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VIII

Eugen tummelte sich nun auf den endlosen Wiesen des sexuellen Erlebens. Seine sinnliche Wahrnahme war vollkommen. Im Augenblick, wenn ihn etwas beeindruckte, dann verhaftete sich auch die ganze Umwelt samt dem Hintergrund in ihm mit Farbe, Wärme, Geruch, Laut und Geschmack. So brachte ihm später der Duft besonnten Löwenzahns warme Grashänge im Frühling, einen ganz bestimmten Tag, einen Platz auf der Wiese, das Rascheln jungen Erlenlaubs ins Gedächtnis zurück. Oder: so oft er an Gullivers Reisen dachte, erwachte er wieder zum Erlebnis des hellen, windigen Märztags, an dem er das Buch zum erstenmal las: das Kaminfeuer knisterte, Mandarinen dufteten nach dünner Exotik, der Schnee draußen tropfte und gluckerte unter lauen Windstößen, die Erde roch stark im Tauwetter, es war gut, in große, frostige Winteräpfel hineinzubeißen.

Über die Grenzen des Heims hatte er sich hinausgewagt. Er war noch nicht ganz sechs, als er aus eignem Antrieb zur Schule ging. Eliza hatte es ihm abgeschlagen; aber sein um ein Jahr älterer Spielgefährte Max Isaacs war schulpflichtig, und Eugens Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, daß er nun wieder allein sein solle. Eliza war nicht umzustimmen; sie spürte, daß das Schulleben langsam und endgültig die Bande, die ihren Jüngsten an sie fesselten. lösen würde. Aber als sie dann eines frischen Septembermorgens beobachtete, wie er schlau aus dem Tor schlüpfte und zur nächsten Straßenecke rannte, wo der andre kleine Junge auf ihn wartete, unternahm sie nichts, um ihn zurückzubringen. Etwas Gespanntes in ihr riß; sie sah ihn verstohlen zurückblicken und weinte. Sie weinte seinetwegen. In der Stunde nach der Geburt hatte sie in seinen dunklen Augen die grandios tiefe, ewig brütende, unendliche Einsamkeit gesehen. Sie wußte, daß ein Fremdling aus der Nacht ihres Schoßes gekommen war, einer, der einsam vor sich und der Welt in den verlornen Beziehungen zur Ewigkeit leben würde. O verloren!

In eigne Wachstumsschmerzen verstrickt, hatten Eugens Geschwister wenig Zeit für ihn. Lukas, der Nächstjüngste, war fast sechs Jahre älter. Gelegentlich quälten sie ihn mit jener kleinlichen Grausamkeit, mit der ältere Kinder jüngeren zusetzen. Es reizte sie, wenn er, aus tiefen Träumen gerissen, in wahnwitzigem Jähzorn ein Tranchiermesser ergriff und sie verfolgte oder in blinder Wut mit der Stirn gegen die Wand stieß.

Sie hielten ihn für nicht ganz richtig, für überzwerch, für »quer«. Die Jungen predigten die klebrige Feigheit der Kinderherde. Wenn ihre Quälereien aufkamen, dann behaupteten sie, sie wollten »einen rechten Kerl« aus Eugen machen. Eugen empfand wachsende Zuneigung für Ben, der behutsam im Haus herumstelzte, störrisch redete, die Brauen zusammenzog, das Geheimnis des Lebens wahrte. Auch Ben war ein Fremdling. Ein tiefer Instinkt zog ihn zu dem kleinen Bruder. Viel von seinem bescheidnen Lohn als Zeitungsträger gab er aus, um Geschenke für Eugen zu kaufen oder ihm sonst eine Freude zu machen. Er ermahnte den Kleinen mürrisch, puffte ihn zuweilen, aber vor den anderen verteidigte und schützte er ihn.

Da er den Jungen stundenlang beim Schein des Kaminfeuers über Bilderbüchern brüten sah, zog Gant den billigen Schluß, daß Eugen Bücher gern mochte ... und baute darauf die vage Illusion, er wolle einen Juristen aus ihm machen und ihn in die Politik schicken. Da würde er dann Gouverneur, Senator und schließlich Präsident der USA werden. Immer wieder erzählte er ihm die plumpe amerikanische Legende von den Knaben vom Land, die große Männer im Staat wurden, weil sie eben Knaben vom Land, arme und fleißige Farmerbuben waren. Eliza jedoch dachte, Eugen würde einmal Gelehrter, Wissenschaftler, Professor werden. Sie glaubte, sie selbst hätte die Neigung zum Lesen in wohlweislicher Absicht in Eugens Gemüt gestiftet, eine fixe Idee, die Gant reichlich verdroß.

