastig auf. »Und ich werde Sie dann wecken.«
»Ach nein«, meinte sie. »Das wäre wohl nicht ganz recht.«
Sie schwiegen wieder. Sie sah bewundernd seine jungen, mageren Arme an.
»Ich wette, daß Sie stark sind!« bemerkte sie.
Männlich warf er sich in die Brust und beugte seine langen flechsigen Arme.
»Oh!« sagte sie. »Wie alt sind Sie eigentlich, Eugen?«
Er war gerade fünfzehn.
»Im sechzehnten«, sagte er. »Und Sie, Louise?«
»Achtzehn«, sagte sie. »Ich möchte wetten, daß Sie ein rechter Herzensbrecher sind, Eugen. Wieviel Schätze haben Sie?«
»Ach, – ich weiß nicht –, nicht viele«, sagte er. Das war nur allzu wahr.
Er wollte zu ihr reden, wollte Verführerisches, Erregendes, Schlimmes zu ihr sagen. Er wollte ganz beiläufig und sachlich im ernstesten, trockensten Ton der Welt die erotischen Anspielungen machen.
»Gelt?« sagte sie, »Sie mögen sicher nur hochgewachsne Schlanke? Ein so großer Bursch wie Sie macht sich doch wohl nichts aus so einer Kleinen wie mir etwa, nicht wahr? Aber die Gegensätze sollen sich ja anziehen ... Man weiß eben nie, nicht wahr?«
»Aus den langen Latten mache ich mir gar nichts«, sagte Eugen. »Nichts wie Haut und Knochen. Mir gefallen Mädchen in Ihrer Größe. Wenn sie gut gebaut sind, natürlich.«
»Bin ich gut gebaut, Eugen?« fragte Louise und reckte die Arme hoch.
»Ja, schön sind Sie gebaut, fein sind Sie gebaut, Louise«, sagte Eugen ernst. »Ganz so, wie ich es mag.«
»Aber ich hab kein hübsches Gesicht, ich bin häßlich«, behauptete sie herausfordernd.
»Das ist nicht wahr. Sie sind nicht häßlich. Sie haben ein sehr hübsches Gesicht«, erklärte Eugen bestimmt. »Aber das Gesicht macht für mich gar nicht so viel aus«, fügte er dann spitzfindig hinzu.
»Was entscheidet eigentlich bei Ihnen, Eugen?« fragte Louise.
»Schöne Beine«, sagte er. »Eine Frau muß unbedingt schöne Beine haben. Die schönsten Beine, die ich je sah, hatte eine Mulattin.«
»Schöner als meine?« fragte Louise leichtfertig lachend.
Sie schlug die Beine übereinander und zeigte ihre seidenbestrumpften Fesseln.
»Ich weiß nicht, Louise«, sagte er mit kritischem Blick. »Ich sehe nicht genug.«
»Sehen Sie so genug?« Sie zog ihren engen Rock über die Wade.
»Nein«, erklärte Eugen.
»So?« Sie zog den Rock übers Knie und zeigte ihm den vollen Oberschenkelansatz. Sie trug seidne Strumpfbänder mit roten Rosetten. Sie streckte die kleinen Füße aus, die Zehen keusch einwärts gedreht.
»Fein!« sagte Eugen und starrte mit großem Interesse die Strumpfbänder an. »Hübsche Strumpfbänder haben Sie da. So hübsche hab ich noch nie gesehn.« Er schluckste laut. »Tun die Dinger nicht weh, Louise?«
»Wie?« sagte sie, als stünde sie vor einem Rätsel. »Wieso denn?«
»Schneiden sie nicht ins Fleisch?« erklärte er. »Meine schneiden nämlich, wenn ich sie zu eng straffe.«
Er zog ein Hosenbein hoch und zeigte den jungen dünnbehaarten Unterschenkel mit dem Sockenhalter.
