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Ένεύδευ έξελαύνει όταδυόυς τρείς παρασάγγας
πεντεχαίδεχα έπί τόν Έυφράτην ποταμόν
Er sagte den Leonards nicht, daß er in der Tagesfrühe Zeitungen austrug. Sie würden heftigen Einspruch erheben, das wußte er, und dieser Einspruch würde sich in schlechteren Noten manifestieren, das wußte er auch. Und Margaret würde vielsagend von untergrabner Gesundheit und von zerstörten Zukunftsaussichten sprechen, würde ihm klarmachen, daß er den verlornen Segen des süßen Morgenschlafs nie wieder einbringen könne. Tatsächlich war er nun robuster als je; aber das Bedürfnis nach Schlaf nagte an ihm. Mittags wurde er schwer, im Lauf des Nachmittags lebte er dann wieder auf, und nach acht Uhr abends war er vor lauter Schlaftrunkenheit außerstand, seine Gedanken vor einem Buch zu sammeln.
Er war und blieb ziemlich undiszipliniert. Unter der Obhut der Leonards kam es so weit, daß er mit romantischer Geringschätzung auf alle Disziplin herabsah. Margaret hatte die wunderbare Einsicht großer Menschen in das Wesentliche. Sie sah stets die dominierenden Farben, aber sie erkannte nicht immer die Schattierungen. Sie war eine inspirierte Sentimentalistin. Sie war überzeugt, sie »verstünde sich auf Jungen«, stolz auf ihre Kenntnis des Knabenherzens. Tatsächlich jedoch wußte sie wenig. Die wilden Verwirrungen der Werdejahre, die geschlechtlichen Alpträume der Pubertät, der Kummer, die Angst und die Scham, mit der Knaben über der dunklen Welt ihrer Sehnsucht brüten, ... das alles hätte sie tief entsetzt. Sie hatte keine Ahnung davon, daß jeder Junge sich selber wie ein eingesperrtes Ungeheuer vorkommt.
Wissend war sie nicht, aber sie war weise. Sie erkannte unmittelbar die entscheidenden Eigenschaften eines Menschen. Knaben waren ihre Helden, ihre kleinen Götter. Sie glaubte bestimmt, daß einer von ihnen die Welt erlösen würde. Sie sah die Flamme, die in jedem brannte, und sie hütete diese Flamme. Sie versuchte irgendwie, an das dunkle Tappen und Tasten nach Licht und Form, an das stumpfe, verstockte, schamgefesselte Wesen zu rühren. Sie sprach ein beruhigendes Wort zu dem aufgeregten Rennpferd, und es zitterte nicht mehr.
So kam es, daß Eugen nichts eingestand, sich nicht aussprach. Er blieb im Druck des Kerkers, hinter den Gitterstangen aus Furcht und Scham. Aber er wandte sich stets zu Margaret; sie war sein Licht. Sie sah das unheilige Feuer, dessen Flammen auf seinen Mienen zuckten, sie ernannte den Hunger und die Qual – und sie fütterte den Hungernden – majestätisches Verbrechen! – mit Dichtung.
Alles, was sie voreinander verschlossen, was ihnen die Zungen schnürte, war entbunden und schwang im. Symbol tönender Verse. Hier war Margaret ganz den guten Geistern überantwortet. Sie konnte eine große, verlorne, von den Flammen beleckte Seele ins Reich der Dichtung einlassen, sie hatte das Zeus; dazu. Der Wein der Traube hatte ihre Lippen nie berührt, der Wein der Dichtung aber war ihr ins Blut gemischt.