»Den ganzen Sommer, als ich ihn trug, habe ich jede freie Minute gelesen«, behauptete sie, und mit dem behaglich-selbstvertrauenden Lächeln, das sie stets aufsetzte, wenn sie von den Pentlands sprach, bemerkte sie dazu: »Ich will Dir was sagen, es ist leicht möglich, daß alles in der dritten Generation herauskommt.«

»Verdamm' die dritte Generation!« schnauzte Gant wütend.

»Na, nun aber hör mal«, sagte sie gedankenvoll und streckte den Zeigefinger zur Bekräftigung aus, »da muß ich Dir dann doch sagen, daß alle Welt dachte, aus seinem Großvater wäre ein großer Gelehrter geworden, wenn –«

»Barmherziger Heiland!« brüllte Gant los. Er sprang auf, schritt hämisch lachend im Zimmer auf und ab. »Ich hab's ja im voraus gewußt! Sicher« – er leckte aufgeregt seinen Daumen –, »wenn da überhaupt ein Verdienst zu erkennen ist, dann ist es bestimmt nicht meines. Lieber würdest Du verrecken, als so was zugeben. Lieber prahlst Du mit diesem elenden alten Gespenst von Deinem Vater, diesem Kerl, der in seinem ganzen Leben nie eine anständige Tagesarbeit geschafft hat.«

»Na, das würde ich dann doch nicht von ihm behaupten; jedenfalls, wissen kannst Du es nicht«, fing Eliza wieder an und schürzte schnell die Lippe.

»Jesus mein Gott! Welch eine Travestie!« schrie Gant ungebärdig. »Ärgere Furien hat selbst die Hölle nicht als ein gekränktes Weib!« Er wiederholte es mehrmals und lachte dabei bitter und gezwungen.

 

In der Dunkelheit seiner Seele befangen, wie ein fremder Gast in einer lärmenden Schenke, brütete Eugen beim Schein des Kaminfeuers über Büchern. Luftige Phantasiegebilde bauten sich in ihm auf. In Strömen bunter Bilder badete seine Seele. Er durchstöberte die Büchergestelle und fand Schätze. Er fand »Mit Stanley in Afrika«, reich vom Geheimnis des Dschungels, von kriegerischem Erlebnis, schwarzer Schlacht, sausendem Speer, dem schlangenknotigen Wurzeldickicht der Urwälder, den Dörfern aus Strohhütten, Gold, Elfenbein. Er fand Stoddards »Lektüren«, in dem die meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Europas und Asiens abgebildet waren. Er fand »Das Buch der Wunder«, in dem die Großtaten des technischen Zeitalters in bezaubernden Zeichnungen standen: – Santos Dumont in seinem Ballon; flüssige Luft, die aus seinem Kessel ausgegossen wird; sämtliche Kriegsflotten der Erde, die nach der Berechnung von Sir William Crookes durch 30 Gramm Radium 60 Zentimeter über den Meeresspiegel gehoben würden; Darstellungen vom Bau des Eiffelturms und des New Yorker Bügeleisenbaus, das Automobil, das mit einem Stock gelenkt wird; das Unterseebot. – Nach dem Erdbeben von San Franzisko erschien ein Kolportageschinken über die Katastrophe: auf der billigen, giftgrünen Einbanddecke sackten Türme zusammen, taumelten Glockenstühle in der Luft, rutschten vielstöckige Häuser in den aufgähnenden, flammenzüngelnden Rachen der Erde. Ein andres Werk dieser Art hieß »Paläste voll Sünde« oder »Der Teufel in der guten Gesellschaft«. Es war angeblich von einem frommen Millionär verfaßt, der sein Vermögen darangegeben hatte, unter der Schminke die Krätze auf der Haut der Hochgestellten zu entblößen; reizvolle Bilder zeigten den Verfasser, wie er, den Zylinder auf, eine Straße hinunterging, in der viele großartige Paläste voll Sünde standen.