»Seh'n Sie?«
Louise sah. Sie prüfte das Gummiband des Sockenhalters mit ihrer weichen Hand.
»Meine tun nie weh«, sagte sie und ließ ihr Strumpfband schnappen. »Seh'n Sie?«
»So«, sagte er und zupfte das Strumpfband mit zitterndem Finger. »Ja, es stimmt«, sagte er. Seine Stimme war ganz unsicher.
Ihr junger Leib rundete sich ihm schwer entgegen, ihr warmes, junges Gesicht blickte blind in seines. Er war ganz trunken im Kopf; linkisch küßte er sie auf die offnen Lippen. Sie sank in die Kissen. Er küßte sie auf die Augen, auf den Mund; er bedeckte ihr Gesicht, ihren Hals mit Küssen, mit trocknen, plumpen Küssen. Er versuchte, ihre Bluse am Hals aufzunesteln, aber seine Hand zitterte zu sehr. Mit schlaftrunkner Gebärde löste sie die Hefthaken. Er hob sein fieberrotes Gesicht ihr zu.
»Louise, süß bist Du, Louise, süß ...«, flüsterte er leidenschaftlich. Er wußte kaum, was er sagte.
Sie fuhr ihm mit den Händen in die Locken, zog seinen Kopf an ihre Brüste, stöhnte leis, als er sie küßte, riß ihn an den Haaren. Er umfaßte sie mit den Armen, preßte sie an sich. Sie verschlangen einander mit jungen, feuchten Küssen, unersättlich, unglücklich, gierig in dem Wunsch, in dieser Umarmung zusammenzuwachsen. Er war wirr und von Sinnen vor Leidenschaft, unfähig, seiner Glut Herr zu werden. Er hörte die ungeschrieenen Schreie der Lust, spürte die wilde, würgende Ekstase des Unerlöstseins. Er sprach heiser zu ihr, gierig, benommen: er hörte selbst nicht, was er sprach:
»Willst Du mich haben? Louise! Willst Du mich haben?«
Sie preßte sein Gesicht an ihres, murmelte schlaftrunken: »Tu mir nicht weh Eugen, tu mir nicht weh. Du weißt, wenn was passierte ...«
Er klammerte sich an den Strohhalm.
»Ich will Dich ja nicht verführen, nein, nein, Louise, nicht der erste sein. Ich hab noch nie ein Mädchen entjungfert«, schwatzte er. Er war sich verworren bewußt, daß er sich da zu einem ritterlichen Grundsatz bekannte. »Du mußt mir das offen sagen, weißt Du, Du mußt. Ich mag ein schlechter Kerl sein, aber das! Das brächte ich nicht fertig. Hörst Du?« Seine Stimme war schrill, heiser; sein Gesicht zuckte; er konnte kaum weiter sprechen.
»Louise! Bin ich der erste oder nicht? Sag doch! Du mußt es sagen. Warst Du schon einmal mit einem Mann zusammen?«
Sie blickte ihn trag an. Sie lächelte.
»Nein«, sagte sie.
»Ich mag schlecht sein, aber das kann ich nicht.«
Er verlor die Sprache, stammelte, schnappte nach Luft, sein Gesicht zuckte, er suchte nach Worten.
Sie richtete sich plötzlich auf, schloß ihn tröstend in ihre warmen Arme, streichelte ihn. Sie zog seinen Kopf an ihre Brust.
»Ich weiß es ja, Lieber, ich habs ja gewußt, daß Du mir nichts antun würdest. Ach wie aufgeregt Du bist. Komm, komm, sei doch ruhig. Du zitterst ja wie Espenlaub. Du bist so nervös, ein Nervenbündel bist Du, jaja ...«
Er weinte lautlos an ihrer Schulter.
Er wurde ruhiger. Sie lächelte, küßte ihn ganz sanft.