Eugen kannte die gesamte höhere Lyrik der englischen Sprache bereits, als er noch nicht fünfzehn war. Er besaß diese Gedichte in ihrem lebendigen Kern, kannte nicht eine Handvoll schöner Verse, sondern das Ganze, Zeile für Zeile. Er litt einen trunknen, unersättlichen Durst. Er vergrößerte seinen Schatz noch um ganze Szenen aus Schillers Teil, den er für sich auf Deutsch las, um einige Gedichte Heines und mehrere Volkslieder. Er lernte die ganze Stelle aus der Anabasis auswendig, das anschwellende, aufsteigende, triumphale Griechisch, das den Augenblick berichtet, in dem die darbenden Übriggebliebnen des Heers der Zehntausend schließlich ans Meer kommen und, es beim Namen nennend, den großen Schrei ausstoßen. Außerdem lernte er, um des Klanges willen, ein paar von Ciceros sonoren Dummheiten und ein paar Stellen, zäh und bündig, aus dem Cäsar.
Die süßen Lieder von Robert Burns kannte er aus Vertonungen oder von Gants Rezitationen. Aber den »Tarn O'Shanter« hörte er zum erstenmal von Margaret; ihre Augen lachten leuchtend, als sie las:
»In der Höll' wirst Du wie ein Hering gebraten.«
Die kleinen Wordsworth-Gedichte hatte er schon auf der Volksschule gelesen; »Mein Herz schwingt auf ...«, »Ich wandert' einsam wie die Wolk' ...« und »Sieh an, sie steht im Feld allein ...« kannte er seit Jahren. Nun las ihm Margaret die Sonette. Sie ließ ihn »Die Welt gilt viel zu viel vor uns« auswendig lernen. Ihre Stimme bebte und wurde leis vor Leidenschaft, als sie es las.
Er kannte alle die Lieder aus Shakespeares Schauspielen. Die beiden, die ihn am meisten bewegten, waren: »O Herrin mein, wo fährst Du um ...« aus »Was Ihr wollt« »und das große Lied aus »CymbeIin«: »Bang nicht mehr vor der Sonne Glühn ...«. Er hatte sich an die Sonette gewagt, den Versuch aber aufgegeben, weil sie in ihrer sprachlichen Dichte zu schwer für ihn waren. Er hatte ungefähr die Hälfte gelesen und ein paar davon, die ihn beim Lesen unmittelbar entzündet hatten, behalten.
Er kannte: »Wenn in der Chronik der verwehten Jahre ...«, »Mir, schöner Freund, kannst Du nie alt erscheinen ...«, »Wenn zur Gesellschaft süßem, stillem Denken ...«, »Soll ich Dich einem Sommertag vergleichen ...« ... und das größte von allen, auf das ihn Margaret aufmerksam machte: »Nimm jene Zeit des Jahres an mir wahr ...«, das ihm bei der Stelle: »ein Kreuzgang, kahl, wo süße Vögel sangen ...« so ergriff, daß er es kaum zu Ende lesen konnte. Außer »Timon«, »Titus Andronikus«, »Perikles«, »Coriolan« und »King John« las er alle die Schauspiele, aber das einzige, was ihn von Anfang bis zu Ende fesselte, war »König Lear«. Mit den berühmten großen Passagen war er schon seit Jahren durch Gants Deklamationen vertraut; sie langweilten ihn nun. Und all das wortreiche Gewäsch der Narren, über das Margaret pflichtschuldigst lachte, und das sie für Beispiele von Shakespeares schwingendem Witz hielt, erschien ihm ziemlich öd. Er hatte nie das geringste Zutrauen zu Shakespeares Humor. Die dumpfe, langatmige Art dieser Witzbolde erinnerte ihn zu sehr an die Späße der Pentlands. Nur der Narr in Lear – ihn bewunderte er, diesen tragischen, traurigen, mysteriösen Narren. Die andern Narren parodierte er und bildete sich dabei ein, daß die Nachwelt sich über diese Mätzchen krank lachen würde.
Die vielbewunderten Schönheiten müdeten ihn vielleicht, weil man ihn zu oft mit der Nase daraufgestoßen hatte. Außerdem war er der Meinung, daß Shakespeare, anstatt schlicht zu reden, sich oft absurd und pompös ausdrücke, wie zum Beispiel in der Laertesstelle, in der der Bruder von der Königin erfährt, daß Ophelia ertrunken ist: »Zuviel des Wassers hast Du, arme Ophelia / darum gebiet ich meinen Tränen Halt ...« Kann man's ärger treiben? dachte er. Mein Gott, ich wünscht, er hätte hundert oder meinthalb tausend Tränen drangehängt!