Aus dieser Galerie abgerißner Bilder baute seine brütende Phantasie die Welt. Die verlornen, dunkeln Engel aus Dorés Milton schwebten in die weiträumige Höhle der Hölle, die unter dieser Erde von aufstrebenden und zusammensackenden Türmen, von Maschinenwundern und eisengepanzerten, traumverwobnen Ritterromanzen lag. Und wenn er daran dachte, daß er einmal hinausziehen würde in diese schöne epische Welt, in der am weitesten von daheim das bunte Leben am hellsten strahlte, dann errötete er; so sehr stieg ihm das Blut zu Kopf.

Er wußte bereits, wie Kirchenglocken klingen, die sonntagsabends fernher übers Land läuten. Er hatte die Nachtsymphonie mit ihren Abermillionen Geräuschen belauscht. Er kannte den schrillen schwächerwerdenden Pfiff der Lokomotive in einem fernen Tal und den leisen Rumpeldonner des Zugs auf den Schienen. Er ahnte im verführerischen Nu die unendliche Weite und Tiefe der goldnen Welt mit ihren zahllosen, heimischen, ineinander verwobnen Gerüchen und Sinnesräuschen.

Er erinnerte sich an das »Ostindische Teehaus« auf der Weltausstellung; das Sandelholz, die Turbane und Gewänder, die kühlen Räume und den Duft des schwarzen Tees. – Er kannte den Geruch von Kellern; von Wassermelonen, die in Heu gebettet auf einen Farmwagen verladen werden; den Geruch von Pfirsichen, in Lattenverschläge gepackt; den Geruch von bittersüßen Orangenschalen vor einem Kohlenfeuer. Er kannte den Geruch von seines Vaters Zimmer, gemischt aus Leder, Tabak, Wolle, Schweiß und Männlichkeit ... den beizenden von Holzfeuerrauch und von brennendem Laub an Oktoberabenden ... den trägen der Erde im Spätherbst und den süßen des Jelänger-Jelieber in Sommernächten ... den köstlichen von Speck-und-Eiern in der Pfanne zusammen mit dem von kochendem Kaffee. Er kannte den Geruch von einem Backofen im Wind, von buttergeschmälztem grünem Bohnengemüse aus einer Küche, von blauen Trauben in langen Weidenkiepen, von einer ungelüfteten Bodenkammer aus trocknem Tannenholz, in der eingekampferte Teppiche und stockfleckige Schmöker aufbewahrt werden.

Ja! und er kannte den Geruch von Tünche und Firnis, von neuem Leder im Sattlerladen, von Honig, Kaffeesäcken, Pickels, Käsen, Pfeffer und Werweißwasnoch im Krämergeschäft ... den Geruch von Sägmehl, Hobelspänen und aufgeschichteten Bohlen, von alter Eiche und Walnuß, von Harz ...

Ja! und den Geruch von Pfirsichen beim Einkochen und von Butter- und-Zimt auf heißem Jam ... und den Geruch des trägen Flusses und von am Stock verfaulenden überreifen Tomaten ... den Duft der Kirschblüte ... den scharfen Geruch von Unkraut und Algen und Brackwasser und Torf bei einem Sumpftümpel ... den Geruch der Erde nach langem Regen ... den Geruch kochender Quitten und den des welkenden Lilienbeets ... den ausgezeichneten Geruch der Südstaaten, sauber und bang, wie der einer großen Frau.

Ja! und den Geruch einer Margeritenwiese am Morgen ... von schmelzendem Gußeisen in der Esse ... von rauchenden Misthaufen und warmen Pferdeställen ... den Geruch der Metzgerei nach starkem Hammel, feister Leber, gewürzter Wurst, rotem Rindfleisch ... den Geruch zerriebener Pfefferminzblätter und den von einem nassen Fliederbusch; von Magnolien unterm Vollmond; von Lorbeer und Hundsholz ... den Geruch von alten, verkrusteten Bruyèrepfeifen, von Virginiatabak, von Bourbon-Rye-Whisky in einem eichenen Faß ... den Geruch von Karbol, den Geruch von einem treuen Haushund, von Schweinebraten, von Vanille in einem Kuchenteig ... den Geruch von Farnkraut bei einer Quelle.

Ja! und den Geruch einer Eisenhandlung, hauptsächlich den reinlichen Geruch von Nägeln ... den Geruch von Chemikalien zum Entwickeln aus der Dunkelkammer des Photographen ... den junglebigen Geruch von Farben und Terpentin ... von Buchweizenteig und schwarzem Sorghum ... den Geruch von einem Neger zusammen mit dem von einem Gaul ... den Geruch des dichten Unterholzes auf den Bergen der Südstaaten ... von Austern in einem Schaff ... von ausgeweideten Fischen auf Eis ... von einer heißen Negerköchin ... von Petroleum und Linoleum; von Sarsaparilla und Guaven, von herbstlich reifen Persimonen.