»Zieh Dich jetzt an«, sagte sie, »wir müssen fort, wenn wir die andern dort noch treffen wollen.«
In seiner Verwirrung versuchte er, ein Paar von Mistress Bowdens Pumps, die im Zimmer standen, anzuziehen. Louise lachte belustigt auf und fuhr ihm mit den Händen durchs Haar.
Auf der Marinestation konnten sie die andern nirgends finden. Ein junger Matros führte sie auf ein Kanonenboot. Louise kletterte eine Leiter hinauf. Ihre wohlgeformten Schenkel schwangen leise. Schamlos lange betrachtete sie das aus irgendeiner illustrierten Zeitung ausgeschnittene Bild einer Soubrette. Der junge Matros wackelte mit den Augen, ein Ausdruck unschuldiger Geilheit kam in sein Gesicht. Er blinzelte Eugen an.
Auf der Kommandobrücke des »Oregon«. Berühmtes Schiff aus dem spanisch-amerikanischen Krieg.
»Was ist denn das?« fragte Louise. Sie deutete auf den mit blankköpfigen Nägeln nachgezognen Umriß von Admiral Deweys Fuß.
»Da stand der Admiral während der Schlacht«, sagte der Matros.
Louise stellte ihren kleinen Fuß in die Spur des größeren. Der Matros blinzelte Eugen zu.
»Feuern Sie, wenn Sie schußfertig sind, Gridley!« hatte der Admiral gesagt.
»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Eugen.
»Sicher«, sagte Max Isaacs. »Ein feiner Kerl.« Er renkte den Hals, verzog das Gesicht. »Wie alt mag sie sein, ungefähr?«
»Achtzehn«, sagte Eugen.
Malvin Bowden starrte ihn an.
»Du bist nicht bei Trost«, sagte er. »Sie ist einundzwanzig.«
»Nein«, bestand Eugen, »sie ist achtzehn. Sie hat's mir selber gesagt.«
»Ist mir piepe«, sagte Malvin Bowden. »Sie ist einundzwanzig. Meine Mutter kennt sie schon seit fünf Jahren. Sie hatte ein Kind, als sie achtzehn war.«
»Was?« fragte Max Isaacs.
»Jawohl«, sagte Malvin Bowden. »Ein Handlungsreisender hat sie verführt und dann sitzen lassen.«
»Was?« fragte Max Isaacs. »Ohne sie zu heiraten oder sonst was?«
»Jawohl«, sagte Malvin Bowden. »Er hat sich einfach nicht mehr um sie gekümmert. Ihre Eltern ziehen das Kind auf.«
»Donnerwetter!« sagte Max Isaacs langsam. Dann bemerkte er streng: »So ein Kerl sollte einfach totgeschossen werden.«
»Sicher!« sagte Malvin Bowden.
Sie gingen am Kai spazieren. Da lagen die alten Herrschaftshäuser, halb im Verfall.
»Schöne, alte Häuser das«, sagte Max Isaacs. »Damals waren sie gut zum Wohnen.«
Eugen bestaunte die schmiedeeisernen Torgitter. Schon als Kind hatte er Eisentrümmer geliebt.
»Das sind die berühmten alten Herrschaftshäuser der Südstaaten«, sagte er ehrfurchtsvoll.
Die Bucht war ganz still. Es stank grün nach warmem, stehendem Wasser.
»Schade, daß hier alles so verfällt«, sagte Malvin Bowden. »Die Stadt ist heute nicht größer als sie vor dem Bürgerkrieg war.«
»Sie brauchen Kapital aus den Nordstaaten«, sagte Max Isaacs. Ja, das brauchten sie alle.