Aber in andere Stellen, die die Rhetoriker gewöhnlich übersehen, vertiefte er sich sehr, so zum Beispiel in die furchtbare epische Anrufung Edmunds im »König Lear«, die mit dem Vers: »Du Erdkraft bist mir Göttin ...« beginnt und mit der Zeile: »Nun, Götter, stehet ein für die Bastarde!« endet.
Ja; das war finster wie Nacht, verworfen wie die Niggertown, groß wie der elementare Wind, der von den Bergen heulte! Eugen sang es in den Nachtstunden auf seiner Route gegen den Wind und das Dunkel. Das verstand er, das Böse darin begeisterte ihn. Es war das Erdböse, die Bosheit der unbezähmten Natur. Es war ein Schrei, an die gerichtet, die nicht klassifizierbar sind, die jenseits des Zauns leben, ein Ruf an die Engel des Aufruhrs und an alle Menschen, die zu groß für das gemeine Maß sind.
Von den Dramen der Elisabethaner kannte er außer Shakespeares Schauspielen nichts. Aber sehr früh lernte er die Gedichte des Ben Jonson kennen, Margaret hielt diesen Dichter für einen literarischen Falstaff und verzieh ihm seine gargantuanische Ausschweifung mit der bekannten Toleranz der Schulmeisterin als eine verzeihliche Schwäche des Genies.
»O Du seltner Ben Jonson!« seufzte Margaret leise lachend am Tisch.
»Gott segne ihn!« platzte Sheba heraus, mit hochrotem Gesicht. »Er war so englisch wie Roastbeef und Ale. Und weißt Du auch, Eugen«, fuhr sie fort, »daß der größte Tribut, der dem Genius Shakespeares gezollt wurde, aus seiner Feder stammt? Und trotzdem behaupten die gemeinen Wichte, daß er auf Shakespeare eifersüchtig war!«
»I wo, da ist kein wahres Wort dran!« erklärte Margaret ungeduldig. »Das stimmt ganz sicher nicht, sage ich Dir.«
Sie sagte es ihm. Shakespeare war der Schwan. Und sie sagte ihm Dinge von der tiefen Menschenkenntnis des Schwans, von seiner allumfassenden and wohlgerundeten Charaktergestaltung, von seinem enormen Humor.
»Focht eine lange Stunde nach der Shrewsbury Uhr bemessen ...« Sie lachte. »Der fette Racker! Stell Dir vor, daß ein Mann dann auf die Zeit achtgibt!«
Und vorsichtig und ermahnend fuhr sie fort:
»Du mußt das verstehen, Eugen, damals waren die Sitten anders. Wenn man Shakespeares Werke mit den Werken seiner Zeitgenossen vergleicht, dann sieht man, wie viel, viel reiner er dachte und empfand als die andern.«
Aber hie und da umging sie eine Vokabel, ließ sie eine Zeile untern Tisch fallen. Der etwas befleckte Schwan ... nun ja, ein bißchen von den Sitten seiner Zeit angedreckt. Mit der Bibel ist es ja auch so ... Die schwelenden Kerzenstümpfchen der Zeit. Parnassus vom Berg Sinai aus gesehen, ein Vortrag mit Lichtbildern von Professor McTavish D. D. vom Presbyterian College.
»Und noch etwas, Eugen«, sagte sie. »Shakespeare hat stets das Laster verdammt, er hat es nie anziehend dargestellt.«
»Wieso denn?« fragte er. »Da ist doch die Figur des Falstaff.«
»Ja«, antwortete sie. »Du weißt doch, wie es ihm ergeht, nicht wahr?«
»Wieso?« sagte er zaudernd. »Er stirbt!«
»Na also! Da hast Du es ja!« triumphierte sie. Warnend.