Ja! und den Geruch von Regen und Wind, des scharfen Donners, des kalten Sternlichts, des sprödhalmigen, gefrornen Grases; den Geruch von Nebel und wolkenverhängter Wintersonne; den Geruch der Saatzeit, der Blühzeit, des mürben, fallschweren Herbstes.

Und maßlos gelüstig gemacht durch diese Erfahrungen, fing er nun an in der Schule, in der Geographiestunde, die gemischten Gerüche und Düfte des Erdreichs zu ahnen. In jedem Fäßchen, das auf der Straße abgeladen wurde, roch er einen Schatz aus goldnem Rum, süßem Portwein, schwerem Burgunder. Er genoß den Dschungelwald der Tropen, den üppigen Duft von Plantagen ... den Salz- Fisch- und Teerdunst der Häfen ... Er reiste in eine weite Welt, die bezauberte ohne zu verwirren.

 

Nun waren die unzähligen Inseln des Archipels miteinander verbunden worden; festen Fußes stand Eugen auf dem unbekannten, wartenden Kontinent.

Er lernte sofort lesen; sein gutes Bildgedächtnis hielt den Umriß des gedruckten Worts scharf und genau fest. Aber es dauerte Wochen, bis er schreiben oder wenigstens Buchstaben nachziehen konnte. Schaumfetzen und Traumtrümmer der verlornen Welt schwammen immer noch durch sein klares Schultagsmorgengemüt. Obschon er sonst dem Lehrgang genau folgen konnte, blieb er ins alte Unwissen verbannt, sobald es ans Buchstabenmachen ging. Die Kinder zogen ihre unbeholfnen Alphabete unter einer Reihe von Modellbuchstaben, aber alles, was Eugen fertigbrachte, war ein Durcheinander schwanker, zittriger Speere, die er mit unendlicher Begeisterung andächtig wiederholte, unfähig einzusehen, wieso das keine Buchstaben wären.

»Ich habe schreiben gelernt«, dachte er.

Eines Tages guckte Max Isaacs plötzlich von seiner Übung herüber auf Eugens Blatt und sah die unebnen Zackenlinien.

»Das is' nich' geschrieb'n«, sagte er.

Er klemmte seinen Bleistift in die schmutzige, warzige Hand und schrieb die Vorbilder einmal in Eugens Heft ab.

Die lebendige Linie, die schöne, sich entwickelnde Struktur, die Eugen aus dem Bleistift seines Kameraden fließen sah, zerschnitt den Knoten, den keinerlei Unterweisung zu zerschneiden vermocht hatte. Er nahm den Bleistift, ohne weiteres, und schrieb die Buchstaben in schönerer, feinerer Ausführung, als es sein Freund vorgemacht hatte, auf die nächste Zeile. Er machte sich, einen unterdrückten Schrei in der Kehle, an die folgende Seite und schrieb ohne zu zögern das Vorbild ab. Und so tat er auf der nächsten und übernächsten. Mit dem hellen Staunen, mit dem Kinder ein Mirakel anerkennen, sahen sie einander an.

»Das is' jetz' geschrieb'n«, sagte Max.

Sie bewahrten das Geheimnis unter sich und sprachen nie davon. Eugen dachte später oft über diesen Vorfall nach. Er erlebte dann wieder das Aufspringen der Tore, das Eindringen der Flut, die Flucht. Ja, ganz genau so war es eines Tages geschehen.

Da er noch knirpsenhaft nah an der Erdkruste lebte, gewahrte er manche Dinge, die er geheimhielt, wohlwissend, daß man ihn auslachen würde, wenn er darüber berichte. Eines Samstags im Frühjahr gingen er und Max Isaacs die Central Avenue hinunter. Sie blieben vor einer Grube stehen. Arbeiter flickten ein gebrochenes Wasserrohr. Die aufgeworfenen Erdwälle waren höher als ihre Köpfe. Dahinter war eine weite Kluft, ein Fenster ins Erdinnere, durch das man in einen dunklen Stollengang sehen konnte. Als die beiden Buben hinunterblickten, packten sie plötzlich einander am Arm. Da unten glitt eine ungeheure Schlange. Sie sahen den flachen Kopf, den langen Schuppenleib, der im Umfang dicker als ein Manneskörper war. Der Kopf war schnell verschwunden, der Leib des Ungeheuers aber glitt endlos weiter in die tiefe, tiefe Erde hinein und verschwand schließlich, ohne daß die ahnungslosen Arbeiter überhaupt etwas merkten. Die Buben, vor Schreck zitternd, gingen fort. Dann und auch später sprachen sie nur im Flüsterton von dem Erlebnis. Aber sie erzählten keinem Menschen davon.