Eine alte Lady, von einer schwarzen Wärterin geführt, erschien auf einer Hochveranda. Sie trug ein kleines Bonnett. Sie setzte sich in einen Schaukelstuhl und starrte blind in die Sonne. Eugen sah sie voll Sympathie an. Ihre Kinder hatten ihr wohl nicht gesagt, wie unglücklich der Bürgerkrieg für die Südstaaten geendigt hatte. Frommer Betrug! Und nun sparten und darbten sie, damit die alte Lady alle Bequemlichkeiten, an die sie gewöhnt war, haben konnte. Was sie wohl speiste? Das bißchen Fleisch von einem Hühnerflügel und ein Glas Sherry. Und all die kostbaren Erbstücke der Familie waren verkauft oder verpfändet. Ein Glück, daß sie fast blind, war und das Hinschwinden des Vermögens nicht mitansehen mußte. Ob sie wohl manchmal an die Zeit zurückdachte, als die Ritterlichkeit in Blüte stand, an die Tage des Weins und der Rosen?
»Seht mal, die alte Lady dort!« sagte Malvin Bowden.
»Ja«, sagte Max Isaacs, »da sieht man gleich, daß sie 'ne Lady ist. Sie hat sicher nie im Leben 'nen Finger krumm gemacht.«
»Alte Aristokraten«, sagte Eugen. Verehrungsvoll. Ja, die altvornehmen Familien der alten Südstaaten.
Ein Negergreis kam vorbei. Kindlich-gütiges Gesicht, von silberweißen Locken umrahmt. Guter Dunkelhäuter, das. Stammt sicher noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Freigelassner Sklave. Es sind nur noch wenige übrig.
Eugen dachte an die Schönheit der Sklaverei, jener Einrichtung, die seine mütterlichen Vorfahren so tapfer verteidigt hatten, obschon sie nie einen Sklaven besaßen. Sklaverei, ja, das dünkte ihm Philanthropie, reine Philanthropie. Er wischte sich eine Träne aus dem Aug.
Sie fuhren durch den Hafen zur Palmeninsel hinaus. Der Dampfer kirnte um den runden, roten Backsteinzylinder des Forts Sumter. Berühmt aus den Tagen des Bürgerkriegs. Malvin Bowden sagte:
»Sie hatten mehr Leute als wir. Hätten wir soviel Leute gehabt wie sie, dann hätten wir sie geschlagen.«
»Sie haben uns gar nicht geschlagen«, sagte Max Isaacs. »Unsre Kräfte waren erschöpft, weil wir sie dauernd geschlagen haben.«
»Wir haben den Krieg verloren, aber geschlagen sind wir nicht worden«, stellte Eugen ruhig fest.
Max Isaacs sah ihn bewundernd an.
»Stimmt«, sagte er.
Sie stiegen vom Dampfer und nahmen die Straßenbahn zum Badestrand. Das Land war gelb und ausgedörrt von der sengenden Sommerglut. Staub lag dick auf den Blättern der Bäume. Der Wagen ratterte an den Strandhäusern vorbei, – ausgetrocknet das Holz, der Anstrich blasig und abgeblättert, klein, windig, billig gebaut, auf Stelzen in den Sand gesteckt, unzählig wie Ungeziefer; alle mit hölzernen Aushängetafeln: »Ishkabibbel«, »Seeblick«, »Ruhhafen«, »Atlantic Inn«. Eugen kannte den verblaßten müden Humor dieser Namen.
»Es gibt 'nen Haufen Boardinghouses in der Welt«, stellte er fest.
Ein heißer Wind rauschte in die dürren Fächer der hohen Palmen. Der Vergnügungspark kam in Sicht. Eugen sah die rostigen Speichen des großen Schwungrads. St. Louis, dachte er. Sie kamen am Badestrand an. Sie sprangen vergnügt aus dem Wagen.
Der Strand war leer. Zwei oder drei Buden waren noch geöffnet.
Der ausgeglühte, wolkenlose Himmel wölbte sich wie eine blaue Schale über dem polierten Smaragd des offnen Meers. Schwer rollte die Brandung herein. Die breiten Wellen wuschen Sand hoch; als sie brachen, leuchtete es gelb in der Sonne.