Ich seh das nicht ein, dachte er. Wieso denn? Der Tod der Sünde Sold? Was ist dann der Sold der Tugend? Die Guten sterben jung.
»Und noch was«, sagte sie. »Keine von Shakespeares Gestalten steht still. Du siehst sie wachsen. Du verfolgst ihren Werdegang. Keiner seiner Helden ist am Ende der gleiche, der er am Anfang war.«
Am Anfang war das Wort, dachte er. Ich bin das Alpha und Omega. Der Werdegang des Lear. Er wurde alt und wahnsinnig. Ein schöner Werdegang.
Diese Blechmünzen der Literaturschulmeisterei hatte sie in ein paar Kursen auf der Universität aufgepickt. Sie gehörten – und gehören vielleicht noch – zum glattzüngigen Jargon der Pedanterie. Aber ihrem Verständnis taten sie keinen Schaden. Das waren halt die Dinge, die die Leute so sagten. Sie hatte, ein wenig schuldbewußt, das Gefühl, daß sie ihren Unterricht mit diesem billigen Staat aufdonnern müsse; sie fürchtete, daß das, was sie zu bieten hatte, nicht genug sei. Was sie zu bieten hatte, war ein Gefühl für Dichtung, so unfehlbar, so grundrichtig, daß sie keinen schlechten Vers gut, keinen guten schlecht finden konnte. Sie war eine Stimme, nach der Gott sucht. Sie war die Schalmei der Ekstase und der Dämonie. Sie war vom Dichtergeist besessen, sie wußte selbst nicht wie; aber wenn der Geist über sie kam, erkannte sie ihn. Die singenden Zungen aller Welt erwachten wieder im Ton ihrer Stimme. Sie war bewohnt, restlos hingegeben. Durch das verriegelte und verrammte Leben der Schüler ging sie wie ein schöner Geist. Sie schloß die Herzen auf, wie man Schranktüren aufschließt. Und die Jungen verehrten sie sehr.
Er kannte ein paar von Ben Jonsons Gedichten, darunter die Hymne an Diana »Jägerkön'gin, keusch und schön ...«; das große Preislied auf Shakespeare, in dem ihn besonders die Stelle »Er war nicht für ein Alter, nein für alle Zeiten ...« bewegte und ihm die Kehle schnürte; und die Elegie auf den Kinderschauspieler Salathiel Pavy: Honig aus eines Löwen Maul, dachte er, aber zu lang.
Von Herrick kannte er mehr. Seine Gedichte sangen sich von selbst. Er war – so urteilte er später – die vollkommenste, die nie versagende Stimme unter den englischen Lyrikern; eine reine, süße, fließende, kleine Note.
Here a little child I stand
Heaving up my either hand
Cold as paddocks though they be
Here I lift them up to Thee
For a benison to fall
On our meat and on us all. Amen.
Dieses Kindertischgebet hielt er für unübertrefflich an Präzision, Delikatesse und Ganzheit.
Die Namen der englischen Dichter aus jener Zeit klangen wie kleine, volle Vogellaute in einem besonnten Frühlingshain. Prophetisch brütete Eugen über den süßen, verlornen Tönen; er ahnte, daß Namen wie diese nicht wiederkommen werden: Herrick, Crashaw, Carew, Suckling, Campion, Lovalec, Dekker. O süßes Genügen, o süßes, süßes Genügen!
Er las ganze Stöße von Erzählern: alles von Thackeray, Poe und Hawthorne. Von Herman Melville las er »Omoo« und »Typee«, die er unter Gants Büchern fand. Von »Moby Dick« hatte er nie reden hören. Er las ein halbes Dutzend Bände von Cooper, alles von Mark Twain; aber er brachte es nie fertig, Bücher von Howells oder James zu Ende zu lesen.
Er las ein Dutzend Bände Scott. »Quentin Durward« gefiel ihm am besten, weil die Schilderungen vom Essen darin so füllig und appetitanregend waren.