 

Eugen fand sich leicht in den geregelten Gang des Schullebens. Genau wie seine Brüder schlang er frühmorgens sein Frühstück hinunter, schluckte heißen Kaffee, packte, wenn das letzte Klingelzeichen der Schulglocke ertönte, ein fettfleckiges Papierbündel mit belegten Broten und rannte aus dem Haus. Das Herz hämmerte ihm zum Hals vor Aufregung; er machte schlapp, wenn der Ton der Schelle matter wurde.

Ben, stirnrunzelnd und hämisch, stemmte ihm eine Hand ins Kreuz und schob ihn bergan. Ganz außer Atem kam er ins Klassenzimmer und sang noch die letzte Strophe des Morgenlieds mit, das die in vier Gruppen eingeteilte Klasse als Kanon sang:

»... fröhlichsein, fröhlichsein,
Leben ist ein Traum ...«

Manchmal, besonders an kalten Herbstmorgen, sangen sie auch: »erwacht ihr Herrn und Damen froh ...« oder den Wettstreit zwischen Südwind und Westwind, im Frühling auch das lustige Müllerlied.

Lesen fiel ihm leicht; er buchstabierte zuverlässig; im Rechnen war er gut. Aber er haßte die Zeichenstunde, obschon ihn Buntstiftschachteln und Malkasten entzückten. Manchmal machte die Klasse Waldspaziergänge; sie kamen mit hochroten Ahornblättern, Tannenzapfen, braunem Eichenlaub zurück; das sollte gemalt werden. Im Frühling war es ein kleiner Kirschblütenzweig oder eine Tulpe. Eugen blieb stets befangen vor der rundlichen Klassenlehrerin, die den Unterricht erteilte. Er hatte Angst, irgend etwas zu tun, was in ihren Augen gemein oder unanständig wäre.

Die Klasse war unruhig und trieb Unfug. Die Jungen schäkerten mit den Mädchen, schrieben ihnen unzüchtige Zettel, erfanden Quälereien für sie. Die Wildlinge und Faulpelze benutzten jede Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen: »Fräulein, bitte, darf ich mal raus?« Eugen brachte es nicht fertig, um so etwas zu bitten. Er schämte sich vor ihr. Einmal wurde ihm furchtbar schlecht; er wurde fast ohnmächtig vor Übelkeit ... erbrach sich schließlich in die hohlen Hände.

Vor den Pausen fürchtete er sich, denn er haßte das Durcheinander und die Balgerei auf dem Schulhof. Sein Stolz erlaubte ihm nicht, einfach im Klassenzimmer zu bleiben oder sich stillschweigend zu drücken. Eliza hatte sein Haar lang wachsen lassen und wickelte es jeden Morgen um die Finger zu dicken Lord-Fauntleroy-Locken. Die Qualen und Demütigungen, die er wegen dieser Locken ausstand, konnte oder wollte sie nicht verstehn. Umsonst flehte Eugen, sie möge ihm das Haar schneiden lassen. Sie bewahrte die Locken von Ben, Grover und Lukas in kleinen Schachtein auf. Sie weinte manchmal, wenn sie Eugens Haar anschaute. Für sie waren diese Locken Merkzeichen dafür, daß Eugen noch ein Baby sei, Gedenkzeichen auch ihrer eigenen Herzenstrauer. Sie brachte es nicht über sich, sie zu opfern. Sogar als sich eine blühende Kolonie von Harry Tarkintons Läusen in dem dichten Gelock ansiedelte, ließ sie es nicht scheren, sondern behandelte die Kopfhaut zweimal täglich mit einem feinzinkigen Kamm.

Eugen zitterte und wand sich bei der Prozedur. Er flehte leidenschaftlich. Aber sie summte vor sich hin und sagte: »Aber was? Du bist doch gar kein großer Junge. Du bist doch mein Nesthäkchen.« Plötzlich verstand Eugen die nachgiebige Unbeugsamkeit ihres Wesens, die Ursache von Gants Wut. Er schrie auf, hilflos vor wahnwitzigem Zorn.