Die Jungen gingen langsam auf die Badeanstalt zu. Der ungeheure, ruhige, unaufhörliche Donner des Meers erfüllte sie mit einsamer Musik. Sie starrten durch das grelle, fast schmerzende Licht hinaus auf die See.
»Ich geh zur Marine, Eugen«, sagte Max Isaacs. »Komm, mach mit!«
»Ich bin nicht alt genug«, sagte Eugen. »Und Du auch nicht« »Ich werde ja schon sechzehn im November«, sagte Max Isaacs. »Hilft Dir nichts. Dann nehmen sie Dich immer noch nicht.« »Ich lüg einfach, um reinzukommen«, sagte Max Isaacs. »Sie machen überhaupt keine Scherereien. Du kannst rein. Komm, Eugen, mach mit!«
»Nein«, sagte Eugen, »ich kann nicht.«
»Warum nicht?« fragte Max Isaacs. »Was hast Du denn vor?«
»Ich will auf die Universität, Rechtswissenschaft studieren.«
»Ach, das hat doch Zeit!« sagte Max Isaacs. »Das kannst Du nach Deiner Entlassung aus der Marine auch noch. Und Du kannst 'nen Haufen bei der Marine lernen. Und mit der Flotte kommt man in der ganzen Welt herum.«
»Nein«, sagte Eugen, »ich kann nicht.«
Aber sein Herz schlug höher, als er dem einsamen Donner des Meeres lauschte. Er sah fremde, schimmerhäutige Menschengesichter, sah Palmenufer, hörte die kleinen, klinkernden Küstenlaute Asiens. Er glaubte letzten Endes an Häfen.
Mistress Bowdens Nichte und die Kellnerin kamen mit der nächsten Straßenbahn. Eugen hatte gebadet. Er lag am Strand. Er schauerte ein wenig unter dem Wind. Ein feiner Salzgeschmack war auf seinen Lippen. Er leckte sein sauberes, junges Fleisch.
Louise kam aus der Badeanstalt. Sie ging langsam auf ihn zu. Sie ging stolz, die weichen Kurven ihres Körpers zeichneten sich im Badeanzug ab. Sie trug grünseidne Badestrümpfe.
Draußen, außerhalb der Sicherheitsleine, tauchte Max Isaacs durch den grünen Wasserwall der Brandung. Sein gedrungener, weißer Körper leuchtete einen Augenblick lang grün. Dann stand er aufrecht, wischte sich die Augen, schüttelte sich das Wasser aus den Ohren.
Eugen nahm Louise bei der Hand und führte sie ins Wasser. Sie watete langsam, stieß kleine, erschreckte Schreie aus. Eine hereinrollende Welle schwoll an, ging ihr bis ans Kinn, nahm ihr den Atem. Sie schnappte Luft, klammerte sich an ihn. Nun war sie eingeweiht. Sie tauchten durch heranbrüllende Wasserwälle. Es war köstlich. Wenn sie die Augen noch geschlossen hatte beim Auftauchen, küßte er sie. Junge, salzige Küsse.
Dann lagen sie zusammen auf dem warmen Sand. Sie schauerte. Er häufte weißen Sand über ihre Hüften und ihre Beine, bis sie halb begraben war. Er küßte sie mit bebendem Mund.
»Ich liebe Dich«, sagte er. »Sehr!«
»Was haben Dir denn die andern von mir erzählt?« fragte sie. »Haben sie von mir gesprochen?«
»Das ist mir gleich«, sagte er. »Das ist mir alles ganz gleich. Ich lieb Dich.«
»Du wirst mich vergessen, wenn Du erst mal anfängst, mit den Mädchen zu gehen. Du wirst Dich überhaupt nicht mehr erinnern. Eines Tages wirst Du an mir vorüber gehn und mich nicht einmal mehr kennen.«
»Nein! Nein!« sagte er. »Ich werde Dich nie vergessen, Louise! So lange ich lebe nicht!«
Sie waren in den Bergen geboren. Und nun waren ihre Herzen vom einsamen Donner der See erfüllt. Sie küßte ihn.