In der Schule war er ein gehetztes kleines Tier. Die Klasse in ihrem Herdeninstinkt hatte den Fremdling schnell herausgefunden. Sie trieben ihn zur Verzweiflung, sie jagten ihn unerbittlich. Wenn die große Mittagspause kam, packte Eugen sein fettfleckiges Papierbündel und rannte, vom heulenden Rudel verfolgt, über den Spielplatz. Die Führer der Bande, zwei oder drei ältere Lausbuben, die wegen Dummheit sitzen geblieben waren, drängten sich an Eugen mit der Aufforderung: »Gelt, Du kennst mich! Du kennst mich!« Sie keilten ihn in eine Ecke, rissen ihm Stück für Stück die belegten Brote aus der Hand, rauften sich mißgünstig um die Beute. Manchmal gelang es Eugen, ein halbes Brot aus den Händen der Räuber zu reißen und es schnell zu verschlingen. Wenn die Brote alle waren, lief das Pack davon.

 

An die große Phantastik der Weihnachten glaubte er noch. Abend um Abend im Spätherbst und Vorwinter kritzelte er Wunschzettel an den Nikolaus, schrieb fleißig immer wieder die Liste der Geschenke auf, die sein Herz am meisten begehrte. Dann warf er den Zettel in das auflodernde Kaminfeuer. Die Flamme faßte das Papier und wehte den verkohlten Rest zum Rauchfang hinauf. Gant rannte ans Fenster, deutete auf den wolkigen Nordhimmel und sagte:

»Siehst Du? Dort fliegt er, Dein Wunschzettel.«

Eugen sah. Er sah, wie der herrliche Botenwind seine Bittschrift nordwärts davontrug nach Weihnachtsland und ins lustige Reich der Schnee-Elfen; er sah die kleinen Dächer und Giebel der Spielzeugdörfer; er hörte das Lachen der Zwerge, süß und hell, wie ein Hämmerchen auf einem kleinen silbernen Amboß klingt; er hörte das Wiehern des himmlischen Rentiers, das den Schlitten des Nikolaus zieht. Gant sah und hörte dasselbe.

Zum Fest, wurde er mit buntem Spielzeugtand überschüttet. Von Grund seines Herzens haßte er die Leute, die für »nützliche« Geschenke sind. Gant kaufte ihm Karren, Schlitten, Pferde, Trompeten, Hörner. Das Schönste war ein kleiner Feuerwehrwagen, der das Wunder und später die Plage der gesamten Nachbarschaft wurde. Monatelang lebte er in der schulfreien Zeit im Keller mit Max Isaacs und Harry Tarkintott; sie hatten die Leitern auf dem Wagen so mit Draht festgemacht, daß sie im Handumdrehen angelegt werden konnten. Sie taten, als dösten sie auf Wache, ganz wie es die tapfere Feuerwehr tut. Plötzlich sprangen sie auf, wenn einer von ihnen die Alarmglocke »Klengelengeleng« nachmachte. Wie besessen stürzte Eugen zum Fahrerbock, stürzten Harry und Max auf die Seitenbänke. Sie rasten zum Keller hinaus, galoppierten vor ein Nachbarhaus, legten Leitern an, öffneten Fenster, erzwangen Eintritt, schrien, löschten eingebildete Zimmerbrände und fuhren dann wieder ab, ohne sich um das Gekeif der heimgesuchten Hausfrau zu scheren.

Monatelang gingen sie ganz in diesem Spiel auf. Ihr Vorbild war die städtische Feuerwehr, besonders aber der Schweizer Jannadeau, der Leutnant bei der Truppe war. Sie hatten gesehen, wie er, sobald der Alarm ertönte, eine gerade auseinander genommene Uhr auf dem Glastisch liegen ließ, aus seinem Juwelierladen neben Gants Werkstatt stürzte, über den Stadtplatz stürmte und wie ein Verrückter rennend den großen Löschwagen gerade noch erreichte, als dieser zur Halle herausfuhr. Die Feuerwehr gab waghalsige Schaustellung vor der gaffenden Bürgerschaft; sie führten tollkühne Kunststücke an den Leitern aus. Ein Mann hielt einen zweiten an den Armen in der Schwebe, und Jannadeau wagte den halsbrecherischen Sprung nach den Armen des Schwebenden und hing sich an dessen Händen ein. Den Leuten lief es eiskalt den Buckel hinunter.