Ende September kam er heim. Im Oktober fuhr Gant, von Helene und Ben begleitet, nach Baltimore. Die allzulang aufgeschobne Operation war nun unvermeidlich. Sein Krankheitszustand hatte sich ständig verschlimmert. Er hatte wochenlang furchtbare Schmerzen ausgestanden. Er war sehr geschwächt. Er hatte Angst.
Nachts stand er auf, weckte das schlafende Haus mit seinem Gebrüll. In seiner furchtbaren Großartigkeit war er dann ganz der Alte.
»Das Messer! Das Messer! Ich seh's! Siehst Du den Schatten? Da! Da! Da!«
Wie ein pathetischer Schauspieler krümmte er sich und deutete ins unanfechtbare Nichts.
»Da!! Siehst Du ihn dort im Schatten stehn? So? Du bist also gekommen, um den Alten zu holen?! Da steht er ja, der Sensenmann, der grimme Raffer, ... ich habs ja gewußt, daß er kommt! O Jesus, erbarme Dich meiner Seele!«
Gant lag in der urologischen Klinik im John Hopkins Institute. Jeden Tag kam energisch-freundlich ein kleiner Herr herein, sah die Fieberkarte an. Er sprach vergnügte, aufheiternde Worte. Dann ging er wieder. Er war einer der größten Chirurgen im Land.
Die Krankenschwester machte Gant Mut: »Nur keine Bange«, sagte sie. »Die Sterblichkeit ist nur vier Prozent. Sie war dreißig Prozent. Er hat sie heruntergebracht.«
Gant stöhnte und reichte Helene seine große Rechte zu einem aufmunternden, lebenspendenden Händedruck.
»Mut! Mut! alter Junge!« sagte Helene »Wenn Du die Sache hinter Dir hast, wird es Dir besser gehn als je.«
Sie schenkte ihm ihre Lebenskraft, ihre Hoffnung, ihre Liebe. Er war fast ruhig, als man ihn in den Operationssaal rollte.
Aber der kleine, grauhaarige Herr sah nach, schüttelte bedauernd den Kopf und schnitt mit geschickter Hand.
»Gut soweit«, sagte er vier Minuten später zu seinem Assistenten. »Schließen Sie die Wunde!«
Gant würde sterben. Am Krebs.
Gant saß im fahrbaren Krankenstuhl auf der Veranda des fünften Stocks. Durch die klare Oktoberluft sah er über die Stadt, die sich drunten ausbreitete und sich im Fernendunst verlor. Er sah verklärt, fast zart aus. Ein mattes Lächeln der Glücksal und der Erleichterung umspielte seinen Mund. Er rauchte, frischerweckter Sinne, eine lange Zigarre.
»Da unten«, sagte er und deutete, »da habe ich einen Teil meiner Jugend verbracht. Old Jeff Streeters Hotel stand ungefähr dort.« Er deutete.
»Ja, grab nur Erinnerungen aus«, sagte Helene. Sie grinste.
Gant dachte an die Jahre, die seitdem vergangen waren, an die unberechenbaren Wege seines Schicksals. Sein Leben dünkte ihm seltsam.
»Wir werden diese Plätze alle aufsuchen, sobald Du aus dem Krankenhaus entlassen bist. Übermorgen darfst Du hier weg. Weißt Du, was das heißt? Weißt Du überhaupt, daß Du fast ganz gesund wieder bist?« Sie lächelte ihn groß an.
»Ja, jetzt bin ich wieder ein gesunder Mann«, sagte er. »Ich fühle mich zwanzig Jahre jünger.«
»Armer alter Papa!« sagte sie. »Armer alter Papa!«
Ihre Augen waren feucht. Sie nahm sein Gesicht in ihre großen Hände und zog seinen Kopf an ihre Schultern.