Wenn nachts Alarmschellen durch den heulenden Wind tönten, fuhr der Dämon in Eugens Herz. Er träumte sich in Herrschaft, in fliegende Herrlichkeit über Feuersbrunst, Dunkelheit, Sturm und alle Mächte, über eine Welt höllischer Widersacher; er bestand wilde Abenteuer der Einsamkeit, Begegnungen mit Feinden im Gewitter, warf Blicke durch regengepeitschte, sturmerschütterte Fenster auf Frauen.

Ja, auf ein Reich von Frauen, die schönleuchtend, mit angehaltnem Atem im Bette lagen. Über Welten hinweg, zwischen zitternden Säulen aus Duftrausch kam er zu ihnen. Das Geheimnis des weiblichen Körpers, rätselhaft dunkel und groß, hatte es ihm angetan. Bald auch fand er Unterweisung für seine Neugier bei den ungekämmten Gören von Doubleday, die die Herzen der kleineren, zarteren Jungen mit Furcht und Verwunderung erfüllten. Doubleday war das verseuchte Stadtviertel, in dem das ortsansässige Pack der stumpfen Gebirgsrasse hauste, rohes Volk, das nachts auf den Gassen herumlungerte und gegen andre Banden mit Steinen Krieg führte, so daß es in der Nacht von Allerheiligen blutige Köpfe und zerbrochne Schädel gab.

Eugens Mitschüler Otto Krause war der Sohn deutscher Einwandrer. Er war ein struppiger, käsenasiger Bursch mit schmalen, dünnen Brauen, sehr schnell auf den hageren Beinen; er war ewig heiser und hatte ein idiotisches Lachen. Dieser Otto Krause zeigte ihm die Gärten der Lust.

Ein Mädchen namens Bessie Barnes war schwarzhaarig, hochgewachsen, mit einer kecken aufreizenden Figur ... Sie diente als Modell. Bessie war dreizehn, Otto war vierzehn. Eugen war acht. Alle drei gingen sie in die drittunterste Volksschulklasse. Otto saß neben Eugen.

Otto schrieb und zeichnete Schweinereien auf Zettel und reichte sie über den Gang zwischen den Bankstaffeln der Bessie hinüber. Die Nymphe machte eine unzüchtige Miene, hob elegant die Hinterbacke und gab sich einen verächtlichen Klaps auf den Schenkel, eine Gebärde, die Otto für eine Zusage hielt und gekitzelt mit einem heiseren Kichern beantwortete.

Die Bessie ging dem Eugen im Kopf herum.

 

Während des Unterrichts vergnügten sich Otto und Eugen heimlich damit, Unanständigkeiten in ihre Geographiebücher zu zeichnen. Die dargestellten Ureinwohner der Tropen versahen sie mit Hängebrüsten und mächtigen Geschlechtsteilen. Auf kleine Zettel schrieben sie kurze schweinische Reimereien über die Lehrerin und den Rektor. Miss Groody, die Lehrerin, war eine magere alte Jungfer mit rotem Gesicht und grellen Augen. Otto dichtete von ihr:

»Die alte Miss Groody
Hat gute Toody.«

Eugens Poesie galt der Person des Rektors. Dieser war ein fetter, weichlicher, geckenhafter junger Mann namens Armstrong. Er trug stets eine Nelke im Knopfloch, deren Duft er, wenn er einen Buben verwichst hatte, mit geblähter Nase und niedergeschlagenen Lidern einsog. Im Ansturm der ersten, reinen und reichen Schaffensfreude verfaßte Eugen Dutzende von Reimen, die Armstrong und dessen Eltern schmähten und den jungen Mann unkeuscher Beziehungen zu Miss Groody bezichtigten.

Eugen war besessen. Er verbrachte den ganzen Tag damit, diese Themen in liederlichen Reimen zu variieren. Und gewann es nicht über sich, diese Kunstwerke zu zerstören. Er verwahrte die zerknitterten Zettel in seinem Gefach unter der Bank. Eines Tages in der Erdkundestunde wurde er von der Lehrerin ertappt. Seine Knochen wurden wie Gummi, als sie ihn grell anfunkelte und den Zettel mit seiner Kritzelei, im Buch versteckt, entdeckte. Während der Pause untersuchte sie sein Gefach unter der Bank, las die vielen Sequenzen und befahl ihm mit vielsagender Ruhe, sich nach der Schule beim Rektor zu melden.

»Was wird's da geben?« wisperte er mit trockner Stimme zu Otto Krause.

»Haue, Haue!« sagte Otto und lachte heiser.

Die Klasse höhnte ihn schadenfroh. Sie rieben sich den Allerwertesten vor seinen Augen und schnitten weinerliche Grimassen dazu.

Eugen wurde übel; nicht aus Furcht vor den Schmerzen, sondern aus Ekel vor der Demütigung. Er empfand Bewunderung und Neid vor der seelischen Unempfindlichkeit seiner Klassenkameraden, die eine Tracht Prügel einfach hinnahmen, laut heulten, um die Schläge zu mildern, und zehn Minuten später die ganze Sache vergessen hatten. Er wußte, daß er es nie verwinden könne, wenn ihn der feiste junge Mann mit der Nelke im Knopfloch verhauen würde. Um drei Uhr meldete er sich auf dem Rektorzimmer, kreideweiß im Gesicht.

Armstrong, schlitzäugig und dünnlippig, hielt den Stock in der Hand, als Eugen eintrat. Er ließ den Stock durch die Luft sausen. Hinter ihm auf dem Schreibtisch lagen, ein säuberlich geordneter Stoß, die Zettel mit dem gereimten Schimpf.

»Hast Du das Zeug da geschrieben?« fragte Armstrong und machte seine Augen klein wie Punkte, um Eugen Angst einzujagen.

»Ja«, gestand Eugen.

Armstrong ließ abermals den Stock durch die Luft sausen. Er hatte Daisy mehrere Male zu Hause besucht und an Gants reichgedecktem Tisch gegessen. Er erinnerte sich dessen genau.

»Habe ich Dir je etwas zuleid getan. Söhnchen, daß du mich so verunglimpfst?« knirschte die gekränkte Großmut.

»N – n – nichts«, stotterte Eugen.

»Willst Du es je wieder tun?« tönte die schneidende Strenge.

»N – n – nein, Herr Rektor«, antwortete der Sünder mit versagender Stimme.

»Gut! Dann will ich Dir's hingehn lassen«, sprach Gott in seiner Größe. »Du kannst gehen.«

Eugen fand seine Beine erst wieder, als er draußen auf dem Spielplatz war.

 

Aber oh! der herrliche Herbst! Die Lieder, die sie sangen! Lieder von der Ernte und vom verfärbten Wald, und »Heut ist halber Feiertag ...« und »Droben in der Luft so hoch der Drache ...« und das Schnellzugsliedchen: »Stationen sausen im Flug vorbei wie ein Pfiff ...« Oh, diese mürben Tage! Die Tore des Verlangens taten sich auf; Nebel verspannen die Sonne; das welke Laub fiel raschelnd durch die Luft auf den Boden.

»... Und jede dieser kleinen Schneeflocken ist anders in der Form als alle anderen.«

»Wirklich, Miss Pratt? Jede?«

»Ja, jede Schneeflocke ist anders als alle anderen, die es je geschneit hat. Die Natur wiederholt sich nie.«

»Oh!«

 

Bens Bart wurde flück; er rasierte sich bereits. Er tollte stundenlang mit Eugen, drückte ihn aufs Ledersofa und kratzte die zarte Wange des Kleinen mit den dünnen spitzen Kinnstoppeln. Eugen quietschte.

»Ha! Wenn Du das erst mal kannst, bist Du'n Mann«, sagte Ben. Und er sang mit seiner dünnen summenden Gespensterstimme:

»Peck peck peck! pocht der Specht an die Schulhaustür,
Peck peck peck! und sein Schnabel ward wund,
Nun schnelle an der Schelle auf dem Schulhaus gewetzt,
Peck peck peck! ward der Schnabel gesund.«

Sie lachten, Eugen mit schaukelnden Kehllauten, Ben mit fast lautlosem Kichern. Er hatte wäßrige graue Augen und eine gelbe, finnige Haut. Sein Kopf mit der hohen knochigen Stirn war wohlgeformt. Sein Haar war kraus, ahornbraun. Unterhalb der ständig zusammengerückten Brauen war sein Gesicht klein und lief spitz zu. Sein ungewöhnlich sensitiver Mund lächelte kurz, flackernd, mit eingezogenen Lippen. Wie ein Lichtschein über eine Klinge läuft, so huschte das Lächeln über Bens Mund. Ben gab stets einen Puff, wenn er eigentlich streicheln wollte; er war sehr zärtlich und sehr stolz.


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